Autismus: Struktur statt Chaos - 4 Inklusives Projekt: Praxiseinsatz in Bregenz - 2|2019 - Stiftung Liebenau
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2|2019 Magazin der Stiftung Liebenau Bildung Autismus: Struktur statt Chaos 4 Inklusives Projekt: Praxiseinsatz in Bregenz 14 Emotional: Azubibriefe an gefallene Soldaten 19
Stiftung Liebenau Bildung 3 Impressum Inhalt Titelthema: Autismus – das Liebenau Berufsbildungs- werk als Kompetenzzentrum Auf Kurs Magazin der Stiftung Liebenau Bildung Titel Herausgeber: Autismus: Struktur statt Chaos Liebenau Berufsbildungswerk gemeinnützige GmbH Schwanenstraße 92 3 Editorial 88214 Ravensburg Telefon: 0751/3555-8 Titelthema: Autismus E-Mail: info.bbw@stiftung-liebenau.de 4 Eine andere Sicht auf die Welt 6 IT-Ausbildung im „Lok-Center“ Redaktion: Herbert Lüdtke und Christian Braun 8 Interview mit Dr. Stefan Thelemann (verantwortlich), Christof Klaus (ck) 10 Mein Kollege – ein Autist 16 (NETZ-3 – Die Medienprofis) 11 Diagnose plus Jobangebot 13 Büchertipps Guck mal: Fotoimpressionen vom Tag der offenen Tür, Bildnachweise: Christof Klaus (S. 1, 6, 7, dem „BBW Open 2019“ 11, 13, 14, 15, 16, 19, 21, 24), Adobe Stock (S. 4, 5, 8, 17), Felix Kästle (S. 9, 10), privat Einen Augenblick bitte… (S. 12, 15, 18, 19), Sparkasse Ulm (S. 21) 12 Catherine Bour Grafik: Natalie Baumbusch (NETZ-3 – Die Medienprofis) BBW im Überblick Druck: Siegl Druck & Medien GmbH & Co. 14 Praxiseinsatz in Bregenz KG, Friedrichshafen 15 Kurzmeldungen aus dem BBW 16 Guck mal: BBW Open 2019 Auflage: 2500 Erscheinungsweise: 2 Ausgaben pro Jahr 17 Spiritueller Impuls Schillerstraße 15 Ulm 18 18 Meine Geschichte – mein Ritual 19 Briefe an gefallene Soldaten Meine Geschichte: Sibylle Porske, Konrektorin der Max-Gutknecht-Schule Ulm, über religiöse Rituale 20 Azubis als Filmemacher 21 Kurzmeldungen aus Ulm Service 22 Unser Ausbildungsangebot 23 Übersicht: Ihre Ansprechpartner Mit der „Auf Kurs“ informieren wir regel- 19 mäßig über Ereignisse, Themen und Pro- jekte in der Stiftung Liebenau Bildung. Arbeit für den Frieden: Azubis schreiben emotionale Dazu verwenden wir personenbezogene Briefe an gefallene Soldaten Daten. Sie werden mit der nötigen Sorg- falt und unter Beachtung des gesetzli- BBW-News chen Datenschutzes verarbeitet. Für In- Neben der „Auf Kurs“ informieren wir Sie formationen über die gespeicherten Da- über interessante Neuigkeiten aus dem ten, zur Ergänzung, Korrektur oder Lö- Liebenau Berufsbildungswerk auch per schung wenden Sie sich bitte an den Her- E-Mail – mit dem BBW-Newsletter. Auf ausgeber. Weitere Informationen über www.stiftung-liebenau.de/bildung unsere Datenschutzmaßnahmen finden können Sie diesen ganz einfach abonnie- Sie hier: ren – selbstverständlich kostenlos und www.stiftung-liebenau.de/datenschutz. nur so lange Sie möchten. 2 2|2019
Editorial Christian Braun und Herbert Lüdtke, Geschäftsführer Liebenau Berufsbil- dungswerk gemein- nützige GmbH Liebe Leserin, lieber Leser, ursprünglich als Einrichtung für Jugendliche mit Wohneinheiten und Schulklassen, gut geschulte Lernbehinderungen gegründet, hat sich das Berufs- Mitarbeitende, darunter als spezielle Ansprech- bildungswerk der Stiftung Liebenau längst zu ei- partner sogenannte „Fachreferenten und -referen- nem Inklusionsschlüssel für Menschen mit den un- tinnen Autismus“ – und natürlich unser Fachdienst terschiedlichsten Teilhabebedarfen entwickelt. Ob Diagnostik und Entwicklung unter kinder- und ju- soziale Benachteiligung oder psychische Beein- gendpsychiatrischer Leitung mit seiner ganz be- trächtigung, ob ADHS, eine posttraumatische Bela- sonderen Kompetenz in Sachen psychische Be- stungsstörung oder Autismus: Mit unserer langjäh- nachteiligungen. Auch die Prozessqualität vom Auf- rigen Erfahrung und dem immer weiter speziali- nahmeverfahren über die Diagnostik bis hin zu sierten Know-how in Fachdiensten, Ausbildung, passenden didaktischen Konzepten für die Unter- Wohnheim und Schule bringen wir diese Men- stützung in Ausbildung und Schule mussten nach- schen trotz Startschwierigkeiten beruflich und per- gewiesen werden. Geprüft wurden außerdem die sönlich auf Kurs und machen sie fit für eine mög- vorhandenen Strategien zur Krisenprä- lichst umfängliche Teilhabe an der Gesellschaft. vention und -intervention sowie die Vor- Hinter dieser erfolgreichen Arbeit stecken das gro- bereitung auf den Berufseinstieg, etwa ße Engagement aller Beteiligten, viel Fachwissen durch Bewerbungstraining oder die Be- und klare Strategien. So haben wir auch in Bezug gleitung in den Betrieb. Die entsprechen- auf Autismus-Spektrum-Störungen schon seit Jah- den Kriterien und Qualitätsstandards für ren eine eigene Konzeption. Sie gibt uns den ganz- diese Zertifizierung wurden vom Bundes- heitlichen Rahmen vor für alle Förder- und Unter- verband zur Förderung von Menschen mit stützungsmaßnahmen in unserer Bildungseinrich- Autismus (Autismus Deutschland e. V.) in tung: vom Vorqualifizierungsjahr Arbeit und Beruf Zusammenarbeit mit der Bundesarbeits- (VAB) über die Ausbildung bis hin zur Vermittlung gemeinschaft der Berufsbildungswerke e. in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dass diese ge- V. (BAG BBW) erarbeitet. Das Ergebnis: Wir haben lingt, erfahren wir jedes Jahr aufs Neue. Auch 2019 die hohen und umfangreichen Vorgaben erfüllt konnten wieder etliche junge Menschen mit Autis- und dürfen künftig das Gütesiegel „Autismus ge- mus mit unserer Hilfe in den Beruf starten und ihr rechtes Berufsbildungswerk“ tragen. Leben in die eigene Hand nehmen. Erfahren Sie auf den folgenden Seiten mehr zu die- Um sich diese Qualität als Kompetenzzentrum für sem Thema und lernen Sie Menschen mit Autismus Autismus auch von externer Seite bestätigen zu las- und ihre ganz unterschiedlichen Geschichten am sen, hat sich unser Berufsbildungswerk im vergan- Ausbildungs- und Arbeitsplatz kennen. Denn auch genen Sommer einer erfolgreichen Zertifizierung wenn es eine Reihe typischer Muster gibt, ist jeder unterworfen. Unabhängige Begutachter nahmen Betroffene doch ganz anders – oder wie es ein be- dabei unsere Konzepte, Strukturen und Angebote kannter Spruch auf den Punkt bringt: „Kennst Du intensiv unter die Lupe. Dabei ging es sowohl um einen Autisten, kennst du einen Autisten.“ die personelle als auch um die räumliche und sachliche Ausstattung im Sinne von Menschen mit Viel Spaß beim Lesen wünschen Ihnen Autismus: reizarme Arbeitsplätze, überschaubare Christian Braun und Herbert Lüdtke 2|2019 3
