Sonnweid das Heft Nr. 9 - Tun! - Zeitschrift der Sonnweid AG www.sonnweid.ch Mai 2018
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3 Sonnweid, das Hef t Nr. 9 EDITORIAL 4 14 ANGEHÖRIGE MEINUNG Endstation Monika Was braucht es Krankenhaus Schmieder Uschi Entenmann «Wir suchen immer» in der Pflege 4, 6, 10 15 und Betreuung? UMFR AGEN PRA XIS 10, 11, 21, 24 Der Kopf EPISODEN braucht Liebe Leserinnen, liebe Leser 9 Hände In der aktuellen Ausgabe gehen wir der WAS IST PFLEGE? Michael Schmieder Personalsituation in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz auf den Grund. Im Büro 18 Finden wir künftig noch Pflegende, die sich stört kein MEINUNG dieser Aufgabe stellen wollen und können? Bewohner Helena Zaugg Die Pflege und Betreuung von Menschen Michael Schmieder « Pflegefach personen gehören zum Patienten» mit Demenz findet nicht in den Stationszim- 11 mern an den Computern statt. Es braucht AUSBILDUNG 19 Mitarbeitende, die sich mit dem Gegenüber MEINUNG Diskrepanz auseinandersetzen und die mit Menschen mit zwischen Carlo Conti Demenz eine Beziehung eingehen. Dazu sagte « Mehr prak tische neulich eine Mitarbeiterin: «Wir brauchen Kol- Anspruch Ausbildung in den Institutionen» leginnen und Kollegen, die keine Helden sind, und die ihre Schwächen kennen und ihre Stärken 21 Wirklichkeit R ÄTSEL einbringen, die vorausdenken und beim Men- Gerd Kehrein schen stehen. » 21 Berufsverbände fordern gute Arbeits- SONNWEID AK TUELL bedingungen, damit Pflegende möglichst 22, 23 lange in ihrem Beruf bleiben. Bedingt kann FILMTIPPS ich diese Forderungen unterstützen. Aber: 24 Was heisst «gute Arbeitsbedingungen»? Wir CAMPUS AK TUELL brauchen Pflegende, die bereit sind, Spät-, 24 Nacht- und Wochenenddienste zu leisten. EPILOG Menschen mit Demenz benötigen rund um die Uhr Betreuung. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. Der Kostendruck wird grös- ser, Ressourcen und Mittel werden von einem zum anderen Kostenträger geschoben. Wo führt dies hin? Vielleicht haben Sie vor einigen Jahren « Silo 8 » von Karl Kühnes Gassenschau ge- sehen. Da ging es um das Altersheim der Zu- kunft. Die Bewohnenden wurden in Schubla- IMPRESSUM den versorgt, das Essen wurde über Trichter verabreicht und eine Waschstrasse sorgte für HERAUSGEBER Sonnweid AG Sauberkeit. Wer weiss, vielleicht führt uns der AUFLAGE 10 900 Exemplare Erscheint zweimal jährlich Weg dorthin? EINZELVERKAUF 2.– CHF Solche Gedanken verfliegen, wenn ich KONTAKT Sonnweid, Redaktion Das Heft, sehe, mit wieviel Herzblut in der Sonnweid ge- Bachtelstrasse 68, 8620 Wetzikon, arbeitet wird. Unsere Lernenden, Pflegehilfen, www.sonnweid.ch, dasheft@sonnweid.ch Pflegefachleute, unsere Mitarbeitenden im ADRESSÄNDERUNGEN dasheft@sonnweid.ch REDAKTION Michael Schmieder (ms), Hausdienst, in der Lingerie, in der Aktivierung, Martin Mühlegg (mm), Petra Knechtli (pk), in der Küche, in den Büros und am Empfang: Gerd Kehrein (gk), Andrea Mühlegg (am), Sie alle begleiten unsere Bewohnenden auf Marcus May (may, contentgenerator.ch) Augen höhe mit viel Respekt und Würde. Ich GESTALTUNG Bonbon – Valeria Bonin, bin guter Dinge, dass wir auch in Zukunft Men- Diego Bontognali, Zürich (bonbon.li) DRUCK Erni Druck und Media AG, schen finden, die sich dieser Aufgabe stellen! Kaltbrunn (ernidruck.ch) FOTOGRAFIE Véronique Hoegger, Zürich (ver.ch) Petra Knechtli, Heimleiterin Sonnweid ILLUSTRATION Julia Marti, Zürich (juliamarti.com)
4 KOMMENTAR ANGEHÖRIGE So manches kostet kein Geld End- Von Uschi Entenmann Pflegekräfte verdienen zu wenig, das steht ausser Frage. Dabei sind station Kranken- sie oft im Laufschritt unterwegs, arbeiten am Limit und sind gestresst. Dennoch möchten wir erwar- ten, dass sich Kliniken auf demenz- kranke Menschen einstellen, auch haus wenn diese Patienten mehr Zeit und Zuwendung benötigen. Ärzte und das Pflegepersonal müssen wissen, dass es für Demenzkranke der pure Stress ist, im Kranken- haus zu sein. Speziell im Stadium der fortgeschrittenen Demenz darf So segensreich moderne Apparaturen und ausgebil- man sie auf keinen Fall mit einer detes Personal in Kliniken sein können – Mitgefühl mit Schlaftablette allein lassen. Sowie sie aufwachen, sind sie orientie- Patienten ersetzen sie nicht. rungslos und voller Angst. Von Uschi Entenmann Übrigens: So manches kostet kein Geld und kaum Zeit, ob die Schon als ich die Tür zum Krankenzimmer öffne, spüre Patienten nun demenzkrank sind ich, dass etwas passiert ist. Meine Mutter, die mich oder nicht: Einen Augenblick die Hand halten, kann Wunder wirken. sonst immer mit einem Lächeln begrüsst hat, liegt Ebenso ein Lächeln übers Essens- apathisch im Bett und schaut mich kaum an. Mein tablett hinweg, beim Waschen, Vater, den so leicht nichts aus der Fassung bringt, Bettenmachen oder Temperatur- steht am Fenster und blickt gestresst auf die Schwes- messen. ter, die gerade die Decke über die Beine meiner Mutter schlägt – und über frische Blutflecken auf dem Laken. «Was ist denn hier los?», will ich wissen. « Wir mussten einen Katheter legen », sagt die Schwester und geht raus. «Warum?», rufe ich ihr hinterher, aber sie ist schon weg. Die Mutter ist demenzkrank, aber nicht inkon- tinent. Mein Vater hebt ratlos die Arme, die Ärztin habe das angeordnet. Bei meiner Mutter wurde vor acht Jahren Demenz UMFR AGE diagnostiziert. Von da an wussten wir, warum ihr oft Wörter fehlten, warum sie unsicher wirkte, wenn wir Der Abschied von seinen drei mit Freunden zusammensassen. Sie blieb lieb in ihrer Söhnen war für einen Bewohner Demenz, wurde bloss stiller. Schon immer war sie ein jeweils schwierig und traurig. grundehrlicher Mensch und nicht in der Lage, Sympa- Ich setzte mich mit dem Bewoh - thie zu heucheln. ner auf ein Sofa im Gang. Die Söhne liefen den langen Gang Jetzt wurde sie direkter: Die kann ich nicht leiden, entlang und schauten immer sagte sie über die Bekannte, die so viel redete. Du wieder zurück. Wir verabschie- bist lieb, zum Enkel, der sich auf ihren Schoss setzte. deten sie mit Händewellen und Das schmeckt gut oder das mag ich nicht, beim Essen. Hand küssen. Der Bewohner lachte und be dankte sich. Un - Und in der Badewanne konnte sie sich freuen wie ein sere Be wohner wünschen sich Kind: Schön warm! nette Worte, herz liche Gesten, Was Mutter Elke nicht mehr drauf hatte, über- authen tische Be treuende, nahm Vater Erich, immerhin schon achtzig Jahre eine gute Ton lage, keine Baby- alt. Wäsche waschen, Betten beziehen, einkaufen, sprache oder Bevormundung. Rita Blattmann (51) kochen. Bei allem, was er tat, stand sie neben ihm. Fachfrau Gesundheit Zog er seine Schuhe an, tat sie es auch. Setzte er Porträt auf Seite 2 sich vor den Fernseher, setzte sie sich neben ihn. Sie
