BABS 22/23 Januar 2023 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS

 
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BABS 22/23 Januar 2023 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS
BABS
              22/23

Januar 2023
BABS 22/23 Januar 2023 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS
Impressum

BABS 22/23, Januar 2023

Herausgeber
Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS

Produktion und Koordination
Andreas Bucher, Kommunikation BABS

Übersetzungen und Lektorat
Sprachdienste BABS

Layout
Zentrum digitale Medien der Armee DMA

Kontakt
Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS
Kommunikation, Guisanplatz 1B, CH-3003 Bern
info@babs.admin.ch, www.babs.admin.ch

Bildnachweis
Titel: Urs Nyffenegger, BABS; 3: Reuters; 4: BABS; 5: Keystone; 9: Keystone; 11: Keystone; 12: BABS; 13: M. Trotta /
PML-SPSL; 14: Paul Knüsel und ZSO Bern plus; 15: Stefan Vetter; 17: Keystone; 18: Google Maps; 19: Reuters; 20:
Adobe Stock; 21: Screenshot SRF; 22: Reuters; 24: Urs Nyffenegger, BABS; 27: BABS;
32: 4DNews; 33: Museum für Gestaltung Zürich/Archiv Zürcher Hochschule der Künste; 35: 4DNews; 37:
4DNews; 41: Keystone; 42: Medienagentur VBS; 43: BWL/Nationalbibliothek; 44: Wikipedia

Nachdruck
Beiträge und Bilder sind urheberrechtlich geschützt. Nachdrucke sind mit der Redaktion zu vereinbaren.
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Inhalt

Editorial2

Jahresrückblick 2022                                              4

– Krieg in der Ukraine: Aufgaben der Nationalen Alarm­zentrale    5
– Kulturelles Erbe ist in Gefahr                                 11
– Der Zivilschutz im Einsatz für die Flüchtlinge                 13
– Der Grat zwischen Panikmache und Warnung ist schmal            15
– In der Ukraine warnt eine App vor Luftangriffen                17
– Schutzräume: Der lange Schatten des Kalten Kriegs              20
– Schutz über die Grenzen hinweg                                 22

Laufende Arbeiten                                                24

– Ausbilden für die Krise                                        25
– Nationale Risikoanalyse: Wie hoch sind die Risiken?            28
– Zivile und militärische Einsatzmittel für den Fall
  eines ABC-Ereignisses                                          30
– Alertswiss erreicht 20 Prozent der Bevölkerung                 32

Individuelle Vorsorge                                            33

– Individuelle Vorsorge, mehr denn je – ein kluger Rat           34
– Geschichte des Notvorrats                                      40
– Bevölkerungsschutzkonferenz 2023                               44
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BABS 22/23
Editorial                                                                                                                 2

Liebe Leserin,
lieber Leser
Die zweite Ausgabe unseres Jahresmagazins widmet sich erwartungsgemäss
schwergewichtig dem Krieg in der Ukraine und den daraus abgeleiteten Frage­
stellungen für den Bevölkerungsschutz in der Schweiz. Wir zeigen im Jahres­
rückblick auf, wie die Nationale Alarmzentrale die radiologische Situation in Europa
verfolgt, wie das Ressourcenmanagement Bund die Beiträge der Schweiz für die
internationale Hilfe koordiniert und wie der Zivilschutz die Flüchtlinge unterstützt.

Michaela Schärer, Direktorin BABS

                                    Wie werden die Menschen in der     3. Erstellen Sie einen persönlichen Notfallplan.
                                    Ukraine über richtiges Verhalten      Das hilft generell, in Notsituationen schnell
                                    informiert? Welche Anforderun-        und richtig reagieren zu können.
                                    gen an den Bau und Betrieb von
                                    Schutzräumen und an Alarmie-       Wir haben den Notfallplan von Alertswiss über-
                                    rungssysteme lassen sich aus       arbeitet und ergänzt mit Informationen für den Fall
                                    den Geschehnissen in der Uk-       einer Evakuierung und zum Verhalten bei Strom-
                                    raine für die Schweiz ableiten?    ausfällen. Die neue Version ist diesem Magazin
                                                                       beigelegt. Der thematische Teil dieses Magazins
                                Da solche für unseren Bevöl-           widmet sich zudem der Lebensmittelversorgung in
                                kerungsschutz zentralen Fra-           der Schweiz und beleuchtet die lange Geschichte
               gen im Magazin nicht umfassend behandelt wer-           der Vorratshaltung.
               den können, werden wir diese Themen auch an
               der nächsten nationalen Bevölkerungsschutzkon-          Unabhängig vom Krieg in der Ukraine sind die Er-
               ferenz im November 2023 in Biel behandeln.              wartungen an das BABS stark gestiegen: Die ver-
                                                                       änderte sicherheitspolitische Lage, die Corona-
               Ein wichtiges Element des Bevölkerungsschutzes          Pandemie, die herausfordernde Energiesituation
               in Krisen ist die Information der Bevölkerung: Der      sowie die Häufung der Naturgefahren aufgrund
               Balanceakt für die Kommunikation BABS besteht           des Klimawandels haben die Aufgaben des BABS
               darin, auf die Sorgen der Menschen aufgrund der         insgesamt in den letzten Jahren in den Vorder-
               Ereignisse in der Ukraine einzugehen, gleichzeitig      grund gerückt. Im Bereich Technologie steigt der
               aber klarzustellen, dass keine besonderen Vorkeh-       Innovationsdruck. Das BABS ist gefordert, sich
               rungen zu treffen sind. Seit Kriegsausbruch emp-        entsprechend weiterzuentwickeln und seine Res-
               fehlen wir drei Massnahmen, die auch unabhän-           sourcen möglichst gezielt einzusetzen.
               gig von der Situation in der Ukraine jederzeit und
               für alle gültig sind:                                   Ich bin überzeugt, dass wir mit gezielten Anpas-
                                                                       sungen sowie mit der Kompetenz und dem En-
               1.   Installieren Sie die Alarm-App Alertswiss und      gagement unserer Mitarbeitenden gut auf die
                    besorgen Sie sich ein stromunabhängiges            anstehenden Herausforderungen vorbereitet
                    Radio, damit sie auch bei Stromausfall auf         sind. Allerdings gilt es auch inskünftig, flexibel
                    dem Laufenden bleiben können.                      und vorausschauend auf neue Entwicklungen zu
                                                                       reagieren, damit jederzeit der bestmögliche
               2. Halten Sie einen Notvorrat gemäss den Emp-           Schutz der Bevölkerung gewährleistet werden
                  fehlungen des Bundeamtes für wirtschaftliche         kann.
                  Landesversorgung bereit.
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Das Denkmal des Stadtgründers
Herzog de Richelieu in Odessa
wurde zum Schutz vor russischen
Bombenangriffen mit Sand­
säcken bedeckt.
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Jahresrückblick 2022
BABS 22/23 Januar 2023 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS
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Krieg in der Ukraine:
Aufgaben der Nationalen
Alarm­zentrale

Russische Soldaten halten Wache vor dem Haupteingang des Kernkraftwerks Saporischschja in Enerhodar, Südostukraine.
Zum ersten Mal in der Geschichte wird in Europa ein Krieg gegen einen Industriestaat mit mehreren Kernkraftwerken geführt.

                   Andreas Bucher, Kommunikation BABS

                   Mehrere Geschäftsbereiche des BABS sind seit Kriegsausbruch
                   besonders gefordert, allen voran die Nationale Alarmzentrale:
                   Sie verfolgt die bevölkerungsschutzrelevante Lage in Bezug auf
                   mögliche radiologische Gefährdungen sowie allfällige Auswirkungen
                   auf die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, und sie koordiniert
                   über das Ressourcenmanagement Bund die Lieferung von Hilfsgütern
                   ins Kriegsgebiet.
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BABS 22/23
Jahresrückblick 2022                                                                                                                          6

                Der Krieg in der Ukraine trifft die Schweiz an vie-               Und Ende Juli kam es noch schlimmer: In Erwar-
                len verschiedenen Punkten. Die Sicherheitspoli-                   tung einer ukrainischen Offensive seien im Maschi-
                tik muss überprüft werden, es drohen Lücken bei                   nenhaus eines Reaktorblocks Waffen und Spreng-
                der Energieversorgung, es gibt Preisanstiege und                  stoff untergebracht worden, berichtete der staatli-
                Engpässe bei gewissen Nahrungsmitteln. An-                        che Betreiber der ukrainischen KKW Energoatom.
                gesichts dieser Palette von Auswirkungen ist es                   Der Verdacht liegt nahe, dass Russland das KKW
                nachvollziehbar, dass das Bundesamt für Bevöl-                    gezielt in eine Stellung gegen ukrainische Truppen
                kerungsschutz den Menschen in der Schweiz wie-                    umfunktionieren wollte. Innerhalb des Kernkraft-
                derholt deutlich machen muss, dass die Bevölke-                   werks steigt der Druck auf das Personal, das seit
                rung keine besonderen Massnahmen zu treffen hat                   März 2022 unter erschwerten Bedingungen arbei-
                und dass der Krieg in der Ukraine keine Verstär-                  ten muss. Auch dies trägt dazu bei, dass das Si-
                kung des Bevölkerungsschutzes erfordert. Eine                     cherheitsniveau sinkt.2
                vom Bundesrat beschlossene Verstärkung be-
                inhaltet ein massives Aufgebot des Zivilschutzes                  An einer Dringlichkeitssitzung des Uno-Sicher-
                sowie die Anordnung an Behörden und Bevölke-                      heitsrats Mitte August 2022 erklärte IAEA-Chef
                rung, die Schutzbauten innerhalb von fünf Tagen                   Grossi, dass keine unmittelbare Bedrohung der
                im Hinblick auf einen bewaffneten Konflikt in der
                Schweiz betriebs- und einsatzbereit zu machen.
                Gemeinden und Kantone wiederum müssten ihre
                Schutzplätze der Wohnbevölkerung zuweisen. Die
                Schutzanlagen der Schweiz sind jedoch auf einen
                bewaffneten Konflikt in unserem Land ausgerich-
                tet. Und ein solcher zeichnet sich aufgrund des Uk-
                raine-Kriegs nicht ab.