Titelthema Autismus – na und? Das Berufsbildungswerk der Stiftung Liebenau ist ein ausgewiesenes Kompetenzzentrum für Autismus Gute Chancen auf berufliche und gesellschaftliche Teilhabe trotz Handicap: Im Berufsbildungswerk (BBW) der Stiftung Liebenau werden auch Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung optimal gefördert und begleitet auf ihrem Weg ins Arbeitsleben. Albert Einstein, Charles Darwin oder Nicht-Autisten unverständlich und füh- zugspersonen, gewissen Strukturen Andy Warhol – nur ein paar prominente ren zu kleinen oder größeren Missver- und individueller Arbeitsplatzgestal- Persönlichkeiten, denen posthum eine ständnissen. Auf der anderen Seite ha- tung durchaus entsprechen – oder eben Autismus-Spektrum-Störung zuge- ben autistische Menschen Schwierig- angepasst werden können. Dann ist es schrieben wird. Eine Diagnose haben keiten damit, sich in die Lage ihrer Mit- diesen Menschen möglich, ihre oft von sie gleichwohl nie erhalten – im Gegen- menschen hineinzuversetzen und de- Spezialinteressen geprägten Fachkom- satz etwa zum hawaiianischen Profi- ren Gesten, Gesichtsausdrücke oder petenzen einzubringen und eine kon- Surfer Clay Marzo, der britischen Sänge- auch die bildhafte Sprache des Gegen- stante Bereicherung für ihren Arbeitge- rin Susan Boyle oder dem kanadischen übers richtig zu interpretieren. Eigen- ber zu sein. Ein Potenzial, das inzwi- Schauspieler und Drehbuchautor Dan schaften, die zunächst nicht besonders schen von der Wirtschaft erkannt wird. Aykroyd („Ghostbusters“). Bei ihnen förderlich sind bei der Integration in die Unternehmen wie der Softwarekonzern wurde das Asperger-Syndrom ebenso Berufswelt. Dabei gibt es Nischen, die SAP oder der IT-Dienstleister auticon re- festgestellt wie bei der aktuell wohl be- den Bedürfnissen von Autisten nach ge- krutieren heute sogar gezielt Asperger- kanntesten Autistin: der schwedischen wohnten Routinen, festen Be- Autisten und nutzen deren Inselbega- Klimaschutzaktivistin und Auslöserin bungen für ihre Zwecke. der weltweiten Schülerbewegung „Fri- days for Future“ Greta Thunberg. Sie Das BBW als Sprungbrett nannte ihre Störung sogar als Triebfe- Doch nicht nur für Ausnahmetalente in der für ihr Engagement: „Ich denke, Ausnahmefirmen eröffnen sich Chan- wenn ich kein Asperger hätte, wäre das cen. Berufliche Perspektiven für junge hier nicht möglich gewesen. Ich hätte Menschen mit Autismus gibt es in vielen einfach weiter so gelebt und gedacht, Bereichen – wenn das Umfeld stimmt. wie jeder andere auch. Ich sehe die Wie zum Beispiel im Berufsbildungs- Welt aus einer anderen Perspektive“, werk der Stiftung Liebenau – einem aus- sagte sie in einem ZDF-Interview. gewiesenen Autismus-Kompetenzzen- trum. Der Bildungseinrichtung eilt Eine andere Sicht auf die Welt längst weit über die Grenzen der eige- Eine andere Perspektive zu haben nen Region hinaus ihr guter Ruf als Spe- als die als „normal“ geltende, oft zialist in Sachen Autismus voraus. Seit auch als „neurotypisch“ bezeichne- gut 15 Jahren macht das BBW verstärkt te Sicht von Nicht-Betroffenen – das auch Menschen mit diesem Handicap ist ein Merkmal des Phänomens Autis- fit für den Einstieg in den Job. Der mus. Dazu gehören zum Beispiel Beson- Anteil der von Autismus betroffe- derheiten bei der Wahrnehmung und nen Auszubildenden ist in diesem Verarbeitung von Umweltreizen und Zeitraum immer weiter gestiegen. So Sinneseindrücken. Menschen mit einer werden aktuell mehr als 130 Jugendli- Autismus-Spektrum-Störung zeigen che und junge Erwachsene mit einer Auffälligkeiten in der Kommunikation Autismus-Spektrum-Störung beschult, und der sozialen Interaktion. Manche ausgebildet und betreut. Für die opti- Verhaltensweisen und male Förderung sorgen Fach- Reaktionen sind für kräfte mit Erfahrung und 4 2|2019
Titelthema Know-how in Berufsvorbereitung, Aus- Nicht zuletzt dank der größeren Präsenz Stefan Thelemann, Leiter des BBW- bildung, Schule und Wohnheim sowie in den Medien ist Autismus längst im Fachdienstes Diagnostik und Entwick- ein Fachdienst: Unter kinder- und ju- Bewusstsein der Gesellschaft angekom- lung, diesen Eindruck. „Es ist nicht gendpsychiatrischer Leitung unterstüt- men. „Insgesamt hat sich der Umgang mehr das große Stigma: Du bist Autist, zen hier Mitarbeitende aus Psychologie, mit Autismus verändert, da die Men- du bist schwer behindert. Stattdessen Sozial- und Ergotherapie die betroffe- schen inzwischen besser informiert wird Autismus als Teil der Entwicklung nen Jugendlichen und jungen Erwach- sind und auch viel offener mit dem The- empfunden, die eben etwas anders ver- senen. ma umgehen als früher“, bestätigt Dr. läuft als bei Nicht-Autisten.“ (ck) Was ist Autismus? Autismus ist laut dem ICD-10-Klassifikationssystem der kontakt) oder sprachliche Mittel wie Ironie richtig zu inter- Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine „tiefgreifende pretieren – was oft zu Missverständnissen und Irritationen Entwicklungsstörung“. Die verschiedenen Formen werden auf beiden Seiten sorgt. Ein weiterer Punkt sind die Proble- unter dem Oberbegriff Autismus-Spektrum-Störungen me, sich in die Gefühlswelt anderer Menschen hineinzuver- zusammengefasst. Dazu gehört neben dem Frühkindli- setzen und diese teilen zu können. Autisten nehmen ihre chen Autismus (auch als Kanner-Syndrom bezeichnet; Umgebung anders wahr. Dabei haben sie ein erhöhtes Be- nach seinem Erstbeschreiber Leo Kanner) unter anderem dürfnis nach festen Strukturen, Beständigkeit und klaren auch das Asperger-Syndrom – benannt nach dem öster- Tages- und Arbeitsabläufen. Stimmt das Setting in Schule reichischen Kinderarzt Hans Asperger (1906-1980). und Beruf nicht, kann das zu hohem Stress bei den Betroffe- Im Gegensatz zu anderen Varianten wie dem frühkindli- nen führen. Diese Anspannungen entladen sich womöglich chen Autismus liegen hier in der Regel weder eine verzö- in Verhaltensweisen, die unseren gängigen sozialen Nor- gerte Sprachentwicklung noch eine Einschränkung der ko- men nicht entsprechen. So kann es zum Beispiel auch zu gnitiven Entwicklung vor. Stattdessen weisen die meisten Autoaggressionen kommen. Menschen mit Asperger-Syndrom eine normale allgemei- Trotz umfangreicher Forschung existiert noch kein umfas- ne, in Teilgebieten womöglich sogar besonders hohe Intel- sendes Erklärungsmodell zu den Ursachen autistischer Stö- ligenz auf. Auffälligkeiten gibt es dagegen in der psychomo- rungen. Als gesichert gelten genetische Faktoren. Die Zahl torischen Entwicklung und insbesondere der sozialen In- der Betroffenen hat in den vergangenen Jahrzehnten stark teraktion. So haben Autisten bei der Kommunikation mit zugenommen – nicht zuletzt aufgrund der besseren Diagno- Nicht-Autisten Schwierigkeiten, nonverbale Signale (Mi- stik. Experten gehen davon aus, dass ein bis zwei Prozent mik, Gestik) zu verstehen und adäquat zu erwidern (Blick- aller Menschen autistisch sind. (ck) Kernmerkmale des Asperger-Syndroms Probleme in der sozialen Kommunikation, im sozi- auffällige Bewegungen alen Verständnis und in ungewöhnliche und stereotype der sozialen Interaktion Denkweise Verhaltensmuster andere intensive, Bedürfnis Wahrnehmungs- oft spezielle Interessen nach Beständigkeit verarbeitung 2|2019 5