5 Sonnweid, das Hef t Nr. 9 Als ich kurz vor 22 Uhr ins Zimmer komme, hat sich ein Drama abgespielt. Mein Vater berichtet, dass sie eine Infusion bekommen hat, die den Körper entwäs- sern soll. Folge ist, dass sie ständig aufs Klo muss. Einmal kommt die Schwester und hilft wegen der Infusion. Eine Viertelstunde später muss sie wieder. Schwester und Ärztin beschliessen daraufhin, einen Blasenkatheter zu legen. Die Schwester schiebt die Beine meiner Mutter auseinander, die von nackter Panik ergriffen wird, weil sie keine Ahnung hat, was mit ihr geschieht. Sie schubst die Schwester weg. Die wird © Uschi Entenmann laut: Es müsse sein, sie solle stillhalten. Doch meine Mutter klammert sich an die Arme der Schwester, ruft «nein! », schaut flehend meinen Vater an, der hilflos dasteht. Die Schwester drückt ihr mit Kraft die Beine waren 55 Jahre verheiratet und unzertrennlicher denn auseinander und schiebt den Katheter trotz heftiger je. Hand in Hand gingen sie zum Bäcker, zum Arzt, in Gegenwehr in die Blase, es blutet, es tut weh. die Apotheke. Jeden Nachmittag spazierten sie durch «Sie hat mich so verzweifelt angesehen», sagt mein Weinberge und Streuobstwiesen. Zusammen hatten Vater. «Ich hab nichts gemacht, ich dachte, das muss sie ein Geschäft aufgebaut und erfolgreich geführt. jetzt sein. » Ein Dreamteam. Vier Kinder, acht Enkel. Ich bleibe bei ihr. Mein Vater fährt heim. Sie muss Weihnachten 2016 war ihr letztes und eines der wieder aufs Klo. Ich bitte die Schwester, den Kathe- schönsten Feste, weil so viel gesungen wurde und ter herauszunehmen. Sie tut es, als ich verspreche, zwei Enkel mit Gitarre und Klavier die Lieder beglei- zu bleiben und sie zur Toilette zu bringen. Sie muss teten. Stundenlang, weil dann die Oma lächelte und jede Viertelstunde. Warum, so frage ich mich, hat so glücklich aussah. Bis in den März hinein sangen man ihr ausgerechnet am Abend ein Entwässerungs- wir Weihnachtslieder, sie sass gelöst auf dem Sofa mittel gegeben? und sang mit. Doch der Samstag Ende Mai beginnt mit einem Misston. Wie an jedem Wochenende helfe ich meiner Mutter in die Badewanne. Es ist ein Ritual. Nach- dem sie sich ausgezogen und die Kleider ordentlich gefaltet in den Wäschekorb gelegt hat, steigt sie in die Wanne und lehnt sich zurück – schön warm! Ich wasche ihr die Haare und warte, bis sie wieder aus der Wanne will. Abtrocknen, eincremen, Fuss- und Fingernägel schneiden, du bist lieb. Wir benutzen Deo und einen Hauch Parfüm. « Damit du duftest für Papa», sage ich und sie lächelt. Im Wohnzimmer sagt er: « Du bist schön. » © Uschi Entenmann Alles wie immer. Ausser diesem tiefen und hart- näckigen Husten! Am Sonntagabend hat er sich so verschlimmert, dass mein Bruder Bernd unsere Mutter in die Not- Im Laufe der Nacht muss ich zusehen, wie ihr die aufnahme einer Klinik bringt. Es ist nicht viel los, sie Kräfte schwinden. Am Morgen ist sie völlig erschöpft, sind bald dran: Blutabnahme, EKG und Röntgen. Zwei bemerkt nicht einmal, dass mein Vater wieder im Zim- Stunden später schickt er eine SMS: « Mama muss mer steht. Sie kann kaum noch gehen und sprechen. über Nacht hierbleiben. Sie hat Wasser in der Lunge Als wäre seit gestern Abend ein Hebel umgelegt. und wird punktiert. Danach Ultraschall. Sie geben ihr In den folgenden Tagen werden ihre Lunge punk- ein Schlafmittel und meinen, das sei kein Problem. » tiert und vier Liter Flüssigkeit entnommen. Inzwi- Kein Problem? schen liegt sie auf der sogenannten Komfortstation, Mein Vater setzt sich sofort ins Auto und fährt die Zusatzversicherung meines Vaters trägt. Wir be- in die Klinik. kommen eine Schlafliege und können Tag und Nacht Ich simse zurück: « Die kennen sich nicht aus mit bei ihr sein. Aber sie wird immer schwächer. Dabei Demenz. Wenn sie aufwacht, kriegt sie Angst. Ich blei- fährt die Klinik alles auf, was ihre Apparate hergeben: be bei ihr. » Magnetresonanztomografie, Ultraschall, Elektro- Mein Bruder: « Sie haben mich aus dem Zimmer kardiogramm. Immer wieder. gescheucht, bin auf dem Rückweg. Papa ist bei ihr, Wir richten einen Geschwister-Chat ein, auf der bis sie eingeschlafen ist. » wir uns gegenseitig informieren.
6 24. Mai, dritter Tag in der Klinik, ich schreibe: «Sie UMFR AGE verabschiedet sich. Sie isst und trinkt nicht, kauert im Bett und döst, öffnet kurz die Augen und schaut Eine Bewohnerin war krank und verängstigt. Ich hab ihren Arm gestreichelt, sie hat konnte sich kaum mehr bewegen. Als ich sie pflegte, sprach ich meine Hand weggeschoben. Das tat sie noch nie. Sie mit ihr abwechslungsweise Italie- ist anders. Sie isst weniger. Und noch vor vier Tagen nisch und Deutsch. An ihrem Blick konnte sie täglich stundenlang marschieren. » erkannte ich, dass sie mich immer Nach fünf Tagen erklärt uns die Stationsärztin, verstand. Plötzlich umarmte sie dass wir heimgehen dürfen. Im Lungenwasser wären mich ganz fest und sagte «Grazie». Es ist wichtig, dass wir die Bewoh- bösartige Krebszellen. Aber wir sollten auf den Chef- ner während der Pflege informieren arzt warten. Der kommt eine Stunde später mit jungen und einbeziehen. Mein Motto sage Ärzten im Schlepptau, wir sehen ihn zum ersten Mal. ich mit den Worten von Patch Ich frage ihn, was für einen Krebs meine Mutter hat. Er Adams: «Wenn man eine Krankheit bürstet mich regelrecht ab: Um das herauszufinden, behandelt, gewinnt oder verliert man. Aber wenn man einen Menschen wären aufwändige, unangenehme und schmerzhafte behandelt, gewinnt man immer.» Untersuchungen nötig, ob wir das unserer Mutter Rocco De Paolis (28) wirklich noch zumuten möchten, in ihrem