                Ein Kernkraftwertk auf dem Schlachtfeld
                Ein Risiko allerdings beschäftigt das BABS bei-
                nahe seit Beginn des Kriegs besonders, und zwar
                ein schwerer Zwischenfall in einem ukrainischen
                KKW, ausgelöst durch Kampfhandlungen: Seit
                dem 4. März 2022 befindet sich im ukrainischen
                Oblast Saporischschja das grösste Kernkraftwerk
                Europas unter russischer Kontrolle. Der Leiter der                Nach der Beendigung der IAEA-Mission im KKW Saporisch­
                Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) Ra-                     schja erläuterte IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi am
                                                                                  2. September die sieben unverzicht­baren Säulen der nuk­
                fael Grossi warnte wiederholt davor, dass eine der-
                                                                                  learen Sicherheit und Sicherung – also die essentiellen Rah­
                artige Situation fundamental gegen die Prinzipien                 menbedingungen, um einen sicheren Betrieb eines KKWs zu
                der Nuklearsicherheit verstosse.1 Bereits zu Be-                  ermöglichen. «Alle diese Säulen wurden während dieser
                ginn der Besetzung des Geländes durch russische                   Krise an dem einen oder anderen Punkt kompromittiert,
                                                                                  wenn nicht sogar vollständig verletzt», sagte der IAEO-Chef,
                Truppen kam es zu einem Brand. Ein Übergreifen
                                                                                  «es ist höchste Zeit, zu verhindern, dass ein bewaffneter
                der Flammen auf die Reaktoren konnte zwar ver-                    Konflikt nukleare Anlagen ernsthaft gefährdet und damit die
                hindert werden, doch das Feuer machte deutlich,                   Sicherheit der Menschen und der Umwelt in der Ukraine und
                welche Gefahr von Gefechten rund um das Kraft-                    darüber hinaus aufs Spiel setzt».

                werk ausgehen kann.

                1     Director General Grossi Alarmed by Shelling at Ukraine      2    WENRA position on the safety situation of Zaporizhzhya
                NPP - IAEA Mission Vital for Nuclear Safety and Security, iaea.   NPP after reported shelling activities, www.wenra.eu, 10. Au-
                org, 6. August 2022                                               gust 2022
BABS 22/23 Januar 2023 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS
7

                      7 unverzichtbare Säulen der nuklearen Sicherheit und Sicherung

           1                   2                   3                 4                  5                    6                   7
       Physische          Funktionierende Arbeitsbedingungen        Externe          Verlässliche      Strahlungsüber­      Zuverlässige
     Unversehrtheit      Sicherheits- und   für das Betriebs­   Stromversogung   Versorgungskettten      wachung und       Kommunikation
      der Anlagen       Sicherungssysteme        personal                                             Notfallmassnahmen        mit der
                                                                                                                          Aufsichtsbehörde

Sicherheit infolge des Beschusses des KKW oder                              Für diese Aufgaben betreibt die NAZ ein eigenes
anderer militärischer Aktionen bestehe. Dies                                Radioaktivitäts-Messnetz. Über die ganze Schweiz
könne sich jedoch jederzeit ändern. Angesichts                              verteilte Sonden übermitteln alle 10 Minuten den
der Tatsache, dass zum ersten Mal in der Ge-                                aktuellen Messwert an die NAZ. Bei Überschrei-
schichte in Europa ein Krieg gegen einen Indus-                             ten einer bestimmten Schwelle wird automatisch
triestaat mit mehreren KKW geführt wird, gibt es                            Alarm ausgelöst und das Pikett der NAZ aktiviert,
mehrere ernst zu nehmende Eskalationsrisiken.                               das zusammen mit dem Fachbereich Einsatz-Ra-
Diese reichen vom Stromausfall mit potenziellen                             dioaktivität die gemeldete Überschreitung verifi-
Auswirkungen auf die Kühlsysteme über Fehlent-                              ziert. So kann die NAZ die radiologische Lage rund
scheide des stark geschwächten Personals bis hin                            um die Uhr überwachen.
zu einem direkten Beschuss der Reaktorblöcke.
                                                                            Diese Überwachung der Radioaktivität beschränkt
Überwachung der Radioaktivität                                              sich jedoch nicht nur auf die Schweiz: Bei Ereig-
Für Ereignisse, die eine Gefährdung der Bevölke-                            nissen im Ausland sorgt die NAZ für raschen und
rung in der Schweiz durch erhöhte Radioaktivität                            umfassenden Informationsaustausch, unter ande-
zur Folge haben können, besteht eine Einsatzorga-                           rem mit der Internationalen Atomenergieagentur,
nisation des Bundes, in der alle betroffenen Bun-                           gestützt auf die Convention on Early Notification
desämter und kantonalen Führungsorganisationen                              of a Nuclear Accident, und dem EU-System Euro-
vertreten sind : das Eidgenössische Nuklearsicher-                          pean Community Urgent Radiological Information
heitsinspektorat ENSI, die Nationale Alarmzent-                             Exchange (ECURIE).4 Über diese Organisationen
rale, das Labor Spiez, das Bundesamt für Gesund-                            und die Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty
heit, MeteoSchweiz.3 Die Nationale Alarmzentrale                            Organisation (CTBTO) hat die NAZ auch Zugriff
(NAZ) beurteilt als ständiges Einsatzelement die-                           auf Radioaktivitäts-Messdaten aus allen europäi-
ser Organisation permanent die Lage. Dazu ist sie                           schen und vielen anderen Ländern, also auch aus
in Kontakt mit internationalen Organisationen wie                           der Ukraine und Russland (sofern diese die Mess-
der Internationalen Atomenergie Agentur IAEA,                               werte übermitteln). Die NAZ beurteilt zudem täg-
mit Kantonen, Bundesämtern sowie den Betrei-                                lich die Resultate von Ausbreitungsrechnungen,
bern von Telekommunikations-, Energie- und Ver-                             die die MeteoSchweiz im Auftrag der NAZ automa-
kehrsnetzen. Die Bandbreite der möglichen Ereig-                            tisch durchführt, für den hypothetischen Fall, dass
nisse reicht von Betriebs- und Transportunfällen                            an einem kritischen Punkt eine signifikante Menge
über Störfälle in Kernkraftwerken bis zu Kernwaf-                           Radioaktivität in die Atmosphäre freigesetzt würde.
fenexplosionen. Dabei ist die NAZ nicht nur für die                         Die von den diversen Messnetzen erhobenen
Warnung der Behörden und die Alarmierung der                                Daten werden in der NAZ u. a. mit speziell für ihre
Bevölkerung zuständig, sondern auch für die Er-                             Bedürfnisse entwickelten Programmen ausgewer-
fassung der Lage und für die Beurteilung allenfalls                         tet und in Form von Grafiken und Karten darge-
notwendiger Schutzmassnahmen.                                               stellt. Sie dienen als Grundlage für die Ableitung
                                                                            von Massnahmen und die Information der Bevöl-
                                                                            kerung.

3    Art. 19 Abs. 1 des Strahlenschutzgesetzes [SR 814.50] in
Verbindung mit Art. 2 der Bevölkerungsschutzverordnung
[SR 520.12] und Art. 7 der Verordnung über den Bundesstab                   4     REMon - European Commission (europa.eu)
Bevölkerungsschutz [SR 520.17],                                             Verification Regime: CTBTO Preparatory Commission
BABS 22/23 Januar 2023 - Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS
BABS 22/23
Jahresrückblick 2022                                                                                                                                 8

Maximale Stunden- bzw. Tagesmittelwerte in mikroSv/h der Ortsdosisleistung (ODL). Zeitraum: 28.07.2022 09:30 bis 04.08.2022 09:30 Uhr (MESZ).
Alle Messwerte liegen im erwarteten Bereich. Der erhöhte Wert in Opole (POL) ist vermutlich auf einen Sondentest zurückzuführen, der Grund für den
erhöhten Messwert in Obernberg (AUT) ist eine Fehlfunktion der Sonde.