Titelthema Eine Lösung für jedes Problem IT-Ausbildung von jungen Asperger-Autisten im Berufsbildungswerk Beliebte Berufswahl von Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung: ein Job in der IT-Branche. Im „Lok-Center“, einer Außenstelle und Art Juniorfirma des Berufsbildungswerks in der Ravensburger Bahnstadt, finden diese jungen Menschen ein geeignetes Umfeld, um mit der nötigen Unterstützung den Sprung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen. „Die darf da eigentlich noch gar nicht nächst zur Berufsvorbereitung ver- Von der Uni ins BBW: kein Einzelfall sichtbar sein.“ Leander deutet auf die schlug, erhielt er dann endlich den Be- Mit dieser späten Gewissheit ist Jan kein Mauer am Fuße eines Bergs auf seinem fund: Er ist von Asperger-Autismus be- Einzelfall, wie Dr. Stefan Thelemann, Bildschirm. Die virtuelle Landschaft ist troffen. Für ihn sei die Diagnose eine Er- Leiter des Fachdienstes Diagnostik und Teil eines Computerspiels, das der ange- leichterung gewesen, berichtet er. Entwicklung im Berufsbildungswerk, hende Fachinformatiker gerade im Rah- erklärt (siehe auch das Interview auf men eines Ausbildungsprojektes pro- Diagnose als Erleichterung Seite 8): „Es gibt hochfunktionale Auti- grammiert. Er stoppt den Ablauf, ein an- Ganz ähnlich ging es seinem Azubikolle- sten, die im Abi oder auch im Studium deres Fenster auf dem zweiten Monitor gen Jan. Schon in der Schule habe er zunächst noch ganz gut klarkommen. öffnet sich. Hier im Quellcode, vielleicht Schwierigkeiten gehabt, selbstständig Erst, wenn es um komplexe soziale Auf- irgendwo zwischen den Zeilen 550 und zu arbeiten, erzählt der 25-Jährige. Nach gaben geht, wenn die in Schule und Uni 650, müsste sich der Fehler verstecken. dem Abitur startete er dann zwei ver- vorgegebenen Strukturen verloren ge- „Probleme erkennen, Lösungen finden“ gebliche Anläufe zu studieren. Doch: hen, gibt es Probleme. Und dann landen – das mache ihm Spaß, sagt der 22-Jähri- „Mir hat da die Struktur gefehlt.“ In der solche Menschen nach Abbruch ihres ge. Seine Leidenschaft für Computer fünften Klasse hatte man ihm zwar ein Studiums unter anderem im BBW, um und Technik entdeckte Leander schon Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom hier eine Ausbildung zu machen – in ei- im Kindesalter. Was ihn auf seinem Weg (ADS) bescheinigt („Das hat vieles er- nem Umfeld, das ihnen das ermöglicht.“ in die berufliche Zukunft aber mehrfach klärt, aber nicht alles“). Doch die Proble- zurückwarf, blieb lange unklar. Immer me blieben: „Ich bin überall immer wie- Kleine Klassen, reizarme Atmosphäre wieder gab es Ärger. Er flog von der der angeeckt.“ Im Kreise seiner Kommi- Und dieses Umfeld bietet Autismus ge- Schule, kam über das Jugendamt dann litonen fand er keinen Anschluss, be- recht ausgestattete Arbeitsplätze mit in ein Internat, wo er seinen Werkreal- kam Depressionen. „Man scheitert, aber reizarmer Atmosphäre, kleine Berufs- schulabschluss machte. „Ich wusste man weiß nicht warum.“ Vor vier Jahren schulklassen, genügend Auszeiten, ge- schon, dass irgendwas mit mir ist, aber erhielt er schließlich die Diagnose Autis- schulte Ausbilder, professionelle psy- ich konnte es nicht betiteln.“ Erst im mus. Eine Befreiung. Denn: „Nun hatte chologische Begleitung durch den Fach- BBW in Ravensburg, wohin es ihn zu- ich endlich einen Namen für alles.“ dienst und ein behutsames Heranfüh- 6 2|2019
Titelthema technische Sachen begeistern“, erinnert an die Menschen anzupassen und nicht sich auch Jan und erzählt von Experi- die Menschen an das Umfeld“, betont menten mit Legosteinen und Fischer- Dr. Thelemann. technik, von selbst gebauten Getränke- automaten, der Zeit in der Oldtimer- Auf Pausen achten Werkstatt des Vaters oder ersten Pro- Insbesondere gilt es darauf zu achten, grammiererfahrungen in der Computer- die Azubis nicht zu überfordern. Der AG seiner Schule. Grund: Autisten bewegen sich – ohne es rechtzeitig zu merken – oft an ihrer Be- Kopfhörer schirmt ab lastungsgrenze und überschreiten die- Im BBW hat der Abiturient nun endlich se – mit entsprechenden negativen Fol- den geeigneten Platz gefunden, um aus gen für den Betroffenen und das Um- seinen Talenten einen Beruf zu machen. feld. Um dem vorzubeugen, sind regel- Er sitzt gerade an seinem Platz im hin- mäßige Pausen wichtig. So haben Jan tersten Raum des Lok-Centers an einer und seine Kollegen jeweils am Vor- und Programmieraufgabe. Vor sich zwei Nachmittag zusätzlich zur Frühstücks- Bildschirme, eine Tasse Kaffee. Und auf und Mittagspause noch eine weitere seinem Kopf der fast obligatorische Fünf-Minuten-Auszeit zur freien Verfü- Kopfhörer. „Damit kann ich mich besser gung. „Dann geht man zum Beispiel konzentrieren.“ Manchmal läuft Musik. raus auf den Balkon, um den Kopf frei „Oft trage ich ihn aber auch nur, um die zu bekommen“, sagt Leander – und Umgebungsgeräusche zu reduzieren.“ kehrt anschließend wieder mit neuer Dieses Bedürfnis nach Ruhe sei typisch Energie zurück an die Bildschirme. Viel- für seine Azubis, erklärt Uwe Weißenrie- leicht findet sich ja heute noch der feh- der. Und darauf Rücksicht zu nehmen, lerhafte Code im Computerspiel – ir- ren an den allgemeinen Arbeitsmarkt entspricht ganz der Autismus-Konzepti- gendwo zwischen Programmierzeile über Praktika in Partnerbetrieben, die on des BBW. „Es geht darum, das Umfeld 550 und 650. (ck) in engem Austausch mit dem BBW ste- hen. Ansonsten lernen die angehenden Fachinformatikerinnen und Fachinfor- matiker ihr Rüstzeug für den Job seit 2016 im „Lok-Center“, einer Außenstelle des BBW für seine IT- und Büroberufe in der Ravensburger Bahnstadt. „Wir ha- ben hier alles, was wir für unsere Azubis – insbesondere jene mit Autismus – brauchen“, so Ausbilder Uwe Weißen- rieder: „Eine gute IT-Infrastruktur, Ruhe und Räume mit Rückzugsmöglichkei- ten.“ Gute Vermittlungschancen Unter diesen Bedingungen gelingt dann auch der Einstieg ins Berufsleben. So haben fast alle Fachinformatik-Absol- venten des Sommers 2019 – die Hälfte davon Autisten – gleich nach ihrem Ab- schluss eine Beschäftigung gefunden, freut sich Uwe Weißenrieder. Sowieso sind IT-Berufe unter Autisten sehr be- Kopfhörer auf, Kaffeetasse auf dem Tisch und der konzentrierte Blick auf die Bildschirme: typische Szene im Ausbil- liebt. „Ich konnte mich sehr früh für dungsalltag der angehenden IT-Fachkräfte im „Lok-Center“. 2|2019 7
