BABS 22/23 Januar 2023 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS
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Impressum BABS 22/23, Januar 2023 Herausgeber Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS Produktion und Koordination Andreas Bucher, Kommunikation BABS Übersetzungen und Lektorat Sprachdienste BABS Layout Zentrum digitale Medien der Armee DMA Kontakt Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS Kommunikation, Guisanplatz 1B, CH-3003 Bern info@babs.admin.ch, www.babs.admin.ch Bildnachweis Titel: Urs Nyffenegger, BABS; 3: Reuters; 4: BABS; 5: Keystone; 9: Keystone; 11: Keystone; 12: BABS; 13: M. Trotta / PML-SPSL; 14: Paul Knüsel und ZSO Bern plus; 15: Stefan Vetter; 17: Keystone; 18: Google Maps; 19: Reuters; 20: Adobe Stock; 21: Screenshot SRF; 22: Reuters; 24: Urs Nyffenegger, BABS; 27: BABS; 32: 4DNews; 33: Museum für Gestaltung Zürich/Archiv Zürcher Hochschule der Künste; 35: 4DNews; 37: 4DNews; 41: Keystone; 42: Medienagentur VBS; 43: BWL/Nationalbibliothek; 44: Wikipedia Nachdruck Beiträge und Bilder sind urheberrechtlich geschützt. Nachdrucke sind mit der Redaktion zu vereinbaren. Das Magazin ist auch als PDF und E-Paper verfügbar unter www.babs.admin.ch/magazin
1 Inhalt Editorial2 Jahresrückblick 2022 4 – Krieg in der Ukraine: Aufgaben der Nationalen Alarmzentrale 5 – Kulturelles Erbe ist in Gefahr 11 – Der Zivilschutz im Einsatz für die Flüchtlinge 13 – Der Grat zwischen Panikmache und Warnung ist schmal 15 – In der Ukraine warnt eine App vor Luftangriffen 17 – Schutzräume: Der lange Schatten des Kalten Kriegs 20 – Schutz über die Grenzen hinweg 22 Laufende Arbeiten 24 – Ausbilden für die Krise 25 – Nationale Risikoanalyse: Wie hoch sind die Risiken? 28 – Zivile und militärische Einsatzmittel für den Fall eines ABC-Ereignisses 30 – Alertswiss erreicht 20 Prozent der Bevölkerung 32 Individuelle Vorsorge 33 – Individuelle Vorsorge, mehr denn je – ein kluger Rat 34 – Geschichte des Notvorrats 40 – Bevölkerungsschutzkonferenz 2023 44
BABS 22/23 Editorial 2 Liebe Leserin, lieber Leser Die zweite Ausgabe unseres Jahresmagazins widmet sich erwartungsgemäss schwergewichtig dem Krieg in der Ukraine und den daraus abgeleiteten Frage stellungen für den Bevölkerungsschutz in der Schweiz. Wir zeigen im Jahres rückblick auf, wie die Nationale Alarmzentrale die radiologische Situation in Europa verfolgt, wie das Ressourcenmanagement Bund die Beiträge der Schweiz für die internationale Hilfe koordiniert und wie der Zivilschutz die Flüchtlinge unterstützt. Michaela Schärer, Direktorin BABS Wie werden die Menschen in der 3. Erstellen Sie einen persönlichen Notfallplan. Ukraine über richtiges Verhalten Das hilft generell, in Notsituationen schnell informiert? Welche Anforderun- und richtig reagieren zu können. gen an den Bau und Betrieb von Schutzräumen und an Alarmie- Wir haben den Notfallplan von Alertswiss über- rungssysteme lassen sich aus arbeitet und ergänzt mit Informationen für den Fall den Geschehnissen in der Uk- einer Evakuierung und zum Verhalten bei Strom- raine für die Schweiz ableiten? ausfällen. Die neue Version ist diesem Magazin beigelegt. Der thematische Teil dieses Magazins Da solche für unseren Bevöl- widmet sich zudem der Lebensmittelversorgung in kerungsschutz zentralen Fra- der Schweiz und beleuchtet die lange Geschichte gen im Magazin nicht umfassend behandelt wer- der Vorratshaltung. den können, werden wir diese Themen auch an der nächsten nationalen Bevölkerungsschutzkon- Unabhängig vom Krieg in der Ukraine sind die Er- ferenz im November 2023 in Biel behandeln. wartungen an das BABS stark gestiegen: Die ver- änderte sicherheitspolitische Lage, die Corona- Ein wichtiges Element des Bevölkerungsschutzes Pandemie, die herausfordernde Energiesituation in Krisen ist die Information der Bevölkerung: Der sowie die Häufung der Naturgefahren aufgrund Balanceakt für die Kommunikation BABS besteht des Klimawandels haben die Aufgaben des BABS darin, auf die Sorgen der Menschen aufgrund der insgesamt in den letzten Jahren in den Vorder- Ereignisse in der Ukraine einzugehen, gleichzeitig grund gerückt. Im Bereich Technologie steigt der aber klarzustellen, dass keine besonderen Vorkeh- Innovationsdruck. Das BABS ist gefordert, sich rungen zu treffen sind. Seit Kriegsausbruch emp- entsprechend weiterzuentwickeln und seine Res- fehlen wir drei Massnahmen, die auch unabhän- sourcen möglichst gezielt einzusetzen. gig von der Situation in der Ukraine jederzeit und für alle gültig sind: Ich bin überzeugt, dass wir mit gezielten Anpas- sungen sowie mit der Kompetenz und dem En- 1. Installieren Sie die Alarm-App Alertswiss und gagement unserer Mitarbeitenden gut auf die besorgen Sie sich ein stromunabhängiges anstehenden Herausforderungen vorbereitet Radio, damit sie auch bei Stromausfall auf sind. Allerdings gilt es auch inskünftig, flexibel dem Laufenden bleiben können. und vorausschauend auf neue Entwicklungen zu reagieren, damit jederzeit der bestmögliche 2. Halten Sie einen Notvorrat gemäss den Emp- Schutz der Bevölkerung gewährleistet werden fehlungen des Bundeamtes für wirtschaftliche kann. Landesversorgung bereit.
3 Das Denkmal des Stadtgründers Herzog de Richelieu in Odessa wurde zum Schutz vor russischen Bombenangriffen mit Sand säcken bedeckt.
5 Krieg in der Ukraine: Aufgaben der Nationalen Alarmzentrale Russische Soldaten halten Wache vor dem Haupteingang des Kernkraftwerks Saporischschja in Enerhodar, Südostukraine. Zum ersten Mal in der Geschichte wird in Europa ein Krieg gegen einen Industriestaat mit mehreren Kernkraftwerken geführt. Andreas Bucher, Kommunikation BABS Mehrere Geschäftsbereiche des BABS sind seit Kriegsausbruch besonders gefordert, allen voran die Nationale Alarmzentrale: Sie verfolgt die bevölkerungsschutzrelevante Lage in Bezug auf mögliche radiologische Gefährdungen sowie allfällige Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, und sie koordiniert über das Ressourcenmanagement Bund die Lieferung von Hilfsgütern ins Kriegsgebiet.