                   Mögliche Auswirkungen auf die Schweiz                                 langen, können belastete Produkte als Lebensmit-
                   Für den Fall eines KKW-Unfalls in der Schweiz sind                    tel oder als Tierfutter in der Schweiz gesperrt wer-
                   umfangreiche Notfallschutzmassnahmen vor-                             den. Dazu müssten innert kurzer Zeit grosse Men-
                   bereitet, aber auch für radiologische Ereignisse                      gen an Lebensmitteln kontrolliert werden. Diese
                   ausserhalb der Schweiz mit potenzieller Gefähr-                       Aufgabe liegt im Zuständigkeitsbereich der Kan-
                   dung der Schweizer Bevölkerung.5 Ziel der Mass-                       tone. Weil aber seit der Revision der Lebensmit-
                   nahmen ist es, die Strahlenbelastung für die Be-                      telgesetzgebung 2017 keine Grenzwerte für Ra-
                   völkerung möglichst gering zu halten. Sollten auf-                    dioaktivität mehr in Lebensmitteln festgelegt sind,
                   grund eines Zwischenfalls in einem ukrainischen                       entfällt für die Kantone die Notwendigkeit von re-
                   KKW bei ungünstigen Windverhältnissen radioak-                        gelmässigen Messungen. Die Kantonslaboratorien
                   tiv kontaminierte Luftmassen in Richtung Schweiz                      würden so an Know-how und Erfahrung im Um-
                   verfrachtet werden, wären Auswirkungen auf die                        gang mit der Kontrolle von verstrahlten Lebens-
                   Lebensmittelsicherheit möglich und vermehrt                           mitteln verlieren. Um dies zu verhindern, schliesst
                   Kontrollen und Einschränkungen beim Import von                        das BABS derzeit mit sieben Kantonslaboratorien
                   Gütern nötig, insbesondere bei Lebensmitteln. Al-                     eine Leistungsvereinbarung ab. Die Vereinbarun-
                   lenfalls wären für besonders verletzliche Bevölke-                    gen umfassen unter anderem eine einmalige Kos-
                   rungsgruppen (Kinder, Schwangere) auch weiter-                        tenübernahme sowie eine jährliche Entschädigung
                   gehende Empfehlungen möglich, wie zum Beispiel                        des Bundes zu Gunsten der engagierten Kantons-
                   den Aufenthalt im Freien zu minimieren.                               laboratorien.

                   Um zu verhindern, dass freigesetzte radioaktive
                   Substanzen via Nahrungsmittel in den Körper ge-

                   5    Vgl. Das Notfallschutzkonzept bei einem KKW-Unfall:
                   https://bit.ly/3DPAwiS
9

Ausbreitungsrechnungen KKW Saporischschja: Potentielle Bodendeposition für eine hypothetische Abgabe am 1.9.2022 von 06:00 bis 12:00 Uhr [UTC].
Dargestellt ist die totale potentielle Bodendeposition, akkumuliert über 120 Stunden.

                   Ressourcenmanagement Bund
                   In Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine
                   kommt das so genannte Ressourcenmanagement
                   Bund (ResMaB) zum Einsatz. Mit diesem Schlüs-
                   selprozess der Nationalen Alarmzentrale unter-
                   stützt der Bund subsidiär die Kantone und Betrei-
                   ber kritischer Infrastrukturen, deren Ressourcen
                   nicht mehr ausreichen, um eine Krise zu bewäl-
                   tigen. In erster Linie sind Kantone, Regionen und
                   Gemeinden Empfänger dieser Leistungen, aber
                   auch das internationale Umfeld kann beim Bund
                   nach zusätzlichen Ressourcen anfragen. ResMaB
                   unterschiedet zwei Abläufe, einen direkten und
                   einen koordinativen Prozess. Beim direkten Pro-
                   zess stimmen Leistungserbringer und Leistungs-                     Die Hilfsgüter der Schweiz für die Ukraine werden in den
                   bezüger die Ressourcen aufeinander ab, der koor-                   Westen des Landes geliefert (nach Lwiw und Luzk) sowie
                                                                                      nach Kiew, Odessa, Winnyzja, Mykolajiw, Charkiw, Sumy und
                   dinative Prozess beinhaltet ein konsultatives Ver-
                                                                                      Dnipro.
                   fahren unter Einbezug des ResMaB. Ressourcen
                   und Leistungen werden zugeteilt, nachdem die Be-
                   gehren durch das ResMaB beurteilt worden sind.
                   Diese Beurteilung erfolgt entlang definierter Kri-
                   terien sowie unter Berücksichtigung der Gesamt-
                   lage.
BABS 22/23
Jahresrückblick 2022                                                                                                                                                   10

          Warschau                               WEISSRUSSLAND

                                                                                     Chernihiv
                                                 Rivnenska                                                Sumska                                 RUSSLAND
                                  Volynska
                                                                                     Chernihivska
                                       Lutsk                                                                    Sumy
   POLEN                                          Rivne      Zhytomyrska

            Rzeszów
                                    Brody         Khmelnytska                                          Poltavska                   Kharkiv
                          Lviv                                                 Kyivska                         Poltava
                                         Ternopil
                                                            Vinnytsia                                                           Kharkivska
                        Lvivska        Ternopilska                                                                                                     Luhanska
                                                                                    Cherkaska
 SLOWAKEI                   Ivano-Frankivsk
                                  Ivano-
                                                                               UKRAINE
                                                                Vinnytska                                              Dnipro
                                  Frankivska
                     Zakarpatska                                                    Kirovohradska                                                        Luhansk
                                                                                                               Dnipropetrovska               Donetsk
                                        Chernivetska
 UNGARN                                                     MOLDAWIEN
                                                                                                                         Zaporizhzhia
                                                                                                                                             \
                                                                                                                                        Donetska
                                                                                         Mykolaivska
                                                                    Chisinau                                             Zaporizka
                                                                               Odeska       Mykolaiv
                                                                                                       Khersonska
                                                                Huşi
                                                                                   Odesa

                                 RUMÄNIEN
                                                                                                              Avtonomna
                                                                                                              Respublika                         0            200 km
                                                                                                              Krym
                                                                                                 Sevastopol
Belgrad
                                      Bukarest
 SERBIEN

 Schweizer Vertretungen                          Lieferung von Nothilfe                             Projekte

          DEZA Kooperationsbüro                           Ernährungssicherheit                            DEZA-Projektregionen

          Botschaft                                       Gesundheit

          Kooperationsbüro                                Hygiene                                   Legende zur Karte

   \      Expert/innen vor Ort                            Schutzräume
                                                                                                          Grenzübergänge UKR

                                                          WASH (Wasser,
                                                          sanitäre Infrastruktur, Hygiene)

Quellen: EDA, DEZA

Übersichtskarte zu den Schweizer Hilfslieferungen in die Ukraine (Stand Oktober 2022)

                       Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine arbei-                                 ten des Landes (Lwiw und Luzk) sowie nach Kiew,
                       tet ResMaB mit der humanitären Hilfe der DEZA                                   Odessa, Winnyzja, Mykolajiw, Charkiw, Sumy und
                       zusammen. Entsprechend den Bedürfnissen der                                     Dnipro. Die Schweiz hat der Ukraine bisher Hilfe
                       DEZA koordiniert das ResMaB die Hilfsangebote                                   in der Höhe von rund 100 Millionen Franken zur
                       von Kantonen, Spitälern, der Industrie sowie weite-                             Verfügung gestellt, darunter Material zur Brand-
                       ren Institutionen. Im Rahmen der Soforthilfe konnte                             bekämpfung (Schutzjacken und -hosen, Trans-
                       das ResMaB durch gezielte Anfragen rund 420                                     portschläuche, Wasserwerfer, benzinbetriebene
                       Spendenangebote für die Ukraine erfassen, be-                                   Kettensägen), medizinische Hygieneprodukte
                       urteilen und vermitteln. Mehrere Lieferungen mit                                (Untersuchungshandschuhe, Atemmasken), Was-
                       dringend benötigtem Sanitätsmaterial, Notfallbe-                                seraufbereitungsanlagen sowie Medikamente aus
                       atmungsgeräten und Notstromaggregaten konn-                                     den Beständen des Eidgenössischen Departe-
                       ten in die betroffenen Gebiete geliefert werden.                                ments für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und
                       Neben den Hilfsprojekten vor Ort wurden auch                                    Sport (VBS). Das gesamte Material wurde vom VBS
                       Transporte nach Polen und Moldawien organisiert.                                gratis zur Verfügung gestellt.

