Behinderung & Politik - Unsichtbare Behinderungen: Fluch oder Segen? Schwerpunkt - Schweizerischen Hämophilie-Gesellschaft
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Behinderung & Politik Ausgabe 2 Mai 2017 Schwerpunkt Unsichtbare Behinderungen: Fluch oder Segen? Verbergen aus Angst vor Ausgrenzung oder offen darüber sprechen? Das sagen Betroffene.
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Inhaltsverzeichnis Editorial Gleichstellung Brechen wir das Tabu endlich!________________________________________ 3 Parkieren ist Glückssache_____________________________________________ 24 Robert Joosten Tonia von Gunten Hindernisfreiheit für Menschen mit Schwerpunkt Behinderungen – auch im Spital!_________________________________ 25 Funktionieren, wie es die Gesellschaft Simone Leuenberger erwartet, dank der 7. IVG-Revision________________________________ 4 Ursula Schaffner Bildung Keiner schaut hin______________________________________________________________ 8 «Wir müssen unsichtbare Behinderungen sichtbar Silvia Raemy machen!»__________________________________________________________________________ 28 Simone Leuenberger Wen weihe ich ein?___________________________________________________________ 9 Jörg Krucker Behindertenszene Leben mit unsichtbaren Behinderungen______________________11 Unsichtbar, deshalb inexistent_____________________________________ 30 Sophie Correvon, Isabelle Gay-Crosier und Carole Bolliger Catherine Rouvenaz Nicht sicht-, aber spürbar_____________________________________________ 14 Zwei rührige Dreissigerinnen________________________________________ 34 Christine Rüegg Suzanne Auer «Von aussen gesehen, scheint es dir gut zu gehen»_ 16 Catherine Rouvenaz Ich habe was, was du nicht siehst!______________________________ 18 Suzanne Auer Sozialpolitik Sozialpolitische Rundschau__________________________________________ 19 Catherine Rouvenaz Sanieren leicht gemacht________________________________________________ 21 Ursula Schaffner Titelbild: Unsichtbare Behinderungen haben viele Gesichter. Foto: zVg 2
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Editorial Brechen wir das Tabu endlich! psychischen oder geistigen Behinderungen von ihren Familien in Institutionen eingesperrt werden. Dort wer- den sie «schlimmer als Tiere» behandelt. Nachzulesen ist das im Artikel «Unsichtbar, deshalb inexistent» von Catherine Rouvenaz. Robert Joosten Vizepräsident AGILE.CH Die Lage in der Schweiz ist zwar nicht so dramatisch, Foto: zVg aber der berufliche und soziale Ausschluss von Men- schen mit unsichtbaren Behinderungen ist gang und Unsichtbare Behinderung sichtbar machen: Das will die gäbe. Die 7. Revision der Invalidenversicherung (die neue Nummer der Zeitschrift «Behinderung & Politik». offiziell «Weiterentwicklung der IV» heisst), die Ursula Natürlich gibt es nicht nur eine unsichtbare Behinde- Schaffner in ihrem Artikel «Funktionieren, wie es die rung, sondern eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Be- Gesellschaft erwartet, dank der 7. IVG-Revision» auf- hinderungen, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen greift, will den beruflichen Ausschluss von – vor allem sind. In dieser Ausgabe ist die Rede von Menschen, die jungen – Menschen mit psychischen Erkrankungen be- mit einer psychischen Behinderung kämpfen. Um aber auf Wiederein- leben, mit dem Asperger-Syndrom, « Der berufliche und gliederungs- und Integrationsmass- mit Narkolepsie, Hämophilie und nahmen hoffen zu dürfen, muss Schädel-Hirn-Trauma. Damit kön- soziale Ausschluss von man das Risiko eingehen, seine nen wir den Fokus auf mehrere un- Menschen mit unsicht- unsichtbare Behinderung sichtbar serer Mitgliedorganisationen rich- baren Behinderungen zu machen. Bedauerlich ist, dass es ten: auf die Gruppe für Massnah- ist gang und gäbe.» vor allem die Betroffenen und die men und Aufnahme für psychisch Gemeinschaft sind, die dieses Risi- Kranke (Graap-Association), die ko auf sich nehmen, nicht aber die Schweizerische Hämophilie-Gesellschaft (SHG), die Unternehmen, wie Ursula Schaffner am Ende ihres Ar- Schweizerische Vereinigung für hirnverletzte Menschen tikels betont. (FRAGILE Suisse) und die Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft (SNaG). Unsichtbare Behinderungen sichtbar zu machen, ist schliesslich das beste Mittel, um gegen Stigmatisierung Unsichtbare Behinderungen haben unterschiedliche und Vorurteile zu kämpfen. Die breite Öffentlichkeit, Gründe: genetische, umweltbedingte, zufällige, multi- Arbeitgeber und Politiker müssen über unsichtbare, faktorielle. Manche von ihnen begleiten die Betroffenen häufig zu wenig wahrnehmbare Behinderungen infor- von Geburt an, andere tauchen im Laufe des Lebens miert werden. Es muss etwas getan werden dafür, über auf. Weil sie nicht wahrnehmbar sind, sind sie häufig die Wirklichkeit von Menschen mit unsichtbaren Behin- verkannt und nicht anerkannt. Davon betroffene Men- derungen aufzuklären und aufzuzeigen, dass es dabei schen werden oft stigmatisiert und für Simulanten und nicht um eingebildete Behinderungen geht! Die Fach- Betrüger gehalten, was schreckliche Folgen für alle ihre leute haben ihre Rolle zu spielen, aber die direkt Betrof- Lebensbereiche hat. Unsichtbare Behinderungen sind fenen sind die Expertinnen und Experten in eigener häufig Synonym für den sozialen und beruflichen Aus- Sache. Sagt der Vizepräsident von AGILE.CH, der mit schluss, für Verarmung oder unmenschliche Behand- einer psychischen Erkrankung lebt! lung. Das ist der Fall in Indien, wo tausende Frauen mit 3
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Schwerpunkt Funktionieren, wie es die Gesellschaft erwartet, dank der 7. IVG-Revision Der Bundesrat stellt in der 7. IVG-Revision zwei Gruppen von Personen ins Zentrum: einerseits Junge mit Schwierigkeiten am Ende der Schulzeit und beim Übergang in die Ausbildung und die Zeit danach, andererseits psychisch erkrankte Personen. Beide Zielgruppen sollen dank verstärkter Unterstützung den Weg in die Arbeitswelt oder zurück an eine Arbeitsstelle finden. In der Regel sind ihre gesundheitlichen Beeinträchti- daran, das Diplom zu schaffen. Eine Arbeit in der ersten gungen oder ihre Behinderungen nicht sichtbar, doch Hälfte des Studiums hatte ihn derart gefordert, dass er sichtbar sind sie in den Statistiken der IV: Jugendliche anschliessend einen psychischen Zusammenbruch er- bis 25 Jahre und Personen mit psychischen Krankhei- litt. Seither kämpft er wiederholt mit depressiven Epi- ten, die eine IV-Rente beziehen. Ihre Anzahl nimmt nicht soden. Er kann sich oft kaum zum Lernen und zum im gleichen Mass ab, wie etwa jene von Personen mit Schreiben seiner Masterarbeit aufraffen. Bis jetzt hat Krankheiten des Bewegungsapparats. er durchgehalten, dank der Unterstützung einer Wohn- kollegin und Gesprächen mit seinen Eltern. Diese kom- Durchhalten men allerdings an ihre Grenzen. Remo (25) studiert an der ETH Zürich Maschinenbau. Er steht kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung. Während fast 30 Jahren hat die heute 50-jährige Elvira Immer wieder zweifelt er an sich selbst und glaubt nicht ihren Traumjob zur Zufriedenheit des Betriebs und in Menschen mit psychischen Erkrankungen verbergen sich aus Scham vor Verletzungen und Ausgrenzungen. Foto: zVg 4
