Urbane Landwirtschaft & Co - Die Rückkehr der Ernährungspolitik auf die lokale Ebene von Philipp Stierand - Kritischen Agrarbericht
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Der kritische Agrarbericht 2016 Urbane Landwirtschaft & Co Die Rückkehr der Ernährungspolitik auf die lokale Ebene von Philipp Stierand Ernährung war in den letzten Jahrzehnten in deutschen Städten ein weitgehend unbeachtetes Thema. Lebensmittel sind ausreichend da – und erscheinen auf für den Verbraucher unbekann- ten Wegen in den Supermarktregalen. Diese Selbstverständlichkeit wird aktuell hinterfragt, nicht zuletzt von den urbanen Gärtnern. Sie erobern den öffentlichen Raum in vielen Städten und holen Lebensmittelerzeugung wieder in das öffentliche Bewusstsein. Damit wurde in den Städten eine Diskussion angestoßen, die sich nicht auf Erzeugung und Landwirtschaft beschränkt. Die Kommu- nen des globalen Nordens entdecken die Ernährungspolitik: In vielen Ländern haben Städte und Gemeinden begonnen, die Möglichkeiten auszuloten, die sie in der Gestaltung ihrer Lebensmittel- versorgung haben. Sie haben dabei auch wirksame Möglichkeiten für ihre Stadtentwicklung ent- deckt. Folgender Beitrag gibt einen Überblick und zwei inspirierende Beispiele aus England. Die lokale Organisation der Versorgung mit Lebensmit- der Subsistenz auf der städtischen Ebene über regiona- teln war in der längsten Zeit der Geschichte für Städte le Verbindungen bis zu heute nationalen und globalen existenziell. Der Transport und die Konservierung von Beziehungen gewandelt. Die direkten Verbindungen Lebensmitteln funktionierte nur sehr eingeschränkt – von Produzent und Konsument wurden gekappt. Zu- so dass Lebensmittel für die Stadt in der Stadt selbst sammen mit diesem Bedeutungsverlust der lokalen oder im unmittelbaren Umland produziert werden Ebene im Ernährungssystem ist auch die Ernährungs- mussten. Die Landwirtschaft war zwangsläufig urban. politik aus den Kommunen verschwunden. Ernäh- rungspolitik, also Entscheidungen, die beeinflussen, Das Verschwinden lokaler Ernährungspolitik … wie Menschen Lebensmittel produzieren, erwerben, konsumieren und entsorgen, wird heute als Ausdruck Während der Urbanisierung stellten die schnell wach- von höheren nationalen oder globalen Impulsen ver- senden Städte die Lebensmittelversorgung vor neue standen (z. B. Landwirtschaftspolitik oder Verbrau- Herausforderungen. Eine zunehmende Zahl von Stadt- cherschutz). ² Die städtische Lebensmittelversorgung bewohnern ohne Zeit und Platz für die Selbstversor- wird heute außerhalb der Stadt gestaltet. gung musste ernährt werden. Die gesellschaftlichen Im 21. Jahrhundert haben sich weltweit die Rahmen- und technischen Umwälzungen während Industria- bedingungen der städtischen Lebensmittelversorgung lisierung und Urbanisierung beeinflussten Erzeugung, durch eine (im globalen Süden) rasante Urbanisierung, Transport und Konsum der Lebensmittel. Der räum- durch starke Schwankungen in den Lebensmittel- liche Maßstab der städtischen Lebensmittelversorgung preisen, die Auswirkungen des Klimawandels und das veränderte sich. Im ersten Schritt wurden frische Le- sog. Landgrabbing grundsätzlich geändert.³ Zudem bensmittel weiterhin in der Stadt produziert, aber auch ändern sich im globalen Norden die Ansprüche an die schon in einer Art von Thünen’schen Ringen in der Lebensmittelversorgung: Nachdem die Versorgung Region.