BABS 22/23 Jahresrückblick 2022 6 Der Krieg in der Ukraine trifft die Schweiz an vie- Und Ende Juli kam es noch schlimmer: In Erwar- len verschiedenen Punkten. Die Sicherheitspoli- tung einer ukrainischen Offensive seien im Maschi- tik muss überprüft werden, es drohen Lücken bei nenhaus eines Reaktorblocks Waffen und Spreng- der Energieversorgung, es gibt Preisanstiege und stoff untergebracht worden, berichtete der staatli- Engpässe bei gewissen Nahrungsmitteln. An- che Betreiber der ukrainischen KKW Energoatom. gesichts dieser Palette von Auswirkungen ist es Der Verdacht liegt nahe, dass Russland das KKW nachvollziehbar, dass das Bundesamt für Bevöl- gezielt in eine Stellung gegen ukrainische Truppen kerungsschutz den Menschen in der Schweiz wie- umfunktionieren wollte. Innerhalb des Kernkraft- derholt deutlich machen muss, dass die Bevölke- werks steigt der Druck auf das Personal, das seit rung keine besonderen Massnahmen zu treffen hat März 2022 unter erschwerten Bedingungen arbei- und dass der Krieg in der Ukraine keine Verstär- ten muss. Auch dies trägt dazu bei, dass das Si- kung des Bevölkerungsschutzes erfordert. Eine cherheitsniveau sinkt.2 vom Bundesrat beschlossene Verstärkung be- inhaltet ein massives Aufgebot des Zivilschutzes An einer Dringlichkeitssitzung des Uno-Sicher- sowie die Anordnung an Behörden und Bevölke- heitsrats Mitte August 2022 erklärte IAEA-Chef rung, die Schutzbauten innerhalb von fünf Tagen Grossi, dass keine unmittelbare Bedrohung der im Hinblick auf einen bewaffneten Konflikt in der Schweiz betriebs- und einsatzbereit zu machen. Gemeinden und Kantone wiederum müssten ihre Schutzplätze der Wohnbevölkerung zuweisen. Die Schutzanlagen der Schweiz sind jedoch auf einen bewaffneten Konflikt in unserem Land ausgerich- tet. Und ein solcher zeichnet sich aufgrund des Uk- raine-Kriegs nicht ab. Ein Kernkraftwertk auf dem Schlachtfeld Ein Risiko allerdings beschäftigt das BABS bei- nahe seit Beginn des Kriegs besonders, und zwar ein schwerer Zwischenfall in einem ukrainischen KKW, ausgelöst durch Kampfhandlungen: Seit dem 4. März 2022 befindet sich im ukrainischen Oblast Saporischschja das grösste Kernkraftwerk Europas unter russischer Kontrolle. Der Leiter der Nach der Beendigung der IAEA-Mission im KKW Saporisch Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) Ra- schja erläuterte IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi am 2. September die sieben unverzichtbaren Säulen der nuk fael Grossi warnte wiederholt davor, dass eine der- learen Sicherheit und Sicherung – also die essentiellen Rah artige Situation fundamental gegen die Prinzipien menbedingungen, um einen sicheren Betrieb eines KKWs zu der Nuklearsicherheit verstosse.1 Bereits zu Be- ermöglichen. «Alle diese Säulen wurden während dieser ginn der Besetzung des Geländes durch russische Krise an dem einen oder anderen Punkt kompromittiert, wenn nicht sogar vollständig verletzt», sagte der IAEO-Chef, Truppen kam es zu einem Brand. Ein Übergreifen «es ist höchste Zeit, zu verhindern, dass ein bewaffneter der Flammen auf die Reaktoren konnte zwar ver- Konflikt nukleare Anlagen ernsthaft gefährdet und damit die hindert werden, doch das Feuer machte deutlich, Sicherheit der Menschen und der Umwelt in der Ukraine und welche Gefahr von Gefechten rund um das Kraft- darüber hinaus aufs Spiel setzt». werk ausgehen kann. 1 Director General Grossi Alarmed by Shelling at Ukraine 2 WENRA position on the safety situation of Zaporizhzhya NPP - IAEA Mission Vital for Nuclear Safety and Security, iaea. NPP after reported shelling activities, www.wenra.eu, 10. Au- org, 6. August 2022 gust 2022
7 7 unverzichtbare Säulen der nuklearen Sicherheit und Sicherung 1 2 3 4 5 6 7 Physische Funktionierende Arbeitsbedingungen Externe Verlässliche Strahlungsüber Zuverlässige Unversehrtheit Sicherheits- und für das Betriebs Stromversogung Versorgungskettten wachung und Kommunikation der Anlagen Sicherungssysteme personal Notfallmassnahmen mit der Aufsichtsbehörde Sicherheit infolge des Beschusses des KKW oder Für diese Aufgaben betreibt die NAZ ein eigenes anderer militärischer Aktionen bestehe. Dies Radioaktivitäts-Messnetz. Über die ganze Schweiz könne sich jedoch jederzeit ändern. Angesichts verteilte Sonden übermitteln alle 10 Minuten den der Tatsache, dass zum ersten Mal in der Ge- aktuellen Messwert an die NAZ. Bei Überschrei- schichte in Europa ein Krieg gegen einen Indus- ten einer bestimmten Schwelle wird automatisch triestaat mit mehreren KKW geführt wird, gibt es Alarm ausgelöst und das Pikett der NAZ aktiviert, mehrere ernst zu nehmende Eskalationsrisiken. das zusammen mit dem Fachbereich Einsatz-Ra- Diese reichen vom Stromausfall mit potenziellen dioaktivität die gemeldete Überschreitung verifi- Auswirkungen auf die Kühlsysteme über Fehlent- ziert. So kann die NAZ die radiologische Lage rund scheide des stark geschwächten Personals bis hin um die Uhr überwachen. zu einem direkten Beschuss der Reaktorblöcke. Diese Überwachung der Radioaktivität beschränkt Überwachung der Radioaktivität sich jedoch nicht nur auf die Schweiz: Bei Ereig- Für Ereignisse, die eine Gefährdung der Bevölke- nissen im Ausland sorgt die NAZ für raschen und rung in der Schweiz durch erhöhte Radioaktivität umfassenden Informationsaustausch, unter ande- zur Folge haben können, besteht eine Einsatzorga- rem mit der Internationalen Atomenergieagentur, nisation des Bundes, in der alle betroffenen Bun- gestützt auf die Convention on Early Notification desämter und kantonalen Führungsorganisationen of a Nuclear Accident, und dem EU-System Euro- vertreten sind : das Eidgenössische Nuklearsicher- pean Community Urgent Radiological Information heitsinspektorat ENSI, die Nationale Alarmzent- Exchange (ECURIE).4 Über diese Organisationen rale, das Labor Spiez, das Bundesamt für Gesund- und die Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty heit, MeteoSchweiz.3 Die Nationale Alarmzentrale Organisation (CTBTO) hat die NAZ auch Zugriff (NAZ) beurteilt als ständiges Einsatzelement die- auf Radioaktivitäts-Messdaten aus allen europäi- ser Organisation permanent die Lage. Dazu ist sie schen und vielen anderen Ländern, also auch aus in Kontakt mit internationalen Organisationen wie der Ukraine und Russland (sofern diese die Mess- der Internationalen Atomenergie Agentur IAEA, werte übermitteln). Die NAZ beurteilt zudem täg- mit Kantonen, Bundesämtern sowie den Betrei- lich die Resultate von Ausbreitungsrechnungen, bern von Telekommunikations-, Energie- und Ver- die die MeteoSchweiz im Auftrag der NAZ automa- kehrsnetzen. Die Bandbreite der möglichen Ereig- tisch durchführt, für den hypothetischen Fall, dass nisse reicht von Betriebs- und Transportunfällen an einem kritischen Punkt eine signifikante Menge über Störfälle in Kernkraftwerken bis zu Kernwaf- Radioaktivität in die Atmosphäre freigesetzt würde. fenexplosionen. Dabei ist die NAZ nicht nur für die Die von den diversen Messnetzen erhobenen Warnung der Behörden und die Alarmierung der Daten werden in der NAZ u. a. mit speziell für ihre Bevölkerung zuständig, sondern auch für die Er- Bedürfnisse entwickelten Programmen ausgewer- fassung der Lage und für die Beurteilung allenfalls tet und in Form von Grafiken und Karten darge- notwendiger Schutzmassnahmen. stellt. Sie dienen als Grundlage für die Ableitung von Massnahmen und die Information der Bevöl- kerung. 3 Art. 19 Abs. 1 des Strahlenschutzgesetzes [SR 814.50] in Verbindung mit Art. 2 der Bevölkerungsschutzverordnung [SR 520.12] und Art. 7 der Verordnung über den Bundesstab 4 REMon - European Commission (europa.eu) Bevölkerungsschutz [SR 520.17], Verification Regime: CTBTO Preparatory Commission