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 gutem Einvernehmen mit ihren Kolleginnen und Kolle- sammenspiel von Schule und Berufswelt stark er- gen erfüllt. Kaum jemand in der Umgebung wusste, schwert bis verunmöglicht, wurde offenbar vergessen. dass sie mit der Diagnose Schizophrenie lebt. Sie hatte gelernt, mit der Krankheit umzugehen und nahm bei Die von den Polemikern Herabgesetzten verbergen sich Bedarf ihre Medikamente. Mit dem Älterwerden häuf- oft aus Scham vor Verletzungen und Ausgrenzungen. ten sich die krankheitsbedingten Schübe; eine Depres- Die Verhetzer nützen dies ihrerseits schamlos aus und sion und weitere gesundheitliche Einschränkungen verbreiten ihre Parolen umso dreister. kamen hinzu. Elvira konnte ihre bisherigen Leistungen immer weniger erbringen, und es kam zu Schwierigkei- Unsichtbare sprechen und zeigen sich ten am Arbeitsplatz. In einem langwierigen Prozess Storytelling ist heute in und entspricht dem Zeitgeist, musste sich Elvira schliesslich eingestehen, dass sie Themen zu personalisieren und zu individualisieren. So ihre geliebte Stelle nicht halten konnte. Das hat ihr Le- kommen seit einigen Jahren auch Menschen mit Behin- ben und ihre Identität bis ins Innerste erschüttert. derungen und Krankheiten in den Medien vermehrt selbst zu Wort und zeigen ihr Gesicht. Die Frau mit einer Weder Remo noch Elvira sah und sieht man etwas an. bipolaren Störung erzählt in der Tageszeitung, mit wel- Remo steht vor dem Eintritt ins Berufsleben, Elvira cher Anstrengung sie trotz ihrer Erkrankung den Ar- muss ihr Leben grundsätzlich neu ausrichten. Kann und beitsplatz behalten kann. Das Fernsehen zeigt einen soll die IV den beiden dabei helfen? jungen Mann an seiner Lehrstelle, die er nach einigen Anläufen trotz dürftiger Schulbildung und (noch) man- Verhetzt und stigmatisiert gelhafter Sozialkompetenz gefunden hat. Der Manager Über Jahre hinweg hat vor allem die SVP Menschen mit mit Burnout wird zum Medienhype. Behinderungen und chronischen Krankheiten verhetzt. Besonders solche mit psychischen Erkrankungen wur- OECD-Bericht löst 7. IVG-Revision aus den als ganze Gruppe diffamiert. Aber auch Junge wur- Im Jahr 2014 stellte die OECD in einem Bericht fest, den als arbeitsunwillig verschrien. Immer wieder laute- dass das Schweizer IV-System gut funktioniere. Es be- te der Vorwurf, IV-Rentenbeziehende bekämen zu viel stünden aber Mängel bei der Begleitung von Jungen und Geld und erlaubten sich auf Kosten der wirklich und von psychisch kranken Menschen. Der Bundesrat nahm hart arbeitenden Bevölkerung ein gutes Leben. Nach die Anregungen der OECD auf für die Lancierung der 7. und nach wurde diese Verunglimpfung bis weit ins bür- IVG-Revision. gerliche und sogar ins linke Lager salonfähig. Die an- dauernd wiederholte Behauptung setzte sich schliess- i lich unverrückbar als Glaubenssatz in vielen Köpfen Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und fest: Menschen mit psychischen Erkrankungen könnten Entwicklung OECD ist ein internationaler Staatenverbund, arbeiten, wenn sie nur wollten. Die Predigt der SVP der liberalen und marktwirtschaftlichen Idealen verpflich- ebnete damit den Weg zu den letzten drei IVG-Abbau- tet ist. Die Einwohner der Mitgliedländer verfügen über vorlagen. ein hohes pro-Kopf-Einkommen. Die Schweiz ist Mitglied der OECD. Dass die Gruppe von psychisch Kranken sehr heterogen ist, dass die Lebensläufe kaum linear sind, dass sich viele Menschen jahrelang mit ihren Krankheiten arran- Nicht mehr Zahlen und Leistungsabbau stehen im Zen- gieren, sie verbergen aus Angst, stigmatisiert und aus- trum der neuesten IVG-Revision, nein, die IV will sich gegrenzt zu werden und dennoch enorme Leistungen nun ausdrücklich um jene Personen kümmern, die man erbringen, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Dass mit den bisher vorhandenen beruflichen Eingliede- sich viele Unternehmen jahrelang auf Kosten der Allge- rungsmassnahmen noch nicht erreicht. Namentlich meinheit umstrukturierten und nicht mehr verwendba- werden Schulabbrecher genannt oder Junge, die ihre re Mitarbeitende der IV überliessen, wurde ausgeblen- Lehre nicht schaffen oder nach der Lehre keine feste det. Dass in vielen Kantonen und Gemeinden Schulso- Arbeitsstelle finden. Auch Personen mit psychischen zialarbeit als unnötig und zu teuer abqualifiziert wurde Erkrankungen gehören zur Zielgruppe der 7. IVG-Revi- und wird, dass der hochgelobte Kantönligeist das Zu- sion. Neuerdings wird argumentiert, dass die Erwerbs- 5
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 fähigkeit für den Erhalt und die Wiederherstellung ihrer Thema im Mittelpunkt: Wie viel will und kann jemand psychischen Gesundheit besonders wichtig sei. von seiner/ihrer Krankheit am Arbeitsplatz zeigen? Die von der IV finanzierten Instrumente sind beim (Wieder-) Deshalb sollen mit der Revision die Eingliederungs- Eingliederungsprozess hilfreich. Und es ist förderlich, massnahmen für die beiden genannten Personengrup- wenn sie zeitlich verlängert werden. Denn damit der pen ausgebaut werden. Fallen junge Personen am Ende Weg zurück zur Arbeit gelingen kann, muss genug Zeit der Schulzeit und/oder in der Lehre auf, beteiligt sich dafür gewährt werden. Es kann Jahre dauern, bis je- die IV an den Kosten für Coaches oder andere Fachper- mand seine Krankheit akzeptieren und mit ihr leben sonen, welche die Jungen begleiten. Die bestehende kann. Wichtig ist für die Job-Coach, «Ehrfurcht vor die- Früherfassung soll auf psychisch erkrankte Personen sem Prozess zu haben». Aber auch das Arbeitsumfeld ausgeweitet werden, bevor sie ihre Stelle verlieren. Sie muss unterstützt werden, also Vorgesetzte und Kolle- und ihre Vorgesetzten sollen länger begleitet und bera- ginnen. Nicht selten sind Personen mit psychischen ten werden. Und die bereits angebotenen Integrations- Erkrankungen stark auf sich selbst fokussiert und neh- massnahmen sollen in Zukunft mehrmals zugesprochen men kaum wahr, wie