Titelthema „Das Umfeld an die Menschen anpassen – nicht umgekehrt“ Dr. Stefan Thelemann, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Traumatherapie und Suchtmedizin, leitet im Berufsbildungswerk den Fachdienst Diagnostik und Entwicklung. Dieser hat unter seiner Regie schon vor Jahren eigene speziel- le Konzepte für bestimmte Störungen erarbeitet – zum Beispiel bei ADHS oder eben auch Autismus. Herr Dr. Thelemann, der Ruf als Berufsbildungswerk mit einer Es gab diese Menschen deshalb nicht, weil sie nicht diagnosti- ausgesprochenen Expertise in Sachen Autismus eilt Ihnen ziert wurden. Heute geschieht das sehr viel früher und zuver- längst voraus. Seit gut anderthalb Jahrzehnten schon bildet lässiger, weil sich die diagnostischen Grundlagen in der Kin- das BBW Menschen aus dem Autismus-Spektrum erfolgreich der- und Jugendpsychiatrie in den vergangenen Jahren we- aus. Jetzt haben Sie sich offiziell zertifizieren lassen – warum? sentlich verbessert haben. In der Regel liegt die Autismus-Dia- Das Gütesiegel „Autismus gerechtes Berufsbildungswerk“ und gnose also schon vor dem Übergang in Ausbildung und Beruf die damit verbundene externe Beurteilung unserer Arbeit ist vor, sodass die jungen Menschen aufgrund dieser Störung bei ein sichtbares Zeichen, dass hinter den ganzen Programmen, uns im BBW angemeldet werden – und zwar aus einem immer Konzepten und Maßnahmen die nötige Qualität steckt, um größeren Einzugsgebiet. Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung optimal zu betreuen und zu fördern. Das ist nicht nur eine Orientierungs- Trotz dieser Entwicklung ist aber auch Ihr Fachdienst noch in hilfe für Betroffene und ihre Angehörigen. Gerade gegenüber der Autismus-Diagnostik gefragt… unseren Kostenträgern wird es immer wichtiger, anhand sol- Ja, wir bekommen regelmäßig auch Anfragen von Erwachse- cher Zertifizierungen das vorhandene Know-how auch formal nen aus der Altersgruppe zwischen 25 und 45 Jahren, die sich nachweisen zu können. Und das ist dann letztlich auch ein Kri- bei uns diagnostizieren lassen wollen. Aber auch bei unseren terium für die gute Belegung… Jugendlichen kommt es immer wieder mal vor, dass sie erst …die zeigt, dass Ihnen und Ihrer Arbeit ja offenbar bisher hier ihre Autismus-Diagnose erhalten oder dass wir auf der an- schon eine große Wertschätzung entgegengebracht wird – ist deren Seite bei ihnen feststellen: Es liegt gar keine autistische der Anteil der angemeldeten Teilnehmenden mit Autismus im Störung vor, sondern zum Beispiel eine Bindungsstörung, bei BBW doch in den vergangenen Jahren stark gestiegen. der die Symptome ganz ähnlich sein können – und die Liste Wir haben hier am BBW einmal mit drei Betroffenen angefan- dieser sogenannten Differenzialdiagnosen ist sehr lang. Gene- gen und uns dann immer mehr spezialisiert. Aktuell betreuen rell wird eine Autismus-Diagnose heutzutage aber immer frü- wir in unseren verschiedenen Maßnahmen in Berufsvorberei- her gestellt. Optimaler Weise sollte sie schon im Grundschulal- tung und Ausbildung über 130 junge Menschen mit einer Au- ter vorliegen, um mit entsprechenden Hilfen so früh wie mög- tismus-Spektrum-Störung. lich beginnen zu können. Wobei Autismus bei jungen Mäd- chen immer noch vergleichsweise spät entdeckt wird, oft erst Wie lässt sich dieser Anstieg erklären? Gab es früher nicht so mit 17 oder 18 Jahren. viele Autisten, oder wurden sie nur nicht als solche erkannt? 8 2|2019
Titelthema Warum ist das so? muss man in der Ausbildung und auch später im Arbeitsleben Weil sie es besser kompensieren können, oder auch weil sie achten. Dieser Überschreitung der Belastbarkeitsgrenze gilt es zum Beispiel zusätzliche Essstörungen oder Depressionen ent- vorzubeugen durch entsprechende Maßnahmen. Eine richtige wickeln, die dann in den Vordergrund drängen und den Autis- Belastungssteuerung ist also enorm wichtig; Ruhepausen müs- mus „verdecken“. sen eingehalten, Auszeiten gewährt werden. Und das Umfeld und die Vorgesetzten brauchen das nötige Wissen, um damit Und doch gibt es auch Fälle junger Männer, die lange nichts adäquat umzugehen. von ihrem Autismus wussten und dann erst auf der Uni oder sogar erst nach dem Berufsstart deswegen scheiterten. Dann klappt es mit dem Sprung in den Job? Es gibt hochfunktionale Autisten, die im Abi oder auch im Stu- Dann kann es gut klappen. Wir haben allein in diesem Som- dium zunächst noch ganz gut klarkommen. Erst, wenn es um mer rund 50 Absolventen mit einer Autismus-Spektrum-Stö- komplexe soziale Aufgaben geht, rung in den Arbeitsmarkt verabschiedet. wenn die in Schule und Uni vorgege- Die allermeisten von ihnen haben eine benen Strukturen verloren gehen, gibt Wir bieten jungen Beschäftigung gefunden. es Probleme. Und dann landen solche Menschen nach Abbruch ihres Studi- Menschen mit Autismus Apropos Arbeitsmarkt: Sind es tatsäch- ums unter anderem im BBW, um hier ein optimales Umfeld für lich die als typisch geltenden Berufe in eine Ausbildung zu machen – in einem Informatik oder Lagerlogistik, die für Au- Umfeld, das ihnen das ermöglicht. einen beruflichen Start tisten attraktiv sind? Wie sieht dieses Umfeld aus? oder Neustart. Es kommen durchaus auch Autisten als Schreiner oder in der Landwirtschaft un- Da geht es um Dinge wie die Schaffung ter, das kommt immer auf die betroffene einer reizarmen Arbeitsumgebung mit genügend Rückzugs- Person an. Manche entscheiden sich auch für Dienstleistungs- möglichkeiten, festen Bezugspersonen, verlässlichen Struktu- berufe wie im Verkauf und bekommen das gut hin, wobei das ren und einem realistischen Arbeitspensum, das Unter- und eher die Ausnahme ist. Denn es gibt natürlich schon ein paar Überforderung vermeidet. Wir bieten jungen Menschen mit Berufe, die vielen Menschen mit Autismus von der Struktur Autismus ein optimales Umfeld für einen beruflichen Start her besser liegen als andere. Jobs in der IT oder im Bereich La- oder Neustart. Unsere Fachkräfte aus Berufsschule, Ausbildung ger gehören hier dazu. Aber nicht jeder Mensch mit Autismus und Wohnheim sind geschult und erfahren im Umgang mit ist gleich. Je stärker oder schwächer er von der Störung betrof- den speziellen Bedürfnissen dieser Klientel. Dazu unterstüt- fen ist, desto mehr oder weniger öffnet sich für ihn auch die zen wir vom Fachdienst Diagnostik und Entwicklung den Aus- Berufswelt. (ck) bildungsprozess durch Autismus spezifische Beratung, Trai- nings und Coaching. Unsere Aufgabe ist es, in der Ausbildung und dann später auch auf dem Arbeitsmarkt gemeinsam mit den betroffenen Azubis geeignete Nischen zu finden, in denen sie ihre Talente, Fähigkeiten oder Spezialinteressen entfalten können und die individuell auf sie zugeschnitten sind. Es geht darum, das Umfeld an die Menschen anzupassen und nicht die Menschen an das Umfeld. Das gilt insbesondere auch für die Belastungssteuerung. Autisten agieren im Alltag stets an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Der Puffer ist geringer als bei Men- schen ohne Beeinträchtigung. Wie meinen Sie das? Menschen ohne Autismus haben ungefähr einen Puffer von 20 Prozent, um ein Mehr an Stress abzufangen. Das heißt: Wir so- genannten neurotypischen Personen bewegen uns im Ar- beitsalltag normalerweise nicht ständig am Anschlag. Bei Menschen mit Autismus ist diese Reserve geringer. Sie merken erst im Nachhinein, wenn sie sich zu viel zugemutet haben. Die Gefahr der Überforderung ist bei ihnen viel größer. Darauf 2|2019 9