¹ In einem nächsten Schritt wurden auch diese mit ausreichend verfügbaren und bezahlbaren Lebens- regionalen Verknüpfungen gesprengt. Heute spielen mitteln gesichert zu sein scheint, werden auf der loka- Raum und Zeit bzw. Saison für die Lebensmittelver- len Ebene neue Ansprüche formuliert. Der Fokus liegt sorgung kaum noch eine Rolle. dabei nicht mehr in erster Linie auf der Grundver- Der räumliche Maßstab des städtischen Ernäh- sorgung, sondern auf individuellen und gesellschaft- rungssystems hat sich in den letzten 200 Jahren von lichen Bedürfnissen, die darüber hinausgehen. Diese 310
Verbraucher und Ernährungskultur »New Urban Food Needs«⁴ zielen auf einen Beitrag Diese Bewegung wird zudem begleitet von einigen der Ernährung für eine nachhaltige Entwicklung und Forschergruppen vornehmlich an deutschen Univer- zur persönlichen Gesundheit; sie setzen Vertrauen und sitäten, die Mechanismen und Auswirkungen unter- Fairness gegen die aktuell anonymisierten Produk- suchen. Kooperationen von Kommunen und urba- tions- und Lieferketten. nen Gärten gibt es in Deutschland nur vereinzelt.⁹ »Ungeachtet dieser Aktivitäten […] gibt es im Land … und ihr Comeback vergleichsweise wenig Fortschritte in Bezug auf Er- nährungspolitik, Stadternährungsplanung oder städ- Veränderte Rahmenbedingungen und veränderte An- tebauliche Forschung im Bereich der urbanen Land- sprüche führen zu einer Renaissance der Ernährungs- wirtschaft. Die wichtigen Ergebnisse internationaler politik in den Kommunen. Wurde diese über mehrere Forschungsprojekte haben (bis heute) keinen Einfluss Generationen von der nationalen und internationalen auf die Raumplanung oder die Arbeit mit dem Ernäh- Ebene bestimmt, suchen Kommunen aktuell nach rungssystem gehabt.«¹⁰ lokalen Ansätzen, Ernährungspolitik zu gestalten. Sie Die Bewegung hin zu einer lokalen bzw. kommu- nutzen die Gemeinschaftsverpflegung in städtischen nalen Ernährungspolitik hat von Nordamerika ausge- Einrichtungen, die Raumplanung und Netzwerk- hend über Großbritannien nun auch das kontinentale arbeit, um sich Gestaltungsspielräume zu schaffen. Europa erreicht. In vielen Ländern finden sich gute Die Betrachtung der gesamten Versorgungskette und Beispiele für solche Ansätze. In Deutschland gibt es ihrer Beziehungen über Zuständigkeiten und Grenzen aktuell besonders in Köln und Berlin Gruppen in der von Fachdisziplinen hinweg ist wesentlich. So arbei- Zivilgesellschaft, die nach Möglichkeiten suchen, Er- ten beispielsweise Raumplaner, Gesundheitsexperten nährungspolitik auf der lokalen Ebene und in kom- und Umweltplanern über Disziplingrenzen zusam- munalen Strukturen zu verankern. Auf Einladung men und setzen dabei auf Experten- genauso wie auf der Berliner Verbraucherschutzstaatssekretärin trafen Laienwissen.⁵ Erst die Analyse dieses gesamten Er- sich Ende September 2015 rund 30 Vertreter von Ver- nährungssytems, das »Food Systems Thinking«⁶, er- bänden, Organisationen und Unternehmen aus dem öffnet Lösungsmöglichkeiten für die Gestaltung der Ernährungsbereich zur konstituierenden Sitzung des Lebensmittelversorgung auf der kommunalen Ebe- »Rat für gutes Essen« (Food Policy Council Berlin). ne, zeigt Synergien auf und lässt Chancen erkennen. In Köln scheint es zu gelingen, einen solchen Ernäh- Typisch für die neuen kommunalen Ansätze ist es, rungsrat in Kooperation von Stadt und zivilgesell- verschiedene Politikbereich und -ziele zu integrieren, schaftlichen Gruppen ins Leben zu rufen; hier ist die die direkt oder indirekt mit dem Thema Ernährung Gründung für Anfang 2016 geplant.