sich ihre Krankheit auf Arbeitskol- werden können. leginnen und Familienangehörige auswirkt. Verständnis im Umfeld kann aber erst entstehen, wenn eine Krank- Daneben wird, wie schon in der Revision 6b, die Einfüh- heit benannt wird und sichtbar werden darf. Es ist al- rung eines teilweise linearen Rentensystems vorge- lerdings ein dauernder Balanceakt, den Persönlichkeits- schlagen. Weiter soll die Liste der Geburtsgebrechen schutz in einem so heiklen Gebiet zu respektieren und überarbeitet werden. Die Behandlungskosten für die gleichzeitig genügend offen zu sein, damit Vorgesetzte auf der Liste aufgeführten Geburtsbehinderungen wer- und Kolleginnen Einfühlungsvermögen entwickeln kön- den von der IV übernommen. Die Revision soll für die nen. IV und den Bundeshaushalt «kostenneutral» sein. Das heisst: Menschen mit Behinderungen und chronischen Auch in der Institution, die junge Frauen und Männer Krankheiten bezahlen den Ausbau der Eingliederungs- mit kognitiven Beeinträchtigungen ins Arbeitsleben be- massnahmen und den Umbau der Geburtsgebrechens- gleitet, hat die Job-Coach eine zentrale Bedeutung. Sie liste mit einem Leistungsabbau in der Höhe von rund ist mit den jungen Menschen unterwegs in ein mög- einer Viertelmilliarde Franken. lichst eigenständiges Berufsleben. Dazu gehört etwa, die Wunschvorstellungen des jungen Praktikers für Ge- Was meint die Praxis? bäudeunterhalt, der Chef auf einem Gemeinde-Werkhof Im Gespräch mit zwei erfahrenen Job-Coaches wollte werden möchte, mit der Realität in Übereinstimmung AGILE.CH erfahren, ob die vorgeschlagenen Massnah- zu bringen. Oder die Job-Coach gibt in Arbeitsteams men der aktuellen IVG-Revision aus Sicht der Praxis Hinweise für personelle und räumliche Gestaltungen, sinnvoll sind und was die grössten Herausforderungen die für eine erfolgreiche Integration notwendig sind. bei der beruflichen (Wieder-)Eingliederung sind. Damit können mögliche Konflikte vor Ausbruch vermie- den werden. Ausschlaggebend ist auf jeden Fall, dass Personen mit Schizophrenie, mit bipolaren Störungen, die Beratung und Begleitung genügend lange gewährt mit Depressionen, mit somatoformen Symptomen neh- wird. Wenn die Integration schliesslich gelingt, erfüllen men die Dienste der Job-Coach einer psychiatrischen neue Kollegen, neue Kolleginnen ihre Aufgabe äusserst Klinik in Anspruch. Es sind jüngere und ältere Personen motiviert und loyal. Sie tragen in Betrieben viel bei zu beiden Geschlechts, deren Selbstbild und Leistungsfä- einer stabilen und arbeitsamen Atmosphäre. higkeit in ganz unterschiedlicher Ausprägung durch eine psychische Erkrankung erschüttert wurde. So wie zum Übereinstimmend finden beide Job-Coaches, dass es Beispiel jene von Remo und Elvira. Die Job-Coach be- in den letzten Jahren sehr viel schwieriger geworden gleitet die Klienten/Klientinnen, denn sie möchten trotz sei, Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft zu finden für gesundheitlichen Einschränkungen wieder arbeiten. Menschen, die den heutigen Leistungsanforderungen Zusammen sucht man nach Lösungen, um die durch nicht gewachsen sind. Eine wesentliche Aufgabe sehen die Krankheit bedingten Störungen am Arbeitsplatz beide darin, die Bereitschaft bei Patrons und Unterneh- einzuschränken. In fast jedem Coaching steht dabei ein men zu wecken, überhaupt Personen mit Behinderun- 6
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 gen oder Krankheiten zu begegnen. Denn wer einem Ketzerisch fragt man sich allerdings, ob beispielsweise konkreten Menschen begegne, der könne Vorurteile die Job-Coaches nicht dem Druck Vorschub leisten, der und Ängste ab- und Verständnis aufbauen. in der heutigen Arbeitswelt vorherrscht. Denn externe und vom Staat bezahlte Fachpersonen kümmern sich Beide Job-Coaches stellen fest, dass ihre Klientinnen nun um Schwierigkeiten, wenn jemand dem Leistungs- und Klienten manch angeblich gesundem Menschen druck nicht mehr gewachsen ist. Dadurch werden Pro- Anstösse geben können, gängige Leistungsbilder in Fra- bleme individualisiert, Fragen nach dem Anpassungs- ge zu stellen. Gerade Männer würden stark erschüttert, bedarf in der Arbeits- und Wirtschaftswelt stellen sich wenn sie nicht mehr so funktionieren, wie es die Ge- nicht mehr. Die Unternehmen ihrerseits können, dank sellschaft erwartet. von der öffentlichen Hand finanzierten Geschenken wie Einarbeitungszuschüssen, Begleitung der Mitarbeiten- Dem Druck begegnen den oder der Übernahme von Versicherungsprämien Sichtbar werden dürfen, auch und gerade wenn nicht durch die IV, risikofrei die Anstellung von Menschen mit (mehr) alles funktioniert, dazu kann die 7. IVG-Revision Behinderungen ausprobieren. Sie können ihr Sozialp- beitragen. Dank den erweiterten Massnahmen können restige verbessern und gewinnen im Idealfall motivier- junge Menschen mit gesundheitlichen Schwierigkeiten te und loyale Angestellte. In früheren Zeiten hiess dies: und psychisch Erkrankte neue Perspektiven gewinnen. Die Gewinne privat, die Mühsal dem Staat! Sind also So könnte Remo seinen Master in Maschinenbau ab- die Unternehmer die wahren Unsichtbaren, die ans schliessen und damit gestärkt auf Stellensuche gehen. Licht geholt und mit Pflichten versehen werden müss- Elvira ihrerseits kann zusammen mit ihrem Betrieb ihr ten? gelungenes 30-jähriges Arbeitsleben würdevoll ab- schliessen. Und sie erhält, wenn es denn sein muss, Ursula Schaffner eine IV-Rente aus der 1. und aus der 2. Säule. Bereichsleiterin Interessenvertretung und Sozialpolitik, AGILE.CH 7
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Schwerpunkt Keiner schaut hin Behindert ist nicht gleich behindert. Und «nicht sichtbar behindert» ist nicht gleich «nichtbehin- dert». Viele Behinderungen sind von aussen nicht sichtbar. Ist das ein Glück? Sind Behinderungen, die auf den ersten Blick nicht zu sehen sind, weniger schlimm? Wie lebt man mit einer «unsichtbaren Behinderung»? Bei «Behinderung» denken viele Menschen automa- Welche Erfahrungen machen Menschen mit ihren un- tisch an Menschen im Rollstuhl, an Blinde oder Men- sichtbaren Behinderungen? Inwiefern kommt es im Um- schen mit amputierten Gliedmassen, also direkt sicht- gang mit anderen zu Schwierigkeiten? Fühlen sie sich bare Einschränkungen. Aber nicht jede Behinderung ist von anderen diskriminiert oder benachteiligt? «Behin- auf den ersten Blick zu erkennen – manchmal auch derung & Politik» hat bei Betroffenen nachgefragt. Der nicht auf den zweiten. Es gibt zahlreiche Behinderun- Beitrag auf Seite 11 von FRAGILE Suisse, der Schwei- zerischen Vereinigung für Menschen mit Hirnverletzung und Angehörige, gibt Einblicke in das Leben