Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien unabhängig vom Aufenthaltstitel - Migrationspsychiatrie.de

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   Bedeutung traumatherapeutischer
   Versorgung geflüchteter Familien
   unabhängig vom Aufenthaltstitel
   Ein „no go“ oder „must have“ in der Prävention
   transgenerationaler Weitergabe psychischer Traumata
   M. Nitschke-Janssen

Je nach Traumatisierung der geflüchteten Eltern besteht die Gefahr
der transgenerationalen Weitergabe durch neurobiologische, soziale
und interaktionale Übertragungsmechanismen
Zusammenfassung                                             A „no go” or „must have” in the Preven-
Weltweit nehmen psychische Erkrankungen zu. Die             tion of Transgenerational Transmission of
zahlreichen Krisenherde, die kindgerechte Lebensbe-
                                                            Psychological Trauma
dingungen erschweren, tragen zu dieser Entwicklung
bei. Viele Eltern entscheiden sich zur Flucht. Rund 30-
                                                            Summary
50% Geflüchteter haben psychische Erkrankungen.
                                                            Worldwide there is an increase in mental health dis-
Je nach Traumatisierung der Eltern besteht die Ge-
                                                            turbances. One of the root causes are violent conflicts
fahr der transgenerationalen Weitergabe. Der Beitrag
                                                            that hinder children from growing up in security. There-
veranschaulicht deren Bedeutung insbesondere für
                                                            fore many parents decide to flee. About 30-50% of
geflüchtete Kinder, gibt einen Einblick in Behandlung
                                                            refugees show mental illnesses that bear the risk for
von Familien ohne Aufenthaltsstatus und reflektiert
                                                            transgenerational transmission. This article reflects the
psychotherapeutische Maximen im Kontext globaler
                                                            special relevance of transgenerational transmission of
Migrationsbewegungen.
                                                            trauma and treatment of families without secured resi-
                                                            dent status and discusses therapeutic guidelines in the
Schlüsselwörter
                                                            context of global migration
Geflüchtete, Kinder, Aufenthaltstitel, transgenerational,
Trauma
                                                            Keywords
                                                            refugees, children, resident, transgenerational, trauma
Relevance of Traumatherapeutic Interven-
tions for Refugee Families Regardless the
Official Asylum Status

18 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen   18 Jg. (2020) Heft 3
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
                                                                                       M. Nitschke-Janssen

Die WHO-Sonderinitiative „psychische                         Neben den neurobiologischen Erkenntnis-
Gesundheit“                                              sen zu genetischen und epigenetischen Mo-
Gemäß WHO haben weltweit nur wenige                      dellen der transgenerationalen Weitergabe
Kinder mit psychischen Gesundheitsproble-                traumatischer Erfahrungen aus der jüngeren
men und entsprechendem Behandlungsbe-                    Forschung werden seit Freud soziale und in-
darf Zugang zum Versorgungssystem (Unicef,               teraktionelle Übertragungsmechanismen dis-
WHO 2019). Gleichzeitig steigen selbstver-               kutiert. So beschrieb Bohleber (2008) transge-
letzendes Verhalten, Suizide und Ängstlich-              nerationale Identifizierungsprozesse, bei denen
keit bei Kindern und Jugendlichen weltweit               Kinder mit Fantasietätigkeit unbewusst auf das
alarmierend an. Bis zu 20% der Jugendlichen              elterliche Leid reagieren, das sie über Verleug-
weltweit sind von mentalen Gesundheits-                  nungs- oder Derealisierungsprozesse der Eltern
störungen betroffen. Der Suizid ist sogar                wahrnehmen. Das Leid der Eltern könne sich
die dritthäufigste Todesursache von 15 bis               dabei über das von der Fantasietätigkeit gelei-
19-jährigen jungen Menschen weltweit. Die                tete Verhalten der Kinder zeigen, das über weite
psychische Gesundheit von Kindern und Ju-                Strecken der psychischen Entwicklung wesent-
gendlichen hat nach Auffassung von Unicef                lich an den Werte- und Normvorstellungen der
in globalen und nationalen Gesundheitspro-               Eltern orientiert ist. Mithilfe des Begriffs „Zeit-
grammen nicht den Stellenwert bekommen,                  tunnel“ beschrieb Kerstenberg (2018) die Be-
der ihr zusteht. Seit Ende 2019 widmen sich              obachtung, dass Kinder traumatisierter Eltern
UNICEF und die Weltgesundheitsorganisa-                  in ihrer psychischen Entwicklung dort standen,
tion schwerpunktmäßig diesem Themenbe-                   wo die Verfolgungssituation bzw. Traumatisie-
reich im Rahmen der Sonderinitiative psychi-             rung bei den Eltern begann, da den Eltern die
sche Gesundheit.                                         chronologische Einordnung ihrer emotionalen
                                                         Extremerfahrungen nicht gelang und Erlebnis-
Psychische Gesundheit von Kindern                        se nicht als abgeschlossen der Vergangenheit
hängt eng mit der psychischen Gesund-                    zugeordnet werden konnten. In diesem Zusam-
heit ihrer Eltern zusammen – ein trans-                  menhang und mit dem Auftreten emotionaler
kulturelles Phänomen                                     Irritationen suchten Kinder der traumatisierten
Wenn Eltern psychisch krank sind, steigt das             Generation durch Übernahme der Elternrolle
Risiko ihrer Kinder auf 50%, ebenfalls psy-              (Parentifizierung) den lebensgeschichtlichen
chische Erkrankungen zu entwickeln (Plass-               Fluss und Zusammenhalt wiederherzustellen
Christel & Arlt 2020). Bereits vorgeburtlich             und ihre Eltern zu entlasten.
können epigenetische Modifikationen bei ei-
nem Ungeborenen entstehen, beispielswei-                 Wenn Eltern psychisch krank sind, steigt
se über Mütter, die während der Schwanger-               das Risiko ihrer Kinder auf 50%, ebenfalls
schaft körperliche Gewalt durch den Partner              psychische Erkrankungen zu entwickeln
erfuhren (Radtke et al. 2011). Man geht von
einer so genannten fetalen Programmie-                      Studien, die mithilfe des Adult Attachment
rungshypothese aus, d.h. der direkte Kontakt             Interviews (AAI) die Bindungssituation der
des Fetus mit der erhöhten Glukokortikoid-               Eltern besonders ins Auge nahmen, ließen
Konzentration der Mutter im Rahmen der                   die Vermutung zu, dass traumatische Erfah-
erfahrenen Gewalt führt dazu, dass Tran-                 rungen nur dann an die nächste Generation
skriptionsprozesse in der Zelle verändert und            übermittelt würden, wenn sie von den Betrof-
Risikoallele aktiviert werden, die eine anhal-           fenen nicht verarbeitet und folglich auch nicht
tende Aktivierung der stressregulierenden                in die Konstruktion eines lebensgeschichtli-
Hypothalamus-Hypophysen-Achse auslösen                   chen Sinnzusammenhangs eingebettet wer-
(Brückl & Binder 2017).                                  den könnten (Tress 1986).

