Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien unabhängig vom Aufenthaltstitel - Migrationspsychiatrie.de
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© mitifoto - AdobeStock.com Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien unabhängig vom Aufenthaltstitel Ein „no go“ oder „must have“ in der Prävention transgenerationaler Weitergabe psychischer Traumata M. Nitschke-Janssen Je nach Traumatisierung der geflüchteten Eltern besteht die Gefahr der transgenerationalen Weitergabe durch neurobiologische, soziale und interaktionale Übertragungsmechanismen Zusammenfassung A „no go” or „must have” in the Preven- Weltweit nehmen psychische Erkrankungen zu. Die tion of Transgenerational Transmission of zahlreichen Krisenherde, die kindgerechte Lebensbe- Psychological Trauma dingungen erschweren, tragen zu dieser Entwicklung bei. Viele Eltern entscheiden sich zur Flucht. Rund 30- Summary 50% Geflüchteter haben psychische Erkrankungen. Worldwide there is an increase in mental health dis- Je nach Traumatisierung der Eltern besteht die Ge- turbances. One of the root causes are violent conflicts fahr der transgenerationalen Weitergabe. Der Beitrag that hinder children from growing up in security. There- veranschaulicht deren Bedeutung insbesondere für fore many parents decide to flee. About 30-50% of geflüchtete Kinder, gibt einen Einblick in Behandlung refugees show mental illnesses that bear the risk for von Familien ohne Aufenthaltsstatus und reflektiert transgenerational transmission. This article reflects the psychotherapeutische Maximen im Kontext globaler special relevance of transgenerational transmission of Migrationsbewegungen. trauma and treatment of families without secured resi- dent status and discusses therapeutic guidelines in the Schlüsselwörter context of global migration Geflüchtete, Kinder, Aufenthaltstitel, transgenerational, Trauma Keywords refugees, children, resident, transgenerational, trauma Relevance of Traumatherapeutic Interven- tions for Refugee Families Regardless the Official Asylum Status 18 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen Die WHO-Sonderinitiative „psychische Neben den neurobiologischen Erkenntnis- Gesundheit“ sen zu genetischen und epigenetischen Mo- Gemäß WHO haben weltweit nur wenige dellen der transgenerationalen Weitergabe Kinder mit psychischen Gesundheitsproble- traumatischer Erfahrungen aus der jüngeren men und entsprechendem Behandlungsbe- Forschung werden seit Freud soziale und in- darf Zugang zum Versorgungssystem (Unicef, teraktionelle Übertragungsmechanismen dis- WHO 2019). Gleichzeitig steigen selbstver- kutiert. So beschrieb Bohleber (2008) transge- letzendes Verhalten, Suizide und Ängstlich- nerationale Identifizierungsprozesse, bei denen keit bei Kindern und Jugendlichen weltweit Kinder mit Fantasietätigkeit unbewusst auf das alarmierend an. Bis zu 20% der Jugendlichen elterliche Leid reagieren, das sie über Verleug- weltweit sind von mentalen Gesundheits- nungs- oder Derealisierungsprozesse der Eltern störungen betroffen. Der Suizid ist sogar wahrnehmen. Das Leid der Eltern könne sich die dritthäufigste Todesursache von 15 bis dabei über das von der Fantasietätigkeit gelei- 19-jährigen jungen Menschen weltweit. Die tete Verhalten der Kinder zeigen, das über weite psychische Gesundheit von Kindern und Ju- Strecken der psychischen Entwicklung wesent- gendlichen hat nach Auffassung von Unicef lich an den Werte- und Normvorstellungen der in globalen und nationalen Gesundheitspro- Eltern orientiert ist. Mithilfe des Begriffs „Zeit- grammen nicht den Stellenwert bekommen, tunnel“ beschrieb Kerstenberg (2018) die Be- der ihr zusteht. Seit Ende 2019 widmen sich obachtung, dass Kinder traumatisierter Eltern UNICEF und die Weltgesundheitsorganisa- in ihrer psychischen Entwicklung dort standen, tion schwerpunktmäßig diesem Themenbe- wo die Verfolgungssituation bzw. Traumatisie- reich im Rahmen der Sonderinitiative psychi- rung bei den Eltern begann, da den Eltern die sche Gesundheit. chronologische Einordnung ihrer emotionalen Extremerfahrungen nicht gelang und Erlebnis- Psychische Gesundheit von Kindern se nicht als abgeschlossen der Vergangenheit hängt eng mit der psychischen Gesund- zugeordnet werden konnten. In diesem Zusam- heit ihrer Eltern zusammen – ein trans- menhang und mit dem Auftreten emotionaler kulturelles Phänomen Irritationen suchten Kinder der traumatisierten Wenn Eltern psychisch krank sind, steigt das Generation durch Übernahme der Elternrolle Risiko ihrer Kinder auf 50%, ebenfalls psy- (Parentifizierung) den lebensgeschichtlichen chische Erkrankungen zu entwickeln (Plass- Fluss und Zusammenhalt wiederherzustellen Christel & Arlt 2020). Bereits vorgeburtlich und ihre Eltern zu entlasten. können epigenetische Modifikationen