von Men- schen mit Hirnverletzungen. Die Schweizerische Nar- kolepsie Gesellschaft (SNaG) berichtet im Artikel «Nicht sicht-, aber spürbar» auf Seite 14 über die Vor- und Nachteile unsichtbarer Behinderungen. «Von aussen gesehen, scheint es dir gut zu gehen» – drei Betroffene der Fondation Graap (Groupe d’acceuil et d’action psy- chiatrique) erzählen über ihre Erfahrungen als Menschen mit psychischen Behinderungen. Den Anfang macht die Schweizerische Hämophilie-Ge- sellschaft (SHG). Sie ist die Patientenorganisation für Autismus, Narkolepsie oder Multiple Sklerose? Ob diese junge Frau mit einer dieser unsichtbaren Behinderungen lebt, kann man Menschen mit Blutgerinnungsstörungen, wobei die be- auf den ersten Blick nicht erkennen. Foto: zVg kannteste die Hämophilie - die Bluterkrankheit - ist. gen, deren Symptome für andere erst sichtbar werden, Silvia Raemy wenn die Betroffenen ihre Angst vor Ausgrenzung über- Bereichsleiterin Kommunikation, AGILE.CH winden und dies zulassen (siehe Artikel Seite 4). Das geht von Sehbehinderungen über Organfunktionsstö- rungen bis hin zu psychischen Einschränkungen. «Nicht sichtbar behindert» ist aber nicht gleich «nichtbehin- dert». Vor allem bei nicht sichtbaren Symptomen man- gelt es häufig an Verständnis. Es kommt zu Vorurteilen und Fehleinschätzungen durch andere. Denn was nicht sichtbar ist, wird schnell auch in seiner Existenz ange- zweifelt. Für die betroffenen Personen können diese Umstände eine gehörige Herausforderung darstellen. 8
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Schwerpunkt Wen weihe ich ein? Auch wenn dank medizinischem Fortschritt vieles besser wurde: Die Behinderung bleibt da – und da- mit die Unsicherheit. Wann sag ich es? Wem sag ich es? Gedanken eines Vaters. Im Bereich «Behinderung» gibt es ganz unterschiedliche Leistungen durch herausragende Fähigkeiten auf einem Nuancen. Es gibt Menschen, denen man aufgrund einer anderen Gebiet zu kompensieren. Körperbehinderung schon von weitem ansieht, dass sie nicht sind wie der Durchschnitt. Bei anderen merkt man Medizinischer Fortschritt öffnet Türen… erst im Gespräch, dass da eine leichte kognitive Ein- Als Geschäftsleiter der Schweizerischen Hämophi- schränkung vorhanden sein könnte. Hinzu kommt, dass lie-Gesellschaft (SHG) und Vater von zwei hämophilen viele Menschen mit Behinderungen gelernt haben, sich Söhnen kenne ich vor allem den Bereich der unsicht- unserer normativen Gesellschaft anzupassen. Kürzlich baren Behinderungen. Unsichtbar – das war diese chro- berichtete die Presse über einen blinden Barkeeper, der nische Krankheit, bei der die Blutgerinnung aufgrund seine Behinderung jahrelang vor seinem Arbeitgeber eines genetischen Defekts nicht oder nur teilweise verbergen konnte. Das ist eigentlich kaum zu glauben, funktioniert, früher nicht. Bis weit in die 80er-Jahre aber er hatte offenbar gelernt, seine fehlenden visuellen konnte ein Betroffener seine Probleme nicht verste- Der junge Hämophile ohne sichtbare Behinderungen. Foto: zVg 9
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 cken. Wegen nicht optimal behandelter Einblutungen in ich verlangen, wenn ich wegen einer akuten Blutung die Gelenke, vor allem Knie, Ellenbogen und Fuss, wa- mal einen halben Tag immobil bin? Das kann teilweise ren diese häufig beschädigt und die Beweglichkeit stark eine Gratwanderung sein. Als Vater habe ich die Erfah- eingeschränkt. Dank der enormen medizinischen Ent- rung gemacht, dass es meist förderlich ist, die Krank- wicklung in den letzten 30 Jahren sind die meisten Be- heit offen anzusprechen. Früher oder später kann sie troffenen von Menschen mit sichtbaren zu Menschen nicht mehr verheimlicht werden, und dann besteht die mit unsichtbaren Behinderungen mutiert. Die Lebens- Gefahr, dass Gerüchte und Halbwahrheiten kursieren, qualität hat sich in der Folge massiv verbessert, eben- die für den Betroffenen nicht von Vorteil sind. so die Lebenserwartung. Heute fühlt sich der junge Hämophile auch nicht mehr als klassischer Mensch mit Der Balanceakt Behinderung. Ihm stehen im Leben fast alle Türen offen Ein Mensch mit unsichtbarer Behinderung muss lernen, – fast, denn Eishockey- oder Fussball-Profi zu werden, in seinem Leben situativ zu entscheiden, ob und wann bleibt weiterhin ein Traum. er sich outen will. Mit der Zeit entwickelt er dafür zwar ein Gespür, ist aber trotzdem nicht davor gefeit, den …allerdings nicht alle einen oder anderen in seinem Umfeld damit zu über- Auch bei einem Menschen mit unsichtbarer Behinde- fordern. Tendenziell stelle ich fest, dass Menschen mit rung ist nicht alles eitel Sonnenschein. Die bleibende unsichtbaren Behinderungen nicht auffallen und so chronische Krankheit holt ihn immer wieder ein, bei- normal wie möglich erscheinen wollen; ein gesellschaft- spielsweise wenn das hämophile Kind in den Kinder- licher Druck, dem man sich nur schwer entziehen kann. garten kommt. Die Eltern stehen dann vor der Frage: Je besser der Betroffene zu seiner Einschränkung ste- Informiere ich die anderen Eltern am Elternabend über hen kann, desto weniger Stress hat er damit, einer die versteckte Krankheit? Wen in der Verwandtschaft, Norm zu genügen. Denn wenn wir ehrlich sind: Auch unter den Nachbarn, in der Arbeitswelt weihe ich ein? wir so genannt «Normalen» haben unsere unsichtbaren Soll ich als Betroffener bei einer Stellenbewerbung die Behinderungen. Hämophilie erwähnen? Wann rede ich mit meiner Freun- din darüber? Wie verhalte ich mich, wenn ich merke, Jörg Krucker dass mein Umfeld mit dem Umstand nicht zurecht- Geschäftsleiter der Schweizerischen Hämophilie-Gesellschaft kommt? Wie viel Rücksichtnahme und Verständnis kann (SHG) 10