BABS 22/23 Jahresrückblick 2022 8 Maximale Stunden- bzw. Tagesmittelwerte in mikroSv/h der Ortsdosisleistung (ODL). Zeitraum: 28.07.2022 09:30 bis 04.08.2022 09:30 Uhr (MESZ). Alle Messwerte liegen im erwarteten Bereich. Der erhöhte Wert in Opole (POL) ist vermutlich auf einen Sondentest zurückzuführen, der Grund für den erhöhten Messwert in Obernberg (AUT) ist eine Fehlfunktion der Sonde. Mögliche Auswirkungen auf die Schweiz langen, können belastete Produkte als Lebensmit- Für den Fall eines KKW-Unfalls in der Schweiz sind tel oder als Tierfutter in der Schweiz gesperrt wer- umfangreiche Notfallschutzmassnahmen vor- den. Dazu müssten innert kurzer Zeit grosse Men- bereitet, aber auch für radiologische Ereignisse gen an Lebensmitteln kontrolliert werden. Diese ausserhalb der Schweiz mit potenzieller Gefähr- Aufgabe liegt im Zuständigkeitsbereich der Kan- dung der Schweizer Bevölkerung.5 Ziel der Mass- tone. Weil aber seit der Revision der Lebensmit- nahmen ist es, die Strahlenbelastung für die Be- telgesetzgebung 2017 keine Grenzwerte für Ra- völkerung möglichst gering zu halten. Sollten auf- dioaktivität mehr in Lebensmitteln festgelegt sind, grund eines Zwischenfalls in einem ukrainischen entfällt für die Kantone die Notwendigkeit von re- KKW bei ungünstigen Windverhältnissen radioak- gelmässigen Messungen. Die Kantonslaboratorien tiv kontaminierte Luftmassen in Richtung Schweiz würden so an Know-how und Erfahrung im Um- verfrachtet werden, wären Auswirkungen auf die gang mit der Kontrolle von verstrahlten Lebens- Lebensmittelsicherheit möglich und vermehrt mitteln verlieren. Um dies zu verhindern, schliesst Kontrollen und Einschränkungen beim Import von das BABS derzeit mit sieben Kantonslaboratorien Gütern nötig, insbesondere bei Lebensmitteln. Al- eine Leistungsvereinbarung ab. Die Vereinbarun- lenfalls wären für besonders verletzliche Bevölke- gen umfassen unter anderem eine einmalige Kos- rungsgruppen (Kinder, Schwangere) auch weiter- tenübernahme sowie eine jährliche Entschädigung gehende Empfehlungen möglich, wie zum Beispiel des Bundes zu Gunsten der engagierten Kantons- den Aufenthalt im Freien zu minimieren. laboratorien. Um zu verhindern, dass freigesetzte radioaktive Substanzen via Nahrungsmittel in den Körper ge- 5 Vgl. Das Notfallschutzkonzept bei einem KKW-Unfall: https://bit.ly/3DPAwiS
9 Ausbreitungsrechnungen KKW Saporischschja: Potentielle Bodendeposition für eine hypothetische Abgabe am 1.9.2022 von 06:00 bis 12:00 Uhr [UTC]. Dargestellt ist die totale potentielle Bodendeposition, akkumuliert über 120 Stunden. Ressourcenmanagement Bund In Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine kommt das so genannte Ressourcenmanagement Bund (ResMaB) zum Einsatz. Mit diesem Schlüs- selprozess der Nationalen Alarmzentrale unter- stützt der Bund subsidiär die Kantone und Betrei- ber kritischer Infrastrukturen, deren Ressourcen nicht mehr ausreichen, um eine Krise zu bewäl- tigen. In erster Linie sind Kantone, Regionen und Gemeinden Empfänger dieser Leistungen, aber auch das internationale Umfeld kann beim Bund nach zusätzlichen Ressourcen anfragen. ResMaB unterschiedet zwei Abläufe, einen direkten und einen koordinativen Prozess. Beim direkten Pro- zess stimmen Leistungserbringer und Leistungs- Die Hilfsgüter der Schweiz für die Ukraine werden in den bezüger die Ressourcen aufeinander ab, der koor- Westen des Landes geliefert (nach Lwiw und Luzk) sowie nach Kiew, Odessa, Winnyzja, Mykolajiw, Charkiw, Sumy und dinative Prozess beinhaltet ein konsultatives Ver- Dnipro. fahren unter Einbezug des ResMaB. Ressourcen und Leistungen werden zugeteilt, nachdem die Be- gehren durch das ResMaB beurteilt worden sind. Diese Beurteilung erfolgt entlang definierter Kri- terien sowie unter Berücksichtigung der Gesamt- lage.
BABS 22/23 Jahresrückblick 2022 10 Warschau WEISSRUSSLAND Chernihiv Rivnenska Sumska RUSSLAND Volynska Chernihivska Lutsk Sumy POLEN Rivne Zhytomyrska Rzeszów Brody Khmelnytska Poltavska Kharkiv Lviv Kyivska Poltava Ternopil Vinnytsia Kharkivska Lvivska Ternopilska Luhanska Cherkaska SLOWAKEI Ivano-Frankivsk Ivano- UKRAINE Vinnytska Dnipro Frankivska Zakarpatska Kirovohradska Luhansk Dnipropetrovska Donetsk Chernivetska UNGARN MOLDAWIEN Zaporizhzhia \ Donetska Mykolaivska Chisinau Zaporizka Odeska Mykolaiv Khersonska Huşi Odesa RUMÄNIEN Avtonomna Respublika 0 200 km Krym Sevastopol Belgrad Bukarest SERBIEN Schweizer Vertretungen Lieferung von Nothilfe Projekte DEZA Kooperationsbüro Ernährungssicherheit DEZA-Projektregionen Botschaft Gesundheit Kooperationsbüro Hygiene Legende zur Karte \ Expert/innen vor Ort Schutzräume Grenzübergänge UKR WASH (Wasser, sanitäre Infrastruktur, Hygiene) Quellen: EDA, DEZA Übersichtskarte zu den Schweizer Hilfslieferungen in die Ukraine (Stand Oktober 2022) Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine arbei- ten des Landes (Lwiw und Luzk) sowie nach Kiew, tet ResMaB mit der humanitären Hilfe der DEZA Odessa, Winnyzja, Mykolajiw, Charkiw, Sumy und zusammen. Entsprechend den Bedürfnissen der Dnipro. Die Schweiz hat der Ukraine bisher Hilfe DEZA koordiniert das ResMaB die Hilfsangebote in der Höhe von rund 100 Millionen Franken zur von Kantonen, Spitälern, der Industrie sowie weite- Verfügung gestellt, darunter Material zur Brand- ren Institutionen. Im Rahmen der Soforthilfe konnte bekämpfung (Schutzjacken und -hosen, Trans- das ResMaB durch gezielte Anfragen rund 420 portschläuche, Wasserwerfer, benzinbetriebene Spendenangebote für die Ukraine erfassen, be- Kettensägen), medizinische Hygieneprodukte urteilen und vermitteln. Mehrere Lieferungen mit (Untersuchungshandschuhe, Atemmasken), Was- dringend benötigtem Sanitätsmaterial, Notfallbe- seraufbereitungsanlagen sowie Medikamente aus atmungsgeräten und Notstromaggregaten konn- den Beständen des Eidgenössischen Departe- ten in die betroffenen Gebiete geliefert werden. ments für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Neben den Hilfsprojekten vor Ort wurden auch Sport (VBS). Das gesamte Material wurde vom VBS Transporte nach Polen und Moldawien organisiert. gratis zur Verfügung gestellt. Seit Beginn des Krieges hat die DEZA über 600 Tonnen Hilfsgüter aus der Schweiz in die Ukraine transportiert und in der Ukraine über 4750 Tonnen Nahrungsmittel zur Unterstützung der Bevölke- rung gekauft. Diese Güter gelangten in den Wes-
