Authentische' Autofiktion? Christian Krachts "Eurotrash"
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penZeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 278–289 Erik Schilling ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ I. Einleitung. Zahlreiche Romane der vergangenen zwei Jahrzehnte wurden in der Publikumsrezeption und der literaturwissenschaftlichen Forschung unter das Stichwort ‚Autofiktion‘ subsumiert: Umberto Eco rekonstruiert in Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana (2004) Kindheit und Jugend im italienischen Faschismus sowie der frühen Nachkriegszeit. Annie Ernaux bettet in Die Jahre (2008) ihre Biographie in diejenige ihrer Generation ein. Thomas Melle berichtet in Die Welt im Rücken (2013) von seiner Schizophrenie. Edouard Louis analysiert in Das Ende von Eddy (2014) die Bedingungen seiner Jugend als Homosexueller in der französischen Provinz. Wolfgang Herrndorf hält in Arbeit und Struktur (2016) tagebuchartig den Verlauf seiner Erkrankung an einem Hirntumor fest. Delphine de Vigan erzählt in ihrem Roman Nach einer wahren Geschichte (2016) scheinbar oder tatsächlich aus ihrem Leben. Und Christian Kracht veröffentlichte 2021 seinen Roman Eurotrash, dessen Protagonist nicht nur den Namen mit dem Autor teilt, sondern auch den familiären Hintergrund sowie die Autorschaft des Romans Faser- land. Zudem geht es in Eurotrash in vielfältigen Variationen um Identität und Krankheit, also um zwei Themen, die – wegen ihres privaten Charakters – für Autofiktion besonders einschlägig sind. Wie Mark-Georg Dehrmann und Carsten Rohde einleitend zu diesem Heft ausführen, umfasst das literaturwissenschaftliche Feld, in dem die genannten Romane anzusiedeln sind, neben der klassischen Autobiographie, der literarischen Biographie, dem autobiogra- phischen Roman oder dem Tagebuch verschiedene autofiktionale Ausdrucksformen.1 Mit dem biographischen Referenzpunkt der Autofiktion erlebt der totgeglaubte Autor auch literarisch die Auferstehung, die ihm in der Literaturtheorie bereits vor einigen Jahren zu- teilwurde.2 Dabei handelt es sich jedoch – wie Martina Wagner-Egelhaaf betont – in den meisten Fällen nicht um ein ‚naiv‘-mimetisches Verständnis von Autorschaft, sondern um ein komplexes, performatives Konstrukt.3 Dennoch betreiben Literaturkritik und -wissenschaft nicht selten eine realweltliche Referentialisierung der Kategorie ‚Autofiktion‘, die dieser Beitrag problematisieren soll: Vorhandensein oder Grad der realweltlichen Referenzen sind in der Regel nicht wissen- schaftlich zu überprüfen. Welche Kritikerin, welcher Wissenschaftler würde sich etwa anmaßen zu beurteilen, ob Thomas Melle in einer manischen Phase seines Lebens wirklich 1 Vgl. die Einleitung zum Themenschwerpunkt im vorliegenden Heft. 2 Vgl. etwa Jannidis u. a. (1999). 3 Entsprechend fasst sie Autofiktion als performative Geste eines Textes: „Der autofiktionale Text […] exponiert den Autor im performativen Sinn als jene Instanz, die im selben Moment den Text hervorbringt wie dieser ihr, d. h. dem Autor, auf seiner Bühne den auktorialen Auftritt allererst ermöglicht“ (Wagner-Egelhaaf [2013, 14]). © 2022 Erik Schilling - http://doi.org/10.3726/92171_278 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ | 279 Geschlechtsverkehr mit Madonna hatte oder, gewissermaßen Autofiktion zweiter Ordnung, sich dies in einem Moment seines Lebens wenigstens wirklich eingebildet hat? Mit diesem Caveat möchte ich keinesfalls in Abrede stellen, dass Romane von der Biographie ihrer Autorinnen oder Autoren beeinflusst sind. Doch wie dieser Einfluss konkret aussieht, auf welche Teile des Romans er sich erstreckt und ob er dabei in einem tatsächlichen oder verfälschten Abbildungsverhältnis zur ‚Realität‘ steht,4 lässt sich – so meine These – nicht mit wissenschaftlichen Kriterien überprüfen. Am Beispiel Christian Krachts möchte ich darlegen, warum ‚Autofiktion‘ nur mit Ein- schränkungen eine sinnvolle Kategorie für die literaturwissenschaftliche Arbeit ist. Das liegt – wie gesagt – nicht daran, dass es keine Autofiktion gäbe. Vermutlich weisen erheblich mehr literarische Texte autofiktionale Elemente auf, als gewöhnlich angenommen wird.5 Gleichzeitig aber besteht keine Möglichkeit, dies zu veri- oder falsifizieren, womit die Rede von Autofiktion ihre intersubjektive Überprüfbarkeit verliert und zu einem Phänomen der Zuschreibung wird. Der Begriff der Autofiktion gleicht darin demjenigen der ‚Authentizi- tät‘. Etwas authentisch zu nennen, suggeriert ebenfalls ein (behauptetes) Wissen darüber, wie etwas ‚in Wirklichkeit‘ beschaffen sei. Auch dabei handelt es sich jedoch in aller Regel nicht um ein tatsächliches Wissen, sondern um eine Zuschreibung.6 Ich werde dies im Folgenden in je einem theoretischen Abschnitt für die Begriffe ‚Au- thentizität‘ und – analog dazu – ‚Autofiktion‘ aufzeigen. Darüber hinaus lege ich anhand von Christian Krachts Interviews und seinem Roman Eurotrash dar, wie Kracht die Zu- schreibung von Authentizität und Autofiktion unterläuft. Vor diesem Hintergrund plädiere ich für ein