¹¹ verbunden sind. Im Mittelpunkt der Diskussion und der Aufmerk- Ansätze lokaler Ernährungspolitik samkeit in Deutschland steht die urbane Landwirt- schaft. Mitte der 1990er-Jahre entstanden in Göttingen Im Folgenden sollen zwei sehr unterschiedliche bri- aus der Beratungsarbeit mit Flüchtlingen die interna- tische Beispiele die Möglichkeiten von lokaler Ernäh- tionalen Gärten. An diesem Vorbild orientierten sich rungspolitik aufzeigen. In Todmorden gibt es eine in den folgenden Jahren über 60 neu gegründete in- starke Initiative, die aus der Zivilgesellschaft mit über- terkulturelle Gärten.⁷ Öffentliche Aufmerksamkeit er- wiegend spontanen Aktionen lokale Ernährungspolitik langte die wachsende Zahl von Gemeinschaftsgärten in betreibt. In Brighton and Hove hat sich in Kooperation Deutschland um das Jahr 2008 durch neu entstehende von Stadt und Zivilgesellschaft eine sehr strategische Gärten, die explizit urbane Standorte und die Öffent- kommunale Ernährungspolitik etabliert. lichkeit suchten. Gärten wie die »Prinzessinnengär- ten« in Berlin waren inspiriert durch Vorbilder in den Incredible Edible Todmorden USA und Lateinamerika. Neben Berlin und Göttingen Todmorden ist eine Kleinstadt mit 15.000 Einwohnern sind noch besonders die Städte Leipzig (u. a. mit den in West Yorkshire. 2007 haben hier zwei engagierte »Bunten Gärten« und »offener Garten Annalinde«), Frauen (Pam Warhurst und Mary Clear) nach einer Andernach (»Essbare Stadt«), München (»Krautgär- Möglichkeit gesucht, die nachhaltige Entwicklung ten«, »Agropolis«), Köln (unter anderem »Urbane ihrer Kommune so anzugehen, dass ihre Mitbürger be- Agrikultur Ehrenfeld«, »Neuland«) mit jeweils spezi- geistert mitmachen. Sie diskutierten am Küchentisch – fischen Meilensteinen in der Entwicklung der urbanen und planten eine Revolution. Pam sagte dazu ein paar Landwirtschaft in Deutschland hervorzuheben.⁸ Heute Jahre später in einem TED-Vortrag: »Wir haben nie- gibt es in Deutschland eine öffentlich wahrgenomme- manden um Erlaubnis gebeten, wir machen es einfach. ne und innovative Praxis urbaner Landwirtschaft – mit Und wir werden sicher nicht darauf warten, dass dieser Einfluss auf die öffentlichen Räume vieler Städte. Wisch im Briefkasten landet, und vor allem lassen wir 311
Der kritische Agrarbericht 2016 uns nicht einschüchtern von anspruchsvollen Argu- Touristen geworden. Die Grüne Route soll die Ge- menten wie: Kleine Taten sind bedeutungslos ange- müsetouristen, wie die Aktivisten sie nennen, zu den sichts der Probleme von morgen. Denn ich kenne die wichtigsten Orten führen und die lokale Wirtschaft Macht kleiner Taten – und sie ist atemberaubend.«¹² fördern.¹⁵ Die beiden Frauen machten Lebensmittel zu ihrem Pam und Mary (und ein harter Kern von einem Dut- trojanischen Pferd, mit dem sie die nachhaltige Ent- zend weiterer Aktivisten) haben es geschafft, Todmor- wicklung von Todmorden in Angriff nahmen. Die Re- den aufzumischen. Neben zwei charismatischen Frau- volution begann bei Mary im Vorgarten. Rosen wur- en brauchte es eine zündende Idee, viel ehrenamtliche den herausgerissen, Gemüse und Kräuter gepflanzt; Arbeit und sichtbare Aktionen; für den Start brauchte statt eines Zauns gab es ein Schild: »Bitte bedienen Sie es keine politische oder finanzielle Unterstützung. Ein sich«. Auf