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Schwerpunkt Leben mit unsichtbaren Behinderungen Vor fünf Jahren hatte Sandra J. einen Hirnschlag. 2004 erlitt Gabriel S. einen Arbeitsunfall. Ihre Ge- meinsamkeit? Sandra J. und Gabriel S. leiden beide an den unsichtbaren Folgen. Bäckerei. Von Beruf ist sie Bäckerin-Konditorin. Zwei Tage in der Woche hütet sie drei Kinder. Trotz allen guten Willens kann sie nicht mehr zu 100% arbeiten. «Wenn meine Aufgaben körperlich anstrengend sind, bin ich schnell erschöpft und kann mich nicht mehr konzentrieren.» Sandra J. Foto: zVg Sandra J.: Panikattacken setzen ein Die Probleme zeigen sich einige Tage nach ihrem Spi- talaustritt. Panikattacken setzen ein, die sie lähmen, manchmal mehrmals pro Woche, während fast eines Jahres. Die Attacken kommen ohne Vorwarnung. «Ich Gabriel S. war extrem unruhig, konnte nicht mehr atmen und Foto: zVg glaubte, sterben zu müssen.» Sandra J. durchläuft meh- rere Therapien, aber die Attacken bleiben. Ihre Freun- Gabriel S.: fast unsichtbare Folgen dinnen und ihre Mutter unterstützen sie so gut wie Gabriel hat nur sehr wenige Folgen davongetragen. möglich. Während langer Zeit hatte er eine halbseitige Lähmung, aber heute hinkt er kaum mehr. Man sieht es fast nicht. Zwei Wochen nach ihrem Hirnschlag beginnt Sandra J. Die Behinderung, die ihm am meisten zu schaffen bereits wieder zu arbeiten. Sie ist Verantwortliche einer macht, ist, dass er noch Schwierigkeiten hat, Wörter Spielgruppe und Tagesmutter. «Ich musste das tun, deutlich zu artikulieren. Das Langzeitgedächtnis ist in- denn der Arzt hatte mich nur für zwei Wochen krank- takt. Andeutungsweise gesteht er: «Manchmal möchte geschrieben.» Im Spital hatte sie den Eindruck, dass ich, dass man meine Behinderungen sieht.» manche Ärzte sie nicht ernstnahmen. «Ich war nur eine Patientin unter vielen anderen, nichts als eine Nummer Für Gabriel sind die Blicke der Leute kein Problem – auf der Liste.» Der Hausarzt stellt fest, dass es Sandra solange er nicht spricht. Die Leute, denen er begegnet, J. nicht gut geht. «Äusserlich sah man nichts, aber in- sehen seine Behinderung nicht, weil sie unsichtbar ist. nerlich war ich ausgebrannt.» Sechs Monate nach die- «Aber wenn ich den Mund aufmache, dann behandelt sem Schicksalsschlag schickt der Care Manager der man mich als Person mit einer körperlichen Behinde- Krankenkasse die Familienmutter in eine Rehabilitati- rung. Die Leute haben so viele Vorurteile.» Er versucht, onsklinik in Deutschland. Obwohl es ihr besser geht, die Beleidigungen zu überhören, dennoch ist es wirklich halten die Panikattacken an. Es gelingt ihr jedoch, sie verletzend für ihn. Oft haben die Leute keine Zeit, seine mit Medikamenten zu kontrollieren. «Bereits zweimal Erklärungen entgegenzunehmen. «Als ich nicht spre- habe ich versucht, mit den Medikamenten aufzuhören, chen konnte, hatte ich ein Notizbuch und einen Kugel- aber die Panikattacken kehrten zurück», stellt sie fest. schreiber bei mir. Die Leute, die ich traf, hatten keine Heute arbeitet sie drei halbe Tage pro Woche in einer Zeit. Sie stellten mir eine Frage, ich nahm meinen Ku- 11
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 gelschreiber und mein Notizbuch heraus, und schon waren sie weg! Wenn ich etwas ändern könnte, dann würde ich gerne besser sprechen können.» Er fühlt sich einsam wegen seiner Sprache. Für ihn ist es schwer, auf Menschen zuzugehen, vor allem auf junge Frauen. Es ist schwierig, sich aufzubauen, wenn man jung ist und einen Unfall hatte. «Wenn ich in den Ausgang gehe, Sylvianne Imhof Zanaty verweigert mir die Security den Eintritt in die Diskothek. Foto: zVg Ich würde sagen, dass sie mich neun von zehn Mal abweisen. Vor allem, weil ich mich nicht gut ausdrücken Standpunkt von Sylvianne Imhof Zanaty, Leiterin kann.» Als er sein auf 45 km/Std. limitiertes Auto noch Begleitetes Wohnen bei FRAGILE Suisse hatte, hielt ihn die Polizei an und liess ihn ins Röhrchen blasen. «Okay, sie sagten mir, dass das ihr Job sei und Wie behandelt unser Sozialversicherungssystem dass sie alle blasen liessen. Aber es war trotzdem be- die Menschen mit Behinderungen? drückend.» Momentan verschärfen die Sozialversicherungen die Dossierbehandlung. Zum Beispiel werden die Fristen Unterstützung dank der Helpline und der regiona- verkürzt und häufiger Kontrollen durchgeführt. Zudem len Vereinigungen von FRAGILE Suisse fördert die IV die berufliche Wiedereingliederung, was Vor gut einem Jahr hat Sandra J. die Helpline von FRA- zwar gut ist, aber nicht die Realität widerspiegelt. Ein GILE Suisse kontaktiert und ihre Geschichte erzählt. Mensch, der eine Behinderung erfährt, wird im Allge- FRAGILE Suisse schickte sie zu einem Neurologen, der meinen entlassen, und sein Arbeitsplatz wird nicht er- sie untersuchte. «Er sagte mir, dass der Hirnschlag Spu- halten im Hinblick auf eine Wiedereingliederung. Er ren hinterlassen habe und dass ich gewisse Einschrän- muss also eine neue Stelle finden und beisst auf Granit. kungen davongetragen hätte.» Diese Diagnose war für Arbeitgeber sind nicht dazu verpflichtet, Menschen mit Sandra J. kein Schock, ganz im Gegenteil. «Für mich war Behinderungen einzustellen. Eine Wiedereingliede- es wichtig, das zu wissen, und es bestätigte meine Ein- rungspolitik müsste die Arbeitgeber ermutigen, den drücke.» Gemäss der Diagnose des Neurologen hätte Arbeitsplatz ihres Angestellten zu erhalten, und sie dazu Sandra J. Anspruch auf eine Invalidenrente. FRAGILE verpflichten, Menschen mit Behinderungen einzustel- Suisse unterstützt sie in ihren Anstrengungen. len. Bei Gabriel S. waren es seine Ergotherapeuten, die ihn Kann man mit unsichtbaren Folgen einfacher zu einer Selbsthilfegruppe der regionalen Vereinigung umgehen? von FRAGILE Waadt begleiteten. Am Anfang sprach er Nein, weil sie auf Unverständnis stossen. Die Betroffe- bei den Treffen nicht und verstand auch nicht immer nen gehen, sprechen und haben keine physische Be- alles, was sich dort abspielte. Als er wieder zuhause hinderung, aber sie sind zum Beispiel langsamer oder lebte, besuchte Gabriel S. weiterhin regelmässig die haben Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis. Das stösst Selbsthilfegruppe. «Es tat mir gut, die andern zu sehen, auf Unverständnis, das so weit gehen kann, dass man ich fühlte mich weniger allein.» Er bekommt eine IV-Ren- sie verdächtigt zu simulieren. Der berühmte Satz «In te und arbeitet drei Vormittage pro Woche. «Mein Vater die Ferien fahren kann er, aber arbeiten kann er nicht» setzte sich dafür ein, dass ich wieder arbeiten kann, zeigt dieses Unverständnis, welches das berufliche Um- ohne meine Rente zu verlieren.» Die Arbeit ist ihm wich- feld und die Angehörigen betrifft. Die Situation verhär- tig. «Sie ist alles, was ich habe. Wenn ich nicht arbeiten tet sich, wenn der Neurologe auf der MRT keine Verlet- würde, wüsste ich nicht, wo ich dann wäre.» zung feststellt. Dann ist es schwierig, von den Versiche- rungen die Anerkennung einer Arbeitsunfähigkeit zu erhalten und eine IV-Rente zu bekommen. Wie könnte man die Dinge verbessern? Bei einer Rückkehr an den Arbeitsplatz sollten die Be- troffenen ihren Arbeitgebern gegenüber transparent 12