Verständnis von Autofiktion, mit Hilfe dessen man nicht spekulierend darauf abzielt, eine vermeintlich ‚authentische‘ Wirklichkeit in oder hinter Romanen zu entschlüs- seln, sondern die Texte literaturwissenschaftlich untersucht. Dies lässt sich durchaus unter Beibehaltung des Begriffs ‚Autofiktion‘ leisten, allerdings müssen dazu im unmittelbaren Kontext der Fiktion bestimmte Elemente identifiziert werden, denen die analysierende Wissenschaftlerin – jeweils begründet – den Anschein von Autofiktionalität zuschreibt. Dies gilt im Falle von Eurotrash etwa für die Identität des Namens des Protagonisten („Christian Kracht“) und des Namens, der paratextuell als Verfasser des Romans angegeben wird („Christian Kracht“, vgl. das Cover). Damit spielt der reale Christian Kracht keine Rolle für die literaturwissenschaftliche Untersuchung,7 und dennoch ist ein Textelement identifiziert, dem man begründet einen autofiktionalen Status zuspricht. II. Authentizität – Forschung und Begriff. Die Forschung zum Konzept Authentizität er- streckt sich interdisziplinär auf Bereiche der Philosophie, Theologie, Soziologie, Psychologie, 4 Im Falle sogenannter Schlüsselromane ist die realweltliche Transparenz nicht nur häufig sehr deutlich gegeben, sondern sie befindet sich auch an der Schwelle zum Justiziablen, wie der berühmt-berüchtigte Roman Esra (2003) von Maxim Biller illustriert. Zu Schlüsselromanen in der Gegenwartsliteratur vgl. Franzen (2018). 5 Anekdotische Randnotiz: Für Autorinnen und Autoren in meinem Freundeskreis glaube ich dies verifizieren zu können. Näheres gerne im persönlichen Gespräch. 6 Vgl. Schilling (2020). 7 Dies gilt nicht bei methodisch anders gelagerten Formen des wissenschaftlichen Zugriffs auf den Roman, etwa bei Anwendung einer empirisch-rezeptionsästhetischen oder soziologischen Perspektive. 8 Knaller (2007, 16–35). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
280 | Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ Sprach- und Literaturwissenschaft sowie zahlreicher weiterer Disziplinen. Einen interdiszi plinären Überblick bieten Susanne Knallers Monographie Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität8 und die Bibliographie des von Michael Hofer und Christian Rößner heraus- gegebenen Sammelbandes zu Authentizität als Anspruch und Versprechen.9 Nahezu Konsens ist der Verzicht auf die Annahme, es gebe für das Feststellen von Authentizität einen ‚wahren Kern‘ (z. B. eines Sub- oder Objekts), zu dem die äußere Erscheinung in Bezug zu setzen sei. So fasst Antonius Weixler Authentizität als Phänomen, „das vom Rezipienten aufgrund bestimmter Strukturen und Konstruktionen einem Text zugeschrieben wird“.10 Auch Hel- mut Lethen betont, dass nicht geklärt werden könne, was tatsächlich ‚authentisch‘ sei. Eine Analyse müsse sich daher darauf konzentrieren, „welche Verfahren den Effekt des ‚Authenti- schen‘ auslösen können.“11 Manfred Prisching schreibt, dass es sich bei der Zuschreibung von Authentizität um „Schichten von Konstruktionen und Reflexionen“ handle.12 Über diesen Konsens hinaus ist die weitere begriffliche Bestimmung umstritten. Manche Forschungsbeiträge unterscheiden zwischen Subjekt- und Objektauthentizität,13 was von der historischen Entwicklung des Begriffs ‚authentisch‘ ausgeht.14 Susanne Knaller und Harro Müller differenzieren empirische, normative und interpretative Authentizität.15 In leichter Variation dieser Dreiteilung schlagen Michael Hofer und Christian Rößner vor, zwischen historischer, hermeneutischer und personaler Authentizität zu unterscheiden.16 Manfred 9 Hofer, Rössner (2019b, 331–344). 10 Weixler (2012, 3). Vgl. auch ebd. (12): „Ein Text, ein Kunstwerk kann nicht authentisch per se sein, eine derartige ontologische Qualität ist in medialen Kommunikationen nicht erreichbar.“ 11 Lethen (1996, 209). 12 Prisching (2019, 42). 13 Weixler (2012, 12): „Als Zusammenfassung und Präzisierung der bisherigen Forschungspositionen soll hier im Folgenden unter Subjekt-Authentizität die Zuschreibung ‚authentisch‘ in Bezug auf das Subjekt, unter Objekt-Authentizität die Zuschreibung ‚authentisch‘ in Bezug auf das Objekt einer medialen Kommunikation verstanden werden.“ 14 Er steht in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit zunächst primär für die Echtheit einer Urkunde oder eines Dokuments, ehe er ab dem 18. Jahrhundert auch im Sinne von ‚Originalität‘ und seit dem 20. Jahrhundert auch als Eigenschaft von Personen verwendet wird (vgl. Knaller [2007, 10–16]). 15 Knaller, Müller (2005, 44). Dabei bezieht sich empirische Authentizität auf den etymologischen Ursprung des Begriffs, also auf den Nachweis der ‚Echtheit‘ von Dokumenten, Urkunden, Kunstwerken etc. Normative Authentizität findet sich in Bereichen der Ethik, die auf Selbstverwirklichung abzielen (‚be yourself‘). Inter- pretative Authentizität schließlich verweist auf den Rezeptionsakt, also auf die Zuschreibung von Authentizität durch eine interpretierende Instanz. Die Verfasser betonen, dass die Kategorien nicht trennscharf sind – bspw. ist auch das Konstatieren empirischer Authentizität ein Akt der interpretativen Zuschreibung. Knaller identifiziert darüber hinaus ein Spektrum von Authentizität zwischen Zuschreibungs- und Geltungskategorie (Knaller [2012, 58]). Knaller (2007, 8) führt zudem evaluative Authentizität als Kategorie ein und verweist auf darü- berhinausgehende ästhetische, moralische und kognitive Aspekte. 