11 Kulturelles Erbe ist in Gefahr Seit Beginn der Angriffe in der Ukraine sind Kulturgüter – Zeugnisse der Identität der Völker und eines universellen Erbes – von unmittelbar bevorstehender, oft irreversibler Zerstörung bedroht. Gleichzeitig gibt es immer mehr zivile und staatliche Initiativen zum Schutz des kulturellen Erbes. In Städten wie Lwiw, Charkiw oder Odessa werden Statuen, Denkmäler, Museumssammlungen oder Archivbestände zu Zielen des Konflikts. Dies ist allerdings keine neue Entwicklung. Angesichts der unermesslichen Schäden, die Kulturgüter während des Zweiten Weltkriegs erlitten, verabschiedete die UNESCO 1954 das Haager Abkommen für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten. Carine Simoes, Fachbereich Kulturgüterschutz, BABS Der Krieg in der Ukraine zeigt einmal mehr, dass ein starker Rechtsrahmen und der Wille der Völ- kergemeinschaft für den Schutz des kulturellen Erbes bei bewaffneten Konflikten notwendig sind. Die beiden Hauptziele, die mit dem Haager Ab- kommen von 1954 verfolgt wurden, sind nach wie vor von grundlegender Bedeutung: die Sicherung des Kulturguts in Friedenszeiten und die Respek- tierung des Kulturguts im Falle eines bewaffneten Konflikts1. Daher sind die Zerstörung von Kultur- gütern im Falle eines bewaffneten Konflikts sowie Diebstahl und Plünderung verboten2. Als Antwort auf die massive Zerstörung von Kultur- gütern während des bewaffneten Konflikts in Ex- Jugoslawien wurde 1999 das Zweite Protokoll zum Haager Abkommen von 1954 verabschiedet. Das Protokoll ermöglicht es, besonders wichtige Kul- turgüter unter verstärkten Schutz zu stellen, und Ein Tuch bedeckt eine Skulptur des Andrej-Sheptyzki-National legt konkrete Massnahmen zur Bewahrung des museums in Lwiw, Westukraine, am 4. März 2022. Die Türen des Museums sind seit Beginn des russischen Krieges gegen die kulturellen Erbes fest, zum Beispiel die Erstellung Ukraine geschlossen. nationaler Verzeichnisse. Aufruf der UNESCO Die UNESCO hat bestätigt, dass zwischen dem Be- ginn der Feindseligkeiten am 24. Februar 2022 und öffentlicht, in der sie zum Schutz des ukrainischen dem 19. September 2022 192 kulturelle Stätten be- Kulturerbes, das von der reichen Geschichte des schädigt wurden: 81 religiöse Stätten, 13 Museen, Landes zeugt, aufrief – das war einen Tag nachdem 36 historische Gebäude, 35 Gebäude für kulturelle die Generalversammlung der Vereinten Nationen Aktivitäten, 17 Denkmäler und 10 Bibliotheken3. Am eine Resolution zum Angriff auf die Ukraine verab- 3. März 2022 hatte die UNESCO eine Erklärung ver- schiedet hatte. Seitdem wurden zahlreiche Initiativen ergriffen, 1 Stand heute sind 133 der 193 UNESCO-Mitgliedsstaaten um die ukrainischen Behörden und die Zivilge- Vertragsparteien des Haager Abkommens von 1954. sellschaft bei ihren Bemühungen zu unterstützen, 2 Seit 1957 sind die Ukraine und die Russische Föderation Vertragsstaaten des Haager Abkommens von 1954. das kulturelle Erbe vor einer beispiellosen Zer- 3 https://www.unesco.org/fr/ukraine-war störung zu schützen. Anfang Juli reiste eine Mis-
BABS 22/23 Jahresrückblick 2022 12 Zehn KGS-Regeln für den Fall eines bewaffneten Konflikts Im Bereich des Kulturgüterschutzes wird das Handeln der Schweizer Armee im Falle eines bewaffneten Konflikts durch «Die zehn Grundregeln des Kulturgüter schutzes» bestimmt. Eine Reihe von Postern, die das Thema illustrieren, wird 2023 vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz zu Schulungs- und Sensibilisie rungszwecken herausgegeben. Die Kulturgüter auf den Postern werden Beispiele für Kulturgüter von nationaler Bedeutung sein, die im Schweizer Inventar zum Schutz von Kulturgütern aufgeführt sind und im Falle eines bewaffneten Konflikts erhalten bleiben müssen. Der Stiftsbezirk St. Gallen gehörte einst zu den bedeutendsten kulturellen Zentren Europas. 1983 wurden der Bezirk und die Stiftsbibliothek von der UNESCO in das Verzeichnis des Weltkulturerbes aufgenommen. sion der UNESCO in die Uk- Nothilfe raine, um eine erste fundierte Nebst dem internationalen Bergungsort wurden Einschätzung der Auswirkun- vom Bundesamt für Kultur finanzielle Hilfen für gen des Krieges auf den ukrai- Projekte zur Sicherung von Kulturgütern aus der nischen Kultursektor vorzuneh- Ukraine bereitgestellt. Dabei kann es sich um die men, ihre Unterstützung für den Unterstützung von Museen oder kulturellen Institu- Sektor mit den Regierungsbe- tionen in der Schweiz handeln, die Kulturgüter aus hörden und Partnern zu koordinieren und Prioritä- der Ukraine zur Aufbewahrung aufnehmen, oder ten für den Wiederaufbau festzulegen. um Projekte von Institutionen oder Einzelpersonen, die auf die Bewahrung von Kulturgütern und die «Safe Haven» Verhinderung von Zerstörung, Diebstahl und ille- Die lange humanitäre Tradition der Schweiz er- galem Handel abzielen. Darüber hinaus wurde ein streckt sich auch auf die Sicherung von Kultur- Beitrag zum UNESCO-Nothilfefonds für das Kultur- gütern4. Seit 2015 stellt die Schweiz auf Anfrage erbe gewährt. Diese Nothilfe- und Kooperations- eines Drittstaates einen internationalen Bergungs- massnahmen stehen im Einklang mit der Strate- ort («Safe Haven») zur Sicherung von Kulturgütern gie des Bundesrates zum Schutz des gefährdeten zur Verfügung, die durch bewaffnete Konflikte, Kulturerbes für den Zeitraum 2019–2023. Katastrophen oder Notlagen bedroht sind5. Die treuhänderische Aufbewahrung erfolgt gemäss Kriegsverbrechen einem bilateralen Abkommen, das zwischen dem Vorsätzliche Angriffe auf Kulturgüter gelten als Bundesrat und der Regierung des Drittstaates ab- Kriegsverbrechen6. Bereits 2005 und 2006 wurden geschlossen wird. Solange sich die unter das Ab- zwei Generäle der jugoslawischen Armee wegen kommen fallenden Kulturgüter in der Schweiz be- der Zerstörung des Weltkulturerbes in Dubrovnik finden, können Dritte keinerlei Ansprüche geltend (Kroatien) verurteilt. In jüngster Zeit, im Jahr 2016, machen. wurden die Handlungen eines Terroristen, die zur vorsätzlichen Zerstörung einer Moschee und neun Auf diplomatischem Weg, insbesondere über die Mausoleen in Timbuktu (Mali) führten, vom Inter- ständige Delegation der Schweiz bei der UNESCO, nationalen Strafgerichtshof ebenfalls als Kriegs- wurde den ukrainischen Behörden diese Unter- verbrechen eingestuft. Auch wenn ein mögliches stützung angeboten. Die Schweiz hält sich für den Urteil zu den Angriffen auf das kulturelle Erbe in Fall eines offiziellen Ersuchens bereit. Der Fach- der Ukraine nicht vorhersehbar ist, dürften die im- bereich Kulturgüterschutz im Bundesamt für Be- mensen Schäden nicht unberücksichtigt bleiben. völkerungsschutz ist für die Verwaltung des Ber- Schliesslich ist ein Stück Menschheitsgeschichte gungsorts und die Koordination auf Bundesebene bedroht – wodurch die Weitergabe des kollektiven zuständig. In diesem Rahmen arbeitet er insbe- und identitätsstiftenden Gedächtnisses, was das sondere eng mit dem Schweizerischen National- Kulturerbe ja ist, an zukünftige Generationen ein- museum zusammen, das zu gegebener Zeit die geschränkt wird. optimale Aufbewahrung der eingelagerten Kultur- güter sicherstellt. 4 Die Schweiz ratifizierte das Haager Abkommen von 1954 im Jahr 1962 (SR 0.520.3) und das Zweite Protokoll von 1999 im Jahr 2004 (SR 0.520.33). 5 Vom Bundesgesetz über den Schutz der Kulturgüter bei 6 Diesbezüglich Römisches Statut des Internationalen bewaffneten Konflikten, bei Katastrophen und in Notlagen Strafgerichtshofs und Resolution 2347 (2017) des Sicherheits- (KGSG, SR 520.3) vorgesehen. rats der Vereinten Nationen.