Zustand? Pflegehilfe SRK Man könne nichts mehr tun. Porträt auf Seite 1 Ich habe trotzdem noch eine Frage. Wir wüssten nicht, wie schnell das Wasser in die Lunge nachläuft. Heute sei Freitag und ich hätte Sorge, dass wir am Sonntag wieder in der Notaufnahme sein würden, weil die Mutter keine Luft mehr kriegte. Er sei nicht der liebe Gott, herrscht er mich an, woher er das wissen solle. Wir verlassen die Komfortstation und nehmen meine Mutter mit. Daheim kümmert sich unser Hausarzt um sie – ohne jede Apparatur, dafür behutsam und einfühl- sam. Klaglos lässt sich unsere Mutter die Lungen abhorchen und den Rücken abklopfen. Da sei kein Wasser nachgelaufen, beruhigt er uns. Als ich vom Katheter-Drama in der Klinik berichte, schüttelt er nur den Kopf. « Ich päpple sie wieder auf», sagt mein Vater, der wieder Hoffnung schöpft. Sie bekommt ein Pflegebett, einen Rollstuhl und einen Lift für die Badewanne, aber sie braucht nur noch das Pflegebett. Jeden Tag kom- men Pflegerinnen der Sozialstation, drei freundliche Frauen, die sich abwechseln. Sorgfältig und vorsich- tig wird sie gewaschen. Jede erklärt meiner Mutter leise, was sie als Nächstes tut, auch dann noch, als UMFR AGE sie Morphiumpflaster bekommt und die Augen nicht mehr öffnet. Auch unser Hausarzt schaut fast jeden Meine Eltern sind beide über 80 Tag herein. Jahre alt und leben in Indien. Sie So hat das lange Leben meiner Mutter noch ein sind noch selbstständig, werden aber eines Tages auf Hilfe ange- versöhnliches Ende gefunden, als sie am 15. Juni um wiesen sein. Ich betreue und pflege zwölf Uhr mittags aufhört zu atmen. die Bewohnerinnen und Bewohner auf die Art und Weise, die ich meinen eigenen Eltern wünsche: Mit viel Liebe, Ruhe, Empathie, Verständ- nis und Kompetenz. Wir müssen alles dafür tun, dass der letzte Lebensabschnitt dieser Menschen schön sein kann. Wir müssen ihre Defizite begleichen und für sie sehen, hören, denken und spüren. Sebastine Pulickel (55) Stationsleiter, Fachmann Gesundheit Porträt auf Seite 7
9 Sonnweid, das Hef t Nr. 9 WAS IST PFLEGE? Immer wieder lesen wir Aufforderungen, die Pflege müsse familienfreundlicher, entwicklungsfähiger, und attraktiver gemacht werden. Ist dies möglich? Im Büro Wenn ja, auf wessen Kosten? Pflegen findet beim Menschen und für den Menschen statt – 24 Stunden am Tag. Auch samstagabends, sonntagmorgens und montagnachts. Die so wichtige pflegerische Bezie- stört hung kann nicht auf familienfreundliche Arbeitszei- ten reduziert werden. Ich zweifle daran, dass sie mit einem zerstückelten 20-Prozent-Pensum möglich ist. Derzeit wird so getan, als ob der angeblichen kein Be- Attraktivität des Berufes alles untergeordnet wer- den könne. Dies trifft genau die Menschen, die dafür verantwortlich sind, dass Pflege unattraktiv ist: die Kranken selbst. wohner Heute wechseln viele junge Pflegende nach der Lehre den Beruf. Dies hat weniger mit der Aufgabe an sich zu tun als vielmehr mit dem dauernd gehörten Argument der Unattraktivität. In Organisationen, die Kontrollfunktionen haben, finden diese unattraktiven Managen, skillen, coachen und dokumentieren: Je Dienste nicht statt. Noch nie wurde eine Rai-Kontrolle höher der Ausbildungsgrad der Pflegenden, desto (Resident Assessment Instrument) an einem Sonn- weniger sind sie in Kontakt mit dem Patienten. Die tag durchgeführt – weil die kontrollierende Pflege- Beziehung zum kranken Menschen steht einem opti- fachkraft einen Job hat, der nur an fünf Werktagen mierten Gesundheitswesen diametral im Weg. stattfindet, von 8 bis 17 Uhr. Der Lohn einer solchen Von Michael Schmieder Person ist vermutlich höher als jener einer Pflegen- den, die im Heim arbeitet. Wer pflegt uns in Zukunft? Wer pflegt uns heute? Wer Im Umgang mit Menschen mit Demenz bestimmt pflegte uns gestern? Wenn es eine Berufsgruppe auf der Kranke, was geschieht und wie der Tagesablauf die Titelseite der «Zeit» schafft, scheint Diskussions- ist. Dafür braucht es keinen Laptop, kein Pad und bedarf vorhanden zu sein. Wenn es in der Schweiz kein Smartphone. Der Kranke braucht einfach den eine Verfassungsinitiative zur Pflege gibt, scheint das Menschen. Thema Aktualität zu haben. Es gibt jedoch eine an- dere pflegerische Aktualität, die es weder auf die Störungen sind unser Titelseiten schafft noch in der Verfassungsinitiative täglich Brot vorkommt. Es geht um die Frage, was man unter Pfle- ge versteht und wie das System Pflege funktionieren Wer Menschen mit Demenz nahe sein will, wird sehr kann. Ich behaupte, dass derzeit viel dafür getan oft mit Störungen konfrontiert. Diese entstehen, weil wird, dass es nicht funktioniert. Die Langzeitpflege unterschiedliche Wirklichkeiten vorhanden sind und geht vor die Hunde. gelebt werden. Pflegende müssen in der Lage sein, solche Störungen in einem frühen Stadium zu erken- Der Beziehung steht nen. Sie begleiten den Menschen auf Augenhöhe. Sie viel im Weg bewältigen Konflikte, fördern das Zusammenleben Pflegen heisst, Beziehung zu leben. Heute steht und entwickeln Lösungen. Sie anerkennen die Anders- dieser Beziehung sehr viel im Weg. Die Ausbildungs- artigkeit von Menschen mit Demenz und begegnen schwerpunkte sind auf die Beschreibung des Pflege- ihnen mit Respekt, Toleranz und Vertrauen. prozesses gerichtet und nicht auf die Beziehung zwi- In diesem Umfeld muss nicht zuerst ein Prozess schen Pflegenden und Patient. Pflege findet mehr und beschrieben werden. Es braucht auch keine stan- mehr im Büro und nicht beim Kranken statt. Je höher dardisierte Pflegeplanung, sondern Menschen, die der Ausbildungsgrad, desto weniger Patientenkon- wissen, was zu tun ist. Menschen, für die es natür- takt. Heute wird gemanagt, gecoacht, standardisiert, lich und sinnhaft ist, Bedürftige und Notleidende zu geskillt, beschrieben, dokumentiert – sogar wenn die begleiten. Diese Kompetenzen werden durch zu viel delegierte Hilfskraft die Bettdecke aufschüttelt. Die System zerstört und kommen in der Ausbildung zu Tätigkeiten werden dorthin verlegt, wo kein Bewohner kurz. Man bezeichnete diese Kompetenz einmal als stört: ins Büro. «gesunden Menschenverstand». Aber dieser scheint mehr und mehr zu verschwinden.