16 Hofer, Rössner (2019a, 9): Historische Authentizität sehen sie als gegeben an, wenn das Erscheinungsbild mit dem „historischen Ursprung“ übereinstimmt, also bspw. ein Bild tatsächlich von einem bestimmten Künstler stammt. Hermeneutische Authentizität liege vor, wenn „die Deckung einer Interpretation mit dem Text“ zu konstatieren sei. Personale Authentizität verweise auf die Übereinstimmung „zwischen einem ‚Selbst‘ und einer Erscheinungsweise“. Nicht unproblematisch ist dabei insbesondere die ‚hermeneutische Authentizität‘, weil sie implizit unterstellt, es könne eine ‚richtige‘ Interpretation eines Textes geben. Zweifellos gibt es bessere und schlechtere Interpretationen, wobei die Qualität vom Grad der Plausibilisierung ihrer Thesen abhängt. Die Annahme einer ‚authentischen‘ Textbedeutung aber unterstellt einen Wahrheitsanspruch der Bedeutungszu- schreibung, der nicht zu erreichen ist. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ | 281 Prisching löst den Begriff ‚Authentizität‘ von dessen essentialistischem Zentrum:17 Ein Mensch sei nicht zu denken ohne Interaktion, Komposition, Reflexion, Inszenierung und Situativität.18 Antonius Weixler schließlich versteht die Zuschreibung von Authentizität als Zusammenspiel der Instanzen der Produktion, Narration und Rezeption, die an einem Kommunikationsakt beteiligt sind, und bezeichnet dies als ‚diskursive Authentizität‘.19 Die Forschung ist sich also einig, dass Authentizität nicht essentialistisch die Überein- stimmung eines äußeren Erscheinungsbildes mit dem ‚wahren Kern‘ eines Subjekts oder Objekts konstatiert, sondern eine solche nur zuschreibt. Unterschiedliche Vorschläge stehen jedoch im Raum, wie diese Zuschreibung begrifflich-konzeptionell zu erfassen ist. In meiner Monographie zu Authentizität20 habe ich – basierend auf einer konzeptionellen Anregung durch Jakob Lenz – ein zusammenfassendes Modell erarbeitet, dessen wich- tigste Elemente ich hier kurz rekapituliere: ‚Authentisch‘ – so mein Vorschlag – nennt ein Beobachter die Übereinstimmung einer Beobachtung mit seiner Erwartung, also bspw. die Übereinstimmung einer Eigenschaft, Aussage oder Handlung eines Sub- oder Objekts mit einer diesbezüglichen Erwartung. Für diese Definition ist entscheidend, dass an keiner Stelle auf das Wesen des Beobachteten abgehoben wird, weder im essentialistischen Sinne noch im Sinne einer Unterscheidung zwischen beobachtetem Sub- oder Objekt noch im Sinne bestimmter Strukturen oder Konstruktionen, die überzeitlich eine Rezeption als ‚authentisch‘ bedingen. Die Erwartung ist ausschließlich Teil des Beobachters. Dasselbe gilt für die Zuschreibung: Auch sie betrifft nicht die eigentliche Eigenschaft, Aussage oder Handlung, sondern deren Sicht durch den Beobachter.21 Mit einem kurzen Blick auf die öffentliche Wahrnehmung von Christian Kracht soll dies illustriert werden. 17 Prisching (2019). 18 „[I]nteraktive Authentizität“ aber würde von einer nicht-sozialisierten Natur des Menschen ausgehen, „kompo- sitorische Authentizität“ von einer Person ohne Inkonsistenz, Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, „reflexive Authentizität“ von einer personalen Identität, die ohne Reflexionsprozess verfügbar sei, „inszenierte Authenti- zität“ von einer unverfälschten Präsentation des eigenen Selbst und „situative Authentizität“ von Handlungen und Kommunikationsakten ohne Situationskontext. Da all dies nicht sinnvoll sei, könne auch die Annahme einer ‚authentischen Person‘ nicht sinnvoll getroffen werden. 19 Weixler (2012, 14). Er bietet darüber hinaus eine Systematisierung der Forschung nach zwei Kriterien – nach einer Differenzierung von Subjekt und Objekt im Hinblick auf Authentizitätszuschreibung sowie nach einer Operationalisierung der Strukturen, die etwas als authentisch erscheinen lassen: „Zum einen werden entlang einer Subjekt-Objekt-Unterscheidung die Aspekte Autorschaft und die damit verbundene Autorität (Subjekt) sowie die Referenz auf eine ‚Wirklichkeit‘ (Objekt) thematisiert. Zum anderen wird versucht, die Verfahren und Konstruktionen, die einen ästhetischen Effekt des Authentischen auslösen, zu operationalisieren“ (ebd.). 20 Schilling (2020, v. a. 31–52). 21 Darüber hinaus schlage ich vor, statt von Subjekt- und Objektauthentizität von subjektiver und intersubjektiver Authentizität zu sprechen. Dies verlegt die Unterscheidung konsequent von der beobachteten in die beobachtende Instanz, weil die Beschaffenheit des Beobachteten keine Rolle spielt. Intersubjektive Authentizität bezeichnet Intersubjektivität in der zuschreibenden Beobachtung, also bestimmte Kriterien für die Zuschreibung. Im Un- terschied zur intersubjektiven lässt sich bei subjektiver Authentizität die Zuschreibung nicht anhand überprüf- barer Kriterien beschreiben. Für eine begriffliche Systematisierung dient dazu eine Differenzierung subjektiver Authentizität in die Teilkategorien Wesens-Authentizität, Erfahrungs-Authentizität und Sprech-Authentizität. Mit Wesens-Authentizität bezeichne ich die angenommene Übereinstimmung des ‚Wesens‘ eines Subjekts oder Objekts mit einem von ihm gesendeten Zeichen. Problematisch an diesem Konzept ist seine mangelnde Überprüfbarkeit. Neben der Referenz auf ein bestimmtes Wesen verweist subjektive Authentizität oft auf die Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