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Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
M. Nitschke-Janssen

   Die Frage, inwieweit sich diese in der                   Erkrankungen mit der Gefahr der geringeren
westlichen Literatur beschriebenen Interak-                 Ausprägung von Resilienzfaktoren.
tionsphänomene auf andere, beispielsweise
gemeinschaftlich orientierte Kulturen übertra-              Psychische Belastungen in Familien im
gen lassen, erfordert die Hinzunahme weite-                 Gefolge von Krisen und Konflikten
rer Forschungszweige. Die kulturvergleichen-                Inwieweit Krisen und kriegerische Konflik-
de Entwicklungspsychologie z.B. beschreibt,                 te die psychische Gesundheit von Eltern
dass die psychophysischen Entwicklungs-                     und Elternverhalten beeinflussen, wurde
voraussetzungen mit den jeweiligen biolo-                   in umfangreichen Untersuchungen in Sri
gischen und genetischen Wurzeln bei allen                   Lanka und Afghanistan untersucht (Saile et
Kindern verankert seien (Trommsdorff 1993).                 al. 2014). Der stärkste Vorhersagefaktor für
Wahrnehmung, Denken, moralische Entwick-                    beispielsweise aggressiv-feindseliges El-
lung und soziales Verhalten seien universell                ternverhalten war von der Intensität post-
angelegt und würden im weiteren Verlauf                     traumatischer Belastungssymptome des
eine kulturell geprägte Strukturierung erfah-               Vaters bestimmt. Ein weiterer Vorhersage-
ren. Bereits 1963 konzeptionalisierte Ains-                 faktor lag in traumatischen elterlichen Kind-
worth ihr Feinfühligkeitskonzept im Rahmen                  heitserfahrungen durch physische Gewalt.
einer umfangreichen Studie in Uganda. Ijzen-                Die Arbeitsgruppe um Hai-Yahia hatte Ähn-
dorn und Sagi überprüften 1999 in ihrer groß                liches für palästinensische Jugendliche he-
angelegten transkulturellen Studie „Cross                   rausgearbeitet: Die Anzahl der politischen
Cultural Patterns of attachment“ das Feinfüh-               Stressoren, denen die Familie ausgesetzt
ligkeits- und Bindungskonzept und kamen zu                  war, stellte sich als der stärkste Prädiktor für
dem Schluss, dass Kinder aus allen Kulturen                 die Intensität physischer häuslicher Gewalt
auf Stress mit erhöhtem Bindungsbedürfnis                   heraus (Hai-Yahia et al. 2008). Kriegserfah-
reagierten, um sich zu beruhigen. Die aus                   rungen wirken sich über individuelle Kriegs-
dem Stress resultierenden Verhaltensmuster                  traumatisierungen hinaus bis hinein in die
waren dabei in allen Kulturen ähnlich. Neben                Familien aus (Catani et al. 2008).
dem universellen Phänomen des Bedürfnis-                       So weist Somalia, ein seit Dekaden von
ses nach Bindung zur Herstellung von Sicher-                Kriegen und Bürgerkriegen betroffenes Land,
heit waren lediglich die Verhaltensindikatoren              eine der höchsten Dichten an psychischen
kulturspezifisch.                                           Krankheiten weltweit auf (Zeier 2020). Ge-

       Starke Vorhersagefaktoren für aggressiv-feindseliges Elternverhal-
       ten sind traumatische elterliche Kindheitserfahrungen durch physi-
       sche Gewalt und posttraumatische Belastungen
   Sind Eltern aufgrund eigener psychischer                 mäß dem Bericht der WHO gehören zu den
Belastungen in ihrem Feinfühligkeitsverhal-                 häufigsten Diagnosen Psychosen, bipolare
ten beeinträchtigt, kann sich dies unabhängig               Störungen, Depressionen und posttrauma-
von kulturellen Verhaltenserwartungen auf                   tische Belastungsstörungen. Als ursächlich
die Fähigkeit zur Stressregulation ihrer Kinder             werden Armut sowie Krieg, Terror und ein
auswirken. Stehen keine kompensatorischen                   Leben in ständiger Angst angesehen. Le-
Bezugspersonen zur Verfügung, wie es insbe-                 bensbedingungen, die permanent existenzi-
sondere bei geflüchteten Familien der Fall ist,             ell bedrohlich sind, führen zu erhöhten Raten
die aus ihren ursprünglichen sozialen Zusam-                psychischer Störungen bei Erwachsenen mit
menhängen herausgelöst sind, kommt es zu                    entsprechenden kumulativen Auswirkungen
einer erhöhten Vulnerabilität für psychische                auf ihre Kinder (Crepaldi et al 1963).