Titelthema „Wie ein anderes Betriebssystem“ Wie es mit autistischen Menschen am Arbeitsplatz klappt – und welche Fallstricke es gibt Mein Kollege – ein Autist. Auf was müssen Mitarbeitende oder Führungskräfte im Umgang mit einem Menschen mit Autismus am Arbeitsplatz achten? Wie gelingen im Betrieb eine gute Zusammenarbeit im Alltag und die Vermeidung von Missverständnissen? Auch hier helfen die Autismus-Experten des BBW. Ob Praktika, Ausbildungspartnerschaften, die Vermittlung von BBW-Fachdienst klärt auf Absolventen oder umgekehrt auch Schulungen, Lehrmodule Gabriele Schneider und Manfred König, Psychologen beim oder Fortbildungen: Das BBW arbeitet eng mit Partnerfirmen BBW-Fachdienst Diagnostik und Entwicklung, klärten die Vet- aus der ganzen Region zusammen. Vom kleinen Familienbe- ter-Ausbilder gerne und umfassend auf. Es ging dabei um das trieb bis hin zum Global Player zählen mehrere hundert Unter- spezielle sensorische Empfinden von Autisten gegenüber aku- nehmen zum Kooperationspool. Auch der Ravensburger Phar- stischen und optischen Reizen, es ging um ironische Anmer- mazulieferer Vetter gehört dazu. Denn, so Sven Oliver Burandt kungen, die von einem Autisten wörtlich genommen und da- – Leitung kaufmännische Ausbildung von Vetter: „Wir haben durch in ihrem Sinn nicht verstanden werden. Es ging um die es mit Menschen zu tun. Da ist es völlig klar, dass es auch in als übertrieben erscheinende Akribie von Menschen mit Autis- der Ausbildung immer wieder besondere Herausforderungen mus. Auch erfuhren Burandt und seine Kollegen, wie wichtig gibt. Und je mehr man über Menschen und ihre Probleme klare Anweisungen für Autisten sind. weiß, desto besser können wir reagieren“. Deshalb entschied die Abteilung „Ausbildung“ seitens Vetter, sich zum Thema Informationen für Betriebe Autismus weiterzubilden. Solche für Autismus typische Auffassungen und Verhaltens- weisen zu erklären und zu übersetzen sowie den Betroffenen Ob in der IT, im Lagerbereich oder anderswo: Wenn das Drumherum passt, können wirksame Instrumente zur Hand zu geben, gehört zum berufli- Betriebe in einem Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung einen zuverlässi- chen Alltag von Manfred König, Gabriele Schneider und ihren gen und treuen Mitarbeiter finden. Fachdienstkolleginnen und -kollegen. Sie besuchen BBW-Azu- bis mit Autismus regelmäßig an deren Ausbildungsplätzen, et- wa im Lok-Center (siehe Seite 6). Und bevor diese dann exter- ne Praktika beginnen, wird für sie ein individuelles Personen- profil erstellt – eine Art Plan für Kollegen und Ausbilder vor Ort: Was kann der jeweilige Azubi, was braucht er, welche Rahmenbedingungen benötigt er? Auch Nicht-Autisten haben Grenzen Um Verständnis dafür zu wecken, warum Autisten in vielen Dingen anders agieren, bemüht Gabriele Schneider gerne die sogenannte Computermetapher: „Man muss es sich vorstellen wie zwei Betriebssysteme – ein neurotypisches und ein autisti- sches.“ Und je nachdem für welche Anwendung man es brau- che, sei mal das eine oder auch mal das andere besser. „Mir ist es immer wichtig, dass auch die Nicht-Autisten um ihre Gren- zen wissen“, betont Schneider. Unter gewissen Umständen, so die Psychologin, könnten Menschen mit Autismus-Spektrum- Störung auch in Betrieben ausgebildet werden – vorausge- setzt, es sei die Bereitschaft da, sich auf die Besonderheiten des Azubis einzulassen sowie eine kompetente Unterstützung von außen, wie die durch die BBW-Fachdienste. (ck) 10 2|2019
Titelthema Diagnose plus Jobangebot Fachdienst-Mitarbeiterin Anja Pluto teilt mit vielen BBW- Azubis die Diagnose Autismus Gekommen zur Diagnostik – geblieben als Mitarbeiterin: Die Ärztin Anja Pluto, selbst vom Asperger-Syndrom betroffen, ist seit diesem Jahr neu im Team des Fachdienstes Diagnostik und Entwicklung im BBW. Erst die späte Diagnose eröffnete ihr unverhofft eine neue berufliche Perspektive und die Rück- kehr in ihren eigentlichen Job. Nun will sie ihre Erfahrungen an die jugendlichen Auszubildenden weitergeben und diese auf dem Weg ins Arbeitsleben unterstützen. „Für mich war es auf jeden Fall eine Erleichterung“, sagt Anja hieß es immer. Ein erster Online-Test lieferte nun aber bereits Pluto über ihre Diagnose Autismus. Viel zu lange musste die ein ziemlich eindeutiges Ergebnis und bestätigte sie in ihrer heute 41-jährige Ärztin darauf warten, bis sie endlich schwarz Ahnung: „Jetzt brauche ich eine seriöse Diagnose.“ auf weiß hatte, warum sie sich „irgendwie anders“ fühlte. So vieles erklärt sich nun rückwirkend erst. Nein, es ist keine Per- Diagnose bestätigt den Verdacht sönlichkeitsstörung, wie man ihr einmal fälschlicherweise at- Über Umwege wurde sie schließlich an Dr. Stefan Thelemann, testieren wollte. Und nein, auch kein ungelöstes Problem aus Kinder- und Jugendpsychiater sowie Leiter des Fachdienstes der Kindheit, das man in vielen Psychotherapiesitzungen her- Diagnostik und Entwicklung im BBW, verwiesen. Von ihm und auszufinden versuchte. „Dabei hätte ich konkrete Hilfe ge- seiner Kollegin, der Psychologin Gabriele Schneider, bekam braucht, kein Wühlen in der Vergangenheit.“ So kamen bei ihr Anja Pluto nicht nur die Diagnose – ja, es ist tatsächlich Autis- sogar Schuldgefühle auf, „weil die Therapien alle nicht an- mus – sondern zu ihrer Überraschung auch gleich ein Jobange- schlugen, obwohl ich mich sehr bemüht habe. Irgendwie hat bot dazu. „Ich war perplex“, erzählt Pluto. nichts richtig gefruchtet“. Stattdessen bekam sie von anderen „Wenn nicht bei uns, wo sonst?