282 | Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ III. Christian Kracht – (unterstellte) Authentizität und Inszenierung. Christian Krachts Romane werden oft nicht unabhängig von ihrem Autor rezipiert. Schon bei seinem Debüt Faserland waren entsprechende Ansätze zu beobachten: Kracht sei ein Dandy, ein leben- des popkulturelles Artefakt.22 Aus diesem Grund ist Christian Kracht im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zentral für Debatten über Authentizität und Au- tofiktion. Bei kaum einem anderen Autor scheint die Grenze zwischen Text und Person ähnlich durchlässig. Wie lässt sich das erklären? Kracht legt es – soweit man dies von außen beurteilen kann – durchaus auf Unschärfen an. In Interviews etwa reagiert er auf Fragen oft zunächst verhalten bis ausweichend. Er stimmt freundlich zu, lässt den Interviewer Thesen aufstellen und nickt diese bejahend ab. In dem Moment aber, in dem der Interviewer den Eindruck hat, Kracht auf eine Aussage festgenagelt zu haben, vertritt dieser völlig unvermittelt die gegenteilige Meinung. Bei Harald Schmidt etwa sagte Kracht im Zuge einer Diskussion darüber, ob man in Würde altern müsse, das stehe selbstverständlich jedem frei; auf Nachfrage Schmidts änderte er die Aussage jedoch ins Gegenteil: Unwürdiges Altern sei abstoßend.23 In einem Interview mit Denis Scheck Anfang 2009 wurde diskutiert, warum Kracht nach Buenos Aires ge- zogen sei. Zunächst sagte Kracht, er wisse den Grund nicht. Auf Nachfrage präzisierte er, er wolle in Argentinien in die Politik gehen. Sein politisches Programm bestehe darin, mit einem zweiten Falklandkrieg die Falklandinseln für Argentinien zurückzuerobern.24 Wenige Wochen zuvor hatte er in einem Interview mit Armin Kratzert noch gesagt, nach Buenos Aires habe ihn nur die Sehnsucht getrieben, sich den weißen Fleck zu erschließen, der Südamerika für ihn auf der Landkarte gewesen sei. Die politische Motivation – so sie authentisch wäre – müsste sich also bei Kracht sehr spontan über die Weihnachtsfeiertage 2008 ergeben haben. Eine andere Erklärung als der plötzliche Sinneswandel ist, dass Kracht in Interviews nicht zwangsläufig die Wahrheit sagt. Die Antworten bleiben in der Schwebe zwischen möglich und unwahrscheinlich, etwa auf die Fragen danach, was er morgens als Erstes tue (sich die Hände putzen) oder womit er schreibe (einem Telex-Gerät). Auch scheinbar eindeutige Antworten (Sind Sie ein Dandy? – Nein! – Sind Sie reich? – Nein!) werden so ironisiert und jedes Referenzgehaltes beraubt.25 In all diesen Fällen lässt sich nicht ausschließen, dass Kracht die Wahrheit sagt, aber er verabschiedet mit seiner rhetorischen Strategie die Trennung von Fakt und Fiktion auch im Interview. Mit ironischer Nonchalance lässt er persönliche Erfahrung als Charakteristikum des Authentischen: auf Erfahrungs-Authentizität. Kriterium für die Authentizitätszuschreibung ist die räumliche und/oder zeitliche Nähe der berichtenden Person zu den Ereignissen bzw. ihre persönliche Betroffenheit. Drittens lässt sich subjektive Authentizität als Zuschreibung von Wahrhaftigkeit verstehen: als Sprech-Authentizität. Dies bezeichnet die Übereinstimmung zwischen einer Intention des Subjekts und einem von ihm gesendeten Zeichen, etwa einer Aussage oder Handlung. 22 Vgl. z. B. Thomas Hüetlin: Das Grauen im ICE-Bord-Treff, in: Der Spiegel 8/1995, , zuletzt: 24.8.2021. 23 Christian Kracht im Gespräch mit Harald Schmidt, Sendung Die Harald-Schmidt-Show (Sat 1), 12.10.2001, , zuletzt: 24.8.2021. 24 Christian Kracht im Gespräch mit Dennis Schenk, Sendung Druckfrisch (ARD), Januar 2009, , zuletzt: 24.8.2021. 25 Jeweils im Interview im Kratzert. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ | 283 sich nicht festlegen; praktisch alle Interviewer fallen darauf herein. Die Hoffnung, durch die Interviews einen Blick auf den ‚authentischen‘ Christian Kracht zu erhaschen, wird radikal enttäuscht. Unterstrichen wird dieses Spiel mit Authentizität durch die ikonographischen Selbstinsze- nierungen Krachts. Wie Philipp Theisohn nachgewiesen hat, ist die „bildgebende und bildnehmende Handlung […] wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der über seine Texte hinausreichenden Poetik Christian Krachts“.26 Alexander Sperling entwickelt am Beispiel einiger fotografischer (Selbst-)Portraits von Kracht die These, dass es sich bei dessen „Selbst inszenierung als Schriftsteller von Beginn an um ein ironisches Spiel“ handle, das auf ein