20 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen   18 Jg. (2020) Heft 3
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
                                                                                      M. Nitschke-Janssen

Krisen und Konflikte als Auslöser von                   lung der Bundespsychotherapeutenkammer
Fluchtbewegungen                                        von 2015 zeigt die Dimension traumaassozi-
Langfristige existenzielle Bedrohung, Zerstö-           ierter Symptome bei erwachsenen Geflüch-
rung der Lebensgrundlagen sowie Verfolgung              teten auf: starke emotionale Belastung durch
unter Androhung oder Ausübung von Gewalt                traumatische Erinnerung (75%), Vermeidung
bilden die wesentlichen Gründe dafür, dass              (73%) und Intrusionen (70%). Gäbel, Ruf,
Menschen fliehen. Ende 2019 waren 79,5                  Schauer, Odenwald und Neuner gaben 2006
Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR                die Prävalenz von Belastungen von Asylsu-
2020), darunter 30-34 Mio unter 18 Jahren.              chenden in Deutschland für PTSD mit 40%
Kinder, die aufgrund ihrer noch nicht abge-             an. Etwas neuere und größer angelegte
schlossenen mentalen, kognitiven und körper-            Studien zur Situation in Deutschland zeigen
lichen Entwicklung besonders schutzbedürf-              Punktprävalenzen für PTSD von 33,2% und
tig und dadurch angewiesen auf Versorgung               für Depression von 21,9% (Niklewski et al.
und Sicherheit durch primäre Bezugsperson               2012). Für Kinder und Jugendliche wurden
und der Gesellschaft sind, in der sie leben,            nach Flucht in 50% psychologische Belas-
stellen einen besonders hohen Anteil der Ge-            tungssymptome beschrieben (Gavranidou
flüchteten dar. Das UN Hochkommissariat für             et al. 2008). Nach Ruf, Schauer und Albert
Geflüchtete geht davon aus, dass Vertreibung            (2010) erfülle jedes fünfte geflüchtete Kind
nicht mehr nur ein kurzfristiges und vorüber-           die vollen Kriterien der PTSD. Zum Vergleich:
gehendes Phänomen darstellt.                            in Deutschland sind im Jahr 2000 lediglich
                                                        1,2% der Kinder von einer PTSD betroffen
Geflüchtete in Deutschland                              gewesen (Essau et al. 2000). Geflüchtete
Deutschland belegte im Ranking der zehn                 Kinder sind bis zu 20fach häufiger allein von
Länder mit den meisten aufgenommenen an-                Traumafolgestörungen betroffen, als Kinder,
erkannten Flüchtlingen Ende 2019 den fünften            die in Deutschland aufgewachsen sind. Die
Platz (UNHCR 2020). Mit den stattgegebenen              hohe Prävalenz psychischer Störungen unter
Anträgen durch das Bundesamt für Migration              geflüchteten Kindern in Deutschland weist
und Flüchtlinge erreichte die Bundesrepublik            auf einen entsprechenden medizinisch-psy-
zuletzt eine Schutzquote von 40,1% (BAMF                chotherapeutischen Versorgungsbedarf hin.
2019). Neben den 1,3 Millionen Menschen, die
mittlerweile in Deutschland Schutz erhalten             Behandlung geflüchteter Kinder unter
haben, gibt es knapp eine halbe Million Men-            Einbeziehung der Bezugspersonen
schen, die ohne Schutz in Deutschland leben.            Seit 2015 werden in Erstaufnahmecamps in
261.000 Menschen warten auf eine Entschei-              Hamburg kinderpsychiatrisch-psychotherapeu-
dung im Asylverfahren (Stand 30. Juni 2019),            tische Vor-Ort-Sprechstunden angeboten. Die
202.400 abgelehnte Asylbewerbende leben                 diagnostischen, beratenden und therapeuti-
als Geduldete in Deutschland, (Bundestags-              schen Einzeltermine werden durch Elterngrup-
drucksache 2019). 30% davon sind Kinder und             pen ergänzt, in denen partizipativ, kultursensi-
Jugendliche bis 18 Jahre.                               bel und sprachgemittelt zentrale Themen wie
                                                        Identifikation von Belastungssymptomen bei
Psychische Situation Geflüchteter und                   Kindern und Eltern, Etablierung einer altersge-
ihrer Kinder in Deutschland                             rechten Alltagsstruktur in der Erstaufnahme-
Studien aus den Jahren der Bosnienkriege                situation, Begleitung akuter Erregungs- und
konnten aufzeigen, dass Geflüchtete eine er-            Angstzustände, Umgang mit Schlafstörungen
höhte Vulnerabilität für die Entwicklung psy-           sowie entwicklungspsychologisches Basis-
chischer Erkrankungen aufweisen (Laban et               wissen vermittelt werden. Die ÜbersetzerIn-
al. 2004). Eine aktuellere Übersichtsdarstel-           nen werden aus dem städtisch finanzierten

                    Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3   | 21
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
M. Nitschke-Janssen

SprachmittlerInnenpool rekrutiert. PatientIn-               Schoß verborgen. Sie ist nicht mehr zugäng-
nen, die in den Vor-Ort Sprechstunden nicht                 lich. Seine Gesichtszüge verändern sich. Er
ausreichend versorgt werden können, werden                  lässt von ihr ab, der Muskeltonus erschlafft. Er
in die Regelversorgung vermittelt.                          setzt sich zu Boden mit abwesendem Blick.