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 sein. Und diese sollten von der IV gecoacht werden, wie sollten uns kontaktieren. Allzu oft informieren sich die sie mit dieser Situation umgehen. Um Missverständnis- Betroffenen und die Fachleute zu spät. Denn wir ver- se zu vermeiden, müssten die Arbeitgeber die anderen treten die Betroffenen und ihre Angehörigen. Wir be- Mitarbeitenden über die Grenzen des betroffenen Kol- gleiten sie zur IV, zu den Arbeitgebern, zu Versicherun- legen informieren und die Ursache erklären. Transpa- gen und verschiedenen spezialisierten Institutionen. renz fördert nämlich das Verständnis. Schliesslich Wir arbeiten auch mit Therapeuten, Neurologen und müsste das Arbeitscoaching, das die IV anbietet, zur Ärzten. FRAGILE Suisse leistet ferner juristische Bera- Geltung bringen, inwieweit eine berufliche Integration tung und Unterstützung. Es ist wichtig, sich immer in möglich ist. Erinnerung zu rufen, dass jede Situation speziell ist und dass es besser ist, sich so früh wie möglich zu infor- Und welchen Beitrag leistet FRAGILE Suisse? mieren. Die von einer Hirnverletzung betroffene Person und ihre Angehörigen sollten sich sofort bei FRAGILE Suisse in- Sophie Correvon, Isabelle Gay-Crosier und Carole Bolliger formieren. Auch die Fachleute (Therapeuten oder Ärzte) FRAGILE Suisse 13
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Schwerpunkt Nicht sicht-, aber spürbar Narkoleptiker werden nicht mitleidig angeschaut. Sie müssen sich auch nicht gleich outen. Dafür sind Narkoleptiker täglich mit ihrer chronischen Krankheit konfrontiert und leben oft am Rande des Existenzminimums. Wer unsere kleine Gruppe auf der Fahrt von Zürich nach den Alltag mehr oder weniger beeinflussen. So sind Olten sieht, denkt vermutlich, dass hier eine Familie eine ständige Müdigkeit oder extreme Schlafattacken unterwegs ist. Einige plaudern munter miteinander, an- vorhanden. Beim Einschlafen fällt der Narkoleptiker dere lehnen sich zurück und schliessen die Augen. Wir häufig in den REM-Schlaf, so dass er selbst bei einem sind auf dem Weg zur Generalversammlung der Schwei- Nickerchen von 10 Minuten träumt und sich beim Er- zerischen Narkolepsie Gesellschaft (SNaG). Wenn im- wachen an den Traum erinnert. Bei unerwartet starken mer möglich, reisen wir gemeinsam. So können die Emotionen kann es geschehen, dass der Körper seinen notwendigen Nickerchen entspannt im Schutz der Tonus verliert. Dann klappt der Narkoleptiker urplötzlich Gruppe gemacht werden. Wir fahren bereits in den zusammen, bleibt aber bei vollem Bewusstsein. Diese Bahnhof ein, als wir die schlafenden Mitreisenden we- Anfälle heissen Kataplexie. cken. Ein Narkoleptiker ist sofort wach. Narkolepsie zählt zu den unsichtbaren i Krankheiten Einem Narkoleptiker sieht man auf den ersten Blick Vier bis sechs Mal im Jahr finden Veranstaltungen der nichts an. Mag sein, dass er häufig etwas müde wirkt, SNaG statt. Dabei versuchen wir, die Treffen so «narki- was in unserer schnelllebigen Zeit keine Seltenheit ist. freundlich» wie möglich zu gestalten: Wir organisieren Einzig die Kataplexien fallen auf. Aber erstens weisen Zugfahrgemeinschaften, stellen Liegestühle für Nicker- nicht alle Narkoleptiker dieses Symptom auf, zweitens chen bereit und subventionieren die Anlässe – auch wenn das Fundraising, also die Mittelbeschaffung, bei unsicht- nehmen viele Medikamente dagegen, und drittens kann baren Krankheiten sehr schwierig ist. das Zusammenklappen sehr oft gut kaschiert werden. Unsichtbare Vorteile werden zu sichtbaren Kurz nach Eröffnung der Versammlung sinken die ers- Nachteilen ten Köpfe auf den Tisch. Spätestens beim Verlesen des Die Vorteile einer unsichtbaren Krankheit liegen auf der Jahresberichts schläft die Hälfte der Anwesenden. Für Hand: In der Öffentlichkeit schaut niemand mitleidig, Aussenstehende mag dies unhöflich erscheinen, aber und man muss sich nicht gleich outen. Diese Vorteile wir wissen, dass der Schlafdrang bei Untätigkeit extrem sind aber zugleich auch Nachteile. Da die Narkolepsie hoch ist. Deshalb gibt es speziell für uns eine Kaffee- eine chronische Erkrankung ist, sind die Betroffenen maschine im Sitzungssaal. Unsere Mitglieder dürfen täglich damit konfrontiert und oft auch eingeschränkt. jederzeit aufstehen und sich ein Getränk holen, denn Immer wieder tauchen Situationen auf, die sehr heraus- Abwechslung hilft. fordernd sind, selbst wenn man gelernt hat, damit zu leben. In diesen Momenten wäre es hilfreich, wenn die Was ist Narkolepsie? Mitmenschen Verständnis hätten. Doch wie soll man Narkolepsie, im Volksmund «Schlafkrankheit», ist eine auf Verständnis hoffen, wenn das Umfeld nichts von neurologische Erkrankung, welche die Schlafstruktur einer Einschränkung sieht und weiss? verändert. Das führt zu verschiedenen Symptomen, die 14
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Die meisten Narkoleptiker informieren Freunde und ren viele das Arbeitspensum, um wenigstens eine Teil- Kollegen. Wir von der SNaG empfehlen, auch die Ar- zeitstelle halten zu können. Eine fatale Entscheidung, beitgeber zu informieren, auch wenn das die Gefahr denn nach der Diagnose wird von den IV-Ämtern der birgt, dass man die Stelle nach einem positiv verlaufe- Status der letzten zwei Jahre betrachtet. Die vorange- nen Bewerbungsgespräch dann doch nicht bekommt. gangene finanzielle Einbusse durch die geringeren Stel- Erschwerend kommt hinzu, dass die Narkolepsie als lenprozente kann nicht mehr aufgefangen werden. So seltene Erkrankung in der Bevölkerung nicht sehr be- leiden Narkoleptiker nicht nur unter der Krankheit, son- kannt ist. So wird einem Betroffenen beim Versuch, dern leben finanziell oft am Rande des Existenzmini- davon zu erzählen, zuweilen sogar unterstellt, dass er mums. die Krankheit nur erfindet, um sich wichtig zu machen. Ein Lichtblick immerhin: Einzelne Mitmenschen reagie- Ein weiterer Nachteil der Narkolepsie ist, dass es bis ren meist sehr positiv, wenn die Narkolepsie erwähnt zur Diagnosestellung oft mehrere Jahre dauert. Die lan- wird – und getrauen sich dann plötzlich, auch von ihrer ge Zeit zwischen dem Auftauchen der ersten Symptome eigenen unsichtbaren Krankheit zu erzählen. bis zur Diagnose ist für viele Betroffene eine enorme Belastung. Die Leistungsfähigkeit fällt ohne sichtbare Christine Rüegg Erklärung zunehmend ab. Als Reaktion darauf reduzie- Präsidentin Schweizerische Narkolepsie Gesellschaft (SNaG) 15