10 Als Führungspersonen kennen wir ein Phänomen: EPISODE Wenn (zu) viel Personal da ist, wird weniger fokussiert gearbeitet. Es geht mehr vergessen, und der Einzelne Herr B. steht schräg an einer Kom- hat weniger Verantwortung fürs Ganze. In Rappor- mode, klammert sich daran fest und blättert in einer Illustrierten. ten, Instruktionen und Besprechungen gibt es mehr Die Pflegerin will ihm seine Medi- Informationen auszutauschen. Und die Führungsar- kamente geben . Er lässt es an- beit findet noch mehr im Büro statt – und weniger standslos mit sich geschehen, draussen bei den Menschen, die pflegen. Darunter schluckt und blättert weiter. Wenn leiden auch die Wertschätzung und der Teamgeist. er sich hinsetzt, bekommt er etwas zu trinken. Er weigert sich und Es entsteht kaum mehr ein Gefühl im Sinne von «wir bleibt stehen. Sie versuchen es zu sind diejenigen, die es können und schaffen». zweit, doch er lässt sich nicht bewegen. Eine der beiden umfasst Verschanzen hinter seine Hände, beginnt rhythmisch Formalkorrektheit zu zählen: Eins, zwei, eins, zwei, sie wiegt ihren Oberkörper hin und her. Herr B. nimmt den Rhythmus Die Beziehung zum kranken Menschen steht einem auf – eins, zwei, eins, zwei. Es ent- optimierten Gesundheitswesen diametral im Weg. steht ein Tanz zwischen den beiden. Regulierungen ziehen noch mehr Fragen nach sich. Langsam setzt er sich in Bewe- Die Mitarbeitenden verschanzen sich hinter Formal- gung, folgt den leichten Schritten seiner Tanzpartnerin. Er darf sich korrektheit und verlieren das Wohl des Bewohners aus zu den Frauen setzen. Das scheint den Augen. Die immer grösser werdende Bürokratie für den Augenblick zu wirken, erlaubt den Rückzug aus der menschlichen Bezie- Herr B. strahlt übers ganze Gesicht. hung. Und wir kommen wieder zur Unattraktivität des (may) Pflegeberufes: Auf den «Zwang», Beziehung zu leben, wollen sich immer weniger Menschen einlassen. Die Kontroll- und Regulierungswut verhindert schon in den Grundzügen jegliche Beziehungsarbeit. Die Mit- UMFR AGE arbeitenden sind deshalb dauernd damit konfrontiert, dass « Büro vor Pflege» und « Maschine vor Mensch» Manchmal braucht es nur einen die Maximen unserer Zeit sind. kleinen Input von mir, damit die Bewohner etwas selbst machen können. Solche Momente richtig einzuschätzen braucht viel Ein- fühlungsvermögen. Ich darf die mir anvertrauten Menschen nicht überfordern, aber auch nicht un- terfordern. Wenn ich selbst einmal Hilfe brauche, möchte ich ganz einfach als Mensch ernst genom- EPISODE men werden. Ich will jemanden an meiner Seite haben, der mich in Herr D. sitzt allein auf dem Sofa. den Situationen unterstützt, die Er versucht aufzustehen und gibt ich selbst nicht bewältigen kann. nach zwei, drei Versuchen wieder Dazu wünsche ich mir eine gedul- auf. Hilft ihm denn niemand? Herr D. dige und liebe Person. schafft es meistens allein. Die Alice Spühler (47) Pflege will es vermeiden, ihm dau- Pflegehilfe ernd unter die Arme zu greifen. Porträt auf Seite 8 Hier das richtige Mass zu finden ist schwierig, denn Herr D. ist sehr sturzgefährdet. Er fällt immer wieder hin, wenn man ihn einfach machen lässt. Zum Glück ist er wie eine Katze, wenn er stürzt, er tut sich ganz selten weh dabei. Man muss ihn vor sich selbst schützen, die Balance finden zwischen aktiver Unterstützung und Beobachtung und erst dann eingreifen, wenn es nicht mehr anders geht. Einen eigenen Rollator hat er nicht, sonst würde er sich der Beobachtung ent- ziehen und noch öfter hinfallen. Deshalb ist es besser, ihn in der Nähe zu behalten. (may)
11 Sonnweid, das Hef t Nr. 9 AUSBILDUNG Ganzheitlichkeit Pflege und Betreuung von Men- schen mit Demenz bedingen ganz- Diskrepanz heitliches Denken und Handeln. Der Betreute verliert in der Regel zwischen die Fähigkeit, in unseren Katego- Anspruch und rien von Zuständigkeiten und Kom- petenzen zu denken – er erlebt ein Wirklichkeit Gegenüber und erwartet von die- sem die Art von Begleitung, welche er im Moment braucht. Wir können Bildung soll zukünftige Berufsleute diesem Bedürfnis nur dann gerecht auf den Alltag vorbereiten und sie werden, wenn wir die schar fen zur Erfüllung der an sie gestellten Grenzen der Zuständigkeit für Anforderungen befähigen. So weit, verschiedene Aufgaben und Tätig- so gut. Wird die heutige Pflegeaus- keiten möglichst weit auflösen. bildung diesem Anspruch gerecht? Pflegende erfüllen die gestellten Der Versuch einer Analyse. Aufgaben bei einer betreuten Per- Von Gerd Kehrein son möglichst umfassend. Pflege und Betreuung brauchen Respekt kompetente Mitarbeitende. Im Pflege und Betreuung von Men- Hinblick auf die individuellen schen mit Demenz basieren auf Bedürfnisse unserer Bewohnen- Respekt. Respekt einem anderen den bedeutet kompetent für uns Menschen gegenüber – unab hän- zweier lei : Die Mitarbeitenden gig davon, wie sich dieser Mensch müssen den Anforderungen ge- verhält und welche Veränderungen recht werden können und wollen. er zeigt. Dieser Respekt muss in je - Nur wenn sie sich mit dem, was dem von uns tief verankert sein – im die Demenz in all ihren Facetten Denken, Reden und Handeln. mit sich bringt, gerne auseinan- dersetzen, können sie ihre Arbeit Fachlichkeit auf Dauer auch gut machen. Wie Pflege und Betreuung von Men- sehen diese Anforderungen nun schen mit Demenz benötigen pfle- aus? Was erwartet Pflegende in gerische Fachlichkeit – in all ihren EPISODE der Begleitung von Menschen mit Ausprägungen: erfassen, analysie- Demenz? ren, bewerten, ausführen, wissen, Eine gut gelaunte Betreuerin tritt in den Aufenthaltsraum. dokumentieren, informieren, or- Sie spricht drei Bewohner und eine Beziehung ganisieren, zusammenarbeiten, Bewohnerin mit Namen an und sagt: Pflege und Betreuung von Men- handeln, verbessern, führen, ein- «Wir gehen jetzt turnen!» Die an- schen mit Demenz drehen sich im schätzen und so weiter. All diese gesprochenen Bewohner erheben Kern immer um Beziehung. Bezie- Fähigkeiten sind nötig, um der sich von ihren Stühlen und folgen der Betreuerin zum Lift. Die drei hung als elementares menschliches Verantwortung für einen anderen Herren reissen Sprüche, die Dame Grundbedürfnis, welches im Ver- Menschen, der diese für sich selbst lacht. Das lustige Grüppchen kommt lauf der demenziellen Entwicklung nicht mehr übernehmen kann, ge- im oberen Stock an und begibt von den Betroffenen meist nicht recht zu werden. Sie sind aber im sich in die grosse Wohnküche, wo mehr aktiv gestillt werden kann. Hinblick auf die jeweils dafür ein- das Turnen stattfinden soll. Dort stellt sich heraus, dass die Vortur- Pflegende sind in dieser Hinsicht zusetzende Zeit unterschiedlich zu nerin ausgefallen ist. «Ich lade Sie zweifach gefordert. Sie müssen gewichten. alle herzlich zu einem Tee ein», sagt bei jedem gegebenen Kontakt zu die Betreuerin, die gerade in der den betreuten Menschen den Be- Akzeptanz Küche beschäftigt ist. Die Gäste sind amüsiert und treten an die The- ziehungsaspekt, und nicht die ge- Pflege und Betreuung von Men- ke, wo sie Tee bekommen. Nach plante Handlung, in den Vorder- schen mit Demenz widersprechen zehn Minuten sind die Gläser leer, grund stellen. Und sie müssen über in mancher Hinsicht pflegerischen und die Betreuerin führt das gut die geplanten Handlungen hinaus Grundabsichten – und dies muss gelaunte Grüppchen zurück. Zwei das Erleben von Beziehung möglich akzeptiert werden. Hervorzuhe- Herren gehen von dort aus spazie- ren, ein Herr und die Dame setzen machen. Pflegende müssen prä- ben sind hier die beiden Gesichts- sich wieder in den Aufenthaltsraum. sent sein, sie müssen im Alltag der punk te der Unheilbarkeit (wir (mm) betreuten Menschen spürbar sein. müs sen akzeptieren, dass wir das