Ein Beispiel: Eine iranische Familie mit                       Dissoziationen stellen einen wichtigen Prä-
ihrem Kleinstkind                                           diktor für das Vorliegen von Traumafolgestörun-
                                                            gen dar. Das mimische und emotionale Einfrie-
Die jungen Eltern kommen mit dem sehr ge-                   ren wirkt sich unmittelbar im Verhalten aus und
pflegten A. (18 Monate alt) zur Vorstellung.                wird dabei für Kinder spürbar. Insbesondere
Er ist ihr erstes Kind. Er nörgele viel, sei wei-           Säuglinge und Kleinkinder, die auf das „social
nerlich, irgendetwas stimme mit ihm nicht.                  referencing“, also auf die ihre Affekte und Be-
Die bisherigen Meilensteine der Entwicklung                 dürfnisse spiegelnde mimische und gestische
seien unkompliziert verlaufen. A koenne si-                 Reaktion ihrer Eltern, angewiesen sind, um sich
cher laufen, spreche die ersten Zweiwortsät-                zu orientieren und emotional zu regulieren, re-
ze auf Persisch, sei somatisch nie ernsthaft                agieren gemäß der Ergebnisse der Säuglingsfor-
erkrankt. Die Mutter ist engagiert, präsent                 schung auf das „still face“ zunächst mit einem
und temperamentvoll, war im Heimatland                      Hyperarousal und einem angstvollen Anstieg
Bankangestellte. A.s Vater bleibt leise, zu-                ihrer Aktivität. Bleibt die Bezugsperson starr,
rückgezogen. Kurz nach der Erstvorstellung                  kommt es zu einer Umkehr des Zustandes der
seines Sohnes wird er bei Panikattacken                     Übererregung zu einem Zustand der Resignati-
mit Suizidgedanken stationär hospitalisiert.                on und des Einfrierens auf Seiten des Kindes.
A. orientiert sich an der Mutter. Da es keine               Interaktionelle und neurobiologische Mecha-
zuverlässige außerhäusliche Betreuung für                   nismen greifen bei dieser transgenerationalen
Kleinstkinder gibt, bringt die Mutter ihn in die            Transmission der Dissoziation ineinander.
Elterngruppe mit. Er kann sich nur kurz mit
den Spielsachen beschäftigen. Sein Gesicht                  Einige Zeit später findet eine Einzelsitzung
ist starr und angespannt, er wendet sich an                 als Elterngespräch statt. Die Mutter setzt
die Mutter, ist dabei vorwürflich, drängend,                sich zugewandt und erwartungsvoll. Eine
fordernd, was die Mutter schlecht toleriert.                Sprachmittlerin sitzt an der Seite der Kin-
Sie reagiert gereizt, abweisend, ihr Ton wird               dertherapeutin, sie übersetzt im Rhythmus
hart und autoritär. Ihr Sohn greift weinerlich-             von 2-3 Sätzen fließend Farsi und zurück ins
wütend den WhiteBoard-Stift. Die Mutter will                Deutsche. Mithilfe der lifeline lassen sich
ihm den Stift entreißen, in ihrer Mimik spie-               einschneidende Erfahrungen in der Biografie
geln sich Wut, Zorn, Verzweiflung. Der Junge                des kleinen Jungen erfassen: Im Laufe der
liegt weinend und strampelnd am Boden. Die                  Schwangerschaft seien die iranischen Be-
Gruppe reagiert verständnisvoll, alle kennen                hörden auf die journalistische Tätigkeit des
das. Eltern in einer Erstaufnahmeeinrichtung                Vaters aufmerksam geworden. Man habe
haben ihre Kinder rund um die Uhr zu betreu-                zunächst eine Vorladung erhalten, schließlich
en. Kinder in einer Erstaufnahmeeinrichtung                 seien Uniformierte im Haus der werdenden
müssen ihre Eltern zu sämtlichen Terminen                   Eltern eingedrungen und hätten dem Vater
begleiten. Die Mutter beginnt zu weinen. Un-                ernsthafte Konsequenzen angekündigt. In der
mittelbar steht ihr Sohn auf, seine Mimik än-               folgenden Zeit habe die Mutter ständig Angst
dert sich, wird besorgt- ängstlich, er tätschelt            gehabt. Im 8. SSM habe man den Vater über
ihre Knie, erst sanft, dann immer eindringli-               mehrere Tage inhaftiert und unter Anwen-
cher. Er versucht in ihr Gesicht zu schauen,                dung von Gewalt verhört.
die Mutter hält es mit ihren Händen auf dem

22 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen   18 Jg. (2020) Heft 3
www.asanger.de

   Angelika Birck
   Traumatisierte Flüchtlinge
   Wie glaubhaft sind ihre Aussagen? 4. Aufl., 164 S., 17,- E
   ISBN 978-3-89334-376-8

„Eine bedeutsame Hilfe für Juristen, die im Ausländerrecht tätig
sind, sowie für alle Organisationen, in denen Psychologen und Medi-
ziner mit Flüchtlingen arbeiten.“ (Horst E. Theis, ZAR-Rezensionen)
„Wichtig für Beratungsstellen, Rechtsanwältinnen, Richterinnen und
AnhörerInnen sowie alle, die mit traumatisierten Flüchtlingen zu tun
haben.“ (Der Schlepper, Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein)
„Verhilft zu einem besseren Verständnis der Probleme und Missverständnisse, die immer wieder zwi-
schen Unterstützern und Betreuten auftreten und es liefert Argumente für die Auseinandersetzung
mit Behörden und Gerichten“ (Flüchtlingsrat, Zeitschrift f. Flüchtlingspolitik in Niedersachsen)

 Gaby Breitenbach, Harald Requardt
 Psychotherapie mit entmutigten Klienten –
 therapeutische Herausforderungen
 5. Aufl., 250 S., 29,- E, ISBN 978-3-89334-438-1

„Ein engagiertes und fachkompetentes Plädoyer für die Arbeit mit einem
Klientel, das durch die Maschen des psychotherapeutischen Netzes fällt.“
(Zeitschrift für Systemische Therapie)
„Empfehlenswert auch für den ganz normalen Alltag der Beratung.“ (Be-
ratung aktuell)
... durch beispielhafte Schilderungen aus der Praxis gut lesbar ... insge-
samt sehr praxisbezogen ... Die Autoren verstehen therapeutisches Arbei-
ten nicht nur als Herausforderung an die notwendigen therapeutischen
Kompetenzen, sondern auch als herausforderung an Kreativität und Hu-
mor (Dr. Barbara Stosiek-ter Braak, in Sozialnet 2007)

                               Asanger Verlag, Kröning
   Dr. Gerd Wenninger, Bödldorf 3, 84178 Kröning, verlag@asanger.de
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
                                                                                       M. Nitschke-Janssen