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Schwerpunkt «Von aussen gesehen, scheint es dir gut zu gehen» Drei Menschen, die mit einer psychischen Behinderung leben und in einer Werkstatt von Graap in Lausanne arbeiten, beantworten die Fragen von «Behinderung & Politik». Betreut werden sie von Marie Israël, Verantwortliche der Abteilung Gemeindeentwicklung und Kommunikation. Die Beantwortung unserer Fragen erfolgte per E-Mail. Ist es eine Chance, eine Behinderung zu haben, die Die sozialen Kontakte ändern sich durch eine psychi- man nicht sieht? sche Behinderung, man wechselt den Freundeskreis. Dem ersten Anschein nach schon, weil man seine Be- Es ist aber auf jeden Fall wichtig, die Verbindung mit hinderung verstecken kann, scheinbar so ist wie «jeder- Menschen aufrechtzuerhalten, die diese Schwierigkei- mann» und wählen kann, wem man es sagt. Gleichzeitig ten nicht haben, damit man nicht nur Leute sieht, die ist es aber auch eine Falle, weil es immer schwieriger die gleichen Probleme haben. wird, über unsere Krankheit zu reden, je länger man es hinauszögert. In welchen Momenten und wie spricht man darüber? Wie sagt man, dass man eine unsichtbare oder nicht Ist es weniger schlimm, eine unsichtbare als eine sofort sichtbare Behinderung hat? Redet man im pri- sichtbare Behinderung zu haben? vaten oder familiären Kreis darüber? Wie läuft das bei Nein. Diese Frage macht keinen Sinn. Jedes Leiden ist der Arbeit? schlimm, egal ob physisch oder psychisch. Jede/-r ist frei, wann und mit wem er darüber redet. Es ist eine Frage des Vertrauens. Wenn man sich mit je- Wie lebt man mit einer unsichtbaren Behinderung? mandem gut fühlt, ist es aus Gründen der Ehrlichkeit Was sind die hauptsächlichen Schwierigkeiten? Leidet besser, es zu sagen. Es ist aber ebenso wichtig, sich man unter den Vorurteilen? Sind die sozialen Kontak- nicht nur darüber zu definieren. te schwieriger oder gar einfacher? Über psychische Erkrankungen wird es immer Vorur- In der Partnerschaft ist es schwierig, mit jemand Kran- teile geben. Insbesondere das Stereotyp der Gewalttä- kem zu leben. Sogar wenn der Partner voll guten Willens tigkeit. Psychiatrische Kliniken haben immer noch das ist, ist es für ein Paar schwer, Krisenzeiten zu erleben Image einer Freistätte für übergeschnappte Verrückte. und zu überleben. Ein anderes Vorurteil, das sich hartnäckig hält, ist das- Psychische Erkrankungen betreffen mitunter auch un- jenige der Faulheit. Von aussen gesehen, scheint es dir sere Fähigkeit, Beziehungen einzugehen. Manchmal ist gut zu gehen, weshalb die Leute denken, dass du dich es für den andern, genau wie für uns selbst, besser, gefälligst ein wenig anstrengen und arbeiten sollst. ledig zu bleiben. Als Paar zu leben, ist wirklich eine Herausforderung. Ein letztes Vorurteil, das uns sehr verbreitet erscheint, ist, dass Menschen mit psychischen Krankheiten nicht Wie läuft es mit den Sozialversicherungen? Muss man zuverlässig seien. Das kann ein Bremsklotz sein, wenn stärker beweisen, dass man eine Leistung braucht, man Arbeit finden will, aber zum Beispiel auch in Lie- oder eher weniger? besbeziehungen. Das hängt von der Situation ab. Aber trotzdem ja, man 16
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 hat den Eindruck, dass wir unser Leiden viel stichhalti- Betreuung dieser Wiedereingliederung müssen indivi- ger beweisen müssen. Es braucht greifbare Beweise, duell gestaltet werden. was aber für psychische Erkrankungen per definitionem viel schwieriger ist. Was bräuchte es, um eine Änderung zu erreichen? Die Medien müssen weiterhin sensibilisiert werden, Wie schätzen Sie die 7. IVG-Revision ein, bei der ei- damit sie anders über psychische Erkrankungen berich- nes der wichtigsten Ziele ist, Menschen mit psychi- ten. Schon in den Schulen muss über geistige Gesund- schen Einschränkungen wieder in die Arbeitswelt ein- heit informiert werden. Auf das Sozialversicherungssys- zugliedern? tem muss Druck ausgeübt werden. Die Arbeitsbedin- Wir kennen den Text der 7. IVG-Revision nicht genau, gungen müssen verbessert werden, damit die Menschen aber die Förderung der Wiedereingliederung in die Ar- nicht krank werden. Die Betreuung von Menschen mit beitswelt ist eine gute Sache. Abgesehen davon hängt Burnout muss verbessert werden, um Rückfälle zu ver- alles davon ab, wie diese Wiedereingliederung gefördert meiden. werden soll, in welchem Tempo, mit welchen Mitteln usw. Eine längerfristige Betreuung wäre vielleicht gut, Catherine Rouvenaz um eventuellen Rückfällen vorzubeugen und die Wie- Secrétaire romande, AGILE.CH dereingliederung dauerhaft zu machen. Begleitung und 17
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Schwerpunkt Ich habe was, was du nicht siehst! Unsichtbare Behinderungen können eine grosse Belastung sein. Körperliche Einschränkungen sind — vermeintlich? — leichter einzuordnen. Menschen mit unsichtbaren Behinderungen haben jedenfalls einen harten Kampf zu führen gegen Vorurteile und vorgefasste Meinungen. Ein Kommentar. Ist es denn kein Glück, wenn man einem Menschen de Kuh! Hast du keine Augen im Kopf?» Doch, habe ich, seine Behinderungen nicht auf den ersten Blick an- aber halt eben leicht beschädigte. sieht? Nein, ist es nicht. Sind Behinderungen, die nicht auf Anhieb zu sehen sind, denn nicht weniger schlimm? Viele Mitmenschen reagieren mit voreiligen Schlüssen Nochmals nein, sind sie nicht. und fällen vorschnelle Urteile, wenn sich jemand nicht so verhält, wie man es von ihm erwartet. Und seien Sie Fakt ist, dass Behinderungen, die nicht offensichtlich ehrlich, liebe Leserin, lieber Leser: Wie reagieren Sie, sind, nicht ernst genommen werden. Vom Umfeld nicht wenn Ihr Arbeitskollege, dem man seine Behinderung und, was noch schlimmer ist, auch von vielen Ärzten nicht ansieht, müde und unkonzentriert ist und weniger und medizinischem Personal nicht. Auch über die ge- leistet? Kommt Ihnen da nicht als erstes der Gedanke: sellschaftlichen und sozialen Folgen unsichtbarer Be- «Der ist faul, der simuliert.» hinderungen ist wenig bekannt. Weder richten For- schung und Lehre ihr Augenmerk darauf noch spielt das Unsichtbare Behinderungen bringen die Betroffenen Thema in Diskussionen rund um die Inklusion eine Rol- immer wieder in Erklärungsnot und in einen Verteidi- le. Und das weite Themenfeld der Hindernisfreiheit be- gungszustand. Zu sagen, was man für ein Problem hat, handelt die Bedürfnisse der Menschen mit unsichtba- braucht Mut. Courage bräuchten allerdings auch die ren Behinderungen bisher kaum. Mitmenschen. Die Courage nämlich, uns Menschen mit Behinderungen anzusprechen und nachzufragen. Lieber Stattdessen sehen sich Menschen mit unsichtbaren einmal zu viel fragen, als andere mit voreiligen Bemer- Behinderungen mit Unterstellungen konfrontiert. Simu- kungen oder Handlungen verletzen! Offenheit, Rück- lanten seien sie. Und wenn sie nicht arbeiten - nicht sichtnahme, Fairness, und zwar von beiden Seiten, arbeiten können! - , werden sie als Faulenzer tituliert. heisst das Gebot. Nur so ist ein gutes Zusammenleben Mitunter müssen sie sich auch beschimpfen lassen. So möglich. wie die Schreibende, die einen Gesichtsfelddefekt hat. Er bewirkt, dass sie in einer Menschenmenge nicht se- Suzanne Auer hen kann, wenn jemand dicht neben ihr geht. Das führt Zentralsekretärin, AGILE.CH mitunter zu Zusammenstössen oder Rempeleien. «Blö- 18