mysteriöse Weise tauchten in der Folge an politisches Programm soll »Incredible Edible« auch in anderen Stellen der Stadt Gemüse- und Kräuterpflan- Zukunft nicht werden. zungen auf. 2008 gab es ein erstes öffentliches Treffen, an dem 60 Menschen aus Todmorden teilnahmen. Die Brighton and Hove Food Partnership »Incredible Edible Todmorden« war geboren. Brighton and Hove liegt an der Südküste Englands Die Gruppe begann damit, ihre Aktivitäten auszu- und hat knapp 300.000 Einwohner. Die Stadt gehört dehnen. Gut sichtbar und illegal nutzten sie öffent- zu den europäischen Pionieren der kommunalen Er- liche wie private Grünflächen. »Keiner möchte Nein nährungspolitik.¹⁶ Die Initiative, die zur Gründung der zu etwas sagen – sie wissen nur nicht, wie sie Ja sagen Food Partnership führte, kam aus der Stadtverwaltung. wollen. Also frage sie nicht!«, beschreibt Pam die Idee Francesca Iliffe, die Nachhaltigkeitsbeauftragte der dahinter.¹³ Auf den Flächen baute die Gruppe Gemüse Verwaltung, stellte in ihrer Arbeit eine enge Verbin- an und überließ die Ernte der Öffentlichkeit. Propa- dung zwischen den Themen der Nachhaltigkeit und ganda gardening nennen sie das in Todmorden: Die der Ernährung fest. Und sie traf auf Victoria Williams Gärten sollen die Einwohner auf den Ursprung ihrer und Clare Devereux, die sich bereits mit lokaler Ernäh- Lebensmittel aufmerksam machen. rungspolitik beschäftigt und die Beratungsorganisation Der direkte Konflikt mit der Stadtverwaltung ließ »Food Matters« gegründet hatten. Bei einem ersten nicht lange auf sich warten. Doch was soll eine Kom- Treffen im Oktober 2002 mit Interessierten rund um mune gegen Bürger ausrichten, die öffentliches Land das Thema Lebensmittel wurde beschlossen, die Arbeit sinnvoll und im Interesse aller nutzten? Die Erlaubnis weiter zu vertiefen. Der Primary Care Trust und der zur Nutzung des Landes gab es nach kurzen Verhand- Nachhaltigkeitsausschuss des Rates beauftragten das lungen. Heute gibt es Gärten an Schulen, am Bahnhof, Beratungsbüro Food Matters damit, eine Bestandsauf- an Altersheimen, an Kirchen und selbst auf Grundstü- nahme des Ernährungssystems in Brighton and Hove cken von Polizei- und Feuerwehrwachen. »Nichts von durchzuführen. Die Studie The Brighton and Hove dem ist Zauberei. Es ist nicht raffiniert oder originell. Foodshed wurde im Herbst 2003 auf der Konferenz Aber es ist freiwillig und gemeinschaftlich. Das ist kei- Spade to Spoon vor 120 Personen vorgestellt. Die Kon- ne Bewegung für Leute, die sich abgrenzen wollen. Sie ferenz empfahl eine Querschnittsorganisation zum ist für alle. Unser Motto: Wenn du isst, bist du dabei. Thema Lebensmittel. Über Alter, Einkommen, Kultur hinweg.«¹⁴ Die Brighton and Hove Food Partnership grün- Regional produzierte Lebensmittel boomen in Tod- dete sich 2005. Die Ernährungspartnerschaft möchte morden. 2009 startete die Aktion »Jedes Ei zählt«. Mit ein lokales Ernährungssystem fördern, welches sozial verschiedenen Aktionen und kostenlosen Pfannku- gerecht, wirtschaftlich aktiv und umweltfreundlich ist chen wurde für lokale Eier Werbung gemacht. An die- und die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bürger sem einen Produkt sollte gezeigt werden, dass sich Re- fördert. Sie hat heute über 4.000 Mitglieder und mehr gion und Stadt selbst versorgen können. Die Idee war, als 20 Mitarbeiter. Die Mitgliedschaft ist kostenlos. Es die bis dahin zögerlichen