12 Fortschreiten der demenziellen • stellt Pflegediagnosen Welches Bild einer Pflegenden Veränderungen in den allermeis- wird hier skizziert? Welches Bild ten Fällen nicht aufhalten können) • setzt Ziele von Pflege hat die Person, welche und der Verabschiedung aus un- und plant Pflege während ihrer Ausbildung all diese serem System von Normen und Fähigkeiten entwickelt hat, oder Regeln (wir müssen die « neuen » • organisiert pflege- zumindest entwickeln sollte? Ist Normen und Regeln, welche sich rische Interventionen, das die Pflegende, welche den die Betreuten selbst geben, als für führt sie durch oben beschriebenen Anforderun- sie gültig akzeptieren – auch wenn gen gerecht werden kann und will? sie unseren Vorstellungen häufig • überwacht auf der widersprechen). Basis wissen schaft- Nur im Nebensatz So weit zu den Ansprüchen, licher Erkenntnisse ausführend beziehungsweise zu dem, was Wir glauben nicht daran. Wir se- Pflegende in der Betreuung von und mit Hilfe evidenz- hen in diesem Berufsprofil zu Menschen mit Demenz erwartet. basierter Kriterien viel Kopf und zu wenig Hand und Nun zu der Frage, wie die heuti- Herz. Pflege und Betreuung von ge Ausbildung auf diese Realität • überprüft Menschen mit Demenz brauchen vorbereitet. Mit welchem Bild von die Wirksamkeit den Kopf und damit die intellek- Pflege und mit welchen Kompe- tenzen treten neue Pflegefachper- • beendet tuellen Fähigkeiten, dies wollen wir nicht anzweifeln. Das heutige sonen heute in den Beruf ein? den Pflegeprozess Berufsprofil zeichnet aber ein Bild, • gestaltet Aus- und das die intellektuellen Fähigkeiten Der aktuell gültige Rahmenlehr- zu stark gewichtet und die aus- Übertritte plan beschreibt als Teil des Berufs- führenden « handwerklichen » profils die beruflichen Aufgaben • dokumentiert Aspekte Fähig keiten nur noch im Neben- der Pflegenden in zehn Arbeits- des Pflegeprozesses satz («führt sie durch») erwähnt. prozessen. Ein Blick auf die darin Wir erkennen hier das Bild einer aufgeführten Tätigkeiten zeigt • schafft und unterhält Pflegenden, welche organisiert, Folgendes: eine empathische plant, verantwortet, überwacht, bewertet, dokumentiert, gestal- und vertrauens- Die diplomierte Pflege- tet, führt – und dann irgendwann fach person erledigt fördernde Beziehung dazwischen auch noch eine pfle- gemäss Rahmenlehrplan nur 3 bis 4 Prozent ihrer • gewährleistet gerische Tätigkeit, bei der sie tat- sächlich Kontakt zu der gepflegten Arbeiten mit den Händen. den Informationsfluss Person hat, ausführt. Diese Pfle- Der Rest ist Kopfarbeit. • bildet sich weiter gende wird unserem Anspruch vor allem im Hinblick auf Beziehung, • führt ein Assessment • nimmt Lehr- und An- Ganzheitlichkeit und Akzeptanz durch leitungsfunktion wahr nicht gerecht. Zum Glück gelingt es der Aus- • erfasst und beurteilt • übernimmt die bildung aber nicht immer, die Aus- die Situation, fachliche Führung zubildenden so zu formen, wie es in die Biografie, den entsprechenden Grundlagen- die Krankengeschichte • nimmt berufspädago- papieren definiert ist. Zum Glück gische Aufgaben wahr gibt es auch heute noch Auszubil- • schätzt den Pflegebe- dende, welche bei all den intel- darf ein • arbeitet effizient intra- lektuellen Ansprüchen das nicht und interprofessionell vergessen, was im Zentrum unse- • identifiziert und zusammen res Berufes stehen sollte, und was beur teilt Gesundheits- meist auch zum Entscheid für diese probleme • gestaltet Rahmen - Berufsausbildung geführt hat: das bedingungen « Caring». • trägt zum effizienten Ablauf administrativer Prozesse bei
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14 MEINUNG Das ist ein Widerspruch. Wie wird sich die In einer HF-Ausbildung wird Personalsituation in der man darauf vorbereitet, Zukunft entwickeln? «Wir suchen Verantwortung zu tragen … Ich glaube nicht, dass sich sehr viel Zu uns kommen vor allem Pflegen- ändern wird. Die meisten FaGe und immer» de, die viele Jahre im Akutbereich FaBe wird man auch in der Zukunft gearbeitet haben. Sie wollen in eine eher für kurze Zeit anstellen kön- Monika Schmieder kümmert sich Richtung gehen, wo es ruhiger ist nen. Das Problem sind mehr die HF. als Mitglied der Geschäftsleitung und wo man weniger Verantwortung in der Sonnweid ums Personal. Es tragen muss. Die Geriatrie funktio- An welchen Schrauben ist für sie eine Herausforderung, niert zwar langfristig und mehr auf würden Sie drehen, wenn diplomierte Pflegefachpersonen der Beziehungsebene. Aber es ist Sie Bildungs- und Gesund- HF (Höhere Fachschule) zu finden. nicht ruhig. Und man muss hier viele heitspolitikerin wären? Entscheidungen treffen. Die Rück- Das Berufsbild der HF ist hoch ge- sprache mit dem Arzt ist nicht so stellt. Fünf bis sechs Jahre Ausbil- einfach wie im Spital. dung ist eine sehr lange Zeit, mit kleinem Verdienst und hohen An- Wie sieht es bei den forderungen. Ich würde die Hürden Fachpersonen Gesundheit weniger hoch stellen. Ich würde ver- und Betreuung suchen, das Gefälle zwischen den (FaGe und FaBe) aus? Berufen kleiner zu machen. Ich Wir bekommen viele Bewerbungen. würde auch hinterfragen, ob es Sehr häufig sind es junge Men- sinnvoll ist, dass 25 Prozent unse- schen, die eben die Ausbildung ab- rer Betreuenden und Pflegenden geschlossen haben. Meist bleiben HF sein müssen. sie nicht lange, weil sie sich wei- terbilden möchten. Die Lehre zur FaGe oder FaBe ist für die meisten eine Grundausbildung, nach der man sich weiterbildet. Das ist für Das Heft: Haben Sie im uns als Institution schade. Moment offene Stellen? Monika Schmieder: Seit vier Wo- Das ergibt eine hohe chen haben wir ein Inserat draus- Fluktuation … sen für eine diplomierte Pflege- Bei unserer Grösse mit 160 Be- fachperson HF. Wir haben erst treuenden und Pflegenden gibt es drei Bewerbungen erhalten. Zwei immer wieder Wechsel. Wir suchen haben nicht die gefragte Ausbil- immer, auch wenn keine Stellen frei dung, die dritte Person hat eine sind. Alle Bewerbenden, die wir in- Bewerbung geschickt, die unseren teressant finden, laden wir ein. Wir Anforderungen nicht genügt. können sie dann einstellen, wenn eine Stelle frei wird. Wir können es Warum melden sich nicht uns nicht erlauben, zu warten. mehr Leute? Ich sehe, dass viele Pflegefachper- Wie ist es mit den sonen HF lieber in einer Arztpraxis Pflegehilfen SRK? oder bei Krankenversicherungen Hier bekommen wir sehr viele Be- arbeiten. Einige wollen nicht mehr werbungen. Ihr Niveau ist sehr Schicht arbeiten. Ich stelle auch unterschiedlich. Im letzten Jahr fest, dass es mehr Menschen gibt, konnten wir hervorragende Leute die nicht zu viel Verantwortung einstellen, die viel Erfahrung ha- tragen wollen. ben. Die Jungen können wir nicht so lange halten, die wollen Ausbil- dungen machen und sich weiter- entwickeln. Aber sie sind spannend fürs Team.