   Während der Fetalzeit unterliegt das Ge-              für den Fall von Flashbacks im Rahmen der
hirn zahlreichen Strukturierungs- und Entwick-           Anamneseerhebung vorbesprochen – mit
lungsprozessen. Neurobiologische Systeme                 EMDR gearbeitet. Es gelingt ihr, im dualen
befinden sich in sensiblen Reifungsphasen und            Fokus zu sein, in dessen Rahmen die Mut-
führen bei traumabedingten Veränderungen                 ter die Erfahrungen aus dem Iran filmisch vor
zu einer erhöhten Vulnerabilität für psychische          dem inneren Auge abspielen und gleichzeitig
und somatische Erkrankungen (biologische                 im Hier und Jetzt der therapeutischen Sit-
Einbettungshypothese) sowie einer poten-                 zung verankert bleiben kann. Die subjektive
ziell langfristig veränderten Funktionsweise.            Belastung kann nach einigen Sets von SUD
Verschiedene biologische Prozesse wie DNA                (subjective units of distress) von 10 auf 5 ge-
Methylierung an spezifischen, an der Stressre-           senkt werden.
gulation beteiligten s.g. Kandidatengenen wie
FKBP5 & NR3C1 führen als erfahrungsabhän-                   Die Realerfahrung der psychischen und
giger Anpassungsprozess zu einem stärkeren               physischen Gewalt durch staatliche Sicher-
Ansprechen auf Bedrohungsreize z.B über das              heitsbehörden blieb bis zur therapeutisch
Cortisol- bzw. das Glukocorticoid-Rezeptorsys-           orientierten Anamneseerhebung von der
tem der Hypothalamus-Hypophysen-Achse                    Mutter traumatisch und unverarbeitet. Es ist
(4). Vor diesem theoretischen Hintergrund ist            anzunehmen, dass Triggerreize zu erhöhter
denkbar, dass es angesichts der existenziellen           Schreckhaftigkeit und Vermeidungsverhalten
Ängste der Mutter in der Schwangerschaft zu              bei der Mutter auch in der Begleitung ihres
Veränderungen der Stressregulationssysteme               Sohnes geführt haben. Im Setting der Erst-
bei ihrem Sohn im Sinne einer epigenetisch               aufnahme wurde dies deutlich durch einen
vermittelten transgenerationalen Weitergabe              hohen subjektiven Anpassungsdruck gegen-
des traumatischen Erlebens der Mutter an ihr             über der Gruppe, den sie auf ihr Kind über-
Kind gekommen ist.                                       trug, und der ihr ein feinfühliges Eingehen auf
                                                         ihren angestrengten Sohn erschwerte.
Die Mutter habe das Baby entbunden, die
Zeit sei jedoch von Angst überschattet ge-               Bevor eine Weiterarbeit möglich ist, ertönt
wesen. Das Haus der Familie sei von den                  unzufriedenes Wimmern aus dem Flur und A.
staatlichen Behörden überwacht worden, re-               marschiert mit seinem Papa an der Hand in
gelmäßig seien Drohbriefe gekommen. In A.s               den Behandlungsraum. Die Mutter – trotz der
8. Lebensmonat, der Vater sei seit einigen Ta-           Sitzungsunterbrechung kurzzeitig sichtlich
gen außer Haus gewesen, seien Bewaffnete                 entlastet – reagiert herzlich und liebevoll. Sie
gekommen, hätten sich Zutritt zur Wohnung                kann seinem Bedürfnis nach Aufmerksam-
verschafft, die Mutter unter Androhung von               keit einen Augenblick lang flexibler folgen, ihn
Gewalt eingeschüchtert. Ein alkoholisierter              in seiner altersangemessenen Neugier bestä-
Uniformierter habe sie mit Schimpfwörtern                tigen und ihre Präsenz offen auf ihn gerich-
erniedrigt, von ihr Informationen über ihren             tet halten. A. lächelt, und für einen Moment
Mann eingefordert, sie schließlich mit dem               erlebt sich die Mutter-Kind-Dyade erfüllt und
Baby auf dem Arm geohrfeigt und durch den                authentisch.
Raum gestoßen.                                           In der Folgezeit beklagt die Mutter weiterhin
Da die Mutter zunehmend symptomatisch                    das fordernde, grenzenlose und gereizt- ag-
reagiert (Atemfrequenz angestiegen, sie                  gressive Verhalten ihres Sohnes. Sie kommt
schwitzt, die Stimme ist hoch und dünn, sie              mit ihrem Kind zu einer Serie psychothera-
greift sich mehrmals an den Hals, psychomo-              peutisch orientierter Termine in die kinder-
torisch angetriebenes Nesteln an den Hän-                psychiatrisch-kindertherapeutische       Regel-
den, angstvolles Weinen) wird – wie mit ihr              versorgungspraxis. A. reagiert zunächst mit

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Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
M. Nitschke-Janssen