Lesepublikum abziele, welches „Parallelen zwischen Fiktion und Realität ziehen“ möchte.27 Zur Zeit der Publikation von Faserland zeigte sich Kracht gerne mit Barbourjacke. In den Jahren rings um den Schweiz-Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten veröffentlichte er ein Selfie im Trachtenjanker. Die Publikation des Kolonialismus-Romans Imperium wurde von einer Aufnahme von Kracht mit Tropenhut vor Kokospalmen flan kiert. Und auf dem neuesten Roman Eurotrash ist nun ein stilisiertes Gemälde des Autors zu sehen – allerdings nur die Hälfte seines Gesichts, was bereits ikonographisch Fragen nach der Vollständigkeit und Zuverlässigkeit der scheinbaren Autofiktion aufwirft. Um meine Ausführungen zu dieser Frage konzeptionell rückzubinden, werde ich nun zunächst den Begriff Autofiktion knapp umreißen und einen Vorschlag für seine Präzisie- rung machen. Anschließend nutze ich dies für eine Untersuchung von Krachts Eurotrash. IV. Autofiktion – Forschung und Begriff. Ähnliches wie für Authentizität als Kategorie der Zuschreibung gilt – wie ich argumentieren möchte – für Autofiktion. Claudia Gronemann definiert den Begriff ‚Autofiction‘ im Handbook of Autobiography/Autofiction wie folgt: „An autofictional text purports to be both fictional and autobiographical, and thus repre- sents a paradox in the traditional understanding of genre.“28 Nicht unproblematisch an der Definition ist der Anthropomorphismus des Verbs ‚to purport‘: Ein Text selbst kann nichts behaupten, einzig die Rezipientinnen und Rezipienten können dies tun – etwa, dass die Figur ‚Christian Kracht‘ in Eurotrash mit dem realweltlichen Christian Kracht identisch sei. Doch für die entsprechenden Behauptungen gibt es – wie für Authentizität – keine sinnvolle Möglichkeit der Veri- oder Falsifizierung: Das im Roman Erzählte kann nicht intersubjektiv verlässlich im Hinblick auf eine – wie auch immer geartete – zugrun- deliegende Wirklichkeit geprüft werden. Deswegen handelt es sich bei dem Attribut ‚Autofiktion‘ um ein solches der Zuschrei- bung, nicht hingegen um eine Eigenschaft des Textes. Mit den Worten Martina Wag- ner-Egelhaafs: „Der Gedanke, dass ein Text dem Leser bzw. der Leserin ein ‚Angebot‘ macht, ihn als Autobiographie oder als Roman zu lesen, verlagert die Debatte weg von einem essentialistischen Gattungsverständnis hin zu einer rezeptionsästhetischen Entscheidung.“29 26 Theison (2019, 79). 27 Alexander Sperling: Sorgsam gemalte Schriftstellerbilder, in: Neues Morgenblatt, 25.2.2021, , zuletzt: 24.8.2021. 28 Gronemann (2019). 29 Wagner-Egelhaaf (2013, 11). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
284 | Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ Die Benennung eines Textes als Autofiktion mag also bspw. hilfreich sein, um bestimmte Käuferschichten anzusprechen. Eine (dabei strategisch vermutlich oft erwünschte) Eindeu- tigkeit im Hinblick auf die Grenze zwischen Fakt und Fiktion wird jedoch nicht erreicht. In verschiedenen einschlägigen Publikationen zu Autofiktion wird das Problem the- matisiert, allerdings nicht zufriedenstellend gelöst. So betont Birgitta Krumrey in ihrer Monographie zu Autofiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zunächst: „Das Phänomen, einen fiktionalen Text auf seinen autobiographischen Gehalt hin zu lesen, hier sozusagen ‚Spuren des Autors‘ zu suchen, ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht nach wie vor heikel.“30 Schon im nächsten Satz aber folgt eine Relativierung: „Autoren legen es immer wieder auf solche [autofiktionalen] Rezeptionseffekte an, die eine literaturwissen- schaftliche Analyse nicht außer Acht lassen kann.“31 Worauf es Autoren anlegen, lässt sich mit literaturwissenschaftlicher Analyse nur schwer ermitteln, sofern man nicht unter der Hand die Autorintention wieder einführen möchte. Die Rezeptionseffekte hingegen, die angesprochen werden, lassen sich selbstverständlich beschreiben – und hier (aber nur hier) müsste m. E. die wissenschaftliche Auseinandersetzung ansetzen. Mit rezeptionsästheti- schen, diskursanalytischen oder empirischen Verfahren etwa lässt sich präzise analysieren, welche Texte von welchem Publikum als autofiktional wahrgenommen werden. Ob die damit verbundene Zuschreibung von Autofiktionalität aber zu Recht geschieht, darüber sollte die Wissenschaft – im besten Wittgenstein’schen Sinne – schweigen, weil sie dazu nichts Verlässliches sagen kann. Folgt man dieser Argumentation, lässt sich Autofiktion definieren als literarischer Text, für den in der Rezeption Gemeinsamkeiten der Biographie seiner Autorin oder seines Autors behauptet werden. Ob diese Behauptung zu Recht oder Unrecht erfolgt, muss – wie gesagt – offenbleiben. Wichtig ist mir, noch einmal zu betonen, dass die Übereinstimmungen natürlich vorhanden sein können, ja: in vielen Fällen zweifellos vorhanden sein werden (und sicher oft auch in Fällen, in denen niemand von ‚Autofiktion‘ spricht). Doch wis- senschaftlich verlässlich beschreiben lässt sich nur die rezeptionsästhetische Beobachtung, dass Übereinstimmungen behauptet werden, nicht