bei ei- nem Ungeborenen entstehen, beispielswei- Wenn Eltern psychisch krank sind, steigt se über Mütter, die während der Schwanger- das Risiko ihrer Kinder auf 50%, ebenfalls schaft körperliche Gewalt durch den Partner psychische Erkrankungen zu entwickeln erfuhren (Radtke et al. 2011). Man geht von einer so genannten fetalen Programmie- Studien, die mithilfe des Adult Attachment rungshypothese aus, d.h. der direkte Kontakt Interviews (AAI) die Bindungssituation der des Fetus mit der erhöhten Glukokortikoid- Eltern besonders ins Auge nahmen, ließen Konzentration der Mutter im Rahmen der die Vermutung zu, dass traumatische Erfah- erfahrenen Gewalt führt dazu, dass Tran- rungen nur dann an die nächste Generation skriptionsprozesse in der Zelle verändert und übermittelt würden, wenn sie von den Betrof- Risikoallele aktiviert werden, die eine anhal- fenen nicht verarbeitet und folglich auch nicht tende Aktivierung der stressregulierenden in die Konstruktion eines lebensgeschichtli- Hypothalamus-Hypophysen-Achse auslösen chen Sinnzusammenhangs eingebettet wer- (Brückl & Binder 2017). den könnten (Tress 1986). Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3 | 19
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen Die Frage, inwieweit sich diese in der Erkrankungen mit der Gefahr der geringeren westlichen Literatur beschriebenen Interak- Ausprägung von Resilienzfaktoren. tionsphänomene auf andere, beispielsweise gemeinschaftlich orientierte Kulturen übertra- Psychische Belastungen in Familien im gen lassen, erfordert die Hinzunahme weite- Gefolge von Krisen und Konflikten rer Forschungszweige. Die kulturvergleichen- Inwieweit Krisen und kriegerische Konflik- de Entwicklungspsychologie z.B. beschreibt, te die psychische Gesundheit von Eltern dass die psychophysischen Entwicklungs- und Elternverhalten beeinflussen, wurde voraussetzungen mit den jeweiligen biolo- in umfangreichen Untersuchungen in Sri gischen und genetischen Wurzeln bei allen Lanka und Afghanistan untersucht (Saile et Kindern verankert seien (Trommsdorff 1993). al. 2014). Der stärkste Vorhersagefaktor für Wahrnehmung, Denken, moralische Entwick- beispielsweise aggressiv-feindseliges El- lung und soziales Verhalten seien universell ternverhalten war von der Intensität post- angelegt und würden im weiteren Verlauf traumatischer Belastungssymptome des eine kulturell geprägte Strukturierung erfah- Vaters bestimmt. Ein weiterer Vorhersage- ren. Bereits 1963 konzeptionalisierte Ains- faktor lag in traumatischen elterlichen Kind- worth ihr Feinfühligkeitskonzept im Rahmen heitserfahrungen durch physische Gewalt. einer umfangreichen Studie in Uganda. Ijzen- Die Arbeitsgruppe um Hai-Yahia hatte Ähn- dorn und Sagi überprüften 1999 in ihrer groß liches für palästinensische Jugendliche he- angelegten transkulturellen Studie „Cross rausgearbeitet: Die Anzahl der politischen Cultural Patterns of attachment“ das Feinfüh- Stressoren, denen die Familie ausgesetzt ligkeits- und Bindungskonzept und kamen zu war, stellte sich als der stärkste Prädiktor für dem Schluss, dass Kinder aus allen Kulturen die Intensität physischer häuslicher Gewalt auf Stress mit erhöhtem Bindungsbedürfnis heraus (Hai-Yahia et al. 2008). Kriegserfah- reagierten, um sich zu beruhigen. Die aus rungen wirken sich über individuelle Kriegs- dem Stress resultierenden Verhaltensmuster traumatisierungen hinaus bis hinein in die waren dabei in allen Kulturen ähnlich. Neben Familien aus (Catani et al. 2008). dem universellen Phänomen des Bedürfnis- So weist Somalia, ein seit Dekaden von ses nach Bindung zur Herstellung von Sicher- Kriegen und Bürgerkriegen betroffenes Land, heit waren lediglich die Verhaltensindikatoren eine der höchsten Dichten an psychischen kulturspezifisch. Krankheiten weltweit auf (Zeier 2020). Ge- Starke Vorhersagefaktoren für aggressiv-feindseliges Elternverhal- ten sind traumatische elterliche Kindheitserfahrungen durch physi- sche Gewalt und posttraumatische Belastungen Sind Eltern aufgrund eigener psychischer mäß dem Bericht der WHO gehören zu den Belastungen in ihrem Feinfühligkeitsverhal- häufigsten Diagnosen Psychosen, bipolare ten beeinträchtigt, kann sich dies unabhängig Störungen, Depressionen und posttrauma- von kulturellen Verhaltenserwartungen auf tische Belastungsstörungen. Als ursächlich die Fähigkeit zur Stressregulation ihrer Kinder werden Armut sowie Krieg, Terror und ein auswirken. Stehen keine kompensatorischen Leben in ständiger Angst angesehen. Le- Bezugspersonen zur Verfügung, wie es insbe- bensbedingungen, die permanent existenzi- sondere bei geflüchteten Familien der Fall ist, ell bedrohlich sind, führen zu erhöhten Raten die aus ihren ursprünglichen sozialen Zusam- psychischer Störungen bei Erwachsenen mit menhängen herausgelöst sind, kommt es zu entsprechenden kumulativen Auswirkungen einer erhöhten Vulnerabilität für psychische auf ihre Kinder (Crepaldi et al 1963). 