15 Sonnweid, das Hef t Nr. 9 PRA XIS in den Tag zu kreieren – für Frau Moser, Ashgar und mich. Ich bin stolz darauf, dabei gewesen zu sein. Es wäre einfacher gewesen, Frau Moser im Bett zu Der Kopf pflegen. Doch ihr Wunsch, sich zu bewegen und zu gehen, erschwert diese Arbeit. Er erfordert von den braucht Hände Pflegenden Können und Gelassenheit. Jetzt gehen wir zu Herrn Volpi*. Der ehemalige Offizier mit dem asketischen Kopf liegt quer über zwei Betten verteilt. Wir nehmen ihn so auf, dass wir Für kranke Menschen ist es nicht relevant, das zweite entfernen können. Meine Aufgabe ist es, dass Pflegende ein Diplom in der Tasche haben. ihn nass zu rasieren. Ich hatte immer das Gefühl, wir Von Michael Schmieder Männer könnten dies besser als Frauen, da wir wis- sen, wie es sich anfühlt. Heute bin ich mir nicht mehr Ich weiss nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen so sicher, obwohl es mir nicht schlecht gelang. Bewohner der Sonnweid beim Aufstehen unterstützt Nach zwei Stunden ist mein Einsatz auf der Sta- und gepflegt habe. Theoretisch kann ich gut von Em- tion beendet. Ich habe viele positive Eindrücke ge- pathie sprechen – von «sich ganz hineinbegeben in sammelt. Trotzdem bin ich in der Meinung bestärkt, die Beziehung», von «dem Menschen auf Augenhöhe dass im Gesundheitswesen vieles nicht mehr stimmt. begegnen», wie ich das oft blumig umschreibe. Meine Was macht Langzeitpflege aus? Man kann dar- Beispiele sind alt, und das ist nicht gut. Deshalb gehe unter verstehen, dass jemand über lange Zeit, über ich wieder einmal als Pflegender für zwei Stunden auf Wochen, Monate oder Jahre, Pflege braucht. Man eine Station. Eines vorneweg: Eine Hilfe war ich nicht. kann darunter auch verstehen, dass jemand viel Aber ich durfte Menschen kennenlernen und staunen. Zeit benötigt, um gepflegt zu werden. Unter Pflege Ich bin mit Asghar auf dem Weg zu Frau Moser*. ist alles zu verstehen, was der pflegebedürftige Asghar flüchtete vor 20 Jahren aus dem Iran in die Mensch braucht. Wenn er alles bekommt, geht es Schweiz. Er arbeitet seit einigen Monaten bei uns. darum, wie die Pflege ausgeführt wird. Dieses «Wie» Wir kommen uns rasch näher, duzen uns und tau- ist von zwei Dingen abhängig: vom Pflegenden als schen Grundinformationen aus. Diese Nähe braucht Menschen und von seiner fachlichen Kompetenz. Mit es, wir sind ja ein Team. Im Zimmer nehme ich den im den derzeitigen Quoten von diplomiertem und aus- Gedächtnis eingebrannten Geruch der Inkontinenz gebildetem Personal (Höhere Fachschule, Fachhoch- wahr. Frau Moser liegt auf einer Matratze auf dem schule, Fachfrau Gesund heit, Fachfrau Betreuung) Boden. Ihr Gesicht ist an verschiedenen Stellen blau und von Pflegehilfen wurde eine Hierarchie zemen- unterlaufen. Sie hatte viele Stürze. Wir haben die da- tiert. Diese Hierarchie bringt zum Ausdruck, was man raus resultierenden Dilemmata Anfang Woche in der gerne verschweigen würde: je mehr Hand, desto tiefer Ethikkommission besprochen. Wir haben überlegt, in der Hierarchie. Je mehr Kopf, desto weiter oben. Je wie wir ihre Situation verbessern können. weiter oben, desto mehr Lohn, Büro, Computer und Asghar und ich stellen uns vor und sagen, warum Abschottung vom Bewohner. wir da sind. Schon beim ersten Anfassen gibt Frau Beziehung findet nur beim Tun statt, nirgendwo Moser einen grellen Laut von sich. Asghar sagt, dies anders. Das bedeutet, dass wir diese Beziehung, sei immer so. Wir helfen Frau Moser beim Aufstehen die angeblich so hoch gewichtet wird, letztendlich und begleiten sie langsam ins Badezimmer. Sie geht preisgeben, als Opfer der Hierarchie. Den Pflegehil- sehr wackelig. Wir setzen sie aufs WC. Anschliessend fen stellen wir Study nurses zur Seite oder APN (Ad- will ich loslegen. Doch Asghar weiss besser, wie man vanced practise nurses), damit sie wissen, wie Bezie- mit Frau Moser umgeht. Er beginnt mit dem Waschen hung gestaltet werden soll. Die kantonalen Vorgaben und der Pflege. Ich stehe daneben und staune ob zementieren diesen Ablauf. Im Verhältnis zu jenen, seiner hohen Empathie und zugewandten Routine. die an der Basis arbeiten, haben wir ein Heer von Damit vermittelt er Frau Moser das Gefühl, dass es Hochqualifizierten. Diese Hochqualifizierten müssen hier nur um sie geht. Ihr Gesicht entspannt sich, ein täglich (ausser samstags und sonntags, da haben sie Lächeln entsteht, sie sagt ihre ersten Worte des Tages. frei) sich selbst und den unterstellten Mitarbeitenden Hier geschieht Beziehung auf Augenhöhe. Sicher beweisen, dass es sie braucht, damit alle ihre Arbeit kann nur wirken, wer sicher ist, kommt mir in den Sinn. verrichten können. Was die Pflege an der Basis aus- Asghar ist sicher, er informiert fortlaufend, gezielt macht, nämlich Beziehung durch Begegnung und ge- und verständlich. Meine Fragen kann er begründet meinsame Aktivität, wird ausgeblendet. beantworten, und ich geniesse die Lehrstunde in der Am Ende meines Einsatzes dankte ich Asghar für Praxis. Frau Moser redet jetzt entspannt mit uns. Wir eine Einsicht, die jenseits aller Theorie und Pflege- schauen gemeinsam im Spiegel die Blutergüsse an modellen liegt: Beziehung braucht Herz, Kopf und und lachen über die schlechte Schminke. Wir schaf- Hände. Sie ist Ausdruck einer wohlwollenden, zuge- fen es zu dritt, aus dem Waschen einen guten Start wandten Begegnung. Ob Ashgar ein Diplom hat, war * N am e n d e r B ewo h n e r s in d a u s Pe r sö n lic h ke it s sc h utz g e än d e r t . weder für Frau Moser noch für Herrn Volpi relevant.
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18 MEINUNG Da gibt es je nach Versorgungsbe- der Revision des Rahmenlehrplans reich ein grösseres Problem. Man Mitsprache und wird bessere For- hat oft die Zeit nicht mehr, um mulierungen vorschlagen. «Pflegefach- menschengerecht zu pflegen. Alte Menschen brauchen mehr Zeit. Die Welche Verbesserungen personen Frage ist, wie und wo man Perso- streben Sie mit Ihrer im gehören zum nen mit unterschiedlichen Berufs- profilen am besten einsetzt, um Herbst 2017 eingereichten Pflegeinitiative an? Patienten» effizient ein optimales Resultat Eines der Hauptziele ist die Aus- für den Patienten zu erreichen. Es bildung. Sie ist mit der neuen Bil- ist auf den Abteilungen eine gros- dungssystematik vor 15 Jahren ver- Helena Zaugg will als Präsidentin se Herausforderung, den Alltag zu ändert worden. Dies schlägt sich des Schweizer Berufsverbandes organisieren. jetzt in Personalmangel nieder. der Pflegefachfrauen und Pflege- Früher hatte man mehr Freiheiten, fachmänner (SBK) die Pflegebe- Müssten die Ausbildungen man konnte bis zum Ausbildungs- rufe attraktiver machen. gesplittet werden? Braucht beginn mit 18 Jahren tun, was man es Spezialisten fürs Akutspital wollte. Die HF-Studierenden müs- und für die Pflege von sen zwei Jahre lang mit einem Lohn Menschen mit Demenz? von rund 1000 Franken pro Monat Das ist eine sehr schwierige Frage. auskommen. Die berufsbegleiten- Ich glaube, dass es besser ist, de Variante mit höherem Lohn ist wenn man in der Grundausbil- sehr streng, da gibt es viele Aus- dung zur Pflegefachperson einen bildungsabbrüche. Junge FaGe Grundstock an Demenzwissen ver- sagen mir: « Ich muss runter mit mittelt – so wie man auch vermit- dem Lohn. Nach zwei Jahren an- telt, wie Menschen mit Kreislauf- spruchsvoller Ausbildung verdiene krankheiten zu