13 Um eine längerfristige Aufnahme von Geflüchteten gewährleisten zu können, hat der Waadtländer Zivilschutz eine temporäre Notunterkunft mit 200 Betten im Palais de Beaulieu in Lausanne aufgebaut. Der Zivilschutz ist auch für deren Betrieb zuständig. Der Zivilschutz im Einsatz für die Flüchtlinge Im Rahmen der Pandemiebewältigung leistete der Schweizer Zivilschutz über zwei Jahre hinweg den bisher grössten Einsatz in seiner Geschichte. Nur wenige Monate nach Beendigung dieses Einsatzes entstand aufgrund des Krieges in der Ukraine und der Ankunft von tausenden Geflüchteten erneut eine Situation, welche einen grösseren Einsatz des Zivilschutzes erforderlich machte. Dank seiner hohen Reaktionsbereitschaft und dem nötigen Mass an Flexibilität war der Zivilschutz in den meisten Kantonen ein unverzichtbarer Faktor, um die grosse Anzahl an Geflüchteten in Empfang zu nehmen. Jonas Höhn, Kommunikation BABS Die Schweiz war kaum darauf vorbereitet, dass ab der Geflüchteten sicherzustellen. Vielerorts waren Ende Februar 2022 plötzlich tausende Menschen dafür auch kreative Lösungen von Nöten. aus der Ukraine als Schutzsuchende ins Land kommen sollten. Doch mit dem russischen Angriff Häufig lag es am Zivilschutz, die Geflüchteten nicht auf die Ukraine war schnell klar, dass eine grosse nur in Empfang zu nehmen, sondern auch deren Anzahl Geflüchteter, darunter viele Frauen und Kin- provisorische Beherbergung sicherzustellen. So der, auch in der Schweiz Schutz suchen würden. wurde im Toggenburg unter massgeblicher Betei- Der Zivilschutz war in vielen Kantonen von Anfang ligung des Zivilschutzes innerhalb weniger Tage an und an vorderster Front dabei, um Empfang, Be- (und Nächte) ein ehemaliges Altersheim instand- treuung sowie die behelfsmässige Unterbringung gesetzt und zu einer funktionstüchtigen Unterkunft
BABS 22/23 Jahresrückblick 2022 14 Zur Unterbringung gehört auch Verpflegung (Stadt Bern). Die Einsatzdauer der Dienstleistenden war auf jeweils eine Woche begrenzt, um allzu grosse Arbeitsausfälle zu verhindern. Neben der Betreuung und Unterbringung von Ge- flüchteten hatte der Zivilschutz weitere, zum Teil speziellere Aufgaben zu bewältigen. So musste die Zivilschutzorganisation Bern Plus der ukrainischen Botschaft zur Hilfe eilen, als deren Garten aufgrund der vielen Spenden komplett zugestellt war. Gelöst wurde das Problem mit einem eigens dafür einge- richteten Logistikcenter, dessen Betrieb der Zivil- schutz zu Beginn ebenfalls gewährleistete. Neue Erkenntnisse aus neuen Erfahrungen So wie hier in Zürich in der Saalsporthalle musste der Empfang der Geflüchteten Generell bestand die grösste Herausforderung für auch administrativ gewährleistet werden. Die zweitgrösste Sportanlage von die meisten Zivilschutzangehörigen jedoch weni- Zürich ist seit Mitte März 2022 eine Erstankunftsstelle für Geflüchtete. ger im handwerklichen und logistischen Bereich, als vielmehr im Umgang mit den Geflüchteten selbst. Nebst der Tatsache, dass es sich bei vielen der schutzsuchenden Menschen um Kinder han- delte, waren die sprachlichen Verständigungs- inklusive Betreuung für bis zu 200 Personen her- schwierigkeiten eine zusätzliche Hürde. Beson- gerichtet. Die Angehörigen der regionalen Zivil- ders herausfordernd war, dass viele Geflüchtete schutzorganisation griffen dabei auch auf ihr per- vom Krieg traumatisiert in der Schweiz ankamen, sönliches Netzwerk zurück, um so kurzfristig den was eine höhere psychologische Sensibilität von- nötigen Support für die vielseitigen technischen seiten der Zivilschutzangehörigen erforderte. Die- Arbeiten zu erhalten. In Lausanne war es das his- sem Umstand konnte teilweise Rechnung getra- torische Gebäude und Kongresszentrum Palais gen werden, indem Zivilschutzangehörige aus so- de Beaulieu, welches innert Kürze mit Unterstüt- zialen und medizinischen Berufen die Betreuung zung des Zivilschutzes zur provisorischen Unter- übernahmen. Dennoch äusserten sich mehrere Zi- kunft umfunktioniert wurde. In der Stadt Zürich vilschutzkommandanten dahingehend, dass der wurde die Saalsporthalle in einen grossen Schlaf- Umgang mit besonders vulnerablen oder traumati- und Verpflegungssaal umgewandelt. Anderorts sierten Personen künftig vermehrt auch in der Aus- musste mangels Alternativen auf Zivilschutzanla- bildung berücksichtigt werden sollte. gen ausgewichen werden. In diesen Anlagen ver- suchte der Zivilschutz mit einem erweiterten Be- Generell resultiert aus diesem Einsatz die Erkennt- treuungsangebot, den Aufenthalt für die Geflüch- nis, dass eine Herausforderung in dieser Grös- teten möglichst angenehm zu gestalten. Im Fall der senordnung nur im engen Verbund von kantona- Stadt Bern beinhaltete dies etwa Ausflüge in den len Behörden, Zivilschutz, Blaulichtorganisationen Tierpark Dählhölzli oder auf den Gurten, die von Zi- sowie privaten Institutionen und Freiwilligen bewäl- vilschutzangehörigen begleitet wurden. tigt werden kann. Diese Zusammenarbeit funktio- nierte nur dank dem Pragmatismus und der Flexi- bilität der Beteiligten vielerorts sehr gut.