Erzeuger und Verarbeiter gibt einen Vorstand, der sich aus gewählten und er- davon zu überzeugen, dass es einen lokalen Markt für nannten Mitgliedern zusammensetzt. Der gewählte ihre Produkte gab. Broschüren klärten über Hühner- Vorstand beruft Vertreter der Partner (Rat der Stadt, haltung, Regularien und die Möglichkeit, Überschüsse Primary Care Trust) und Fachleute in den Vorstand. zu verkaufen, auf. Eine Karte zeigte, wo es regionale Als eines der ersten Schlüsselprojekte nach einer loka- Eierproduzenten gibt und wo Privatleute Eier verkau- len Bestandsaufnahme entwickelte die Partnerschaft fen. Eine andere Karte, auf der die sog. »Grüne Route« in einem ausgeprägt kooperativen Prozess eine Ernäh- dargestellt ist, verband die Gärten und Gewächshäu- rungsstrategie. Der Beratungsprozess für die Strategie ser mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt, den lokalen und die Handlungsempfehlungen sollten eine mög- Geschäften und Restaurants. Todmorden ist durch lichst große Öffentlichkeit erreichen – vom Nachbar- die Aktivitäten von »Incredible Edible« zum Ziel von schaftsverein über lokale Catering-Unternehmen bis 312
Verbraucher und Ernährungskultur zu Ämtern. Die endgültige Version der Strategie wur- die möglichen Garten- und Begrünungsmöglichkei- de 2006 zuerst vom Umweltausschuss und dann vom ten kurz erläutert und mit Praxisbeispielen illustriert. Stadtrat selbst verabschiedet. Brighton and Hove hat mit der Food Partnership Der Plan stellt zehn Ziele auf. Die Food Partnership ein Instrument geschaffen, das stadtweit und themen- soll die Aufmerksamkeit für das Ernährungssystem übergreifend das Ernährungssystem behandelt. Mit steigern, Netzwerk- und Lobbyarbeit leisten, den Zu- seiner Offenheit für gesellschaftliche Gruppen und gang zu gesunden Lebensmitteln fördern, die Umwelt- der gleichzeitigen Nähe zur Stadt hat es ein Potenzial, freundlichkeit und Regionalität des Ernährungssystem die Vielfältigkeit des Ernährungssystems zu spiegeln, steigern. Ziel ist es, die Beschaffungspolitik öffentlicher zu fördern und in städtisches Handeln umzusetzen. Institutionen zugunsten dieser Ziele zu beeinflussen, Todmordens Erfolg scheint vor allem aus guten Ideen, Abfall zu reduzieren und zu recyceln sowie die For- Engagement und mindestens zwei charismatischen schung und Diskussion über das Ernährungssystem Menschen zu bestehen. Bestechend ist dabei, wie gut anzuregen. Diese Ziele werden mit Maßnahmen und das kraftvolle Thema Ernährung als trojanisches Pferd Verantwortlichen in der Verwaltung verknüpft. Durch für andere Nachhaltigkeitsthemen funktioniert hat. In den Beratungsprozess und die Verabschiedung der Brighton and Hove haben Stadt und Zivilgesellschaft Strategie durch den Rat liegt die Verantwortung für auf zwei Instrumente gesetzt, die sich in Nordame- die Umsetzung zu großen Teilen bei der Verwaltung; rika schon bewährt hatten, und diese auf die Situa- der Food Partnership kommt eher eine Monitoring- tion vor Ort angepasst. Beide Städte haben von ihrer funktion zu. 2012 wurde resümiert, dass die Ziele der Ernährungspolitik profitiert und das über das Thema ursprünglichen Ernährungsstrategie zu 90 Prozent er- Ernährung hinaus – weil, kurz zusammengefasst, die reicht seien und eine neue Strategie erarbeitet werden Ernährungswirtschaft in der Stadt und Region belebt solle. Die ursprüngliche Strategie wurde mit Mitglie- wurde, weil sich die Bürger