pflegen sind. Denn ich nur wenig mehr als heute, muss Demenzpatienten sind in allen aber mehr Verantwortung tragen. Bereichen anzutreffen. Nachher Das ist nicht attraktiv. » braucht es eine Spezialisierung. Wie wollen Sie Gemäss Rahmenlehrplan dies ändern? (siehe Artikel auf Seite 12) Wir erwarten, dass der Ausbildungs- PD Das Heft: Haben sich die werden die Pflegenden lohn bei den HF besser wird. Die Anforderungen an die HF kaum noch am Bett meisten von ihnen bringen ja ihren diplomierten Pflegenden HF gebraucht. Macht dies Sinn? Arbeitgebern als ausgebildete in der jüngeren Vergangenheit Pflegefachpersonen HF und FH FaGe und FaBe einen Mehrwert. verändert? werden noch immer für die Pra- Wir machen damit Druck, dass Helena Zaugg: Die demografische xis am Bett ausgebildet, sie gehö- mehr Leute ausgebildet werden. Entwicklung, Finanzierungsmodel- ren zum Patienten. Für sie bringt Zudem braucht es Vereinbarkeit le und die Fortschritte in der Medi- ihr Wissen und Können einen von Beruf, Familie und Privatleben. zin sind die grössten Treiber für die Nutzen. Weil die administrativen Es geht nicht, dass Krippenplätze Veränderungen. Die Kosten sollen Aufgaben zunehmen und Perso- nur von 8 bis 17 Uhr zur Verfügung gesenkt werden oder zumindest nalmangel besteht, nimmt man stehen. Es geht auch nicht, dass nicht steigen. Die Spitalaufent- sie in vielen Betrieben weiter vom der Arbeitgeber am Abend vorher halte sind kürzer geworden, damit Patienten weg. Das ist eine unge- anruft und sagt, man müsse mor- sind die fachlichen Anforderungen sunde Entwicklung. Man müsste gen arbeiten. Es braucht bessere in allen Bereichen gestiegen. den Lehrplan dahingehend besser Planbarkeit für die Pflegenden, die formulieren. ihre Krippenplätze und Tagesmüt- Diplomierte Pflegende HF ter auch zum Voraus buchen müs- pflegen und betreuen auch Will man mit solchen For- sen. Die Personalverantwortlichen Menschen mit Demenz. mulierungen den Beruf besser sind hier gefordert. Können sie in diesem Umfeld verkaufen, als er ist? den Anforderungen gerecht Ich denke, es hat mehr zu tun mit werden? der Orientierung an den Kompe- tenzen. Das Vokabular hat sich geändert. In diesen Kompetenzen sind die Handlungen am Patien- ten mitgemeint. Der SBK hat bei
19 Sonnweid, das Hef t Nr. 9 MEINUNG in unterschiedlichen Positionen Der Berufsverband SBK zu unterschiedlichen Zeiten pfle- hat die Pflegeinitiative gen. Es ist letztlich eine Führungs- eingereicht. Unterstützen Sie «Mehr prakti- aufgabe der Institutionen. Meine dieses Anliegen? Erfahrung zeigt mir, dass es hier Ich begrüsse die Initiative. Sie löst sche Ausbil- grosse Unterschiede gibt. eine Diskussion aus und schärft den Blick auf ein Problem, das dung in den wir angehen müssen. Aber der Institutionen» Text ist zu stark von der Interessen- optik einer Berufsgruppe geprägt und muss ausgeweitet werden. Es Carlo Conti ist Präsident der wird einen Gegenvorschlag geben Alzheim er vereinig un g beider müssen. Man hört es auch von Basel und ehemaliger Gesund- Führungs personen in der Pflege, heitsdirektor des Kantons Basel dass noch daran gearbeitet wer- Stadt. Er fordert von den Institu- den muss. tionen gezielte Weiterbildung der Pflegenden. Die Pflege von Menschen mit Demenz wird von der Das Heft: Wie haben sich aus Krankenversicherung bezahlt. Ihrer Sicht die Anforderungen Die Betreuung muss jeder an den Pflegeberuf und die selbst bezahlen. Wird sich Pflegenden gewandelt? dies bald ändern? PD Carlo Conti: Auf der einen Seite Der Rahmenlehrplan für Es ist richtig, dass die Betreuung gab es durch technische Entwick- Pflegende HF (siehe Artikel nicht von den Krankenversiche- lungen Vereinfachungen in der auf Seite 12) setzt die rungen bezahlt wird, weil es sich Administration. Auf der anderen Prioritäten nicht im direkten dabei nicht um Gesundheitskos- Seite wurde es komplizierter, weil Kontakt mit den Patienten. ten, sondern um Sozialkosten han- die Anforderungen an das Erfas- Die Lehrpläne sind von einer theo- delt. Der Staat müsste diese Kos- sen von Daten und Festhalten von retischen Warte aus verfasst. Viel ten tragen. Ich bin dagegen, dass Abläufen gestiegen sind. Man wichtiger sind für mich die prakti- der Prämienzahler der Versiche- hört von Pflegenden, dass ihnen sche Tätigkeit in den Institutionen rungen damit zusätzlich belastet Zeit weggenommen worden ist für und die Erfahrungen, die man dort wird. Wir belasten den Prämien- die ganzheitliche Betreuung und sammeln kann. Ich bin ein Ver- zahler ohnehin so stark wie in kei- Pflege. Diese Entwicklung ist ge- fechter der dualen Ausbildung nem anderen OECD-Land. sellschaftlich bedingt, es gibt sie im Pflegeberuf. Die theoretische nicht nur im Pflegeberuf. Ausbildung an den Hochschulen Wird die Betreuung denn entspricht nicht wirklich den An- Ihrer Ansicht nach nicht Bei der Betreuung und Pflege forderungen der Praxis. Man soll- durch die Krankheit Demenz von Menschen mit Demenz te, wie in anderen Berufen auch, verursacht? sind Empathie und Haltung mehr praktische Ausbildung in Viele der über 65-Jährigen Basle- sehr wichtig. Wird dem in den Institutionen machen. Dies r innen und Basler zum Beispiel der Ausbildung und bei den ist eine Führungsaufgabe der Insti - sind alleinstehend und wohnen in Personalschlüsseln Rechnung tutionen. Die Anforderungen und einem Einpersonenhaushalt. Sie getragen? Rahmenbedingungen in einem sind nicht integriert in eine Sozial- Wer Verantwortung trägt, muss Heim für Menschen mit Demenz struktur. Aufgaben, die früher die dafür sorgen, dass genug Zeit sind ganz anders als in einem Sozialgemeinschaft – vor allem dafür vorhanden ist. Ich glaube, Kinderspital oder in einem Spital die Familie – übernommen hat, dass in der Ausbildung nach wie für Sportmedizin. Dem muss man müssen heute von der Allgemein- vor genug dafür gemacht wird. Rechnung tragen. heit getragen werden. Dies ist kein Allerdings braucht es nach der Problem des Gesundheitswesens, Grundausbildung eine Spezialisie- sondern der Sozialstruktur. In an- rung. Ein grösseres Problem orte deren Ländern Europas werden ich in einem anderen Bereich: Wir die Betreuungskosten nicht als haben sehr viele Pflegende, die nur Gesundheitskosten deklariert. Die Teilzeit arbeiten. Das führt dazu, Betreuung muss dort über Steuer- dass der ganzheitliche Ansatz gelder finanziert werden. schwieriger zu erreichen ist, weil unterschiedliche Fachpersonen