Ablehnung, bleibt weinerlich an ihrem Bein                  Vaters, Erziehungsziele und Erziehungsstile
und zeigt umso weniger Interesse an seiner                  im Iran und in Deutschland, Trennung von der
Umwelt, je mehr die Mutter ihm streng und                   Herkunftsfamilie und Heimatkultur und damit
auffordernd anordnet, zu spielen. Sie ist sicht-            einhergehender Wegfall von Orientierung ge-
lich unter Druck, hat eine Reihe drängender                 benden wichtigen Bezugspersonen für die
Anliegen. A. entdeckt ein großes rot-gelbes                 Mutter). Ritualisiert werden Dissoziations-
Auto und sagt „Maschine“   . Er lässt das Auto              Stopp-Techniken und imaginative Stabilisie-
erst ein kleines bisschen, schließlich mehr-                rungsübungen eingeführt. Nach einer Reihe
mals lustvoll mit lautem Krachen durch den                  von Sitzungen gelingt es der intelligenten
Raum brausen und schaut sich herausfor-                     Mutter, sich aus von Ohnmacht, Angst und
dernd-triumphierend um. Abrupt wendet sich                  Wut geprägten States zu lösen. In diesem
die Mutter ihm mit zusammengezogenen Au-                    Zug stellt sie den Zusammenhang zwischen
genbrauen im bekannten autoritär vorwurfs-                  ihrem Verhalten und den Reaktionsweisen
vollen Ton zu. A. reagiert wimmernd-weiner-                 ihres Sohnes her. Nach einer weiteren Weile
lich, zieht sich auf ihren Schoß zurück und                 gelingt es ihr, Raum zur Wahrnehmung der
saugt rhythmisch am angebotenen Schnuller.                  altersgerechten und gesunden Impulse ihres
                                                            Sohnes zu schaffen.
   Die durch Schlafstörung, Erschöpfung und                 Der Junge erfährt in der Therapie eine im Sin-
Gedankenkreisen um die unklare Aufenthalts-                 ne der „Wait, Watch and Wonder“ Methode
situation akzentuiert gereizt-aggressive Stim-              aufmerksame und offene Begegnung. Die
mungslage der faktisch alleinerziehenden                    Mutter wird zur Beobachterin von Verhalten
Mutter schien in der gegenwärtigen heraus-                  und Beziehungsgestaltung ihres Sohnes. Ihr
fordernden Ankommensphase im Asylland                       intrusives Verhalten gegenüber A. sistiert.
dazu zu führen, dass die Mutter altersgerech-               Es entsteht mehr Platz für ihn, den er zur
tes Experimentierverhalten nicht ertrug und                 Betrachtung der Spielgegenstände und der
ihren Sohn darin fortlaufend begrenzte. Dies                zunächst misstrauisch-ablehnenden Beob-
führte zwar zunächst zu Anpassungsverhal-                   achtung der Therapeutin nutzt. A. gestaltet
ten – A. regredierte auf Säuglingsniveau auf                die ersten Stunden stets nach dem gleichen
Kosten eigener Entwicklungsfortschritte und                 Muster. Zunächst wird das Auto hervorge-
vermied die Auseinandersetzung mit alters-                  holt unter Angabe von „Maschine, Maschi-
gerechten lustvoll-aggressiven Impulsen –                   ne“, dann das Autotelefon, in das er hinein
und zur Stabilisierung der Mutter. Die gereizt-             spricht: „Papa, Alo Papa!“ . Schließlich wird die
fordernden Affekte wurden vermutlich als                    gelb-rote Auto-Maschine gegen die Wand ge-
Folge der Übertragung von Unsicherheit und                  fahren, laut und heftig. Während er bei den
Existenzangst in der Mutter-Kind-Interaktion,               vorherigen „Spiel“abläufen mit Ausnahme
im provokativ-destruktiven Verhalten des Jun-               der wenigen Worte nicht sprach und keinen
gen offenbar.                                               Blickkontakt aufnahm, schaut er nun beim
                                                            Maltraitieren des Autos fordernd zur Mutter,
Der Mutter wird zu Stundenbeginn eine                       die neutral interessiert bleibt. A. wendet den-
begrenzte Zeit für die vielfältigen psycho-                 selben herausfordernden Blick der Therapeu-
sozialen Themen (Unterbringung in einer                     tin zu, die zustimmend „stark“ oder „laut“
Gemeinschafts-Folgeunterkunft, Fragen zur                   A.s Handeln kommentiert. Nachdem A. es
anwaltlichen Vertretung im langwierigen                     für eine kleine Weile genossen hat, dass er
Asylverfahren, Kindergartenplatzsuche) zur                  „stark“ und „laut“ sein darf, wird sein Ver-
Verfügung gestellt. Es werden die vielseiti-                halten flexibler und experimentierfreudiger.
gen kulturellen Herausforderungen reflektiert               Nach einigen Stunden gibt er der Therapeutin
(Einordnung der psychischen Erkrankung des                  den Telefonhörer und fordert sie auf, auch mit

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Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
                                                                                       M. Nitschke-Janssen

„Papa“ zu sprechen. Nach einigen weiteren                trisch-psychotherapeutischen Versorgungs-
Stunden lässt A. von seinem Anfangsritual ab             system für geflüchtete Kinder aufgrund
und wendet sich neugieriger anderen Gegen-               mehrerer Faktoren deutlich erschwert:
ständen zu. Dabei geht er dazu über, Spielsa-            fehlende Kenntnisse über psychotherapeu-
chen zu zeigen, das Wort dazu anzuhören und              tische Versorgungsmöglichkeiten, Sprach-
es nachzusprechen. Die Mutter kann mittler-              barriere, Depressionen und Erschöpfungszu-
weile auf seine Spielangebote eingehen, vor-             stände bei Eltern vor allem mehrerer kleiner
mals als provokativ empfundene Sequenzen                 Kinder, aufenthaltsrechtliche Anforderungen,
übergehen und zu liebevoller, wohlwollender              zum Teil lange Wege zu TherapeutInnen.
und annehmender Gelassenheit zu ihrem                    Aber auch auf der Seite der versorgenden
Sohn finden. Nach weiteren Stunden vertieft              TherapeutInnen gibt es Bedenken, ihr Ver-
er sich in altersgerechtes Spiel, ohne die Mut-          sorgungsangebot geflüchteten Familien zur
ter oder andere anwesende Personen weiter                Verfügung zu stellen. Dies gilt insbesonde-
zu beachten.                                             re für Familien mit Kindern ohne gesicher-
                                                         ten Aufenthaltsstatus. Jenseits finanzieller
   Im Verlauf dieser Behandlung eines Mut-               Limitationen von sprachmittlerbegleiteten
ter-Kind-Paares ohne gesicherten Aufent-                 Behandlungen wird häufig davon ausgegan-
haltsstatus diente der therapeutische Rah-               gen, dass eine emotionale Auseinanderset-
men zunächst als Container für die Affekte               zung mit Erlebtem nur dann erfolgreich sein
der Mutter, des Kindes und derjenigen, die im            kann, wenn bei Behandlungsbeginn eine
interaktionellen Geschehen zwischen Mutter               langfristige und dauerhafte Aufenthaltsper-
und Kind entstanden. Möglich wurde die                   spektive vorliegt. Ohne äußere Sicherheit
Zusammenarbeit durch die Bindungssicher-                 kann es keine innere geben, so das traditio-
heit der Mutter zur Therapeutin. Sie ließ sie            nelle Credo der Psychologie.
ungeachtet kultureller oder sprachlicher Bar-
rieren an ihrem Ringen um eine gelingende                Für geflüchtete Kinder ist der Zugang
Mutterschaft, an ihren Ängsten bezogen auf               zum psychiatrisch-psychotherapeutischen
die Integrationsanforderungen einschließlich             Versorgungssystem deutlich erschwert
des Asylprozesses und ihren unmittelbaren
posttraumatischen Belastungssymptomen                       Damit machen Ärzte und Therapeuten ihr
teilhaben. Damit wurde die Therapeutin für               Behandlungsangebot abhängig von der staatli-
die Mutter-Kind-Dyade in den therapeuti-                 chen Asyl- und Migrationspolitik. Die Nähe zum
schen Sitzungen zu einem sicheren und im                 Patienten und die psychiatrisch-psychothera-
Alltagsgeschehen zu einem strukturierenden               peutische Facheinschätzung von Symptomen
äußeren Rahmen, innerhalb dessen die inte-               und Störungsbildern und deren Behandlungs-
grierende Exposition traumatischen Erlebens              notwendigkeit drohen aus dem zentralen Fo-
von Mutter und Kind stattfinden, die Regulati-           kus zu geraten. Dabei besteht bei geflüchte-
on schwieriger Affektzustände geübt und da-              ten Familien ohne gesicherten Aufenthalt ein
mit sukzessive das insofern verstrickte Inter-           doppelter Behandlungsbedarf: die Entlastung
aktionsgeschehen zwischen Mutter und Kind                von traumatischen Ereignissen im Heimatland
entlastet werden konnte.                                 respektive auf der Flucht einerseits sowie die
                                                         fortlaufende aufreibende emotionale Regula-
Behandlung geflüchteter Kinder ohne                      tion im Spannungsfeld von Hoffnung auf ein
Aufenthaltstitel – ein „no go“?                          sicheres Bleiberecht und der permanent prä-
Wenngleich es in Deutschland eine hohe                   senten Angst davor, sich erneut ohne Existenz-
Dichte psychotherapeutisch arbeitender Kol-              grundlage den Gefahren und Repressionen im
legInnen gibt, ist der Zugang zum psychia-               Heimatland konfrontiert zu sehen.