hingegen, ob dies zu Recht geschieht. Darüber hinaus kann freilich der literarische Text selbst literaturwissenschaftlich analy- siert werden, etwa – wie einleitend angedeutet – im Hinblick auf einen Erzähler oder eine Figur im Roman, der bzw. die denselben Namen trägt wie der Autor oder die Autorin, bspw. im Falle von Felicitas Hoppes Hoppe, Thomas Meineckes Selbst – oder in Krachts Eurotrash. Martina Wagner-Egelhaaf schlägt überzeugend vor, die entsprechenden Subjektentwürfe im Roman nicht als einen Rückfall in ein ‚naives‘ autobiographisches Erzählen zu begreifen, sondern als „Schwundstufe einer erzählerischen Geste“.32 Mit Blick auf dieses Konzept lässt sich durchaus eine Beibehaltung des Begriffs ‚Autofiktion‘ leisten, allerdings müssen dazu fiktionsintern und/oder unter Heranziehung valider, wissenschaftlich greifbarer Kontexte be- stimmte Elemente identifiziert werden, denen man in der Analyse – jeweils begründet – den Anschein von Autofiktionalität zuschreibt. Zu diesen Elementen gehört fiktionsintern bspw. 30 Krumrey (2015, 12). 31 Krumrey (2015, 12). 32 Wagner-Egelhaaf (2006, 366). Zu einer ähnlichen Konzeptionalisierung des Erzählens nach der Postmoderne vgl. Schilling (2012). Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ | 285 die erwähnte Übereinstimmung des Namens des Protagonisten und der paratextuelle Autorname auf dem Cover des Buches. Als wissenschaftlich greifbare Kontexte lassen sich etwa Texte desselben Autors heranziehen, auf die im Roman intertextuell Bezug genommen wird. Beides soll nun für Krachts Eurotrash in den Blick genommen werden. V. „Eurotrash“ als ‚authentische Autofiktion‘? Für Eurotrash lassen sich die erwähnten Kriterien für Autofiktion – Zuschreibung im Rahmen der Rezeption, fiktionsinterne Ele- mente, wissenschaftlich greifbare Kontexte – in verschiedenen Facetten beschreiben. Die Hoffnung, in Krachts Romanen vom Leben des Autors erzählt zu bekommen, spiegelt etwa Knut Cordsens Formulierung im Bayerischen Rundfunk: „Auch am Ende dieses in- tertextuellen Spiels mit dem Leser ist längst nicht alles klar – schon gar nicht, was denn nun Fakt und was Fiktion ist.“33 Cordsen macht zwar auf die Unmöglichkeit der Unter- scheidung aufmerksam, geht aber doch von einer entsprechenden Sehnsucht aus, zumin- dest als Projektion auf potentielle Leserinnen und Leser. Ähnliches gilt für ein Interview mit der Süddeutschen Zeitung, das Kracht dieser am 2. März 2021 gab. Gleich die erste Frage lautet: „Was hat Sie bewogen, sich selbst als Romanfigur zu nehmen?“34 Im Folgen- den konstatiert Johanna Adorján, die das Interview führt, dass Kracht im Roman „sehr auffällig mit [seiner] eigenen Biografie“ spiele, weist aber auch darauf hin, dass die Frage nach Parallelen bspw. zwischen Krachts „echte[r] Mutter“ und der Romanfigur seiner Mutter nicht angebracht sei, denn: „Es ist ja schon ein Roman.“35 Zwar wird also in vielen Rezeptionszeugnissen nicht darauf verzichtet, Parallelen zwi- schen dem Leben Christian Krachts und dem Leben der Romanfigur „Christian Kracht“ aufzuzeigen, aber oft steht doch die erzählte Geschichte im Vordergrund. Felix Stephan etwa fasst in seiner Rezension in der Süddeutschen Zeitung zusammen: „Darunter aber legt der Roman einen Kern frei, der wie immer, wenn alles kompliziert scheint, am Ende ganz einfach ist. Die Mutter spricht es an einer Stelle aus: ‚Erzähl mir noch eine Geschichte, Christian, das kannst du so gut.‘“36 Philipp Theison stellt seine Rezension in der NZZ ironisch unter den Titel: „Christian Kracht erfindet immer dann am besten, wenn er aus seinem Leben erzählt.“37 Allerdings liegt bei Kracht der Fokus auf den Stichworten ‚erfinden‘ und ‚erzählen‘, nicht auf dem Stichwort ‚Leben‘. Als Illustration kann der kurze Dialog zwischen Mutter und Sohn Kracht dienen, der das vierte Kapitel von Eurotrash einleitet: 33 Knut Cordsen: Eurotrash, der neue Roman von Christian Kracht, in: Bayern 2 kulturWelt, 28.2.2021, , zuletzt: 24.8.2021. 34 Johanna Adorján: „Halt, stop, so geht es nicht weiter“. Interview mit Christian Kracht zu seinem Roman Eu- rotrash, in: Süddeutsche Zeitung, 2.3.2021, , zuletzt: 24.8.2021. 35 Johanna Adorján: „Halt, stop, so geht es nicht weiter“. Interview mit Christian Kracht zu seinem Roman Eurotrash, in: Süddeutsche Zeitung, 2.3.2021, , zuletzt: 24.8.2021. 36 Felix Stephan: Dreckiges deutsches Geld. Christian Krachts Roman Eurotrash, in: Süddeutsche Zeitung, 3.3.2021, , zuletzt: 24.8.2021. 37 Philipp Theisohn: Christian Kracht erfindet immer dann am besten, wenn er aus seinem Leben erzählt, in: Neue Zürcher Zeitung, 4.3.2021, , zuletzt: 24.8.2021. Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