                       Seit Beginn des Krieges hat die DEZA über 600
                       Tonnen Hilfsgüter aus der Schweiz in die Ukraine
                       transportiert und in der Ukraine über 4750 Tonnen
                       Nahrungsmittel zur Unterstützung der Bevölke-
                       rung gekauft. Diese Güter gelangten in den Wes-
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Kulturelles Erbe ist in Gefahr

Seit Beginn der Angriffe in der Ukraine sind Kulturgüter – Zeugnisse der Identität
der Völker und eines universellen Erbes – von unmittelbar bevorstehender,
oft irreversibler Zerstörung bedroht. Gleichzeitig gibt es immer mehr zivile und
staatliche Initiativen zum Schutz des kulturellen Erbes. In Städten wie Lwiw,
Charkiw oder Odessa werden Statuen, Denkmäler, Museumssammlungen oder
Archivbestände zu Zielen des Konflikts. Dies ist allerdings keine neue Entwicklung.
Angesichts der unermesslichen Schäden, die Kulturgüter während des Zweiten
Weltkriegs erlitten, verabschiedete die UNESCO 1954 das Haager Abkommen für
den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten.

Carine Simoes, Fachbereich Kulturgüterschutz, BABS

               Der Krieg in der Ukraine zeigt einmal mehr, dass
               ein starker Rechtsrahmen und der Wille der Völ-
               kergemeinschaft für den Schutz des kulturellen
               Erbes bei bewaffneten Konflikten notwendig sind.
               Die beiden Hauptziele, die mit dem Haager Ab-
               kommen von 1954 verfolgt wurden, sind nach wie
               vor von grundlegender Bedeutung: die Sicherung
               des Kulturguts in Friedenszeiten und die Respek-
               tierung des Kulturguts im Falle eines bewaffneten
               Konflikts1. Daher sind die Zerstörung von Kultur-
               gütern im Falle eines bewaffneten Konflikts sowie
               Diebstahl und Plünderung verboten2.

               Als Antwort auf die massive Zerstörung von Kultur-
               gütern während des bewaffneten Konflikts in Ex-
               Jugoslawien wurde 1999 das Zweite Protokoll zum
               Haager Abkommen von 1954 verabschiedet. Das
               Protokoll ermöglicht es, besonders wichtige Kul-
               turgüter unter verstärkten Schutz zu stellen, und              Ein Tuch bedeckt eine Skulptur des Andrej-Sheptyzki-National­
               legt konkrete Massnahmen zur Bewahrung des                     museums in Lwiw, Westukraine, am 4. März 2022. Die Türen
                                                                              des Museums sind seit Beginn des russischen Krieges gegen die
               kulturellen Erbes fest, zum Beispiel die Erstellung
                                                                              Ukraine geschlossen.
               nationaler Verzeichnisse.

               Aufruf der UNESCO
               Die UNESCO hat bestätigt, dass zwischen dem Be-
               ginn der Feindseligkeiten am 24. Februar 2022 und                  öffentlicht, in der sie zum Schutz des ukrainischen
               dem 19. September 2022 192 kulturelle Stätten be-                  Kulturerbes, das von der reichen Geschichte des
               schädigt wurden: 81 religiöse Stätten, 13 Museen,                  Landes zeugt, aufrief – das war einen Tag nachdem
               36 historische Gebäude, 35 Gebäude für kulturelle                  die Generalversammlung der Vereinten Nationen
               Aktivitäten, 17 Denkmäler und 10 Bibliotheken3. Am                 eine Resolution zum Angriff auf die Ukraine verab-
               3. März 2022 hatte die UNESCO eine Erklärung ver-                  schiedet hatte.

                                                                                  Seitdem wurden zahlreiche Initiativen ergriffen,
               1    Stand heute sind 133 der 193 UNESCO-Mitgliedsstaaten          um die ukrainischen Behörden und die Zivilge-
               Vertragsparteien des Haager Abkommens von 1954.                    sellschaft bei ihren Bemühungen zu unterstützen,
               2    Seit 1957 sind die Ukraine und die Russische Föderation
               Vertragsstaaten des Haager Abkommens von 1954.                     das kulturelle Erbe vor einer beispiellosen Zer-
               3    https://www.unesco.org/fr/ukraine-war                         störung zu schützen. Anfang Juli reiste eine Mis-
BABS 22/23
Jahresrückblick 2022                                                                                                                            12

                                       Zehn KGS-Regeln für den Fall eines bewaffneten Konflikts
                                       Im Bereich des Kulturgüterschutzes wird das Handeln der Schweizer Armee im
                                       Falle eines bewaffneten Konflikts durch «Die zehn Grundregeln des Kulturgüter­
                                       schutzes» bestimmt. Eine Reihe von Postern, die das Thema illustrieren,
                                       wird 2023 vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz zu Schulungs- und Sensibilisie­
                                       rungszwecken herausgegeben. Die Kulturgüter auf den Postern werden Beispiele
                                       für Kulturgüter von nationaler Bedeutung sein, die im Schweizer Inventar zum
                                       Schutz von Kulturgütern aufgeführt sind und im Falle eines bewaffneten Konflikts
                                       erhalten bleiben müssen.

                                       Der Stiftsbezirk St. Gallen gehörte einst zu den bedeutendsten kulturellen Zentren
                                       Europas. 1983 wurden der Bezirk und die Stiftsbibliothek von der UNESCO in das
                                       Verzeichnis des Weltkulturerbes aufgenommen.

                                  sion der UNESCO in die Uk-                          Nothilfe
                                  raine, um eine erste fundierte                      Nebst dem internationalen Bergungsort wurden
                                  Einschätzung der Auswirkun-                         vom Bundesamt für Kultur finanzielle Hilfen für
                                  gen des Krieges auf den ukrai-                      Projekte zur Sicherung von Kulturgütern aus der
                                  nischen Kultursektor vorzuneh-                      Ukraine bereitgestellt. Dabei kann es sich um die
                                  men, ihre Unterstützung für den                     Unterstützung von Museen oder kulturellen Institu-
                                  Sektor mit den Regierungsbe-                        tionen in der Schweiz handeln, die Kulturgüter aus
                hörden und Partnern zu koordinieren und Prioritä-                     der Ukraine zur Aufbewahrung aufnehmen, oder
                ten für den Wiederaufbau festzulegen.                                 um Projekte von Institutionen oder Einzelpersonen,
                                                                                      die auf die Bewahrung von Kulturgütern und die
                «Safe Haven»                                                          Verhinderung von Zerstörung, Diebstahl und ille-
                Die lange humanitäre Tradition der Schweiz er-                        galem Handel abzielen. Darüber hinaus wurde ein
                streckt sich auch auf die Sicherung von Kultur-                       Beitrag zum UNESCO-Nothilfefonds für das Kultur-
                gütern4. Seit 2015 stellt die Schweiz auf Anfrage                     erbe gewährt. Diese Nothilfe- und Kooperations-
                eines Drittstaates einen internationalen Bergungs-                    massnahmen stehen im Einklang mit der Strate-
                ort («Safe Haven») zur Sicherung von Kulturgütern                     gie des Bundesrates zum Schutz des gefährdeten
                zur Verfügung, die durch bewaffnete Konflikte,                        Kulturerbes für den Zeitraum 2019–2023.
                Katastrophen oder Notlagen bedroht sind5. Die
                treuhänderische Aufbewahrung erfolgt gemäss                           Kriegsverbrechen
                einem bilateralen Abkommen, das zwischen dem                          Vorsätzliche Angriffe auf Kulturgüter gelten als
                Bundesrat und der Regierung des Drittstaates ab-                      Kriegsverbrechen6. Bereits 2005 und 2006 wurden
                geschlossen wird. Solange sich die unter das Ab-                      zwei Generäle der jugoslawischen Armee wegen
                kommen fallenden Kulturgüter in der Schweiz be-                       der Zerstörung des Weltkulturerbes in Dubrovnik
                finden, können Dritte keinerlei Ansprüche geltend                     (Kroatien) verurteilt. In jüngster Zeit, im Jahr 2016,
                machen.                                                               wurden die Handlungen eines Terroristen, die zur
                                                                                      vorsätzlichen Zerstörung einer Moschee und neun
                Auf diplomatischem Weg, insbesondere über die                         Mausoleen in Timbuktu (Mali) führten, vom Inter-
                ständige Delegation der Schweiz bei der UNESCO,                       nationalen Strafgerichtshof ebenfalls als Kriegs-
                wurde den ukrainischen Behörden diese Unter-                          verbrechen eingestuft. Auch wenn ein mögliches
                stützung angeboten. Die Schweiz hält sich für den                     Urteil zu den Angriffen auf das kulturelle Erbe in
                Fall eines offiziellen Ersuchens bereit. Der Fach-                    der Ukraine nicht vorhersehbar ist, dürften die im-
                bereich Kulturgüterschutz im Bundesamt für Be-                        mensen Schäden nicht unberücksichtigt bleiben.
                völkerungsschutz ist für die Verwaltung des Ber-                      Schliesslich ist ein Stück Menschheitsgeschichte
                gungsorts und die Koordination auf Bundesebene                        bedroht – wodurch die Weitergabe des kollektiven
                zuständig. In diesem Rahmen arbeitet er insbe-                        und identitätsstiftenden Gedächtnisses, was das
                sondere eng mit dem Schweizerischen National-                         Kulturerbe ja ist, an zukünftige Generationen ein-
                museum zusammen, das zu gegebener Zeit die                            geschränkt wird.
                optimale Aufbewahrung der eingelagerten Kultur-
                güter sicherstellt.