                     Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3   | 27
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
M. Nitschke-Janssen

Prävention transgenerationaler Weiter-                      duktion der Traumaload und die Regulierung
gabe psychischer Traumata – Argumente                       intensiver Gefühle im Beziehungskontext,
für ein „must have“                                         kann sich innere Sicherheit (re)etablieren.
Um Kindheit mit ihren entwicklungspsycho-                      „Zu wenige Kinder haben Zugang zu Pro-
logischen Meilensteinen in diesem schwie-                   grammen, die ihnen beibringen, schwierige
rigen Spannungsfeld möglich zu machen, ist                  Gefühle zu regulieren“, dies müsse sich ändern,
die Herstellung oder Aufrechterhaltung eines                so der Direktor der WHO in seinem Kommuni-
sicheren und feinfühligen Bindungs- und Be-                 qué zur neuen Sonderinitiative für psychische
ziehungsrahmens – nach Möglichkeit zu den                   Gesundheit, mit der die Weltgesundheitsorga-
primären Bezugspersonen für geflüchtete                     nisation bis 2023 die Grundversorgung psychi-
Kinder – existenziell. Psychotherapie kann                  scher Erkrankungen deutlich ausweiten will.
hierbei über eine Stabilisierung der Eltern in              In Deutschland könnte diese Forderung auch
ihren elterlichen Funktionen wirksam sein.                  für Kinder ohne Autenthaltstitel über folgende
Dies erfordert für TherapeutInnen in Bezug                  Kriterien ihre Umsetzung finden:
auf geflüchtete Familien ohne Aufenthalts-                  • Screening auf Belastungsstörungen bei El-
status ggf. eine Auseinandersetzung mit der                    tern und Kindern im Erstaufnahmesetting
inneren therapeutischen Haltung, zumal im                      gemäß der EU-Aufnahmerichtlinie,
Gesamtkontext der vielen verunsichernden                    • Etablierung trauma- und kultursensibler
Faktoren im Asylverfahren ebenfalls in Frage                   migrationspsychiatrisch-psychotherapeuti-
gestellt erscheint, inwiefern Rahmenbedin-                     scher-psychosozialer Versorgungszentren
gungen für Psychotherapie erfüllt sind.                        mit aufsuchender Versorgung von Kindern,
                                                               Jugendlichen und ihren Eltern im Erstauf-
Psychotherapie bei geflüchteten Kindern                        nahmesetting mit besonderem Fokus auf
kann über eine Stabilisierung der Eltern in                    Säuglinge, Kleinst- und Kleinkinder analog
ihren elterlichen Funktionen wirksam sein                      zur somatischen Grundversorgung,
                                                            • Überleitung besonders vulnerabler Kinder
   Demgegenüber steht, den Heilauftrag im                      und ihrer Eltern in die Regelversorgung,
Allgemeinen und Faktoren psychotherapeu-                    • Verankerung trauma- und kultursensibler
tischer Wirksamkeit im besonderen Kontext                      Aspekte der Migrationspsychiatrie und Mi-
Geflüchteter ohne Aufenthaltssicherheit im                     grationspsychotherapie in die medizinisch-
Blick zu behalten. Ein Element psychothera-                    psychotherapeutische Ausbildung,
peutischer Wirksamkeit kann hier sein, äu-                  • flächendeckende Bereitstellung von Sprach-
ßere Sicherheit auf die Herstellung von Bin-                   mittlerInnen für die psychotherapeutische
dungssicherheit im Hier und Jetzt mit dem                      Arbeit mit von Traumata betroffenen oder von
Elternteil oder aber ersatzweise für die Eltern                transgenerationaler Weitergabe von Traumata
mit dem symptomatischen Kind herunter zu                       bedrohten Kindern und Jugendlichen.
brechen. Auf diese Weise wird das Kriterium                 Kampagnen und Zielformulierungen von
der äußeren Sicherheit durch die erlebte Bin-               WHO, UNICEF oder dem UNHCR können
dungssicherheit erfüllt, die insbesondere für               dabei insbesondere für den Bereich der psy-
kleine Kinder bereits das wesentliche Krite-                chischen Gesundheitsförderung von Kindern
rium für „Sicherheit“ darstellt, nicht zuletzt              auch für unsere hiesigen Gesundheitssys-
deshalb, weil das Überschauen asylrechtli-                  teme wichtige Impulse einbringen, da sie
cher Maßgaben und Konsequenzen für Kin-                     aus globaler und migrationspolitischer Per-
der kognitiv noch nicht fassbar ist und sich im             spektive frühzeitig Versorgungsbedarfe und
Erleben von Unsicherheit und Angst ihrer El-                Bedarfsverschiebungen erkennen und be-
tern vermittelt. Gelingt mithilfe psychothera-              nennen können. So appelliert Filippo Grandi,
peutischer Stabilisierung der Eltern eine Re-               UN Flüchtlingshochkommissar, in diesem