besser ernähren, die Städte dern und Akteuren begutachtet, neue Prioritäten ver- grüner geworden sind und neues Bürgerengagement geben und Maßnahmen ausgearbeitet. entstanden ist. Im September 2011 verabschiedete der Stadtrat eine Planning Advice Note: Food Growing and Development, Urbane Nischen als food lab die vom Gemeinschaftsgarten in Brighton und der Part- nership erarbeitet wurde. Die Advice Note soll Bauher- Die britischen Beispiele und auch die aktuellen Dis- ren mit Hinweisen und Ratschlägen ermutigen, urbane kussionen in Deutschland zeigen, dass es auch in Landwirtschaft in ihre Bauprojekte zu integrieren. Sie einem global organisierten Ernährungssystem Hand- enthalten praktische Hinweise für die Planung. The- lungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten in den men wie Wasserversorgung, Erde, Zugang oder auch Kommunen gibt. Profitieren können sowohl die Le- Altlasten werden behandelt. Schließlich werden noch bensmittelversorgung als auch die Städte allgemein. Die Städte stehen in der Pflicht, Verantwortung für die Schäden und Probleme zu übernehmen, die ihre Folgerungen & Forderungen Lebensmittelversorgung verursacht; sie stehen aber auch in der Pflicht, die Chancen, die ihnen das The- ■ Urbane Landwirtschaft hat das Thema städtischer ma Ernährung bietet, zu nutzen. Für beides müssen Ernährungspolitik vorbereitet. sie neue Ernährungskompetenz erlernen: Städte müs- ■ Lokale Initiativen stoßen mehr an als nur lokale Ver- sen sich Wissen über ihr Ernährungssystem aneignen, sorgung mit Lebensmitteln. sie müssen Handlungsansätze kennen und zu nutzen ■ Städte stehen in der Verantwortung, die von ihrer wissen. So kann sich das Ernährungssystem vom Ob- Lebensmittelversorgung ausgehenden Probleme zu jekt notwendiger Verbesserungen zu einem Instru- minimieren und die Chancen, die ihnen das Thema ment für eine nachhaltige Stadtentwicklung wandeln Ernährung bietet, zu nutzen. – in der die Lebensqualität gesteigert, die regionale ■ Best-Practice-Beispiele in Kommunen und Ergebnisse Wirtschaft gestärkt, die Umwelt in Stadt und Region internationaler Forschung zeigen, wie Ernährung zum geschützt, die Gesundheit der Bürger und die Ernäh- integralen Bestandteil von Kommunalpolitik werden rung verbessert wird. kann. Aktuell treiben vor allem zivilgesellschaftliche Pro- ■ Politikansätze und Instrumente wie Ernährungsräte jekte und Netzwerke innovative Entwicklungen im und -strategien sind erfolgreich erprobt. Ernährungssystem voran. Die Bürger betreiben ihre ■ Ernährung ist nicht nur ein wichtiges Objekt von nach- Ernährungspolitik durch soziales Lernen und durch haltiger Stadtentwicklung – sondern auch ein wesent- das Aneignen neuer Kompetenzen. Die Projekte schaf- liches Instrument. fen und nutzen städtische Räume für Experimente. In diesen Nischen werden Lebensmittelproduktion, -han- 313
Der kritische Agrarbericht 2016 del und -konsum neu organisiert; neue Lösungswege Vgl. K. Morgan and R. Sonnino: The urban foodscape: World für Probleme des Ernährungssystems werden getestet. cities and the new food equation. In: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society (2010), pp. 209–224; hier: Die Bürger tasten sich Schritt für Schritt und experi- S. 222. – K. Morgan: Nourishing the city: The rise of the urban mentell an neue Versorgungsstrukturen für die Stadt food question in the Global North. In: Urban Studies (2014); heran. In diesen Experimenten