“, meint Dr. Thelemann zu der immer wieder gesagt: Du bist intelligent, gutaussehend, gut spontanen Offerte. Als Autismus gerechtes Berufsbildungs- ausgebildet – warum klappt es in deinem Leben nicht? „Jetzt“, werk passt hier das Umfeld, eine offene Stelle war gerade zu so Anja Pluto, „habe ich eine Antwort“. besetzen, Anja Pluto hat die entsprechende Qualifikation. Und zudem kann sie ihr Wissen an die Jugendlichen authentisch Begegnungen im Bus weitergeben. Diese profitieren vom Erfahrungsschatz der Ärz- Eine Antwort darauf, warum es nach abgeschlossenem Medi- tin, gerade was die Hürden beim Jobeinstieg angeht. Eine zinstudium im Beruf zunächst nicht funktionieren wollte. „Win-Win-Win-Situation“ sozusagen. „Ich hätte sonst viel- Mehrfach trat sie eine Stelle als Ärztin an. „Aber das ging nie leicht nie mehr als Ärztin gearbeitet“, freut sich Pluto über die lange gut.“ Sie überforderte sich, wollte zu viel. Schließlich unverhoffte Wende in ihrem Berufsleben. landete sie in einem Job als Kleinbusfahrerin für Menschen mit Handicap. Unter ihren regelmäßigen Fahrgästen: drei Auti- Neuanfang im BBW sten. Und irgendwann war ihr klar: „Wenn DIE Autismus ha- Im Sommer 2019 stieg sie in Teilzeit im BBW ein. Ihr Ar- ben, dann habe ich das auch.“ Zum ersten Mal habe sie sich beitspensum soll nun – mit Rücksicht auf die Autismus spezifi- mit etwas identifizieren können, und so reifte die Erkenntnis sche Belastungssteuerung (siehe auch Interview auf Seite 8) – in ihr: „Ich glaube, ich habe Autismus.“ Zuvor sei diese Mög- langsam gesteigert werden. Dr. Thelemann ist schon jetzt froh lichkeit trotz ihrer Odyssee von Behandlung zu Behandlung über den Neuzugang in seinem Team und ist sich sicher: „Wa- nie in Betracht gezogen worden. Sie sei ja „schwingungsfähig“, rum soll es bei uns nicht klappen?“ (ck) 2|2019 11
Einen Augen bli ck bi tte .. . Catherine Bour Seit wann arbeiten Sie für die Stiftung Liebenau? Wie verbringen Sie Ihre Freizeit? Ich mache viel Ich arbeite seit Februar 2010 als Lehrerin im Be- Sport und reise gerne durch die Welt. Ich mag le- rufsbildungswerk. sen, schlafen, kochen und essen. Außerdem sind mir Freunde und Familie sehr wichtig. Gemeinsam Was machen Sie dort? Ich unterrichte die theoreti- mit ihnen verbringe ich sehr gerne meine Freizeit. schen Fächer im VAB (Vorqualifizierungsjahr Ar- Catherine Bour beit/Beruf) in einer Klasse speziell für Jugendliche Was schätzen Sie an der Stiftung Liebenau? An der ist 35 Jahre alt mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Außerdem Schulleitung schätze ich, dass wir für unsere Auti- und Sonderschul- darf ich eng mit dem Wohnheim zusammenarbei- sten-Klassen neue Räume bekommen haben. Und ten. Das heißt: Ich nehme an Teamsitzungen und die Möglichkeit, sich fortbilden zu können und zu lehrerin an der Hilfeplangesprächen teil. Und seit 2018 bin ich Mit- dürfen, finde ich bemerkenswert. Josef-Wilhelm- glied in der Mitarbeitervertretung (MAV). Schule des Be- Welche Schlagzeile würden Sie in der „Auf Kurs“ rufsbildungs- Was finden Sie besonders interessant an Ihrer Ar- gerne lesen? „Die Arbeitszeiterfassung für Lehr- werks in Ravens- beit? Jeder Tag ist anders. Es ist eine Herausforde- kräfte wurde wieder abgeschafft“ oder „Der Klas- rung, jeden Tag spontan und flexibel zu reagieren. senteiler in der Autismus-Klasse wurde auf sieben burg. Es wird also nie langweilig. Ich mag das strukturier- Schülerinnen und Schüler gesenkt“. te Arbeiten und die Freiheit, individuell im Unter- richt agieren zu können. Ich finde es sehr ange- Das BBW ist ein Inklusionsschlüssel, weil… wir je- nehm, in unseren neuen Räumen in einem tollen den Jugendlichen in seiner Einzigartigkeit und Ent- Team zu arbeiten und unsere Konzeption umzuset- wicklung unterstützen. zen. Wenn Sie nicht Lehrerin geworden wären,… wäre ich gerne Sängerin geworden. 12 2|2019
Titelthema Ein starkes Netzwerk Das Berufsbildungswerk der Stiftung Veranstaltung als etabliertes Forum in Liebenau engagiert sich auch als Mit- Sachen Autismus und als wichtige Kom- glied des Kompetenznetzwerkes Autis- munikationsplattform insbesondere für mus Bodensee-Oberschwaben und ist in Experten und Fachkräfte. Der nächste dieser Funktion Gastgeber eines jährli- Fachtag Autismus findet am 25. Januar chen Fachtages. 2020 im Ravensburger BBW statt. Nähe- Mit spannenden Themen aus Theorie re Infos zum Programm und zur Anmel- und Praxis, namhaften Referentinnen dung gibt es rechtzeitig auf: und Referenten und den jeweils zahlrei- www.stiftung-liebenau.de/bildung/ chen Gästen aus Nah und Fern gilt die aktuelles/fachtag-autismus Autismus zum Lesen Lust, mehr über das Thema Autismus und das Asperger- Einen kompakten wissenschaftlichen Überblick – fachlich Syndrom zu erfahren? Aus der Vielzahl an Fachliteratur auf höchstem Niveau, aber dennoch gut verständlich – über empfehlen die Autismus-Experten des Berufsbildungs- Ausprägungen, Diagnostik und Therapie von „Autismus- werks unter anderem diese drei Bücher: Spektrum-Störungen bei Erwachsenen“ findet man in dem gleichnamigen Buch (Psychiatrie Verlag) von Andreas Mit „AUT IST IN“ zwar etwas plakativ betitelt, bietet das Riedel und Jens Jürgen Clausen. Sie gewähren darin einen schön aufgemachte, reichhaltig bebilderte und gut zu le- praxisnahen Zugang zu den Lebenswelten von Autisten sende Großformatbuch von Heike Drogies (Lebenskünstler- und helfen so mit, diese Menschen im Alltag besser zu ver- Verlag) jedoch einen spannenden Einstieg in das weite Feld stehen. einer Autismus-Spektrum-Störung. Neben einer kurzen Ab- Riedel ist auch einer der Autoren des von Prof. Dr. Ludger handlung grundlegender Fragen zu Formen, Diagnostik Tebartz van Elst herausgegebenen Sammelbandes „Das und Förderung stehen auf den 100 Seiten dann aber vor al- Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter und andere lem die betroffenen Menschen selbst – Kinder, Ju- hochfunktionale Autismus- gendliche und Erwachsene Spektrum-Störungen“ – ein – und ihre individuellen Ge- umfangreiches Praxisbuch mit schichten im Mittelpunkt. Beiträgen von Wissenschaft- Und so nimmt das Buch sei- lern und auch autistischen Ex- ne Leserinnen und Leser perten. Es spannt inhaltlich tatsächlich mit auf eine Ent- den Bogen von Grundlagen- deckungsreise, bei der es – wissen über Diagnostik und wie es im Klappentext heißt neue Therapiekonzepte bis – nicht darum gehen sollte, hin zum sozialen Umfeld und ob jemand „normal“ oder der Arbeitswelt (Medizinisch „anders „ ist. Denn: „Normal Wissenschaftliche Verlagsge- ist, dass alle Menschen unter- sellschaft). (ck) schiedlich sind.“ Buchtipps 2|2019 13