20 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen Krisen und Konflikte als Auslöser von lung der Bundespsychotherapeutenkammer Fluchtbewegungen von 2015 zeigt die Dimension traumaassozi- Langfristige existenzielle Bedrohung, Zerstö- ierter Symptome bei erwachsenen Geflüch- rung der Lebensgrundlagen sowie Verfolgung teten auf: starke emotionale Belastung durch unter Androhung oder Ausübung von Gewalt traumatische Erinnerung (75%), Vermeidung bilden die wesentlichen Gründe dafür, dass (73%) und Intrusionen (70%). Gäbel, Ruf, Menschen fliehen. Ende 2019 waren 79,5 Schauer, Odenwald und Neuner gaben 2006 Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR die Prävalenz von Belastungen von Asylsu- 2020), darunter 30-34 Mio unter 18 Jahren. chenden in Deutschland für PTSD mit 40% Kinder, die aufgrund ihrer noch nicht abge- an. Etwas neuere und größer angelegte schlossenen mentalen, kognitiven und körper- Studien zur Situation in Deutschland zeigen lichen Entwicklung besonders schutzbedürf- Punktprävalenzen für PTSD von 33,2% und tig und dadurch angewiesen auf Versorgung für Depression von 21,9% (Niklewski et al. und Sicherheit durch primäre Bezugsperson 2012). Für Kinder und Jugendliche wurden und der Gesellschaft sind, in der sie leben, nach Flucht in 50% psychologische Belas- stellen einen besonders hohen Anteil der Ge- tungssymptome beschrieben (Gavranidou flüchteten dar. Das UN Hochkommissariat für et al. 2008). Nach Ruf, Schauer und Albert Geflüchtete geht davon aus, dass Vertreibung (2010) erfülle jedes fünfte geflüchtete Kind nicht mehr nur ein kurzfristiges und vorüber- die vollen Kriterien der PTSD. Zum Vergleich: gehendes Phänomen darstellt. in Deutschland sind im Jahr 2000 lediglich 1,2% der Kinder von einer PTSD betroffen Geflüchtete in Deutschland gewesen (Essau et al. 2000). Geflüchtete Deutschland belegte im Ranking der zehn Kinder sind bis zu 20fach häufiger allein von Länder mit den meisten aufgenommenen an- Traumafolgestörungen betroffen, als Kinder, erkannten Flüchtlingen Ende 2019 den fünften die in Deutschland aufgewachsen sind. Die Platz (UNHCR 2020). Mit den stattgegebenen hohe Prävalenz psychischer Störungen unter Anträgen durch das Bundesamt für Migration geflüchteten Kindern in Deutschland weist und Flüchtlinge erreichte die Bundesrepublik auf einen entsprechenden medizinisch-psy- zuletzt eine Schutzquote von 40,1% (BAMF chotherapeutischen Versorgungsbedarf hin. 2019). Neben den 1,3 Millionen Menschen, die mittlerweile in Deutschland Schutz erhalten Behandlung geflüchteter Kinder unter haben, gibt es knapp eine halbe Million Men- Einbeziehung der Bezugspersonen schen, die ohne Schutz in Deutschland leben. Seit 2015 werden in Erstaufnahmecamps in 261.000 Menschen warten auf eine Entschei- Hamburg kinderpsychiatrisch-psychotherapeu- dung im Asylverfahren (Stand 30. Juni 2019), tische Vor-Ort-Sprechstunden angeboten. Die 202.400 abgelehnte Asylbewerbende leben diagnostischen, beratenden und therapeuti- als Geduldete in Deutschland, (Bundestags- schen Einzeltermine werden durch Elterngrup- drucksache 2019). 30% davon sind Kinder und pen ergänzt, in denen partizipativ, kultursensi- Jugendliche bis 18 Jahre. bel und sprachgemittelt zentrale Themen wie Identifikation von Belastungssymptomen bei Psychische Situation Geflüchteter und Kindern und Eltern, Etablierung einer altersge- ihrer Kinder in Deutschland rechten Alltagsstruktur in der Erstaufnahme- Studien aus den Jahren der Bosnienkriege situation, Begleitung akuter Erregungs- und konnten aufzeigen, dass Geflüchtete eine er- Angstzustände, Umgang mit Schlafstörungen höhte Vulnerabilität für die Entwicklung psy- sowie entwicklungspsychologisches Basis- chischer Erkrankungen aufweisen (Laban et wissen vermittelt werden. Die ÜbersetzerIn- al. 2004). Eine aktuellere Übersichtsdarstel- nen werden aus dem städtisch finanzierten Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3 | 21
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen SprachmittlerInnenpool rekrutiert. PatientIn- Schoß verborgen. Sie ist nicht mehr zugäng- nen, die in den Vor-Ort Sprechstunden nicht lich. Seine Gesichtszüge verändern sich. Er ausreichend versorgt werden können, werden lässt von ihr ab, der Muskeltonus erschlafft. Er in die Regelversorgung vermittelt. setzt sich zu Boden mit abwesendem Blick. Ein Beispiel: Eine iranische Familie mit Dissoziationen stellen einen wichtigen Prä- ihrem Kleinstkind diktor für das Vorliegen von Traumafolgestörun- gen dar. Das mimische und emotionale Einfrie- Die jungen Eltern kommen mit dem sehr ge- ren wirkt sich unmittelbar im Verhalten aus und pflegten A. (18 Monate alt) zur Vorstellung. wird