                4    Die Schweiz ratifizierte das Haager Abkommen von 1954
                im Jahr 1962 (SR 0.520.3) und das Zweite Protokoll von 1999 im
                Jahr 2004 (SR 0.520.33).
                5    Vom Bundesgesetz über den Schutz der Kulturgüter bei             6     Diesbezüglich Römisches Statut des Internationalen
                bewaffneten Konflikten, bei Katastrophen und in Notlagen              Strafgerichtshofs und Resolution 2347 (2017) des Sicherheits-
                (KGSG, SR 520.3) vorgesehen.                                          rats der Vereinten Nationen.
13

Um eine längerfristige Aufnahme von Geflüchteten gewährleisten zu können, hat der Waadtländer Zivilschutz eine temporäre Notunterkunft mit 200
Betten im Palais de Beaulieu in Lausanne aufgebaut. Der Zivilschutz ist auch für deren Betrieb zuständig.

Der Zivilschutz im Einsatz
für die Flüchtlinge
Im Rahmen der Pandemiebewältigung leistete der Schweizer Zivilschutz über zwei
Jahre hinweg den bisher grössten Einsatz in seiner Geschichte. Nur wenige Monate
nach Beendigung dieses Einsatzes entstand aufgrund des Krieges in der Ukraine
und der Ankunft von tausenden Geflüchteten erneut eine Situation, welche
einen grösseren Einsatz des Zivilschutzes erforderlich machte. Dank seiner hohen
Reaktionsbereitschaft und dem nötigen Mass an Flexibilität war der Zivilschutz
in den meisten Kantonen ein unverzichtbarer Faktor, um die grosse Anzahl an
Geflüchteten in Empfang zu nehmen.

Jonas Höhn, Kommunikation BABS

                   Die Schweiz war kaum darauf vorbereitet, dass ab                    der Geflüchteten sicherzustellen. Vielerorts waren
                   Ende Februar 2022 plötzlich tausende Menschen                       dafür auch kreative Lösungen von Nöten.
                   aus der Ukraine als Schutzsuchende ins Land
                   kommen sollten. Doch mit dem russischen Angriff                     Häufig lag es am Zivilschutz, die Geflüchteten nicht
                   auf die Ukraine war schnell klar, dass eine grosse                  nur in Empfang zu nehmen, sondern auch deren
                   Anzahl Geflüchteter, darunter viele Frauen und Kin-                 provisorische Beherbergung sicherzustellen. So
                   der, auch in der Schweiz Schutz suchen würden.                      wurde im Toggenburg unter massgeblicher Betei-
                   Der Zivilschutz war in vielen Kantonen von Anfang                   ligung des Zivilschutzes innerhalb weniger Tage
                   an und an vorderster Front dabei, um Empfang, Be-                   (und Nächte) ein ehemaliges Altersheim instand-
                   treuung sowie die behelfsmässige Unterbringung                      gesetzt und zu einer funktionstüchtigen Unterkunft
BABS 22/23
Jahresrückblick 2022                                                                                                                     14

                                                                                  Zur Unterbringung gehört auch Verpflegung (Stadt Bern). Die
                                                                                  Einsatzdauer der Dienstleistenden war auf jeweils eine Woche
                                                                                  begrenzt, um allzu grosse Arbeitsausfälle zu verhindern.

                                                                                  Neben der Betreuung und Unterbringung von Ge-
                                                                                  flüchteten hatte der Zivilschutz weitere, zum Teil
                                                                                  speziellere Aufgaben zu bewältigen. So musste die
                                                                                  Zivilschutzorganisation Bern Plus der ukrainischen
                                                                                  Botschaft zur Hilfe eilen, als deren Garten aufgrund
                                                                                  der vielen Spenden komplett zugestellt war. Gelöst
                                                                                  wurde das Problem mit einem eigens dafür einge-
                                                                                  richteten Logistikcenter, dessen Betrieb der Zivil-
                                                                                  schutz zu Beginn ebenfalls gewährleistete.

                                                                                  Neue Erkenntnisse aus neuen Erfahrungen
So wie hier in Zürich in der Saalsporthalle musste der Empfang der Geflüchteten   Generell bestand die grösste Herausforderung für
auch administrativ gewährleistet werden. Die zweitgrösste Sportanlage von         die meisten Zivilschutzangehörigen jedoch weni-
Zürich ist seit Mitte März 2022 eine Erstankunftsstelle für Geflüchtete.
                                                                                  ger im handwerklichen und logistischen Bereich,
                                                                                  als vielmehr im Umgang mit den Geflüchteten
                                                                                  selbst. Nebst der Tatsache, dass es sich bei vielen
                                                                                  der schutzsuchenden Menschen um Kinder han-
                                                                                  delte, waren die sprachlichen Verständigungs-
                   inklusive Betreuung für bis zu 200 Personen her-               schwierigkeiten eine zusätzliche Hürde. Beson-
                   gerichtet. Die Angehörigen der regionalen Zivil-               ders herausfordernd war, dass viele Geflüchtete
                   schutzorganisation griffen dabei auch auf ihr per-             vom Krieg traumatisiert in der Schweiz ankamen,
                   sönliches Netzwerk zurück, um so kurzfristig den               was eine höhere psychologische Sensibilität von-
                   nötigen Support für die vielseitigen technischen               seiten der Zivilschutzangehörigen erforderte. Die-
                   Arbeiten zu erhalten. In Lausanne war es das his-              sem Umstand konnte teilweise Rechnung getra-
                   torische Gebäude und Kongresszentrum Palais                    gen werden, indem Zivilschutzangehörige aus so-
                   de Beaulieu, welches innert Kürze mit Unterstüt-               zialen und medizinischen Berufen die Betreuung
                   zung des Zivilschutzes zur provisorischen Unter-               übernahmen. Dennoch äusserten sich mehrere Zi-
                   kunft umfunktioniert wurde. In der Stadt Zürich                vilschutzkommandanten dahingehend, dass der
                   wurde die Saalsporthalle in einen grossen Schlaf-              Umgang mit besonders vulnerablen oder traumati-
                   und Verpflegungssaal umgewandelt. Anderorts                    sierten Personen künftig vermehrt auch in der Aus-
                   musste mangels Alternativen auf Zivilschutzanla-               bildung berücksichtigt werden sollte.
                   gen ausgewichen werden. In diesen Anlagen ver-
                   suchte der Zivilschutz mit einem erweiterten Be-               Generell resultiert aus diesem Einsatz die Erkennt-
                   treuungsangebot, den Aufenthalt für die Geflüch-               nis, dass eine Herausforderung in dieser Grös-
                   teten möglichst angenehm zu gestalten. Im Fall der             senordnung nur im engen Verbund von kantona-
                   Stadt Bern beinhaltete dies etwa Ausflüge in den               len Behörden, Zivilschutz, Blaulichtorganisationen
                   Tierpark Dählhölzli oder auf den Gurten, die von Zi-           sowie privaten Institutionen und Freiwilligen bewäl-
                   vilschutzangehörigen begleitet wurden.                         tigt werden kann. Diese Zusammenarbeit funktio-
                                                                                  nierte nur dank dem Pragmatismus und der Flexi-
                                                                                  bilität der Beteiligten vielerorts sehr gut.
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Der Grat zwischen Panikmache
und Warnung ist schmal
Seit dem 24. Februar 2022 ist der Krieg wieder in Europa. Bilder von Menschen,
die in U-Bahn-Stationen Schutz suchen, von zerstörten Häuserzeilen und Bomben­
explosionen gehen um die Welt. Solche Eindrücke entfalten eine verstörende
Wirkung. Vulnerable Personen erleiden ein Trauma oder ängstigen sich.
Welche Folgen solche Geschehnisse auf das soziale Verhalten haben können,
erklärt im Interview Dr. med. Stefan Vetter, Chefarzt des Zentrums für Soziale
Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Sandra Walker, Kommunikation BABS