15 Der Grat zwischen Panikmache und Warnung ist schmal Seit dem 24. Februar 2022 ist der Krieg wieder in Europa. Bilder von Menschen, die in U-Bahn-Stationen Schutz suchen, von zerstörten Häuserzeilen und Bomben explosionen gehen um die Welt. Solche Eindrücke entfalten eine verstörende Wirkung. Vulnerable Personen erleiden ein Trauma oder ängstigen sich. Welche Folgen solche Geschehnisse auf das soziale Verhalten haben können, erklärt im Interview Dr. med. Stefan Vetter, Chefarzt des Zentrums für Soziale Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sandra Walker, Kommunikation BABS Via Fernsehen und Fotos wird auf einmal ein ziemlich abstrakter Begriff, «Krieg», wieder greifbar. Was bewirken solche Bilder? Sie lösen Unsicherheit und Aufmerksamkeit aus. Neben Angst und Schrecken sowie Mitleid mit der betroffenen Bevölkerung können solche Bilder zeitweise auch schlaflose Nächte bedeuten. Sie wecken aber auch Interesse und das Bedürfnis, Privatdozent Dr. med. Stefan Vetter über das Geschehen informiert zu sein. Sie kön- Der in Bern und Zürich ausgebildete Mediziner und Psychia ter Stefan Vetter erlebte nach dem Absturz eines Swissair nen Anlass dazu geben, sich um den Notfallplan Flugzeugs bei Halifax seine erste Feuerprobe in der Katastro zu kümmern, Stromaggregate zu kaufen oder sich phenpsychiatrie. Seither forscht er im Bereich Katastrophen- nach einem Schutzraum zu erkundigen. und Wehrpsychiatrie, und steht als Spezialist bei vielen Katastrophen und Grossereignissen der jüngeren Zeit vor Ort im praktischen Einsatz. Wissenschaftlich bearbeitet er Lösen solche Bilder auch Panik aus und damit diagnostische und epidemiologische Fragestellungen, verbundene Panikreaktionen? beschäftigt sich aber auch mit ergänzenden Themen aus Ich würde von psychischen Reaktionen sprechen. der Sozialpsychiatrie und den psychischen Veränderungen Grundsätzlich ist es gesund, Nachrichten zu le- der Bevölkerung nach Katastrophen. sen, informiert zu sein und über Ereignisse nach- zudenken. Gefährlich für die eigene Psyche wird es erst dann, wenn die Bilder aus dem Krieg immer und immer wieder angeschaut werden. Ein der- artiger Konsum ist schädlich und kann auch ein Auf der anderen Seite ist es wichtig, als Bürger/in Trauma auslösen. Es gilt, sich davor zu schützen. informiert zu sein und sich entsprechend vorzube- Zu uns kommen Patienten, die regelmässig in so- reiten. Was empfehlen Sie? zialen Medien Kurzfilme aus Kriegsgebieten an- Wissen, verstehen und einordnen ist die Maxime schauen; sie finden das unterhaltsam, es hilft ih- jedes informierten Bürgers, jeder informierten Bür- nen aber nicht, die Ereignisse einzuordnen und sie gerin. Nur, es gibt auch ein Zuviel an Informatio- können erkranken. Dies geschah nach dem Terror- nen. Aus einem Überangebot an Informationen angriff von 9/11: Nicht direkt betroffene Menschen kann man nichts Sinnvolles ableiten. Ich persön- entwickelten psychische Störungen, weil sie sich lich lese nur noch einmal pro Woche einen ver- zu oft (über 500 Mal) die schrecklichen Bilder von lässlichen Newsticker, um mich informiert zu hal- 9/11 angeschaut hatten. ten. Damit gewinne ich Zeit zu überlegen, was die
BABS 22/23 Jahresrückblick 2022 16 erhaltenen Informationen für mich, meine Familie Person ist und je beweglicher sie sich auf Verän- und die Schweiz bedeuten und welche Massnah- derungen einstellt, desto geringer ist die Chance, men nötig sind. So lässt sich die erlebte Hilflosig- traumatisiert zu werden. Eine flexible Person denkt: keit auflösen. «Ich bin schon in vielen dummen oder unmögli- chen Situationen gewesen und es ist mir meistens Wie sehen Sie die Rolle der Medien? gelungen, mich wieder aufzurappeln». Das hat mit Die Medien haben auch in der Bewältigung von Kri- Selbst-Effizienz zu tun, je höher diese ist, desto sen und Katastrophen eine Aufgabe. Diese Verant- besser. Es gibt auch weitere Schutzfaktoren: Spiri- wortung ist aus meiner Perspektive den Medien- tualität schützt, in einem Familienverband zu sein, schaffenden und den Verlagen nur noch teilweise schützt, wichtige Aufgaben zu haben, auch das bewusst, der Fokus ist immer mehr auf «to sell schützt. news» ausgerichtet. Es wäre schon viel erreicht, wenn die Medien sich weniger von der Clickrate Menschen sind soziale Wesen. Gerade bei einem beeinflussen liessen. Grossereignis kann man beobachten, dass Menschen sich gegenseitig unterstützen und sich Der Begriff Trauma wird mittlerweile inflationär beistehen. Es können aber auch Rücksichtslosig- gebraucht. Frage an den Experten: Was ist ein keit, Starrsinn und Egoismus dominieren. Wie Trauma? kann man das soziale Verhalten mit Kommunika- Ein Trauma ergibt sich als Folge überwältigender tion fördern? Ereignisse (z. B. einer Gewalttat, eines Krieges, Es kommt auf die Art der Bedrohung an. Bei einem eines Naturereignisses), die prinzipiell bei jeder Staudammbruch, einem Erdbeben, also dort, wo es Person eine psychische Ausnahmesituation aus- alle gleich betrifft, werden die Folgen eher akzep- lösen können. Das eigene Leben oder das einer tiert als bei Ereignissen, die nur spezifische Teile nahestehenden Person gerät in Gefahr. Bezüg- der Bevölkerung treffen. Bei den Schutzmassnah- lich des Risikos, traumatisiert zu werden, kommt men zu Covid war dies gerade am Anfang ein Pro- noch ein weiterer Faktor hinzu, der so genannte blem: Die eigene Grossmutter ist durch COVID-19 Building-Block-Effekt. Durch das ganze Leben hin- gefährdet, sie könnte daran sterben und muss durch erlebt man kleine, schlimme Ereignisse, die geschützt werden. Wenn das Grosi aber nicht im sich allein nicht traumatisch auswirken. Sie erge- gleichen Haushalt lebt, ist es für einen Jugendli- ben zusammen aber eine kumulative Verletzlich- chen schwer nachvollziehbar, weswegen er seine keit respektive verringern die Resistenz der Be- Freunde nicht mehr treffen darf und die Schule ge- troffenen, je mehr und öfter man so etwas erlebt. schlossen wird. Für den Jugendlichen ergibt sich Manchmal braucht es nur noch eine Kleinigkeit, das Gefühl der Ungerechtigkeit, Solidarität schwin- die ausreicht, um eine traumatische Störung aus- det; dies hat Auswirkungen auf das soziale Verhal- zulösen. ten. Anweisungen und Informationen müssen gut in einen Kontext eingebettet werden, sie müssen Eine «erlebte Hilflosigkeit» kann also zu einem nachvollziehbar sein. Trauma führen? Im Zentrum steht die Situation, dass ich als Auch der Bevölkerungsschutz ist zunehmend Mensch aller Möglichkeiten des Selbstschutzes gefordert, Fake News zu dementieren. Welchen beraubt bin und ich mich gleichzeitig an Leib und Einfluss haben Fake News auf die Wahrnehmung Leben bedroht fühle. Je stärker und je länger ich der Realität in der Bevölkerung? Warum ist diese aussergewöhnliche Situation von Hilflosig- Gegensteuer so wichtig? keit erlebe, umso mehr besteht das Risiko, dass Fake News haben eine destabilisierende Wirkung. sich in der Folge eine Trauma-bedingte psychische Wenn die Informationen der Behörden davon be- Erkrankung ausbilden kann. troffen sind, würde ich die Funktion eines Fake- news-Beauftragten schaffen. Also eine Funktion, Gibt es eine Prävention, kann man sich vor einem wie die einer Ombudsperson, die Falschmeldun- Trauma schützen? gen evaluiert und korrigiert; das ist ein Vollzeitjob. Eine primäre Prävention gibt es nicht. Man müsste So verfügt zum Beispiel BBC-News über eine sol- alle traumatischen Ereignisse wie Lawinen, Ge- che Stelle, die Kriegsmeldungen aus der Ukraine walttaten etc. verhindern. Aber je flexibler eine überprüft und richtigstellt.
17 In der Ukraine warnt eine App vor Luftangriffen Zivilisten suchen Schutz in einem Bunker unter einem Theater in der Innenstadt von Dnipro. Alle informieren sich in den sozialen Medien über den Vormarsch der russischen Armee und die Bombardierung der Stadt. Zu Beginn des Krieges entwickelten mehrere Unternehmen und Institutionen Apps, um die Bevölkerung vor Bombenangriffen zu warnen. Sie werden heute massenhaft von Zivilpersonen genutzt. Clara Marchaud, Freie Journalistin, Kyiv der besorgten Blicke. In den letzten sieben Mo- naten hat die Bevölkerung in der Ukraine gelernt, Anfang März ist der Bahnhof von Lwiw voll mit Uk- mit dem Fliegeralarm zu leben, einem ohrenbetäu- rainerinnen und Ukrainern, die vor dem Krieg flie- benden, schwankenden Ton, der vor einer mögli- hen, als eine Sirene ertönt. «Schon gut, das ist nur chen Bombardierung warnt und dazu aufruft, sich mein Telefon, das ist ein Alarm aus Kyiw (Kiew)», in Sicherheit zu bringen. In einigen Städten heulen entschuldigt sich ein Fahrgast, der gerade aus der die Sirenen aus Lautsprechern, aber vor allem aus ukrainischen Hauptstadt geflohen ist, angesichts Smartphones.