dabei für Kinder spürbar. Insbesondere Er ist ihr erstes Kind. Er nörgele viel, sei wei- Säuglinge und Kleinkinder, die auf das „social nerlich, irgendetwas stimme mit ihm nicht. referencing“, also auf die ihre Affekte und Be- Die bisherigen Meilensteine der Entwicklung dürfnisse spiegelnde mimische und gestische seien unkompliziert verlaufen. A koenne si- Reaktion ihrer Eltern, angewiesen sind, um sich cher laufen, spreche die ersten Zweiwortsät- zu orientieren und emotional zu regulieren, re- ze auf Persisch, sei somatisch nie ernsthaft agieren gemäß der Ergebnisse der Säuglingsfor- erkrankt. Die Mutter ist engagiert, präsent schung auf das „still face“ zunächst mit einem und temperamentvoll, war im Heimatland Hyperarousal und einem angstvollen Anstieg Bankangestellte. A.s Vater bleibt leise, zu- ihrer Aktivität. Bleibt die Bezugsperson starr, rückgezogen. Kurz nach der Erstvorstellung kommt es zu einer Umkehr des Zustandes der seines Sohnes wird er bei Panikattacken Übererregung zu einem Zustand der Resignati- mit Suizidgedanken stationär hospitalisiert. on und des Einfrierens auf Seiten des Kindes. A. orientiert sich an der Mutter. Da es keine Interaktionelle und neurobiologische Mecha- zuverlässige außerhäusliche Betreuung für nismen greifen bei dieser transgenerationalen Kleinstkinder gibt, bringt die Mutter ihn in die Transmission der Dissoziation ineinander. Elterngruppe mit. Er kann sich nur kurz mit den Spielsachen beschäftigen. Sein Gesicht Einige Zeit später findet eine Einzelsitzung ist starr und angespannt, er wendet sich an als Elterngespräch statt. Die Mutter setzt die Mutter, ist dabei vorwürflich, drängend, sich zugewandt und erwartungsvoll. Eine fordernd, was die Mutter schlecht toleriert. Sprachmittlerin sitzt an der Seite der Kin- Sie reagiert gereizt, abweisend, ihr Ton wird dertherapeutin, sie übersetzt im Rhythmus hart und autoritär. Ihr Sohn greift weinerlich- von 2-3 Sätzen fließend Farsi und zurück ins wütend den WhiteBoard-Stift. Die Mutter will Deutsche. Mithilfe der lifeline lassen sich ihm den Stift entreißen, in ihrer Mimik spie- einschneidende Erfahrungen in der Biografie geln sich Wut, Zorn, Verzweiflung. Der Junge des kleinen Jungen erfassen: Im Laufe der liegt weinend und strampelnd am Boden. Die Schwangerschaft seien die iranischen Be- Gruppe reagiert verständnisvoll, alle kennen hörden auf die journalistische Tätigkeit des das. Eltern in einer Erstaufnahmeeinrichtung Vaters aufmerksam geworden. Man habe haben ihre Kinder rund um die Uhr zu betreu- zunächst eine Vorladung erhalten, schließlich en. Kinder in einer Erstaufnahmeeinrichtung seien Uniformierte im Haus der werdenden müssen ihre Eltern zu sämtlichen Terminen Eltern eingedrungen und hätten dem Vater begleiten. Die Mutter beginnt zu weinen. Un- ernsthafte Konsequenzen angekündigt. In der mittelbar steht ihr Sohn auf, seine Mimik än- folgenden Zeit habe die Mutter ständig Angst dert sich, wird besorgt- ängstlich, er tätschelt gehabt. Im 8. SSM habe man den Vater über ihre Knie, erst sanft, dann immer eindringli- mehrere Tage inhaftiert und unter Anwen- cher. Er versucht in ihr Gesicht zu schauen, dung von Gewalt verhört. die Mutter hält es mit ihren Händen auf dem 22 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3
www.asanger.de Angelika Birck Traumatisierte Flüchtlinge Wie glaubhaft sind ihre Aussagen? 4. Aufl., 164 S., 17,- E ISBN 978-3-89334-376-8 „Eine bedeutsame Hilfe für Juristen, die im Ausländerrecht tätig sind, sowie für alle Organisationen, in denen Psychologen und Medi- ziner mit Flüchtlingen arbeiten.“ (Horst E. Theis, ZAR-Rezensionen) „Wichtig für Beratungsstellen, Rechtsanwältinnen, Richterinnen und AnhörerInnen sowie alle, die mit traumatisierten Flüchtlingen zu tun haben.“ (Der Schlepper, Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein) „Verhilft zu einem besseren Verständnis der Probleme und Missverständnisse, die immer wieder zwi- schen Unterstützern und Betreuten auftreten und es liefert Argumente für die Auseinandersetzung mit Behörden und Gerichten“ (Flüchtlingsrat, Zeitschrift f. Flüchtlingspolitik in Niedersachsen) Gaby Breitenbach, Harald Requardt Psychotherapie mit entmutigten Klienten – therapeutische Herausforderungen 5. Aufl., 250 S., 29,- E, ISBN 978-3-89334-438-1 „Ein engagiertes und fachkompetentes Plädoyer für die Arbeit mit einem Klientel, das durch die Maschen des psychotherapeutischen Netzes fällt.“ (Zeitschrift für Systemische Therapie) „Empfehlenswert auch für den ganz normalen Alltag der Beratung.“ (Be- ratung aktuell) ... durch beispielhafte Schilderungen aus der Praxis gut lesbar ... insge- samt sehr praxisbezogen ... Die Autoren verstehen therapeutisches Arbei- ten nicht nur als Herausforderung an die notwendigen therapeutischen Kompetenzen, sondern auch als herausforderung an Kreativität und Hu- mor (Dr. Barbara Stosiek-ter Braak, in Sozialnet 2007) Asanger Verlag, Kröning Dr. Gerd Wenninger, Bödldorf 3, 84178 Kröning, verlag@asanger.de