BBW im Überblick Zum Praxiseinsatz nach Bregenz Auszubildende aus dem BBW renovieren inklusives Ferienhaus am Bodensee Neuer Anstrich für „Helmuts Hütte“ und grenzüberschreitender Beitrag zur Inklusion: Ravensburger BBW-Azubis haben einen Bregenzer Ferienbungalow renoviert. In diesem wohnen Men- schen mit und ohne Behinderungen während gemeinsamer Segelfreizeiten auf dem Bodensee – organisiert vom Lindauer Verein Schiffer-Gilde e. V. Insgesamt 13 angehende Bauten- und Objektbeschichter aus dem ersten Lehr- jahr waren zusammen mit ihrem Ausbil- der Armin Stieler und ihrer Bildungsbe- gleiterin Karin Zwisler im Einsatz. Sechs Arbeitstage – verteilt über drei Wochen – arbeiteten sie vor Ort und verpassten dem Ferienhäuschen neue Tapeten und einen frischen Innenanstrich. Für die Ju- gendlichen – so Zwisler – sei dies nicht nur wegen der willkommenen Ab- Freuen sich über die frisch renovierte „Helmuts Hütte“: die Auszubildenden aus dem Bereich Farbe des Ravensbur- wechslung zum Ausbildungsalltag eine ger Berufsbildungswerks Adolf Aich mit Ausbilder Armin Stieler (hinten rechts) und Bildungsbegleiterin Karin Zwis- ler (vorne links), die Vertreter von Schiffer-Gilde e. V. Otto Schultheis und Antje Orlich (hinten von links) sowie tolle Sache, konnten sie sich doch als Lamm-Wirt Daniel Schenk (vorne rechts). Azubi-Neulinge hier auch gleich in ei- nem echten Praxiseinsatz beweisen – zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Gasthof Lamm, der „Helmuts Hütte“ und BBW schnell geknüpft, als es hieß: „Hier weitere Unterkünfte bereits seit Jahr- sollte man mal wieder renovieren.“ „Eine tolle Aktion“ zehnten an die Schiffer-Gilde vermietet. „Wir bekommen schließlich nicht im- Die Partnerschaft mit dem Verein sei in Alle Beteiligten haben profitiert mer die Möglichkeit, ein derart umfang- seinem Hause schon „Familientraditi- Nun sind die Arbeiten abgeschlossen reiches Ausbildungsprojekt zu ma- on“, wie Lamm-Wirt Daniel Schenk be- und alle haben profitiert: Die BBW-Azu- chen“, freut sich Armin Stieler. Und tont. Die Schiffer-Gilde hat es sich zur bis konnten viel lernen und stellten da- auch die Schiffer-Gilde ist voll des Lo- Aufgabe gemacht, das Zusammenleben für ihre Arbeitskraft zur Verfügung, die bes: „Eine tolle Aktion“, findet Vereins- von Menschen mit und ohne Behinde- Materialkosten trug der Gasthof Lamm, vorsitzende Antje Orlich und verweist rungen im Sinne des Inklusionsgedan- und die Feriengäste der neuen Saison auf den Inklusionsgedanken: Jugendli- kens zu fördern. Dazu werden von dem freuen sich über den neuen Glanz in che mit besonderem Teilhabebedarf Lindauer Verein Segelfreizeiten, Tages- „Helmuts Hütte“. Als Dankeschön winkt werden auf dem Weg in den Beruf unter- touren und einwöchige Segeltörns auf den fleißigen Jugendlichen ein weiterer stützt, arbeiten gleichzeitig für Men- dem Bodensee veranstaltet. Jeweiliger Ausflug nach Bregenz: „Im Gegenzug für schen mit Handicap „und schaffen da- Ausgangspunkt ist Bregenz. ihren Einsatz dürfen die Azubis ein paar bei etwas Bleibendes“. Als Betreuerin war auch Karin Zwisler Tage zu uns zum Segeln kommen“, ver- Für die kulinarische Unterstützung in schon mehrmals mit an Bord gewesen. spricht Otto Schultheis, erster stellver- den Mittagspausen sorgte der nahe Von daher waren die Kontakte zum tretender Vereinsvorsitzender. (ck) 14 2|2019
BBW im Überblick Maler-Azubis streichen Vereinsheim Dank einer Gruppe von Maler-Azubis toll, mal was anderes zu machen“, be- des dritten Lehrjahres aus dem BBW er- richtet Hasan Akgül. So erhielt das Ver- strahlt das Klubheim des SV Mochen- einsheim einen neuen Außenanstrich, wangen in neuem Glanz – rechtzeitig und auch das SVM-Klubwappen er- zur Feier des 100-jährigen Vereinsbeste- strahlt nun wieder in kräftigen Farben. hens im kommenden Jahr. Für die angehenden Fachkräfte war das Zustande kam die Zusammenarbeit Ganze nicht nur ein guter Praxistest, über BBW-Ausbilder Hasan Akgül, der sondern auch darüber hinaus ein Ge- viele Jahre lang selbst für den SVM aktiv winn, wie Madeleine Haubner, stellver- Fußball spielte, und den Vereinsvorsit- tretende Abteilungsleiterin Bildung und zenden Florian Holzberger, Sonder- Arbeit im BBW, betont: „Unsere Jugend- schullehrer in der ebenfalls zur Stiftung lichen bekommen so Wertschätzung, Liebenau gehörenden Don-Bosco-Schu- novierungsprojekt auf die Beine zu stel- setzen sich selbst für ein soziales Pro- le. Bei einem Schulbesuchstag trafen len. Die Abmachung: Der Klub stellt das jekt zugunsten der Allgemeinheit ein die beiden im BBW aufeinander und ka- Material zur Verfügung, das BBW die Ar- und erfahren dabei, dass das auch echt men auf die Idee, zusammen dieses Re- beitskraft seiner Azubis. „Die fanden es Spaß machen kann.“ (ck) Deutscher Meistertitel für BBW-Fußballer Das Fußball-Team des Berufsbildungs- wo es seine gute Form nahtlos fortsetzte werks Adolf Aich (BBW) ist erstmals und sich ins Finale spielte. Gegen die Deutscher Meister: In einem spannen- Gastgeber aus Winnenden konnten die den Endspiel holte sich die von den Be- Kicker aus Oberschwaben dann trotz treuern Simon Wiedemann und Stefan Unterzahl wegen einer roten Karte in Ott trainierte Mannschaft den Sieg beim der Verlängerung das spielentscheiden- Finalturnier in Winnenden. de Tor zum 1:0-Endstand erzielen – und Zwölf Mannschaften aus dem gesamten damit zum ersten Mal in der Geschichte Bundesgebiet spielten dort um den Ti- des BBW Adolf Aich den Gewinn der tel. Auch das Ravensburger BBW hatte Deutschen Fußballmeisterschaft der Be- sich als amtierender Südwestdeutscher rufsbildungswerke feiern. (ck) Champion für die Endrunde qualifiziert, Tschüss BBW, hallo Arbeitsmarkt Grund zum Jubeln: 129 junge Menschen haben im BBW in Ravensburg im Som- mer 2019 ihre Ausbildung abgeschlos- sen, um nun bestens gerüstet und mit guten Perspektiven ins Berufsleben starten zu können. 2|2019 15
BBW im Überblick Guck mal… BBW Open 2019 q Ausbildung live erleben: Beim „BBW Open“ konnten lnteressierte den Azubis bei ihrer Arbeit in den Werkstätten des Ravensburger Berufsbildungswerks über die Schulter schauen. p „Informieren, erleben, staunen“ – Unter diesem Motto des dies- jährigen „BBW Open“ kamen auch die jüngeren Besucherinnen und Besucher bei zahlreichen Mitmachaktionen und Bastelangeboten voll auf ihre Kosten. t Zum Schminken oder doch lieber bunte Bändchen basteln? Für Kinder gab es an jeder Ecke kreative Angebo- te, sich selbst ein Mit- bringsel vom „BBW Open“ herzustellen. p Vom Azubi zum Verkäufer in drei Jahren: So sieht der Fahr- plan aus für den Weg in den Be- ruf. u Los geht’s: Beim Spendenlauf zugunsten des BBW-Hilfsprojektes „Berufliche Chancen für Afrika“ konnten sportlich Aktive unter anderem zusammen mit BBW-Geschäftsfüh- rer Herbert Lüdtke (2. v. r.) für den guten Zweck an den Start gehen. 16 2|2019