liegt eine Stärke des hier: S. 21. urbanen Ernährungssystems: Stadt und Bürger bestim- Vgl. K. Pothukuchi and J. L. Kaufman: The food system. A stran- men über die Bedingungen ihrer Lebensmittelversor- ger to the planning field. In: Journal of the American Planning Association 66 (2000), pp. 113–124; hier: S. 117. gung mit – und helfen so, innovative Lösungen für das Vgl. P. Stierand: Stadt und Lebensmittel. Die Bedeutung des Ernährungssystem zu entwickeln. städtischen Ernährungssystems für die Stadtentwicklung. Dort- mund 2008; hier: S. 167. Vgl. K. Bohn and A. Viljoen: Green theory in practise and urban design: Germany. In: dies. (siehe Anm. 3), pp. 92–99; hier: Hinweis S. 93–95. Der vorliegende Text basiert auf einem Workshop, der auf der Vgl. E. von der Haide: Die neuen Gartenstädte. Urbane Gärten, Tagung »Landwirtschaft jenseits von ›Wachsen oder Weichen‹« Gemeinschaftsgärten und Urban Gardening in Stadt- und Frei- gehalten wurde, die vom 26. bis 28. Juni 2015 in der Ev. Akademie raumplanung. Internationale Best Practice Beispiele für kom- Hofgeismar stattfand. Die Tagung wurde vom AgrarBündnis, der munale Strategien im Umgang mit Urbanen Gärten. München Ev. Akademie Hofgeismar und der Ev. Kirche Kurhessen-Waldeck ver- 2014, S. 7. anstaltet. Sie wurde gefördert von der Landwirtschaftlichen Renten- Vgl. Bohn und Viljoen (siehe Anm. 8), S. 93 [eigene Übersetzung]. bank und der Altner-Combecher-Stiftung für Ökologie & Frieden. Siehe hierzu das Interview mit Valentin Thurn in diesem Kriti- schen Agrarbericht, S. 186–187. P. Warhurst: How we can eat our landscapes. London Mai 2012. – Anmerkungen Vgl. J. Dobson: Incredible edible Todmorden. Pamphlet (o. J.). Vgl. H.-J. Teuteberg (Hrsg.): Durchbruch zum modernen Mas- Vgl. H. Williams: Incredible edible: Guerrilla gardeners are plan- senkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität ting veg for the masses in West Yorkshire. In: The Independent im Städtewachstum des Industriezeitalters. Münster 1987, vom 16.6.2013. S. 10–13. – P. Atkins: Is it urban? The relationship between food Vgl. Warhurst (siehe Anm. 12) sowie D. Fairfax et al.: Seeding production and urban space in Britain 1800–1950. In: M. Hietala opportunity. How reappropriation of public space catalyse and T. Vahtikari (Eds.): The landscape of food: The food relati- sustainable behaviours. Paper at the Cumulus Helsinki Confe- onship of town and country in modern times. Tampere 2003, rence, May 24–26, 2012, p. 4 f. pp. 133–144; hier: S. 135–138. – C. Steel: Hungry city: How food Vgl. Dobson (siehe Anm. 12), S. 4 f. shapes our lives. London 2008, pp. 70–72. Vgl. Stierand (siehe Anm. 4), S. 172–178. Vgl. W. Mendes: Implementing social and environmental policies in cities: The case of food policy in Vancouver, Canada. In: International Journal of Urban and Regional Research 32 (2008), pp. 942–967; hier: S. 943. Dr. Philipp Stierand Vgl. K. Morgan: The new urban foodscape: Planning, politics Autor und Blogger für kommunale Ernährungs- and power. In: K. Bohn and A. Viljoen (Eds.): Second nature politik und Stadternährungsplanung. urban agriculture. Designing productive cities. New York 2014, pp. 18–23; hier: S. 19. Hausmannstr. 8, 44139 Dortmund Vgl. P. Stierand: Speiseräume. Die Ernährungswende beginnt E-Mail: ps@speiseraeume.de in der Stadt. München 2014, S. 67. www.speiseraeume.de 314
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