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen Während der Fetalzeit unterliegt das Ge- für den Fall von Flashbacks im Rahmen der hirn zahlreichen Strukturierungs- und Entwick- Anamneseerhebung vorbesprochen – mit lungsprozessen. Neurobiologische Systeme EMDR gearbeitet. Es gelingt ihr, im dualen befinden sich in sensiblen Reifungsphasen und Fokus zu sein, in dessen Rahmen die Mut- führen bei traumabedingten Veränderungen ter die Erfahrungen aus dem Iran filmisch vor zu einer erhöhten Vulnerabilität für psychische dem inneren Auge abspielen und gleichzeitig und somatische Erkrankungen (biologische im Hier und Jetzt der therapeutischen Sit- Einbettungshypothese) sowie einer poten- zung verankert bleiben kann. Die subjektive ziell langfristig veränderten Funktionsweise. Belastung kann nach einigen Sets von SUD Verschiedene biologische Prozesse wie DNA (subjective units of distress) von 10 auf 5 ge- Methylierung an spezifischen, an der Stressre- senkt werden. gulation beteiligten s.g. Kandidatengenen wie FKBP5 & NR3C1 führen als erfahrungsabhän- Die Realerfahrung der psychischen und giger Anpassungsprozess zu einem stärkeren physischen Gewalt durch staatliche Sicher- Ansprechen auf Bedrohungsreize z.B über das heitsbehörden blieb bis zur therapeutisch Cortisol- bzw. das Glukocorticoid-Rezeptorsys- orientierten Anamneseerhebung von der tem der Hypothalamus-Hypophysen-Achse Mutter traumatisch und unverarbeitet. Es ist (4). Vor diesem theoretischen Hintergrund ist anzunehmen, dass Triggerreize zu erhöhter denkbar, dass es angesichts der existenziellen Schreckhaftigkeit und Vermeidungsverhalten Ängste der Mutter in der Schwangerschaft zu bei der Mutter auch in der Begleitung ihres Veränderungen der Stressregulationssysteme Sohnes geführt haben. Im Setting der Erst- bei ihrem Sohn im Sinne einer epigenetisch aufnahme wurde dies deutlich durch einen vermittelten transgenerationalen Weitergabe hohen subjektiven Anpassungsdruck gegen- des traumatischen Erlebens der Mutter an ihr über der Gruppe, den sie auf ihr Kind über- Kind gekommen ist. trug, und der ihr ein feinfühliges Eingehen auf ihren angestrengten Sohn erschwerte. Die Mutter habe das Baby entbunden, die Zeit sei jedoch von Angst überschattet ge- Bevor eine Weiterarbeit möglich ist, ertönt wesen. Das Haus der Familie sei von den unzufriedenes Wimmern aus dem Flur und A. staatlichen Behörden überwacht worden, re- marschiert mit seinem Papa an der Hand in gelmäßig seien Drohbriefe gekommen. In A.s den Behandlungsraum. Die Mutter – trotz der 8. Lebensmonat, der Vater sei seit einigen Ta- Sitzungsunterbrechung kurzzeitig sichtlich gen außer Haus gewesen, seien Bewaffnete entlastet – reagiert herzlich und liebevoll. Sie gekommen, hätten sich Zutritt zur Wohnung kann seinem Bedürfnis nach Aufmerksam- verschafft, die Mutter unter Androhung von keit einen Augenblick lang flexibler folgen, ihn Gewalt eingeschüchtert. Ein alkoholisierter in seiner altersangemessenen Neugier bestä- Uniformierter habe sie mit Schimpfwörtern tigen und ihre Präsenz offen auf ihn gerich- erniedrigt, von ihr Informationen über ihren tet halten. A. lächelt, und für einen Moment Mann eingefordert, sie schließlich mit dem erlebt sich die Mutter-Kind-Dyade erfüllt und Baby auf dem Arm geohrfeigt und durch den authentisch. Raum gestoßen. In der Folgezeit beklagt die Mutter weiterhin Da die Mutter zunehmend symptomatisch das fordernde, grenzenlose und gereizt- ag- reagiert (Atemfrequenz angestiegen, sie gressive Verhalten ihres Sohnes. Sie kommt schwitzt, die Stimme ist hoch und dünn, sie mit ihrem Kind zu einer Serie psychothera- greift sich mehrmals an den Hals, psychomo- peutisch orientierter Termine in die kinder- torisch angetriebenes Nesteln an den Hän- psychiatrisch-kindertherapeutische Regel- den, angstvolles Weinen) wird – wie mit ihr versorgungspraxis. A. reagiert zunächst mit Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3 | 25