28 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen   18 Jg. (2020) Heft 3
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
                                                                                             M. Nitschke-Janssen

                                                               Gavranidou, M., Niemiec, B., Magg, B. & Rosner, R.
Zusammenhang für eine grundlegend posi-                           (2008). Traumatische Erfahrungen, aktuelle Lebens-
tivere Haltung gegenüber allen, die fliehen                       bedingungen im Exil und psychische Belastung
– mit dem Ziel, den Betroffenen von Fluchtur-                     junger Flüchtlinge. Kindheit und Entwicklung, 17(4),
sachen sowohl die Chance auf eine Rückkehr                        224–231.
                                                               Heim, C. & Binder, E.B. (2012). Current research
als auch eine Hoffnung auf eine Zukunft an                        trends in early life stress and depression: review
ihrem Zufluchtsort zu gewähren. Die Betrof-                       on human studies on sensitive periods, gene-envi-
fenen jenseits asylrechtlicher Fragen unter                       ronment interactions, and epigenetics. Exp.Neurol.
Nutzung verfügbarer Versorgungsspielräume                         233 (1): 102-111.
                                                               Kerstenberg, J. (1989). Neue Gedanken zur Transposi-
darin zu unterstützen und insbesondere ge-                        tion. Klinische, therapeutische und entwicklungsbe-
flüchtete Kinder mit Resilienz auszustatten,                      dingte Betrachtung, In: Jahrbuch der Psychoanalyse
dürfte ein kleiner und – angesichts des um-                       24 (1989),163-186.
fangreichen Wissens um die individuellen                       Laban, C.J,. Gernaat, H.B., Kompro, I.H., Schreuders,
                                                                  B.A. & De Jong, J.T. (2004). Impact of a long asy-
und gesellschaftlichen Folgen transgenerati-                      lum procedure on the prevalence of psychiatric
onal weitergegebener Kriegstraumatisierun-                        disorders in Iraqi asylum seekers in The Nether-
gen gerade in unserem Land – realisierbarer                       lands. J Nerv Ment Dis. 2004;192(12):843-851.
Beitrag der psychiatrisch-psychotherapeuti-                       doi:10.1097/01.nmd.0000146739.26187.15
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                           Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 18 Jg. (2020) Heft 3   | 29
Bedeutung traumatherapeutischer Versorgung geflüchteter Familien
M. Nitschke-Janssen

UNHCR, 18. Juni 2020, UNHCR.org, zuletzt aufgeru-                                    Dr. M. Nitschke-Janssen
  fen am 20. Juli 2020
Unicef, WHO (2019). Increase in child and adolescent                                 Gemeinschaftspraxis für
  mental disorders spurs new push for action by                                      Kinder- und Jugendpsychiatrie
  unicef and who, November 2019, www.unicef.org,                                     und Psychotherapie, Zweig-
  zuletzt aufgerufen am 20.07.2020                                                   stellen für transkulturelle und
Van Jzendoorn, M.H. & Kroonenberg, P.M. (1988).                                      Migrationspsychiatrie des
  Cross-Cultural Patterns of Attachment: A Meta-Ana-                                 Kindes- und Jugendalters,
  lysis of the Strange Situation, Child Development,                                 Maurienstrasse 15,
  Vol. 59, No. 1 (Feb), pp. 147-156                                                  22305 Hamburg,
Zeier, C. (2020). „Eine vernachlässigte Zeitbombe“. In:                              Tel 040 298 100 20,
  Eine Welt, Reihe des Deza Magazins für Entwick-                                    E-Mail: nitschke-janssen@
  lung und Zusammenarbeit der schweizerischen                                        kjp-barmbek.de
  Eidgenossenschaft von Juni 2020 Nr.2 „Psyche
  und Trauma“ Seite 8ff. https://www.eine-welt.ch/
  de/2020/ausgabe-2/dossier-eine-vernachlaessigte-
  zeitbombe, zuletzt aufgerufen am 31.07.2020

                                                                                      www.asanger.de

 Katrin Boege, Rolf Manz (Hg.)
 Traumatische Ereignisse in einer globalisierten Welt
 Interkulturelle Bewältigungsstrategien, psych. Erstbetreuung
 und Therapie. 172 S., 15,- E, ISBN 978-3-89334-483-3

Ob Unfälle oder Gewalt am Arbeitsplatz, ob Naturkatastrophen
und Großschadensereignisse – das Thema traumatische Ereignis-
se hat an Bedeutung gewonnen. In einer globalisierten Welt sind
hierbei immer häufiger Menschen aus verschiedenen Kulturkrei-
sen betroffen. Für Betroffene und Helfer stellen die interkulturel-
len Besonderheiten eine hohe Zusatzbelastung dar.

 „Ein hilfreicher Denk- und Handlungsanlass für alle, die mit Menschen anderskultureller Herkunft
 beruflich umgehen; ein Schlüssel für eine Tür, die nicht offen steht, sondern geöffnet werden muss,
 mit Empathie und der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog und zur interkulturellen Kompetenz,
 weil wir alle in einer multikulturellen Gesellschaft leben.“(Jos Schnurer, socialnet)

                                Asanger Verlag, Kröning
   Dr. Gerd Wenninger, Bödldorf 3, 84178 Kröning, verlag@asanger.de

30 | Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen   18 Jg. (2020) Heft 3
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