BABS 22/23 Jahresrückblick 2022 18 In der Schweiz gilt der Grundsatz «jeder Einwohnerin und jedem Einwohner ein Schutzplatz»: In rund 370 000 privaten und öffentlichen Schutzräumen sind rund neun Millionen Schutzplätze vorhanden. Dies entspricht einem Deckungsgrad von über 100 Prozent. Anders die Situation in der Ukraine: Gemäss dem Büro für Katastrophenschutz der Hauptstadt Kyiv gibt es in der Hauptstadt rund 4500 Schutzräume. Das sind Keller, Untergeschosse von Gebäuden, U-Bahn-Stationen, Tiefgaragen und Unterführungen, die entsprechend geprüft wurden. Zudem haben die Behörden eine Karte mit Standorten herausge geben. Auch in anderen Städten und Regionen kann die Bevölkerung verfügbare Schutzräume online abfragen. Am 24. Februar, als Russland in die Ukraine ein- Notunterkünfte hinzugefügt. Innerhalb eines Ta- fiel, war das System zur Warnung der Bevölkerung ges wurde die Funktion «Sirene» eingerichtet. Bis noch nicht bereit, räumt Petro Olenych, der stell- heute wurde Kyiv Tsyfrovy (ukrainisch für «Digita- vertretende Bürgermeister von Kyiv und Chief Di- les Kyiv») fast zwei Millionen Mal heruntergeladen. gital Transformation Officer (CDTO), ein. Seit zwei Jahren wird in der Ukraine der Wechsel von aus Auch für den Einsatz auf nationaler Ebene wer- dem Kalten Krieg übernommenen, mechanischen den viele Anwendungen von der hochqualifizier- zu elektronischen Sirenen vollzogen. Tests sind ten Tech-Community des Landes entwickelt. Die selten und teuer, und in Kyiv sind die Warnmeldun- Bevölkerung ist ihrerseits an neue Technologien gen vor allem für den Fall eines Brandes gedacht. gewöhnt. Präsident Volodymyr Zelensky propa- «Wir hätten nie gedacht, dass man uns so massiv giert seit 2019 das Konzept des «Staates in sei- und direkt angreifen würde», gibt Petro Olenych nem Smartphone». Mindestens zwölf Millionen zu. Bereits am 24. Februar um fünf Uhr morgens Ukrainer/innen nutzten im Jahr 2021 die App Diia, wurde die Hauptstadt bombardiert, und viele Laut- die unter anderem Ausweisdokumente in digita- sprecher in den Schlafvierteln am linken Flussufer ler Form speichert, die als Originale gelten. Noch blieben stumm. Auf dem Land wurden in einigen mehr nutzen sie heute, da viele Zivilpersonen ihre Dörfern die Kirchenglocken geläutet, um den Krieg Häuser überstürzt verlassen mussten, manchmal anzukündigen, da es kein funktionierendes Alar- ohne ihre Papiere. mierungssystem gab. Am 24. Februar floh Valentin Hrytsenko, ein 32-jäh- In Kyiv beschloss die Stadtverwaltung sofort, die riger Marketingmanager, mit dem Auto aus der eigene App zu nutzen, um die Bevölkerung zu war- Hauptstadt in den Westen, als er und sein Kollege nen. Sie wurde bereits fast 1,5 Millionen Mal her- die Idee hatten, eine landesweite App für Luftwar- untergeladen und dient zum Kauf von Bustickets nungen zu entwickeln. Sein Unternehmen Ajax oder zur Zahlung von Parkbussen. Kurz vor dem Systems, ein ukrainischer Hersteller von drahtlo- Krieg hatten die Behörden der App eine Karte der sen Sicherheitssystemen, die weltweit vertrieben
19 Anwohnerinnen kommen aus dem Schutzraum einer Glasfabrik in Lyssytschansk im Norden des Oblast Luhansk. werden, besitzt bereits Genehmigungen, um kri- aus Jytomyr in der Zentralukraine schickte uns ein tische Warnungen auf Smartphones zu senden, Dankeschön, weil sie sich in Sicherheit gebracht selbst wenn diese stumm geschaltet sind. «Es hatte, nachdem einer der Soldaten eine Warnung braucht Zeit, um solche Berechtigungen von Apple auf seinem Telefon erhalten hatte. Wenige Minuten oder Android einzuholen, und es zählte jede Mi- später wurde ihr Stützpunkt bombardiert», berich- nute, also haben wir unser eigenes Produkt entwi- tete Valentin Hrytsenko. ckelt», erinnert er sich. Innerhalb von 48 Stunden stellte sein Team von Ingenieuren in Zusammen- Die befragten Betreiber weisen jedoch darauf hin, arbeit mit dem Ministerium für digitale Transforma- dass ihre Anwendungen bald etwas weniger ge- tion eine kostenlose App zusammen. Die Nutzer/ nutzt werden. Das Ministerium für Katastrophen- innen müssen lediglich die Regionen oder Städte fälle testet derzeit das auf dem Telefonnetz basie- eingeben, für die sie Warnungen erhalten möch- rende Cell Broadcast-System, das Ende 2022 in ten. Tryvoha (ukrainisch für «Warnung») wurde Betrieb genommen werden soll und es auch äl- über elf Millionen Mal heruntergeladen, und das teren Mobiltelefonen ermöglicht, Warnungen zu in einem Land mit 40 Millionen Einwohnern (davon empfangen. etwa 8 Millionen Flüchtlinge im Ausland). In der Zwischenzeit nutzt die Zivilbevölkerung im- Petro Olenytch wie auch Valentin Hrytsenko sind mer noch die Apps. Die 27-jährige Olha wohnt im der Meinung, dass ihre Anwendungen nicht die Zentrum von Kyiw, nur 100 Meter von einer Fabrik erste Art der Warnung für die Zivilpersonen sein des Militärs entfernt, die seit Kriegsbeginn dreimal sollten, sondern nur ein «zusätzliches Werkzeug», bombardiert wurde. Sie und ihr Lebensgefährte insbesondere in weniger dicht besiedelten und weigern sich umzuziehen, nachdem sie Kyiv zu ländlichen Gebieten. So bietet Tryvoha von Ajax Beginn des Krieges für einige Wochen verlassen Systems genaue Informationen auf der Ebene des hatten. Das Paar nutzt Kyiv Tsyfrovy, um Warnun- Distrikts und der Risikoarten: Luftalarm, Strassen- gen zu erhalten und sich im Badezimmer in Sicher- kämpfe oder Artillerie. In jüngerer Zeit wurden auch heit zu bringen, weg von Fenstern, die explodie- nukleare und chemische Risiken hinzugefügt. ren könnten. «Wir schauen auch auf einer ande- ren App, welche Regionen alarmiert werden. Wenn Trotz der erhöhten Risiken haben beide Apps noch dies nur die Stadt Kiew ist, gehen wir sofort in die keinen Fall von erfolgreichen Cyberangriffen ver- Schutzräume», erzählt die Studentin. «Wenn aber zeichnet. Zwar hielten sich beide Betreiber aus Si- die ganze Ukraine auf Rot steht, neigt man immer cherheitsgründen über die Herkunft der Informa- mehr dazu, die Sirenen zu ignorieren, weil man ja tionen bedeckt, doch erhalten die Apps - wie ein leben muss!», ärgert sich Olha. Regelmäßig rufen Medium - direkt von den Behörden oder dem Mili- die Behörden die Bevölkerung auf, sich an die An- tär eine Warnung, sobald eine Rakete in Richtung weisungen zu halten, während die russische Ar- des ukrainischen Luftraums abgefeuert wird. Die mee täglich zivile Gebiete im ganzen Land angreift. Warnungen erreichen die App oft, bevor sie über die Lautsprecher verkündet werden. «Eine Brigade