Impuls Abschied vom Abschiedsmenschen von Prälat Michael H. F. Brock Ich möchte gern den Abschiedsmen- Freundschaft, Berührung, Glück. Zu Wer neu anfängt, hat andere Fragen, ei- schen Mut zusprechen. Was ist ein Ab- hoch gegriffen? Nein. Unterhalb der nen anderen Blickwinkel. Einen, den schiedsmensch, fragst du? Na, eben Hoffnung bleibt ja nur Abschied. ich den Abschiedsmenschen wünsche: Menschen, die sich ständig verabschie- Manchen Menschen muss man es zusa- Ein kurzer Blick zurück in Dankbarkeit: den. Erst verabschieden sie sich von gen, also sage ich es: Schau beim Ab- Ich bin ich, wie ich geworden bin, ge- den Visionen und Träumen der Jugend, schied nicht zurück, wehmütig schon reift. dann von ihrer Natürlichkeit, damit gar nicht. Du kannst an vergangenen Ta- Gut, es gab auch Verletzungen. Auch Au- meist auch ihrer Schönheit, bis sie hin- gen nichts mehr ändern. Aber du darfst genblicke, von denen ich mich eigent- einpassen in die Welt, wie sie wirklich neu beginnen. JedenTag darfst du neu lich nicht verabschieden möchte. Aber ist. Rollenverhalten ist das Gebot der beginnen. jetzt gilt: Was bringe ich mit in meine Stunde. Aufgaben, Herausforderungen. Beginne mit den Träumen. Versuch, neue Zukunft? Wer bin ich heute für Es sind nicht alle Menschen Abschieds- wieder zu träumen. Du musst immer morgen? Was kommt auf mich zu? Inne- menschen, aber doch viele, die das Le- ernst sein? Komm, ich schenk dir ein La- halten, tief durchatmen. ben einfach bewältigen wollen. Und es chen. Es ist ein Lachen des Neubeginns. Ich wünsche den Abschiedsmenschen ist ja auch nicht leicht. Schule ist eine Und hör endlich auf zu rennen. So als Perspektiven von Zukunft. Das wäre es: Hürde, für manche schon der Kinder- könnte man dem Abschied davonlau- Denn das Leben gilt es nicht zu bewälti- garten. Ausbildung ist eine Hürde, für fen. Bleib einen Augenblick stehen. gen. Und wir dürfen niemals das Gefühl manche das Studium. Berufswahl wird Wähle eine Richtung, wähle, wähle! Ein bekommen, von Rollen oder Anforde- zum Lotteriespiel oder zur Überlebens- Neuanfang ist nicht immer die Garantie rungen erdrückt zu werden. Es gilt zu le- frage. Partnerwahl ist Abschiednehmen dafür, dass alles besser wird. Aber er ist ben. von den vielen Möglichkeiten. eine Garantie dafür, dass es anders Sicher: das Leben ist nicht immer ein- Wer aber das Leben bewältigen möch- wird. Du wendest ein, dass das beim Ab- fach. Und doch hängt viel an der Per- te, der gehört mit Sicherheit zu den Ab- schiednehmen auch so ist. Das mag sein. spektive, die ich wähle: Beginne ich schiedsmenschen. Und am Ende bleibt Aber der Blickwinkel ist ein vollkom- neu, jeden Tag neu. Jeden Lebensab- jenen nur das Abschiednehmen vom Le- men anderer. Wer Abschied nimmt, schnitt neu? Oder reihe ich Abschied an ben. Das ist keine mutige Perspektive, schaut zurück: Habe ich alles richtig ge- Abschied? Ich setze auf den Neubeginn. eine hoffnungsvolle schon gar nicht. macht? Wie verlasse ich den Ort, die Der braucht Mut, Zuversicht. Manchmal Aber ich möchte Hoffnung stiften, Kollegen, die Freunde? auch nur Vertrauen. 2|2019 17
Meine Geschichte – mein Ritual Da ist noch jemand Rituale geben dem Alltag Struktur, schaffen einen Übergang zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Tag und Nacht und zwischen verschiedenen Tätigkeiten. Für unsere Serie haben wir Sibylle Porske gefragt. Sie ist Konrektorin und Religionslehrerin an der Ulmer Max-Gutknecht-Schule, in der eine ganze Reihe an christlichen und spirituellen Ritualen gepflegt wird. Es ist Montagmorgen. Sibylle Porske Auftakt dieser mehrteiligen Veranstal- „Dass da noch jemand da ist, der uns im kommt gerade aus dem „Raum der Stil- tung auch im Keller statt, ehe man sich Alltag hilft.“ Und genau dieses Gefühl, le“ in der „Schillerstraße 15“, der Hei- im Gebäude Schritt für Schritt nach nicht allein zu sein, wolle die Max-Gut- mat von Max-Gutknecht-Schule (MGS) oben arbeitet, um dann in der licht- knecht-Schule auch ihren Schülerinnen und Regionalem Ausbildungszentrum durchfluteten Aula im Obergeschoss die und Schülern vermitteln. Das Gefühl, als (RAZ) in Ulm. Ihre Klasse ist dort mit ei- große Weihnachtsfeier zu begehen. Mensch wertgeschätzt zu werden – und nem Morgenkreis in eine neue Woche Auch hier gilt: die christlich-katholische zwar so, wie man ist. Ohne, dass man gestartet. Porske und die anderen Lehr- Prägung der Einrichtungen wird zele- erst etwas beweisen muss. Und dass je- kräfte nutzen diesen Raum gerne für briert, dabei aber bei der Gestaltung der Teilnehmende erfahre: „Ich bin da, schulische Angebote. Gerade mit Blick Rücksicht genommen auf andersgläubi- und hier bin ich auch richtig.“ auf den Religionsunterricht finde man ge Jugendliche. Und so sind tatsächlich So, wie die Schulwoche begonnen hat, hier „einfach eine ganz andere Atmo- alle gerne mit dabei, auch die muslimi- endet sie dann für Sibylle Porske auch: sphäre“ vor als im normalen Klassen- schen Schülerinnen und Schüler, was im „Raum der Stille“. Dort versammelt zimmer. Die Jugendlichen erzählen in für Sibylle Porske immer wieder eine sich um sie jeden Freitag eine freiwillige dieser Umgebung leichter, was ihnen „sehr schöne Sache“ ist. Gruppe aus Berufsschülern mit beson- auf der Seele liegt – und können sicher derem Teilhabebedarf sowie aus Teil- sein, dass es vertraulich bleibt. „Das, „Ich bin hier richtig“ nehmenden mit schwereren Beein- was dort gesprochen wird, dringt nicht Auch sonst gibt es im Haus das ganze trächtigungen aus der KoBV-Maßnah- nach draußen“, so die Vereinbarung. Schuljahr über weitere Rituale mit reli- me. Eine Mischung, die passt: „Die Ju- giösem oder besinnlichem Charakter. gendlichen tun einander gut“, beobach- Alle sind mit dabei So spricht Porske oder eine andere Mit- tet die stellvertretende Schulleiterin. Religion und Rituale – das gehört zu- arbeiterin bei den Aufnahme- und Ab- Mal findet in diesem Rahmen ein Aus- sammen. Auch in der „Schillerstraße 15“ solventenfeiern jeweils einen Segens- tausch über bestimmte Themen statt, spiegeln sich die Stationen des christli- gruß. Und innerhalb des Kollegiums mal möchten die jungen Frauen und chen Kirchenjahres wider – seien es ver- spielen Rituale ebenfalls eine Rolle: So Männer auch „einfach nur für ein paar schiedene Aktionen in der Fastenzeit werden die Gesamtlehrerkonferenzen Minuten still sein“. Die besondere Stim- oder im Advent die gemeinsam von RAZ immer mit einem spirituellen Impuls er- mung in diesem Kreis, in dem sich die und MGS gestalteten Impulse, die den öffnet. jungen Leute öffnen – „die genieße ich Weg vom Dunkel ins Licht symbolisie- Was Sibylle Porske ganz persönlich für ganz besonders“, freut sich Sibylle Pors- ren sollen. Dementsprechend findet der sich aus christlichen Ritualen schöpft? ke jedes Mal aufs Neue. (ck) 18 2|2019
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