286 | Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ „Erzähl mir doch etwas.“ „Wahrheit oder Fiktion?“ „Das ist mir egal. Entscheide Du.“ (Et 74)38 Entsprechend wurde Krachts Roman in Rezensionen des Öftern mit Goethes Dichtung und Wahrheit verglichen.39 Für die Rezeption lässt sich also – zumindest mit Blick auf die hier ausgewählten Beispiele – einerseits ein Bewusstsein für die Problematik des Ansinnens, Krachts Biographie mit seinem Roman abzugleichen, diagnostizieren, andererseits aber dennoch oft eine latente oder explizite Sehnsucht, diesen Vergleich durchzuführen. Wegen der Aporie, in die dieser Versuch notwendigerweise führt, seien die beiden oben gemachten Vorschläge für eine fiktionsinterne sowie intertextuelle Betrachtung von Autofiktion aufgegriffen. Für letzteres – Referenzen auf weitere Werke Krachts – gibt es zahlreiche Belege in Eurotrash: Auf Faserland wird wiederholt explizit Bezug genommen, etwa wenn der Erzähler im Salon seiner Mutter „das silbern gerahmte Foto von mir als siebenundzwanzigjährigem Faserland-Autor in Barbourjacke“ (Et 62) sieht. Krachts Roman 1979 wird angesprochen als ein Buch, „in dem ein Innenarchitekt nach vielen Wendungen dorthin [zum Berg Kailash in Westtibet] gerät, um einen symbolischen Tausch vorzu- nehmen“ (Et 68). Die nationalsozialistisch orientierte pseudo-vegetarische Kommune in Saanen mit ihrem angeblichem Gründer Ryke Geerd Hamer kann man als Verweis auf die Debatten um nationalsozialistisches Gedankengut in Imperium verstehen. Und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten schildert ebenfalls einen wilden Weg durch die Schweiz, der als fernes Ziel Afrika hat – freilich unter den anderen Voraussetzungen der Alternativgeschichte und mit einem Protagonisten, der tatsächlich in Afrika ankommt, nicht nur in einem fingierten Afrika wie die Mutter in Eurotrash. Gleichzeitig unterläuft der Roman die intertextuelle Festlegung auf den literarischen Kracht-Kosmos durch eine Vielzahl weiterer intertextueller Anspielungen. Als Brücke zwi- schen beidem stehen die Besuche an Schriftsteller-Gräbern, die von Faserland am Zürcher Grab von Thomas Mann ausgehen, dies aber auf Borges und Nabokov erweitern. Darüber hinaus wird die Weltliteratur durch die mannigfaltigen Zitate aufgerufen, die die Mutter bei verschiedenen Gelegenheiten einstreut (von Shakespeare über Huysmans bis Martin Walser). Und nicht zuletzt spielt die Figur Kracht mit ihrer Schriftsteller-Identität, wenn Kracht in der Saanen-Kommune die Frage bejaht, ob er „der Autor von Die Vermessung der Welt“ (Et 102) sei, was später zu irritierten Nachfragen des Kommunen-Vorstehers führt: „‚Christian?‘ Der Mann legte die Stirn in Falten. ‚Sie heißen gar nicht Daniel? Das gibt’s doch nicht. Sie sind gar nicht Daniel Kehlmann?‘“ (Et 110) Nein, „Christian Kracht“ (als Romanfigur) ist nicht „Daniel Kehlmann“, und auch nicht Christian Kracht (als realer Autor). Das unauflösliche Spiel mit den verschiedenen Realitäts- und Wahrheitsebenen wird bis in die Paratexte von Eurotrash fortgeführt, denn der reale Daniel Kehlmann (oder eine paratextuelle literarische Figur „Daniel Kehlmann“?) lobt Krachts Roman auf dessen 38 Alle direkten Zitate aus dem Roman sind im Fließtext unter der Sigle Et mit Seitenzahl in Klammern belegt und folgen Kracht (2021). 39 So etwa von Felix Stephan: Dreckiges deutsches Geld. Christian Krachts Roman Eurotrash, in: Süddeutsche Zei- tung, 3.3.2021, , zuletzt: 24.8.2021. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ | 287 Einband mit den Worten, dass sein Roman ein Geheimnis verberge, dem man nie ganz auf den Grund komme. Krachts Mutter (als Romanfigur) greift das Spiel auf. In der entsprechenden Szene geht es darum, sich mit einer falschen Identität Zutritt zu einer angeblich geheimen Suite in einem Basler Hotel zu verschaffen. Die Mutter sagt, wobei der Roman offenlässt, ob ihr die Ambivalenz ihrer Aussage ‚bewusst‘ ist: „‚Wir können ja sagen, wir heißen Kracht. Wie die vom Hotel Baur au Lac. […]‘“ (Et 128) Der erste Satz der Mutter ist doppeldeutig: Zum einen trifft er schlicht eine korrekte Aussage über den Namen der Familie. Zum anderen aber suggeriert er das Annehmen einer falschen Identität, wenngleich diese – Ironie sowohl der Passage als auch des Romans insgesamt – unter demselben Namen firmiert. Was der Signifikant ‚Kracht‘ also im Kontext von Eurotrash (und darüber hinaus) tatsächlich ‚be- deutet‘, ist vielfältig und im konkreten Fall häufig unklar oder ambivalent. Die Ironie wird im Roman auch auf die Frage nach dem ontologischen Status der Figuren bezogen. Als Kracht und seine Mutter im Restaurant sitzen, nimmt diese ihre Gabel und sticht ihm in seine Handfläche. Sein „‚Aua‘“ kommentiert sie mit den Worten: „‚Siehst Du? Du bist echt.‘“ (Et 146) Echt ist die Romanfigur Kracht natürlich nur unter fiktionsontologischen Bedingungen; gleichzeitig spiegelt die Szene auf ironische Weise die vom Lesepublikum potentiell herangetragene Frage nach autofiktionalen Elementen des Romans: Ist „Kracht“ echt? Als Mutter und Sohn zum Grab von Borges aufbrechen, wird das Thema wiederholt. Die Mutter fragt: „‚Endete nicht Dein Buch Faserland auch so ähnlich?‘“, und „Kracht“ kommentiert: „‚Ja, aber das war ja fiktiv. Dies hier ist echt.‘“, was die Mutter wiederum besiegelt: „‚Abgemacht.