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21 Sonnweid, das Hef t Nr. 9 R ÄTSEL SONNWEID AK TUELL Mehr Platz für die Bewohner Was bin mm. In der Sonnweid fuhren in den vergangenen Jahr- zehnten regelmässig die Baumaschinen vor. Sinn der Erweiterungs- und Neubauten war es immer, den Bewohnerinnen und Bewohnern mehr Raum zu geben und damit mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Im ich? letzten Winter kündigten auf der Südseite des Areals ausgesteckte Bauvisiere ein weiteres Vorhaben an. Inzwischen ist die Baubewilligung erteilt, bereits im Juni werden die Bauarbeiten beginnen. Von Marcus May An mir kommt niemand vorbei. Das stimmt nicht ganz, manchmal muss mein Team pressieren. Dann schwärmen sie aus oder hängen sich ans Telefon. © Bernasconi Architekten Auf der Suche nach der guten Lösung kommen sie stets zu mir zurück, tagsüber. Über Nacht lässt man mich einfach machen, dann trage ich die Verant- wortung allein. Stoisch hock’ ich einsam da, immer ins rechte Licht gerückt. Seit kurzem trage ich auch ein Namenstäfeli, es In den Häusern B und D erfüllen mehrere Zimmer nicht mehr die Anforderungen der kantonalen Gesundheits- ist wohl eher eine Tafel. Hätt’ ich eine Brust, wär’ direktion. In zwei Bauetappen werden nun die Fassaden sie jetzt geschwellt. Und wäre ich ein Organ, dann der beiden Gebäude bis Ende 2019 um mehrere Meter sicherlich ein Kontrollorgan. Ich habe den Überblick; Richtung Süden erweitert. Ein derzeit bestehender Hof den totalen Rundblick hingegen nicht. Dafür müss- wird ebenfalls bebaut. Gleichzeitig werden die Cafeteria ten sich meine Frauen zu weit hinauslehnen. Aber über der Abteilung B erneuert und ein Teil der Terrasse mit einem Dach versehen. Damit auch während des Baus mir reicht es, ich sehe das Kommen und Gehen; alle Bewohner der Abteilungen B und D in der Sonnweid den ganzen Tag. leben können, entsteht im östlichen Teil des Gartens ein Hier sollen sich die Menschen sicher fühlen, man Provisorium. Die Bauarbeiten werden so ausgeführt, trifft sich bei mir oder wird abgeholt. Oft stehen gan- dass möglichst wenig Emissionen entstehen. Nach dem ze Trauben da, oder jemand schmiegt sich an mich, Umbau stehen fünf Zimmer mehr zur Verfügung als vorher. Da es mehr Einzelzimmer gibt, werden in der unbewusst, es ist mir angenehm. Zum Glück werde Sonnweid weiterhin 160 Menschen mit Demenz leben. ich jeden Morgen gut gereinigt! Bisweilen schlurft jemand ganz allein vorüber, hat keinen Blick für mich übrig. Will die nichts von mir? Es sind nicht nur die, die hinein möchten, auch Menschen, die nach Hause wollen, kommen bei mir EPISODE vorbei. Herr B., der liebe Herr B. zum Beispiel wohnt seit zwei Jahren hier und kommt mich oft besuchen. Frau H., dünn und zerbrechlich, soll doch bitte einen Keks essen. Er muss morgen ins Militär einrücken und darf des- Die sind so fein, mit ganz viel halb seinen Zug nicht verpassen. Herr B. wird bei Schokolade. Sie kneift die Lippen mir abgeholt. zusammen und weigert sich. Wenn alle Pause machen, habe ich die Korridore Die Lieblingskekse meiner kleinen fast für mich. Etwas verloren steht ein betagtes Ge- Tochter, sagt die Pflegerin und streichelt den Keks über ihre Lip- schwisterpaar vor mir, suchende Blicke, zur Klingel pen. Ihre Augen lachen, zaghaft und zum Telefon, zu Büchern und Broschüren. Alles öffnet Frau H . die verkrampften bleibt unberührt. Könnte ich doch mit ihnen spre- Lippen. Kauend streckt sie dann chen! Mein Team ist bereits angerückt, die Schwes- die Arme nach den verwelkenden tern sind in guten Händen. Tulpen in der Vase und versucht ganz vorsichtig, ein Blütenblatt Ich bin der Wegweiser, der ruhende Pol, ohne zu lösen. Sie beginnt vor sich hin- mich blieben noch mehr verirrte Leute übrig. Ein- zumurmeln, ganz leise, kaum ein mal im Jahr darf ich selbst Verwirrung stiften, wenn Wort ist verständlich. Die Pflegerin mein giftiger Pfeifton alle im Haus vor mir zusam- tritt neben sie und streicht ihr mentrommelt. Ich bin das Leitsystem und der Blitz- sanft über Schulter und Rücken. Frau H.’s Stimme wird plötzlich ableiter, man prallt von mir ab oder wird herzlich eindringlicher, ihre Züge ent span- aufgenommen. Was bin ich? nen sich. Nun versteht man viel Die Lösung finden Sie auf Seite 23 dieses Heftes. besser, was sie sagt. (may)
22 FILMTIPP Ein Antidepressivum gegen das Altern Der Film « Lucky» ist eine wunderbare Hommage an den berühmtesten unbekannten Schauspieler Hol- lywoods. Und er ist eine empfehlenswerte Thera- pie für Menschen, die sich vor dem Altern fürchten. Von Martin Mühlegg Eine Schildkröte durchquert staksigen Schrittes eine Kakteenwüste im Südwesten der USA. Derweil wacht der alte Lucky auf, dessen Hals so runzlig ist wie jener der Schildkröte. Im Bett zündet er eine Zigarette an. Dann macht er – noch ungekämmt und in Unterwä- sche – Yogaübungen. Später panzert er seinen dürren Körper mit Jeans, Cowboystiefeln, Lederjacke und Hut und geht staksigen Schrittes ins Dorf. Dort trinkt er Kaffee mit viel Milch und Zucker, löst Kreuzwort- rätsel und kauft Zigaretten. Nachmittags schaut er Quiz-Sendungen, löst Kreuzworträtsel oder verrichtet Gartenarbeit. Abends geht er in eine Bar und trinkt Bloody Marys. Jeder kennt sein Gesicht, aber kaum jemand sei- nen Namen: Harry Dean Stanton war der berühm- teste nicht berühmte Schauspieler Hollywoods. Er war seit den 1950er-Jahren in über 70 Nebenrollen Lu c k y (U SA 2 017 ), Re g ie J o h n Carro ll Lyn c h, zu sehen. Er spielte in Klassikern wie « Der falsche m it H arr y D e an Stanto n, D avid Lyn c h . Mann » ( Regie: Alfred Hitchcock), in « Der Pate – Teil 2» (Francis Ford Coppola), «Wild at Heart» (David (gespielt von David Lynch) entlaufen. Laut Howard Lynch) und « Fear and Loathing in Las Vegas» (Terry soll sie hundert Jahre alt sein und ihren Ausbruch Gilliam). Eine Holly wood-Regel besagt, ein Film könne geplant haben. Er sagt, sie sei ein bewundernswer- nicht schlecht sein, wenn Stanton mitspiele. Der dün- tes Geschöpf, das Liebe und Respekt verdiene. Seit ne Mann mit der langen Nase und den grossen Ohren ihrem Ausbruch kriecht sie demütig, anspruchslos starb im September 2017 im Alter von 91 Jahren. Ein und beinahe unbemerkt durch die Kakteenwüste. Jahr vor seinem Tod hatten einige seiner Weggefähr- So wie Stanton durch die Filme Hollywoods geisterte. ten zusammengefunden und ihm eine seiner wenigen Nach einem Schwächeanfall und einer medizi- Hauptrollen auf den Leib geschrieben. nischen Untersuchung gerät Luckys Gefühlswelt in Vieles im Film « Lucky» ist autobiografisch. Zum Schieflage. Der Arzt attestiert ihm erstaunlich gute Beispiel Stantons Spitzname, den er seinem Glück im Gesundheit, sagt aber, dass er damit rechnen müsse, Zweiten Weltkrieg verdankt. Stanton leistete im Pazi- bald zu sterben. Dies beunruhigt und verängstigt den fik Dienst für die Navy. Als Schiffskoch musste er nie alten Mann. Die Hilfe einer Haushälterin und Pflegerin ins Gefecht. Über 70 Jahre später trifft er im Coffee will er aber nicht. Als dennoch eine junge Frau bei ihm Shop des Wüstenkaffs einen Veteranen. Dieser erzählt aufkreuzt, setzen sich die beiden vor den Fernseher ihm, welch schreckliche Erfahrungen und Bilder ihm und rauchen Joints. erspart geblieben sind. Zigaretten und Alkohol waren Nachdem ihm die Wirtin der Bar das Rauchen Stanton wie auch die Filmfigur Lucky zugeneigt. Als untersagt hat, hält Atheist Lucky einen philosophi- skurriler Musiker überzeugte Stanton im richtigen schen Vortrag. « Eigentum ist Trugschluss», sagt er Leben wie im Film. Ob Stanton auch Kreuzworträtsel unter anderem. Er begegne seiner Vergänglichkeit und gelöst hat, wissen wir nicht. Im Film sind die in den seinem baldigen Verschwinden mit einem Lächeln, Rätseln gefragten Begriffe Auslöser von philosophi- sagt er und zündet – in der Bar – eine Zigarette an. schen Diskursen. Gleichzeitig künden sie den weiteren Der Film « Lucky» ist eine wunderbare Hommage Verlauf von Luckys Geschichte an. an einen grossen Schauspieler. Und er ist ein emp- Die eingangs zu sehende Schildkröte dient als fehlenswertes Antidepressivum für Menschen, die Metapher zur Figur Lucky und zu ihrem Darsteller. sich vor dem Altern fürchten. Sie ist – so stellt sich heraus – Luckys Freund Howard
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