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen Ablehnung, bleibt weinerlich an ihrem Bein Vaters, Erziehungsziele und Erziehungsstile und zeigt umso weniger Interesse an seiner im Iran und in Deutschland, Trennung von der Umwelt, je mehr die Mutter ihm streng und Herkunftsfamilie und Heimatkultur und damit auffordernd anordnet, zu spielen. Sie ist sicht- einhergehender Wegfall von Orientierung ge- lich unter Druck, hat eine Reihe drängender benden wichtigen Bezugspersonen für die Anliegen. A. entdeckt ein großes rot-gelbes Mutter). Ritualisiert werden Dissoziations- Auto und sagt „Maschine“ . Er lässt das Auto Stopp-Techniken und imaginative Stabilisie- erst ein kleines bisschen, schließlich mehr- rungsübungen eingeführt. Nach einer Reihe mals lustvoll mit lautem Krachen durch den von Sitzungen gelingt es der intelligenten Raum brausen und schaut sich herausfor- Mutter, sich aus von Ohnmacht, Angst und dernd-triumphierend um. Abrupt wendet sich Wut geprägten States zu lösen. In diesem die Mutter ihm mit zusammengezogenen Au- Zug stellt sie den Zusammenhang zwischen genbrauen im bekannten autoritär vorwurfs- ihrem Verhalten und den Reaktionsweisen vollen Ton zu. A. reagiert wimmernd-weiner- ihres Sohnes her. Nach einer weiteren Weile lich, zieht sich auf ihren Schoß zurück und gelingt es ihr, Raum zur Wahrnehmung der saugt rhythmisch am angebotenen Schnuller. altersgerechten und gesunden Impulse ihres Sohnes zu schaffen. Die durch Schlafstörung, Erschöpfung und Der Junge erfährt in der Therapie eine im Sin- Gedankenkreisen um die unklare Aufenthalts- ne der „Wait, Watch and Wonder“ Methode situation akzentuiert gereizt-aggressive Stim- aufmerksame und offene Begegnung. Die mungslage der faktisch alleinerziehenden Mutter wird zur Beobachterin von Verhalten Mutter schien in der gegenwärtigen heraus- und Beziehungsgestaltung ihres Sohnes. Ihr fordernden Ankommensphase im Asylland intrusives Verhalten gegenüber A. sistiert. dazu zu führen, dass die Mutter altersgerech- Es entsteht mehr Platz für ihn, den er zur tes Experimentierverhalten nicht ertrug und Betrachtung der Spielgegenstände und der ihren Sohn darin fortlaufend begrenzte. Dies zunächst misstrauisch-ablehnenden Beob- führte zwar zunächst zu Anpassungsverhal- achtung der Therapeutin nutzt. A. gestaltet ten – A. regredierte auf Säuglingsniveau auf die ersten Stunden stets nach dem gleichen Kosten eigener Entwicklungsfortschritte und Muster. Zunächst wird das Auto hervorge- vermied die Auseinandersetzung mit alters- holt unter Angabe von „Maschine, Maschi- gerechten lustvoll-aggressiven Impulsen – ne“, dann das Autotelefon, in das er hinein und zur Stabilisierung der Mutter. Die gereizt- spricht: „Papa, Alo Papa!“ . Schließlich wird die fordernden Affekte wurden vermutlich als gelb-rote Auto-Maschine gegen die Wand ge- Folge der Übertragung von Unsicherheit und fahren, laut und heftig. Während er bei den Existenzangst in der Mutter-Kind-Interaktion, vorherigen „Spiel“abläufen mit Ausnahme im provokativ-destruktiven Verhalten des Jun- der wenigen Worte nicht sprach und keinen gen offenbar. Blickkontakt aufnahm, schaut er nun beim Maltraitieren des Autos fordernd zur Mutter, Der Mutter wird zu Stundenbeginn eine die neutral interessiert bleibt. A. wendet den- begrenzte Zeit für die vielfältigen psycho- selben herausfordernden Blick der Therapeu- sozialen Themen (Unterbringung in einer tin zu, die zustimmend „stark“ oder „laut“ Gemeinschafts-Folgeunterkunft, Fragen zur A.s Handeln kommentiert. Nachdem A. es anwaltlichen Vertretung im langwierigen für eine kleine Weile genossen hat, dass er Asylverfahren, Kindergartenplatzsuche) zur „stark“ und „laut“ sein darf, wird sein Ver- Verfügung gestellt. Es werden die vielseiti- halten flexibler und experimentierfreudiger. gen kulturellen Herausforderungen reflektiert Nach einigen Stunden gibt er der Therapeutin (Einordnung der psychischen Erkrankung des den Telefonhörer und fordert sie auf, auch mit 26 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen „Papa“ zu sprechen. Nach einigen weiteren trisch-psychotherapeutischen Versorgungs- Stunden lässt A. von seinem Anfangsritual ab system für geflüchtete Kinder aufgrund und wendet sich neugieriger anderen Gegen- mehrerer Faktoren deutlich erschwert: ständen zu. Dabei geht er dazu über, Spielsa- fehlende Kenntnisse über psychotherapeu- chen zu zeigen, das Wort dazu anzuhören und tische Versorgungsmöglichkeiten, Sprach- es nachzusprechen. Die Mutter kann mittler- barriere, Depressionen und Erschöpfungszu- weile auf seine Spielangebote eingehen, vor- stände bei Eltern vor allem mehrerer kleiner mals als provokativ empfundene Sequenzen Kinder, aufenthaltsrechtliche Anforderungen, übergehen und zu liebevoller, wohlwollender zum Teil lange Wege zu TherapeutInnen. und annehmender Gelassenheit zu ihrem Aber auch auf der Seite der versorgenden Sohn finden. Nach weiteren Stunden vertieft TherapeutInnen gibt es Bedenken, ihr Ver- er sich in altersgerechtes Spiel, ohne die Mut- sorgungsangebot geflüchteten Familien zur ter oder andere anwesende Personen weiter Verfügung zu stellen. Dies gilt insbesonde- zu beachten. re für Familien mit Kindern ohne gesicher- ten Aufenthaltsstatus. Jenseits finanzieller Im Verlauf dieser Behandlung eines Mut- Limitationen von sprachmittlerbegleiteten ter-Kind-Paares ohne gesicherten Aufent- Behandlungen wird häufig davon ausgegan- haltsstatus diente der therapeutische Rah- gen, dass eine emotionale Auseinanderset- men