              Via Fernsehen und Fotos wird auf einmal ein
              ziemlich abstrakter Begriff, «Krieg», wieder
              greifbar. Was bewirken solche Bilder?
              Sie lösen Unsicherheit und Aufmerksamkeit aus.
              Neben Angst und Schrecken sowie Mitleid mit der
              betroffenen Bevölkerung können solche Bilder
              zeitweise auch schlaflose Nächte bedeuten. Sie
              wecken aber auch Interesse und das Bedürfnis,        Privatdozent Dr. med. Stefan Vetter
              über das Geschehen informiert zu sein. Sie kön-      Der in Bern und Zürich ausgebildete Mediziner und Psychia­
                                                                   ter Stefan Vetter erlebte nach dem Absturz eines Swissair
              nen Anlass dazu geben, sich um den Notfallplan
                                                                   Flugzeugs bei Halifax seine erste Feuerprobe in der Katastro­
              zu kümmern, Stromaggregate zu kaufen oder sich       phenpsychiatrie. Seither forscht er im Bereich Katastrophen-
              nach einem Schutzraum zu erkundigen.                 und Wehrpsychiatrie, und steht als Spezialist bei vielen
                                                                   Katastrophen und Grossereignissen der jüngeren Zeit vor Ort
                                                                   im praktischen Einsatz. Wissenschaftlich bearbeitet er
              Lösen solche Bilder auch Panik aus und damit
                                                                   diagnostische und epidemiologische Fragestellungen,
              verbundene Panikreaktionen?                          beschäftigt sich aber auch mit ergänzenden Themen aus
              Ich würde von psychischen Reaktionen sprechen.       der Sozialpsychiatrie und den psychischen Veränderungen
              Grundsätzlich ist es gesund, Nachrichten zu le-      der Bevölkerung nach Katastrophen.
              sen, informiert zu sein und über Ereignisse nach-
              zudenken. Gefährlich für die eigene Psyche wird es
              erst dann, wenn die Bilder aus dem Krieg immer
              und immer wieder angeschaut werden. Ein der-
              artiger Konsum ist schädlich und kann auch ein       Auf der anderen Seite ist es wichtig, als Bürger/in
              Trauma auslösen. Es gilt, sich davor zu schützen.    informiert zu sein und sich entsprechend vorzube-
              Zu uns kommen Patienten, die regelmässig in so-      reiten. Was empfehlen Sie?
              zialen Medien Kurzfilme aus Kriegsgebieten an-       Wissen, verstehen und einordnen ist die Maxime
              schauen; sie finden das unterhaltsam, es hilft ih-   jedes informierten Bürgers, jeder informierten Bür-
              nen aber nicht, die Ereignisse einzuordnen und sie   gerin. Nur, es gibt auch ein Zuviel an Informatio-
              können erkranken. Dies geschah nach dem Terror-      nen. Aus einem Überangebot an Informationen
              angriff von 9/11: Nicht direkt betroffene Menschen   kann man nichts Sinnvolles ableiten. Ich persön-
              entwickelten psychische Störungen, weil sie sich     lich lese nur noch einmal pro Woche einen ver-
              zu oft (über 500 Mal) die schrecklichen Bilder von   lässlichen Newsticker, um mich informiert zu hal-
              9/11 angeschaut hatten.                              ten. Damit gewinne ich Zeit zu überlegen, was die
BABS 22/23
Jahresrückblick 2022                                                                                                      16

                erhaltenen Informationen für mich, meine Familie       Person ist und je beweglicher sie sich auf Verän-
                und die Schweiz bedeuten und welche Massnah-           derungen einstellt, desto geringer ist die Chance,
                men nötig sind. So lässt sich die erlebte Hilflosig-   traumatisiert zu werden. Eine flexible Person denkt:
                keit auflösen.                                         «Ich bin schon in vielen dummen oder unmögli-
                                                                       chen Situationen gewesen und es ist mir meistens
                Wie sehen Sie die Rolle der Medien?                    gelungen, mich wieder aufzurappeln». Das hat mit
                Die Medien haben auch in der Bewältigung von Kri-      Selbst-Effizienz zu tun, je höher diese ist, desto
                sen und Katastrophen eine Aufgabe. Diese Verant-       besser. Es gibt auch weitere Schutzfaktoren: Spiri-
                wortung ist aus meiner Perspektive den Medien-         tualität schützt, in einem Familienverband zu sein,
                schaffenden und den Verlagen nur noch teilweise        schützt, wichtige Aufgaben zu haben, auch das
                bewusst, der Fokus ist immer mehr auf «to sell         schützt.
                news» ausgerichtet. Es wäre schon viel erreicht,
                wenn die Medien sich weniger von der Clickrate         Menschen sind soziale Wesen. Gerade bei einem
                beeinflussen liessen.                                  Grossereignis kann man beobachten, dass
                                                                       Menschen sich gegenseitig unterstützen und sich
                Der Begriff Trauma wird mittlerweile inflationär       beistehen. Es können aber auch Rücksichtslosig-
                gebraucht. Frage an den Experten: Was ist ein          keit, Starrsinn und Egoismus dominieren. Wie
                Trauma?                                                kann man das soziale Verhalten mit Kommunika-
                Ein Trauma ergibt sich als Folge überwältigender       tion fördern?
                Ereignisse (z. B. einer Gewalttat, eines Krieges,      Es kommt auf die Art der Bedrohung an. Bei einem
                eines Naturereignisses), die prinzipiell bei jeder     Staudammbruch, einem Erdbeben, also dort, wo es
                Person eine psychische Ausnahmesituation aus-          alle gleich betrifft, werden die Folgen eher akzep-
                lösen können. Das eigene Leben oder das einer          tiert als bei Ereignissen, die nur spezifische Teile
                nahestehenden Person gerät in Gefahr. Bezüg-           der Bevölkerung treffen. Bei den Schutzmassnah-
                lich des Risikos, traumatisiert zu werden, kommt       men zu Covid war dies gerade am Anfang ein Pro-
                noch ein weiterer Faktor hinzu, der so genannte        blem: Die eigene Grossmutter ist durch COVID-19
                Building-Block-Effekt. Durch das ganze Leben hin-      gefährdet, sie könnte daran sterben und muss
                durch erlebt man kleine, schlimme Ereignisse, die      geschützt werden. Wenn das Grosi aber nicht im
                sich allein nicht traumatisch auswirken. Sie erge-     gleichen Haushalt lebt, ist es für einen Jugendli-
                ben zusammen aber eine kumulative Verletzlich-         chen schwer nachvollziehbar, weswegen er seine
                keit respektive verringern die Resistenz der Be-       Freunde nicht mehr treffen darf und die Schule ge-
                troffenen, je mehr und öfter man so etwas erlebt.      schlossen wird. Für den Jugendlichen ergibt sich
                Manchmal braucht es nur noch eine Kleinigkeit,         das Gefühl der Ungerechtigkeit, Solidarität schwin-
                die ausreicht, um eine traumatische Störung aus-       det; dies hat Auswirkungen auf das soziale Verhal-
                zulösen.                                               ten. Anweisungen und Informationen müssen gut
                                                                       in einen Kontext eingebettet werden, sie müssen
                Eine «erlebte Hilflosigkeit» kann also zu einem        nachvollziehbar sein.
                Trauma führen?
                Im Zentrum steht die Situation, dass ich als           Auch der Bevölkerungsschutz ist zunehmend
                Mensch aller Möglichkeiten des Selbstschutzes          gefordert, Fake News zu dementieren. Welchen
                beraubt bin und ich mich gleichzeitig an Leib und      Einfluss haben Fake News auf die Wahrnehmung
                Leben bedroht fühle. Je stärker und je länger ich      der Realität in der Bevölkerung? Warum ist
                diese aussergewöhnliche Situation von Hilflosig-       Gegensteuer so wichtig?
                keit erlebe, umso mehr besteht das Risiko, dass        Fake News haben eine destabilisierende Wirkung.
                sich in der Folge eine Trauma-bedingte psychische      Wenn die Informationen der Behörden davon be-
                Erkrankung ausbilden kann.                             troffen sind, würde ich die Funktion eines Fake-
                                                                       news-Beauftragten schaffen. Also eine Funktion,
                Gibt es eine Prävention, kann man sich vor einem       wie die einer Ombudsperson, die Falschmeldun-
                Trauma schützen?                                       gen evaluiert und korrigiert; das ist ein Vollzeitjob.
                Eine primäre Prävention gibt es nicht. Man müsste      So verfügt zum Beispiel BBC-News über eine sol-
                alle traumatischen Ereignisse wie Lawinen, Ge-         che Stelle, die Kriegsmeldungen aus der Ukraine
                walttaten etc. verhindern. Aber je flexibler eine      überprüft und richtigstellt.
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In der Ukraine warnt eine App
vor Luftangriffen

Zivilisten suchen Schutz in einem Bunker unter einem Theater in der Innenstadt von Dnipro. Alle informieren sich in den
sozialen Medien über den Vormarsch der russischen Armee und die Bombardierung der Stadt.

                    Zu Beginn des Krieges entwickelten mehrere Unternehmen und
                    Institutionen Apps, um die Bevölkerung vor Bombenangriffen
                    zu warnen. Sie werden heute massenhaft von Zivilpersonen genutzt.