BABS 22/23 Jahresrückblick 2022 20 Der Hiroshima-Gedenktag findet seit 1947 weltweit am 6. August statt und erinnert an den Atombombenabwurf auf Hiroshima 1945. Schutzräume: Der lange Schatten des Kalten Kriegs Die Gefahr eines Atomkriegs ist nicht verschwunden, wie Wladimir Putin seine Geg ner seit seinem Angriff auf die Ukraine erinnert. Bereits im Februar 2022 hatte die russische Führung sämtliche rhetorische Zurückhaltung aufgegeben und dem Westen im Falle einer Einmischung wiederholt und offen mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht. Dementsprechend stieg das Interesse an den Schutzbau ten in der Schweiz, die allerdings für einen bewaffneten Konflikt in der Schweiz konzipiert sind und nicht für die Auswirkungen eines Nuklearkriegs in der Ukraine. Andreas Bucher, Kommunikation BABS Nur wenige Wochen vor dem russischen Angriffs- stockenden Angriffskrieg in einen Kampf zur Ver- krieg gegen die Ukraine hatten die fünf ständi- teidigung des «Mutterlandes» umzuwandeln. gen Mitglieder des Uno-Sicherheitsrats, darunter Russland, eine gemeinsame Erklärung1 veröffent- Das VBS ist seit Kriegsausbruch in seiner Lageein- licht, wonach «ein Atomkrieg nicht gewonnen wer- schätzung davon ausgegangen, dass ein Einsatz den kann und niemals geführt werden darf». Die von Kernwaffen durch Russland unwahrschein- Tinte unter dieser Erklärung war noch nicht tro- lich ist, denn Moskau ist in der Lage, Ziele in der cken, als Russlands Präsident Wladimir Putin das Ukraine auch mit konventionellen Mitteln zu zer- nukleare Arsenal seines Landes als Instrument stören. Zudem würde eine nukleare Eskalation der Erpressung gegen den Westen einsetzte. Pu- das Atomwaffen-Tabu brechen, was wiederum die tin hatte wenige Tage nach Beginn des russischen Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens der NATO mit Angriffskrieges gegen die Ukraine nach eigenen potenziell gravierenden Folgen für Russland erhö- Worten angeordnet, «die Abschreckungskräfte hen würde. Unabhängig davon jedoch befeuerten der russischen Armee in besondere Kampfbereit- diese Drohungen die Ängste der Bevölkerung in schaft zu versetzen». Diese Abschreckungskräfte ganz Europa, auch in der Schweiz, denn die Eska- umfassen auch Atomwaffen. Ein halbes Jahr nach lationsmuster des Kalten Kriegs bis hin zur gegen- diesem ersten nuklearen Säbelrasseln, nach zahl- seitig zugesicherten Zerstörung («Mutual Assured reichen Rückschlägen seiner Truppen in der Uk- Destruction MAD») sind immer noch gültig und die raine doppelte Putin nach und versuchte, seinen entsprechenden Arsenale sind nach wie vor ver- fügbar. Im Besitz der Atomwaffenstaaten befinden 1 Joint Statement of the Leaders of the Five Nuclear-Wea- sich derzeit etwa 13 400 Atomwaffen. Das ist we- pon states on preventing nuclear war and avoiding arms races niger als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges,
21 Mario Burger, Chef Nuklearchemie im Labor Spiez, erläutert am 3. November 2022 in der Sendung SRF Global die Wirkungsweise von nuklearen Spreng körpern. Der Bedarf nach Informationen über nukleare Risiken ist seit dem Ukrainekrieg enorm angestiegen. aber immer noch genug, um sämtliche Städte und Ballungsräume der Welt zu zerstören. Die Arsenale werden weiterhin modernisiert, und obwohl die Ge- samtzahl der Atomwaffen 2021 leicht zurückgegan- gen ist, wird diese in den nächsten Jahren wahr- scheinlich wieder steigen.2 verhältnissen bzw. Windrichtungen radiologische Dank ihrer Schutzraumbaupflicht und der Vor- Auswirkungen zu spüren: Falls eine Nuklearwaffe gabe «Jeder Einwohnerin und jedem Einwohner eingesetzt wird, um einen maximalen Schaden ein Schutzplatz» während und nach dem Kalten durch die Druckwelle zu erzielen, explodiert sie Krieg verfügt die Schweiz im internationalen Ver- über dem Boden. Das radioaktive Material wird in gleich über einen sehr guten Ausbaustand bei den die Atmosphäre gerissen und sinkt über Monate Schutzbauten.3 Dementsprechend stieg 2022 das zur Erde ab. Kurzlebige Nuklide zerfallen in dieser Interesse an dieser Infrastruktur: Zahlreiche aus- Zeit, die langlebigen verteilen sich über die (nörd- ländische Medien besuchten die Schweiz, liessen liche) Hemisphäre. Falls eine Nuklearwaffe am Bo- sich private und öffentliche Schutzräume zeigen den explodiert, wird viel Material mit dem Feuer- und nahmen mit einer Mischung aus Verblüffung ball mitgerissen. Daran kondensieren die radioak- und Bewunderung zur Kenntnis, dass die Schweiz tiven Partikel und fallen schnell zur Erde zurück. Am jeder Einwohnerin und jedem Einwohner einen Boden entstehen dadurch lokal hohe Kontamina- Schutzplatz anbieten kann.4 Allerdings – und das tionen. Egal, ob eine Kernwaffe in der Ukraine am musste sowohl den ausländischen Medien wie Boden oder in der Höhe explodiert: Generell lässt auch besorgten Einwohnerinnen und Einwohnern sich festhalten, dass ein Einsatz von Nuklearwaf- der Schweiz wiederholt erklärt werden – sind die fen in der Ukraine für die Schweiz kaum – jedenfalls Schutzräume primär auf einen bewaffneten Kon- keine gesundheitsgefährdenden radiologischen flikt in der Schweiz ausgerichtet. Die Schutzräume – Auswirkungen hätte. Allenfalls würde die land- müssen der Wirkung moderner Waffen standhal- wirtschaftliche Versorgung beeinträchtigt, bzw. es ten, d. h. sie bieten vor allem Schutz vor Nahtref- müssten Ernte-, Fischerei-, Weide- und Jagdver- fern konventioneller Waffen. bote ausgesprochen werden.6 Schutzräume können zwar für die Bevölkerung Schutzräume sind also weder geeignet für das einen bestimmten vorübergehenden Schutz vor Überleben eines grossflächigen Nuklearkriegs, radiologischen Ereignissen bieten.5 Ein grossflä- noch sind sie erforderlich für den Schutz der Be- chiger Nuklearkrieg in Europa wäre jedoch katas- völkerung vor Auswirkungen eines nuklearen Ereig- trophal, und gegen die Auswirkungen eines sol- nisses in der Ukraine. Dementsprechend erfolgte chen Kriegs kann sich kein Staat rüsten, auch nicht auch keine Anordnung des Bundes zur Vorberei- die Schweiz. tung der Schutzräume, denn dies geschieht erst, wenn sich ein bewaffneter Konflikt in der Schweiz Würde sich ein Einsatz von Nuklearwaffen auf die oder im grenznahen Ausland abzeichnet. Die Ukraine beschränken, wären in der 1700 Kilome- Schutzräume sollten nur auf Anweisung der Behör- ter entfernten Schweiz nur bei bestimmten Wetter- den aufgesucht werden. Dennoch sind die Ängste der Bevölkerung verständlich und nachvollziehbar. 2 Stockholm International peace Research Institute, Glo- Schlagzeilen wie «Putin droht mit dem Atomkrieg bal nuclear arsenals are expected to grow as states continue – Wie finde ich meinen Luftschutzraum?» 7 bedie- to modernize, www.sipri.org, 20. June 2022 nen reale und berechtigte Ängste der Menschen. 3 What Happened to Europe’s Public Bunkers? As bombs Der Balanceakt für die Kommunikation BABS be- fall on Ukraine, many European governments are waking up to the sorry state of their own civil defenses, Foreign Policy, 8. stand 2022 darin, diese Sorgen ernst zu nehmen, Mai 2022, foreignpolicy.com aber gleichzeitig auch klarzustellen, dass aufgrund 4 Vgl. z.B.: des Ukrainekrieges die Bevölkerung keine beson- Nuclear bunkers for all: Switzerland is ready as international tensions mount, Euronews, 3. April 2022; www.euronews.com deren Massnahmen ergreifen muss. En Suisse, les abris antiatomiques sont obligatoires depuis la guerre froide, CNews, 25. März 2022, www.cnews.fr; Demand for Nuclear bunkers Soars as Russia-Ukraine War fuels Fear in Europe, Newsweek, 30. April 2022, 6 Krieg in der Ukraine (admin.ch) www.newsweek.com 7 Putin droht mit Atomkrieg – Wie finde ich meinen Luft- 5 Schutzräume für die Bevölkerung (admin.ch) schutzraum? | Basler Zeitung (bazonline.ch)
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