zunächst als Container für die Affekte zung mit Erlebtem nur dann erfolgreich sein der Mutter, des Kindes und derjenigen, die im kann, wenn bei Behandlungsbeginn eine interaktionellen Geschehen zwischen Mutter langfristige und dauerhafte Aufenthaltsper- und Kind entstanden. Möglich wurde die spektive vorliegt. Ohne äußere Sicherheit Zusammenarbeit durch die Bindungssicher- kann es keine innere geben, so das traditio- heit der Mutter zur Therapeutin. Sie ließ sie nelle Credo der Psychologie. ungeachtet kultureller oder sprachlicher Bar- rieren an ihrem Ringen um eine gelingende Für geflüchtete Kinder ist der Zugang Mutterschaft, an ihren Ängsten bezogen auf zum psychiatrisch-psychotherapeutischen die Integrationsanforderungen einschließlich Versorgungssystem deutlich erschwert des Asylprozesses und ihren unmittelbaren posttraumatischen Belastungssymptomen Damit machen Ärzte und Therapeuten ihr teilhaben. Damit wurde die Therapeutin für Behandlungsangebot abhängig von der staatli- die Mutter-Kind-Dyade in den therapeuti- chen Asyl- und Migrationspolitik. Die Nähe zum schen Sitzungen zu einem sicheren und im Patienten und die psychiatrisch-psychothera- Alltagsgeschehen zu einem strukturierenden peutische Facheinschätzung von Symptomen äußeren Rahmen, innerhalb dessen die inte- und Störungsbildern und deren Behandlungs- grierende Exposition traumatischen Erlebens notwendigkeit drohen aus dem zentralen Fo- von Mutter und Kind stattfinden, die Regulati- kus zu geraten. Dabei besteht bei geflüchte- on schwieriger Affektzustände geübt und da- ten Familien ohne gesicherten Aufenthalt ein mit sukzessive das insofern verstrickte Inter- doppelter Behandlungsbedarf: die Entlastung aktionsgeschehen zwischen Mutter und Kind von traumatischen Ereignissen im Heimatland entlastet werden konnte. respektive auf der Flucht einerseits sowie die fortlaufende aufreibende emotionale Regula- Behandlung geflüchteter Kinder ohne tion im Spannungsfeld von Hoffnung auf ein Aufenthaltstitel – ein „no go“? sicheres Bleiberecht und der permanent prä- Wenngleich es in Deutschland eine hohe senten Angst davor, sich erneut ohne Existenz- Dichte psychotherapeutisch arbeitender Kol- grundlage den Gefahren und Repressionen im legInnen gibt, ist der Zugang zum psychia- Heimatland konfrontiert zu sehen. Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3 | 27
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen Prävention transgenerationaler Weiter- duktion der Traumaload und die Regulierung gabe psychischer Traumata – Argumente intensiver Gefühle im Beziehungskontext, für ein „must have“ kann sich innere Sicherheit (re)etablieren. Um Kindheit mit ihren entwicklungspsycho- „Zu wenige Kinder haben Zugang zu Pro- logischen Meilensteinen in diesem schwie- grammen, die ihnen beibringen, schwierige rigen Spannungsfeld möglich zu machen, ist Gefühle zu regulieren“, dies müsse sich ändern, die Herstellung oder Aufrechterhaltung eines so der Direktor der WHO in seinem Kommuni- sicheren und feinfühligen Bindungs- und Be- qué zur neuen Sonderinitiative für psychische ziehungsrahmens – nach Möglichkeit zu den Gesundheit, mit der die Weltgesundheitsorga- primären Bezugspersonen für geflüchtete nisation bis 2023 die Grundversorgung psychi- Kinder – existenziell. Psychotherapie kann scher Erkrankungen deutlich ausweiten will. hierbei über eine Stabilisierung der Eltern in In Deutschland könnte diese Forderung auch ihren elterlichen Funktionen wirksam sein. für Kinder ohne Autenthaltstitel über folgende Dies erfordert für TherapeutInnen in Bezug Kriterien ihre Umsetzung finden: auf geflüchtete Familien ohne Aufenthalts- • Screening auf Belastungsstörungen bei El- status ggf. eine Auseinandersetzung mit der tern und Kindern im Erstaufnahmesetting inneren therapeutischen Haltung, zumal im gemäß der EU-Aufnahmerichtlinie, Gesamtkontext der vielen verunsichernden • Etablierung trauma- und kultursensibler Faktoren im Asylverfahren ebenfalls in Frage migrationspsychiatrisch-psychotherapeuti- gestellt erscheint, inwiefern Rahmenbedin- scher-psychosozialer Versorgungszentren gungen für Psychotherapie erfüllt sind. mit aufsuchender Versorgung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern im Erstauf- Psychotherapie bei geflüchteten Kindern nahmesetting mit besonderem Fokus auf kann über eine Stabilisierung der Eltern in Säuglinge, Kleinst- und Kleinkinder analog ihren elterlichen Funktionen wirksam sein zur somatischen Grundversorgung, • Überleitung besonders vulnerabler Kinder Demgegenüber steht, den Heilauftrag im und ihrer Eltern in die Regelversorgung, Allgemeinen und Faktoren psychotherapeu- • Verankerung trauma- und kultursensibler tischer Wirksamkeit im besonderen Kontext Aspekte der Migrationspsychiatrie und Mi- Geflüchteter ohne Aufenthaltssicherheit