                    Clara Marchaud, Freie Journalistin, Kyiv                              der besorgten Blicke. In den letzten sieben Mo-
                                                                                          naten hat die Bevölkerung in der Ukraine gelernt,
                    Anfang März ist der Bahnhof von Lwiw voll mit Uk-                     mit dem Fliegeralarm zu leben, einem ohrenbetäu-
                    rainerinnen und Ukrainern, die vor dem Krieg flie-                    benden, schwankenden Ton, der vor einer mögli-
                    hen, als eine Sirene ertönt. «Schon gut, das ist nur                  chen Bombardierung warnt und dazu aufruft, sich
                    mein Telefon, das ist ein Alarm aus Kyiw (Kiew)»,                     in Sicherheit zu bringen. In einigen Städten heulen
                    entschuldigt sich ein Fahrgast, der gerade aus der                    die Sirenen aus Lautsprechern, aber vor allem aus
                    ukrainischen Hauptstadt geflohen ist, angesichts                      Smartphones.
BABS 22/23
Jahresrückblick 2022                                                                                                                    18

In der Schweiz gilt der Grundsatz «jeder Einwohnerin und jedem Einwohner ein Schutzplatz»: In rund 370 000 privaten und
öffentlichen Schutzräumen sind rund neun Millionen Schutzplätze vorhanden. Dies entspricht einem Deckungsgrad von
über 100 Prozent. Anders die Situation in der Ukraine: Gemäss dem Büro für Katastrophenschutz der Hauptstadt Kyiv gibt es
in der Hauptstadt rund 4500 Schutzräume. Das sind Keller, Untergeschosse von Gebäuden, U-Bahn-Stationen, Tiefgaragen
und Unterführungen, die entsprechend geprüft wurden. Zudem haben die Behörden eine Karte mit Standorten herausge­
geben. Auch in anderen Städten und Regionen kann die Bevölkerung verfügbare Schutzräume online abfragen.

                   Am 24. Februar, als Russland in die Ukraine ein-                     Notunterkünfte hinzugefügt. Innerhalb eines Ta-
                   fiel, war das System zur Warnung der Bevölkerung                     ges wurde die Funktion «Sirene» eingerichtet. Bis
                   noch nicht bereit, räumt Petro Olenych, der stell-                   heute wurde Kyiv Tsyfrovy (ukrainisch für «Digita-
                   vertretende Bürgermeister von Kyiv und Chief Di-                     les Kyiv») fast zwei Millionen Mal heruntergeladen.
                   gital Transformation Officer (CDTO), ein. Seit zwei
                   Jahren wird in der Ukraine der Wechsel von aus                       Auch für den Einsatz auf nationaler Ebene wer-
                   dem Kalten Krieg übernommenen, mechanischen                          den viele Anwendungen von der hochqualifizier-
                   zu elektronischen Sirenen vollzogen. Tests sind                      ten Tech-Community des Landes entwickelt. Die
                   selten und teuer, und in Kyiv sind die Warnmeldun-                   Bevölkerung ist ihrerseits an neue Technologien
                   gen vor allem für den Fall eines Brandes gedacht.                    gewöhnt. Präsident Volodymyr Zelensky propa-
                   «Wir hätten nie gedacht, dass man uns so massiv                      giert seit 2019 das Konzept des «Staates in sei-
                   und direkt angreifen würde», gibt Petro Olenych                      nem Smartphone». Mindestens zwölf Millionen
                   zu. Bereits am 24. Februar um fünf Uhr morgens                       Ukrainer/innen nutzten im Jahr 2021 die App Diia,
                   wurde die Hauptstadt bombardiert, und viele Laut-                    die unter anderem Ausweisdokumente in digita-
                   sprecher in den Schlafvierteln am linken Flussufer                   ler Form speichert, die als Originale gelten. Noch
                   blieben stumm. Auf dem Land wurden in einigen                        mehr nutzen sie heute, da viele Zivilpersonen ihre
                   Dörfern die Kirchenglocken geläutet, um den Krieg                    Häuser überstürzt verlassen mussten, manchmal
                   anzukündigen, da es kein funktionierendes Alar-                      ohne ihre Papiere.
                   mierungssystem gab.
                                                                                        Am 24. Februar floh Valentin Hrytsenko, ein 32-jäh-
                   In Kyiv beschloss die Stadtverwaltung sofort, die                    riger Marketingmanager, mit dem Auto aus der
                   eigene App zu nutzen, um die Bevölkerung zu war-                     Hauptstadt in den Westen, als er und sein Kollege
                   nen. Sie wurde bereits fast 1,5 Millionen Mal her-                   die Idee hatten, eine landesweite App für Luftwar-
                   untergeladen und dient zum Kauf von Bustickets                       nungen zu entwickeln. Sein Unternehmen Ajax
                   oder zur Zahlung von Parkbussen. Kurz vor dem                        Systems, ein ukrainischer Hersteller von drahtlo-
                   Krieg hatten die Behörden der App eine Karte der                     sen Sicherheitssystemen, die weltweit vertrieben
19

Anwohnerinnen kommen aus
dem Schutzraum einer Glasfabrik
in Lyssytschansk im Norden des
Oblast Luhansk.

werden, besitzt bereits Genehmigungen, um kri-         aus Jytomyr in der Zentralukraine schickte uns ein
tische Warnungen auf Smartphones zu senden,            Dankeschön, weil sie sich in Sicherheit gebracht
selbst wenn diese stumm geschaltet sind. «Es           hatte, nachdem einer der Soldaten eine Warnung
braucht Zeit, um solche Berechtigungen von Apple       auf seinem Telefon erhalten hatte. Wenige Minuten
oder Android einzuholen, und es zählte jede Mi-        später wurde ihr Stützpunkt bombardiert», berich-
nute, also haben wir unser eigenes Produkt entwi-      tete Valentin Hrytsenko.
ckelt», erinnert er sich. Innerhalb von 48 Stunden
stellte sein Team von Ingenieuren in Zusammen-         Die befragten Betreiber weisen jedoch darauf hin,
arbeit mit dem Ministerium für digitale Transforma-    dass ihre Anwendungen bald etwas weniger ge-
tion eine kostenlose App zusammen. Die Nutzer/         nutzt werden. Das Ministerium für Katastrophen-
innen müssen lediglich die Regionen oder Städte        fälle testet derzeit das auf dem Telefonnetz basie-
eingeben, für die sie Warnungen erhalten möch-         rende Cell Broadcast-System, das Ende 2022 in
ten. Tryvoha (ukrainisch für «Warnung») wurde          Betrieb genommen werden soll und es auch äl-
über elf Millionen Mal heruntergeladen, und das        teren Mobiltelefonen ermöglicht, Warnungen zu
in einem Land mit 40 Millionen Einwohnern (davon       empfangen.
etwa 8 Millionen Flüchtlinge im Ausland).
                                                       In der Zwischenzeit nutzt die Zivilbevölkerung im-
Petro Olenytch wie auch Valentin Hrytsenko sind        mer noch die Apps. Die 27-jährige Olha wohnt im
der Meinung, dass ihre Anwendungen nicht die           Zentrum von Kyiw, nur 100 Meter von einer Fabrik
erste Art der Warnung für die Zivilpersonen sein       des Militärs entfernt, die seit Kriegsbeginn dreimal
sollten, sondern nur ein «zusätzliches Werkzeug»,      bombardiert wurde. Sie und ihr Lebensgefährte
insbesondere in weniger dicht besiedelten und          weigern sich umzuziehen, nachdem sie Kyiv zu
ländlichen Gebieten. So bietet Tryvoha von Ajax        Beginn des Krieges für einige Wochen verlassen
Systems genaue Informationen auf der Ebene des         hatten. Das Paar nutzt Kyiv Tsyfrovy, um Warnun-
Distrikts und der Risikoarten: Luftalarm, Strassen-    gen zu erhalten und sich im Badezimmer in Sicher-
kämpfe oder Artillerie. In jüngerer Zeit wurden auch   heit zu bringen, weg von Fenstern, die explodie-
nukleare und chemische Risiken hinzugefügt.            ren könnten. «Wir schauen auch auf einer ande-
                                                       ren App, welche Regionen alarmiert werden. Wenn
Trotz der erhöhten Risiken haben beide Apps noch       dies nur die Stadt Kiew ist, gehen wir sofort in die
keinen Fall von erfolgreichen Cyberangriffen ver-      Schutzräume», erzählt die Studentin. «Wenn aber
zeichnet. Zwar hielten sich beide Betreiber aus Si-    die ganze Ukraine auf Rot steht, neigt man immer
cherheitsgründen über die Herkunft der Informa-        mehr dazu, die Sirenen zu ignorieren, weil man ja
tionen bedeckt, doch erhalten die Apps - wie ein       leben muss!», ärgert sich Olha. Regelmäßig rufen
Medium - direkt von den Behörden oder dem Mili-        die Behörden die Bevölkerung auf, sich an die An-
tär eine Warnung, sobald eine Rakete in Richtung       weisungen zu halten, während die russische Ar-
des ukrainischen Luftraums abgefeuert wird. Die        mee täglich zivile Gebiete im ganzen Land angreift.
Warnungen erreichen die App oft, bevor sie über
die Lautsprecher verkündet werden. «Eine Brigade
BABS 22/23
Jahresrückblick 2022                                                                                                               20

                                                                                                       Der Hiroshima-Gedenktag
                                                                                                       findet seit 1947 weltweit am
                                                                                                       6. August statt und erinnert an
                                                                                                       den Atombombenabwurf auf
                                                                                                       Hiroshima 1945.

Schutzräume: Der lange Schatten
des Kalten Kriegs
Die Gefahr eines Atomkriegs ist nicht verschwunden, wie Wladimir Putin seine Geg­
ner seit seinem Angriff auf die Ukraine erinnert. Bereits im Februar 2022 hatte die
russische Führung sämtliche rhetorische Zurückhaltung aufgegeben und dem
Westen im Falle einer Einmischung wiederholt und offen mit dem Einsatz von
Nuklearwaffen gedroht. Dementsprechend stieg das Interesse an den Schutzbau­
ten in der Schweiz, die allerdings für einen bewaffneten Konflikt in der Schweiz
konzipiert sind und nicht für die Auswirkungen eines Nuklearkriegs in der Ukraine.