‘“ (Et 198) Kracht wandelt damit den klassi- schen Fiktionsvertrag zwischen Leser und Text um in eine Art Realitätsvertrag zwischen seinen Figuren. Diese ‚Echtheit‘ wird von der Mutter in einer weiteren Szene thematisiert, als sie ihrem Sohn literarische Vorbilder vorschlägt, an denen er sich orientieren könne: „‚[…] Du solltest Dir mal ein Beispiel nehmen an, an, wie heißt der, an Knausgård oder an Houellebecq oder Ransmayr oder Kehlmann oder Sebald.‘“ (Et 155) Nicht zufällig, so meine ich, sind die genannten Schriftsteller in absteigender ‚Realitätsreihenfolge‘ genannt, von Knausgårds (angeblich) ganz wahrhaftigem Erzählen40 bis zu Kehlmanns Spiel mit Fiktion (etwa in der Vermessung der Welt mit historischen Aspekten oder in F mit Autor, Erzähler und Figur) und Sebalds Text-Collagen mit faktualen Elementen. Am Ende des Romans erfindet „Christian Kracht“ die Realität für seine Mutter. Als sie an der Psychiatrie ankommen, behauptet er, sie seien nun in Afrika: „‚[J]etzt sind wir ja da. In Afrika.‘“ (Et 205) Auf Einwände der Mutter schmückt Kracht die Geschichte so aus, dass die Mutter schließlich überzeugt ist, tatsächlich in Afrika angekommen zu sein. Doch sie glaubt dies nicht nur, auch im Roman werden die Realitätsebenen übereinander geblendet. Der vorletzte Absatz schildert, wie die Mutter den Flur der Psychiatrie betritt: Sie lief langsam und unbeirrt an ihrem Rollator ein Stück weit den Flur hinunter. In einiger Ent- fernung ließ sie die Gehhilfe stehen und stützte sich an der Wand ab, die Sonnenbrille immer noch auf der Nase. Es war sehr heiß, und die Sonne brannte unerbittlich vom afrikanischen Himmel, obwohl es noch früh am Morgen war. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Kostüms über die Stirn, schwankte Schritt für Schritt weiter und bog ab, rechts an dem Termitenhügel vorbei. (Et 210) 40 Vgl. dazu Schilling (2020, 55–58). Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
288 | Erik Schilling: ‚Authentische‘ Autofiktion? Christian Krachts „Eurotrash“ Dass in der Winterthurer Psychiatrie (und sei es nur derjenigen des Romans) tatsächlich ein Termitenhügel existiert, darf als unwahrscheinlich bezeichnet werden. Mit seinem Ende verunmöglicht der Roman also ein weiteres Mal die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Erzählten – und damit indirekt auch nach seinem autofiktionalen Charakter, sofern man diesen über para- und intertextuelle Aspekte hinauszudenken versucht. VI. Fazit. In seinen Interviews und Romanen betont Kracht das Erkenntnispotential ambivalenter Strukturen. Anders als die Sehnsucht nach Authentizität ermöglicht dies, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, Pluralität zu erkennen und verschiedene Le- bens- und Verhaltensweisen in ihrer Faszination und ihren Grenzen wahrzunehmen. Das Spiel mit verschiedenen Realitätsebenen, das sich nicht auflösen lässt, kann man zum Anlass nehmen, grundsätzlich über Autorschaft als performatives Konstrukt, über die Re- ferentialisierbarkeit von Aussagen oder über die Macht der Fiktion nachzudenken. Nicht jedoch sollte man es dafür nutzen, Rückschlüsse über Vorliegen oder Grad an ‚authenti- scher Autofiktion‘ zu ziehen. Literaturverzeichnis Franzen, Johannes (2018): Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960–2015. Göttingen. Gronemann, Claudia (2019, 241–246): Autofiction. In: M. Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Handbook of Autobiography/Autofiction. Vol. I: Theory and Concepts. Berlin, Boston. Hofer, Michael, Christian Rössner (2019a, 7–25): Einleitung der Herausgeber. In: Hofer, Rössner (2019b). – (Hrsg.) (2019b): Zwischen Illusion und Ideal: Authentizität als Anspruch und Versprechen. Interdis- ziplinäre Annäherungen an Wirkmacht und Deutungskraft eines strittigen Begriffs. Regensburg. Jannidis, Fotis u. a. (1999, 3–35): Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven. In: Dies. (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen. Knaller, Susanne (2007): Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authenti- zität. Heidelberg. – (2012, 51–75): The Ambiguousness of the Authentic. Authenticity between Reference, Fictionality and Fake in Modern and Contemporary Art. In: J. Straub (Hrsg.): Paradoxes of Authenticity. Stu- dies on a Critical Concept. Bielefeld. Dies., Harro Müller (2005, 40–65): Authentisch/Authentizität. In: K. Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 7: Supplemente, Register. Stuttgart, Weimar. Kracht, Christian (2021): Eurotrash. Roman. Köln. Krumrey, Birgitta (2015): Der Autor in seinem Text. Autofiktion in der deutschsprachigen Gegen- wartsliteratur als (post-)postmodernes Phänomen. Göttingen. Lethen, Helmut (1996, 205–231): Versionen des Authentischen. Sechs Gemeinplätze. In: H. Böhme, K. R. Scherpe (Hrsg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg. Prisching, Manfred (2019, 29–42): Die spätmoderne Unmöglichkeit der authentischen Person. In: Hofer, Rössner (2019b). Schilling, Erik (2012): Der historische Roman seit der Postmoderne. Umberto Eco und die deutsche Literatur. Heidelberg. – (2020): Authentizität. Karriere einer Sehnsucht. München. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022) Peter Lang
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