im grationspsychotherapie in die medizinisch- Blick zu behalten. Ein Element psychothera- psychotherapeutische Ausbildung, peutischer Wirksamkeit kann hier sein, äu- • flächendeckende Bereitstellung von Sprach- ßere Sicherheit auf die Herstellung von Bin- mittlerInnen für die psychotherapeutische dungssicherheit im Hier und Jetzt mit dem Arbeit mit von Traumata betroffenen oder von Elternteil oder aber ersatzweise für die Eltern transgenerationaler Weitergabe von Traumata mit dem symptomatischen Kind herunter zu bedrohten Kindern und Jugendlichen. brechen. Auf diese Weise wird das Kriterium Kampagnen und Zielformulierungen von der äußeren Sicherheit durch die erlebte Bin- WHO, UNICEF oder dem UNHCR können dungssicherheit erfüllt, die insbesondere für dabei insbesondere für den Bereich der psy- kleine Kinder bereits das wesentliche Krite- chischen Gesundheitsförderung von Kindern rium für „Sicherheit“ darstellt, nicht zuletzt auch für unsere hiesigen Gesundheitssys- deshalb, weil das Überschauen asylrechtli- teme wichtige Impulse einbringen, da sie cher Maßgaben und Konsequenzen für Kin- aus globaler und migrationspolitischer Per- der kognitiv noch nicht fassbar ist und sich im spektive frühzeitig Versorgungsbedarfe und Erleben von Unsicherheit und Angst ihrer El- Bedarfsverschiebungen erkennen und be- tern vermittelt. Gelingt mithilfe psychothera- nennen können. So appelliert Filippo Grandi, peutischer Stabilisierung der Eltern eine Re- UN Flüchtlingshochkommissar, in diesem 28 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen Gavranidou, M., Niemiec, B., Magg, B. & Rosner, R. Zusammenhang für eine grundlegend posi- (2008). Traumatische Erfahrungen, aktuelle Lebens- tivere Haltung gegenüber allen, die fliehen bedingungen im Exil und psychische Belastung – mit dem Ziel, den Betroffenen von Fluchtur- junger Flüchtlinge. Kindheit und Entwicklung, 17(4), sachen sowohl die Chance auf eine Rückkehr 224–231. Heim, C. & Binder, E.B. (2012). Current research als auch eine Hoffnung auf eine Zukunft an trends in early life stress and depression: review ihrem Zufluchtsort zu gewähren. Die Betrof- on human studies on sensitive periods, gene-envi- fenen jenseits asylrechtlicher Fragen unter ronment interactions, and epigenetics. Exp.Neurol. Nutzung verfügbarer Versorgungsspielräume 233 (1): 102-111. Kerstenberg, J. (1989). Neue Gedanken zur Transposi- darin zu unterstützen und insbesondere ge- tion. 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Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien M. Nitschke-Janssen UNHCR, 18. Juni 2020, UNHCR.org, zuletzt aufgeru- Dr. M. Nitschke-Janssen fen am 20. Juli 2020 Unicef, WHO (2019). Increase in child and adolescent Gemeinschaftspraxis für mental disorders spurs new push for action by Kinder- und Jugendpsychiatrie unicef and who, November 2019, www.unicef.org, und Psychotherapie, Zweig- zuletzt aufgerufen am 20.07.2020 stellen für transkulturelle und Van Jzendoorn, M.H. & Kroonenberg, P.M. (1988). Migrationspsychiatrie des Cross-Cultural Patterns of Attachment: A Meta-Ana- Kindes- und Jugendalters, lysis of the Strange Situation, Child Development, Maurienstrasse 15, Vol. 59, No. 1 (Feb), pp. 147-156 22305 Hamburg, Zeier, C. (2020). „Eine vernachlässigte Zeitbombe“. In: Tel 040 298 100 20, Eine Welt, Reihe des Deza Magazins für Entwick- E-Mail: nitschke-janssen@ lung und Zusammenarbeit der schweizerischen kjp-barmbek.de Eidgenossenschaft von Juni 2020 Nr.2 „Psyche und Trauma“ Seite 8ff. https://www.eine-welt.ch/ de/2020/ausgabe-2/dossier-eine-vernachlaessigte- zeitbombe, zuletzt aufgerufen am 31.07.2020 www.asanger.de Katrin Boege, Rolf Manz (Hg.) Traumatische Ereignisse in einer globalisierten Welt Interkulturelle Bewältigungsstrategien, psych. Erstbetreuung und Therapie. 172 S., 15,- E, ISBN 978-3-89334-483-3 Ob Unfälle oder Gewalt am Arbeitsplatz, ob Naturkatastrophen und Großschadensereignisse – das Thema traumatische Ereignis- se hat an Bedeutung gewonnen. In einer globalisierten Welt sind hierbei immer häufiger Menschen aus verschiedenen Kulturkrei- sen betroffen. Für Betroffene und Helfer stellen die interkulturel- len Besonderheiten eine hohe Zusatzbelastung dar. „Ein hilfreicher Denk- und Handlungsanlass für alle, die mit Menschen anderskultureller Herkunft beruflich umgehen; ein Schlüssel für eine Tür, die nicht offen steht, sondern geöffnet werden muss, mit Empathie und der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog und zur interkulturellen Kompetenz, weil wir alle in einer multikulturellen Gesellschaft leben.“(Jos Schnurer, socialnet) Asanger Verlag, Kröning Dr. Gerd Wenninger, Bödldorf 3, 84178 Kröning, verlag@asanger.de 30 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3
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