Andreas Bucher, Kommunikation BABS

                Nur wenige Wochen vor dem russischen Angriffs-                 stockenden Angriffskrieg in einen Kampf zur Ver-
                krieg gegen die Ukraine hatten die fünf ständi-                teidigung des «Mutterlandes» umzuwandeln.
                gen Mitglieder des Uno-Sicherheitsrats, darunter
                Russland, eine gemeinsame Erklärung1 veröffent-                Das VBS ist seit Kriegsausbruch in seiner Lageein-
                licht, wonach «ein Atomkrieg nicht gewonnen wer-               schätzung davon ausgegangen, dass ein Einsatz
                den kann und niemals geführt werden darf». Die                 von Kernwaffen durch Russland unwahrschein-
                Tinte unter dieser Erklärung war noch nicht tro-               lich ist, denn Moskau ist in der Lage, Ziele in der
                cken, als Russlands Präsident Wladimir Putin das               Ukraine auch mit konventionellen Mitteln zu zer-
                nukleare Arsenal seines Landes als Instrument                  stören. Zudem würde eine nukleare Eskalation
                der Erpressung gegen den Westen einsetzte. Pu-                 das Atomwaffen-Tabu brechen, was wiederum die
                tin hatte wenige Tage nach Beginn des russischen               Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens der NATO mit
                Angriffskrieges gegen die Ukraine nach eigenen                 potenziell gravierenden Folgen für Russland erhö-
                Worten angeordnet, «die Abschreckungskräfte                    hen würde. Unabhängig davon jedoch befeuerten
                der russischen Armee in besondere Kampfbereit-                 diese Drohungen die Ängste der Bevölkerung in
                schaft zu versetzen». Diese Abschreckungskräfte                ganz Europa, auch in der Schweiz, denn die Eska-
                umfassen auch Atomwaffen. Ein halbes Jahr nach                 lationsmuster des Kalten Kriegs bis hin zur gegen-
                diesem ersten nuklearen Säbelrasseln, nach zahl-               seitig zugesicherten Zerstörung («Mutual Assured
                reichen Rückschlägen seiner Truppen in der Uk-                 Destruction MAD») sind immer noch gültig und die
                raine doppelte Putin nach und versuchte, seinen                entsprechenden Arsenale sind nach wie vor ver-
                                                                               fügbar. Im Besitz der Atomwaffenstaaten befinden
                1    Joint Statement of the Leaders of the Five Nuclear-Wea-   sich derzeit etwa 13 400 Atomwaffen. Das ist we-
                pon states on preventing nuclear war and avoiding arms races   niger als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges,
21
                    Mario Burger, Chef Nuklearchemie im Labor Spiez,
                   erläutert am 3. November 2022 in der Sendung SRF
                     Global die Wirkungsweise von nuklearen Spreng­
                         körpern. Der Bedarf nach Informationen über
                     nukleare Risiken ist seit dem Ukrainekrieg enorm
                                                         angestiegen.

aber immer noch genug, um sämtliche Städte und
Ballungsräume der Welt zu zerstören. Die Arsenale
werden weiterhin modernisiert, und obwohl die Ge-
samtzahl der Atomwaffen 2021 leicht zurückgegan-
gen ist, wird diese in den nächsten Jahren wahr-
scheinlich wieder steigen.2
                                                                        verhältnissen bzw. Windrichtungen radiologische
Dank ihrer Schutzraumbaupflicht und der Vor-                            Auswirkungen zu spüren: Falls eine Nuklearwaffe
gabe «Jeder Einwohnerin und jedem Einwohner                             eingesetzt wird, um einen maximalen Schaden
ein Schutzplatz» während und nach dem Kalten                            durch die Druckwelle zu erzielen, explodiert sie
Krieg verfügt die Schweiz im internationalen Ver-                       über dem Boden. Das radioaktive Material wird in
gleich über einen sehr guten Ausbaustand bei den                        die Atmosphäre gerissen und sinkt über Monate
Schutzbauten.3 Dementsprechend stieg 2022 das                           zur Erde ab. Kurzlebige Nuklide zerfallen in dieser
Interesse an dieser Infrastruktur: Zahlreiche aus-                      Zeit, die langlebigen verteilen sich über die (nörd-
ländische Medien besuchten die Schweiz, liessen                         liche) Hemisphäre. Falls eine Nuklearwaffe am Bo-
sich private und öffentliche Schutzräume zeigen                         den explodiert, wird viel Material mit dem Feuer-
und nahmen mit einer Mischung aus Verblüffung                           ball mitgerissen. Daran kondensieren die radioak-
und Bewunderung zur Kenntnis, dass die Schweiz                          tiven Partikel und fallen schnell zur Erde zurück. Am
jeder Einwohnerin und jedem Einwohner einen                             Boden entstehen dadurch lokal hohe Kontamina-
Schutzplatz anbieten kann.4 Allerdings – und das                        tionen. Egal, ob eine Kernwaffe in der Ukraine am
musste sowohl den ausländischen Medien wie                              Boden oder in der Höhe explodiert: Generell lässt
auch besorgten Einwohnerinnen und Einwohnern                            sich festhalten, dass ein Einsatz von Nuklearwaf-
der Schweiz wiederholt erklärt werden – sind die                        fen in der Ukraine für die Schweiz kaum – jedenfalls
Schutzräume primär auf einen bewaffneten Kon-                           keine gesundheitsgefährdenden radiologischen
flikt in der Schweiz ausgerichtet. Die Schutzräume                      – Auswirkungen hätte. Allenfalls würde die land-
müssen der Wirkung moderner Waffen standhal-                            wirtschaftliche Versorgung beeinträchtigt, bzw. es
ten, d. h. sie bieten vor allem Schutz vor Nahtref-                     müssten Ernte-, Fischerei-, Weide- und Jagdver-
fern konventioneller Waffen.                                            bote ausgesprochen werden.6

Schutzräume können zwar für die Bevölkerung                             Schutzräume sind also weder geeignet für das
einen bestimmten vorübergehenden Schutz vor                             Überleben eines grossflächigen Nuklearkriegs,
radiologischen Ereignissen bieten.5 Ein grossflä-                       noch sind sie erforderlich für den Schutz der Be-
chiger Nuklearkrieg in Europa wäre jedoch katas-                        völkerung vor Auswirkungen eines nuklearen Ereig-
trophal, und gegen die Auswirkungen eines sol-                          nisses in der Ukraine. Dementsprechend erfolgte
chen Kriegs kann sich kein Staat rüsten, auch nicht                     auch keine Anordnung des Bundes zur Vorberei-
die Schweiz.                                                            tung der Schutzräume, denn dies geschieht erst,
                                                                        wenn sich ein bewaffneter Konflikt in der Schweiz
Würde sich ein Einsatz von Nuklearwaffen auf die                        oder im grenznahen Ausland abzeichnet. Die
Ukraine beschränken, wären in der 1700 Kilome-                          Schutzräume sollten nur auf Anweisung der Behör-
ter entfernten Schweiz nur bei bestimmten Wetter-                       den aufgesucht werden. Dennoch sind die Ängste
                                                                        der Bevölkerung verständlich und nachvollziehbar.
2     Stockholm International peace Research Institute, Glo-            Schlagzeilen wie «Putin droht mit dem Atomkrieg
bal nuclear arsenals are expected to grow as states continue            – Wie finde ich meinen Luftschutzraum?» 7 bedie-
to modernize, www.sipri.org, 20. June 2022                              nen reale und berechtigte Ängste der Menschen.
3     What Happened to Europe’s Public Bunkers? As bombs
                                                                        Der Balanceakt für die Kommunikation BABS be-
fall on Ukraine, many European governments are waking up
to the sorry state of their own civil defenses, Foreign Policy, 8.      stand 2022 darin, diese Sorgen ernst zu nehmen,
Mai 2022, foreignpolicy.com                                             aber gleichzeitig auch klarzustellen, dass aufgrund
4     Vgl. z.B.:
                                                                        des Ukrainekrieges die Bevölkerung keine beson-
Nuclear bunkers for all: Switzerland is ready as international
tensions mount, Euronews, 3. April 2022; www.euronews.com               deren Massnahmen ergreifen muss.
En Suisse, les abris antiatomiques sont obligatoires depuis la
guerre froide, CNews, 25. März 2022, www.cnews.fr;
Demand for Nuclear bunkers Soars as Russia-Ukraine War
fuels Fear in Europe, Newsweek, 30. April 2022,                         6   Krieg in der Ukraine (admin.ch)
www.newsweek.com                                                        7   Putin droht mit Atomkrieg – Wie finde ich meinen Luft-
5     Schutzräume für die Bevölkerung (admin.ch)                        schutzraum? | Basler Zeitung (bazonline.ch)
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