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Sozialpolitik Sozialpolitische Rundschau Bundesfinanzen: Die Verbilligungen für Kranken- Während die Ausgaben der AHV die Einnahmen um kassenprämien werden nicht (sofort) untergraben CHF 766 Mio. überstiegen, kann sie diesen Verlust mit In der Frühjahrssession haben die beiden Eidgenössi- dem Ertrag aus den Anlagen kompensieren und einen schen Räte eine Anzahl Divergenzen zum Stabilisie- Überschuss von CHF 439 Mio. verbuchen. rungsprogramm 2017-2019 des Bundes ausgeräumt. Eine dieser Divergenzen betraf die Reduktion der Ver- Wie bei der AHV führten auch bei der EO nur die Erträ- billigungen für Krankenkassenprämien, die der Bundes- ge aus den Anlagen dazu, dass schwarze Zahlen ge- rat vorgeschlagen hatte: CHF 73,5 Mio. 2018 und 77 schrieben werden konnten, da 2016 die Ausgaben in- Mio. 2019. Der Nationalrat war bereit, einer solchen folge eines Sinkens des Beitragssatzes die Einnahmen Kürzung zuzustimmen, aber erst ab Inkrafttreten des um CHF 87 Mio. überstiegen. revidierten Gesetzes über die Ergänzungsleistungen (EL), das für 2019 vorgesehen ist. Der Ständerat war Die Rechnung der IV ist demgegenüber positiv, weil die indessen der Ansicht, dass es noch zu wenig sicher sei, Anzahl bewilligter Leistungen stark unter dem Betrag ob diese Revision zustande komme, um sich darauf der eingenommenen Beiträge liegt. Der Überschuss abzustützen. Am Ende setzte sich der Ständerat durch. 2016 beträgt CHF 692 Mio. Zusammen mit weiteren Umso besser für die Versicherten, wenigstens bis zum Überschüssen in Höhe von CHF 131 Mio. erlaubt der nächsten Sparplan. In seiner Medienmitteilung vom 23. Einnahmenüberschuss der IV, ihre Schulden bei der Februar 2017, mit der er die Veröffentlichung der Rech- AHV problemlos weiter abzutragen. Das ist doch eine nung 2016 des Bundes ankündigt, schreibt der Bundes- sehr gute Nachricht. rat nämlich, dass hohe strukturelle Defizite bevorstün- den und bis spätestens 2020 neue Massnahmen zur Flexibilisierung der Renten der 2. Säule: wichtiger Budgeterleichterung nötig sein würden. Vorsichtshalber Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts werden sie schon in den Voranschlag 2018 integriert. Das Bundesverwaltungsgericht hat einen Rekurs der Pensionskasse PricewaterhouseCoopers (PwC) abge- Trotz des Jammerns und des Klagens, die das ganze wiesen. Die Vorsorgeinstitution hatte 2005 ein Flexibi- Jahr über in den Reihen der Bürgerlichen unter der Bun- lisierungssystem für die Renten der 2. Säule im über- deshauskuppel zu hören sind, ist es wichtig festzuhal- obligatorischen Bereich für alle Neurentner/-innen ten, dass die Rechnung 2016 des Bundes mit einem eingeführt. Dieses System besteht darin, dass ein Teil Überschuss von fast einer Milliarde Franken ab- der Rente von der Anlagerendite abhängig ist. Ist die schliesst. Rendite ungenügend oder negativ, könnten die Renten gesenkt werden. Ab 2017 wollte PwC dieses System Ausgleichsfonds AHV/IV/EO: himmelhochjauch- rückwirkend auch auf bereits laufende Renten ausdeh- zend und zu Tode betrübt nen. Dieser Praxis schob das Bundesverwaltungsge- Die unter dem Namen «compenswiss» zusammenge- richt einen Riegel vor, da sie gegen geltendes Recht schlossenen Anlagen der Alters- und Hinterlassenen- verstösst. Laut Bundesverwaltungsgericht ist eine Ren- versicherung (AHV), der Invalidenversicherung (IV) und tenreduktion durch eine Vorsorgeinstitution nicht zu- der Erwerbsersatzordnung (EO) haben 2016 gute Fi- lässig, solange keine Unterdeckung vorliegt. nanzresultate erzielt, dies trotz der ungünstigen Kon- junktur (Negativzinsen, Brexit, Präsidentenwahl in den USA usw.). 19
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Elektronisches Patientendossier: Herausforde- Datensicherung hat Priorität rung für die Datensicherheit Alle Schweizer Spitäler müssen innerhalb von drei Jah- Am 15. April 2017 ist das neue Bundesgesetz über das ren ein System für den Austausch von medizinischen elektronische Patientendossier (EPDG) in Kraft getre- Daten schaffen oder einem solchen beitreten. Diese ten. Das elektronische Patientendossier (EPD) hat zum Plattformen müssen die Daten zugänglich machen, sie Ziel, «die Qualität der medizinischen Behandlung zu archivieren und sichern. Hacking ist heute aber be- stärken, die Behandlungsprozesse zu verbessern, die kanntlich ein Markt, und Daten im Zusammenhang mit Patientensicherheit zu erhöhen und die Effizienz des Gesundheit sind sehr begehrt. Sie können nicht nur Gesundheitssystems zu steigern sowie die Gesund- dazu dienen, neue Produkte zu entwickeln, wie Medi- heitskompetenz der Patientinnen und Patienten zu för- kamente oder Versicherungen, sondern sie könnten dern». Es enthält Dokumente von Gesundheitsfachleu- auch Arbeitgeber interessieren. Die Sicherung dieser ten, Arzt, Apotheker oder ambulanter Krankenpflege. Daten ist deshalb eine riesige Herausforderung. Es geht Man kann seine eigenen Dokumente anfügen, wie Pa- in erster Linie um die Interessen der Patienten, und es tientenverfügungen oder Verschreibungen, die man bei bleibt zu hoffen, dass diese Herausforderung schnell Ortswechseln brauchen könnte. Ab nächstem Jahr wird gemeistert wird. Die Zeit drängt. es jedem Patienten und jeder Patientin freistehen, ein EPD zu eröffnen, über seinen Inhalt zu entscheiden und Catherine Rouvenaz über die Pflegenden, die darauf Zugriff haben. Die Ver- Secrétaire romande, AGILE.CH ordnung über das elektronische Patientendossier Quellen: SDA, La Liberté, Le Temps, La Tribune de Genève, (EPDV) regelt die Vertraulichkeitsstufen, die Zugriffs- Websites des Bundes, compenswiss, RTS, Sendung 36,9°, Die rechte sowie den Datenschutz und die Datensicherheit. Volkswirtschaft, Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz, Schweizerisches Gesundheitsobservatorium OBSAN, Tages-An- Das EPD bietet gewisse Vorteile, wie die Zentralisierung zeiger, Neue Zürcher Zeitung, Bundesamt für Statistik: Gesund- der medizinischen Daten und die Vermeidung kostspie- heit, Taschenstatistik 2016 liger medizinischer Untersuchungen, die nutzlos wie- derholt werden. Wenn ein Arzt die Übersicht über die Behandlungen eines Patienten hat, ist seine Diagnose genauer und das Fehlerrisiko sinkt. 20
Behinderung & Politik Ausgabe 2 – Mai 2017 Sozialpolitik Sanieren leicht gemacht Im März hat das Parlament die Reform «Altersvorsorge 2020» verabschiedet. Der Ständerat hat im Frühling mit der Beratung der Reform des Gesetzes über die Ergänzungsleistungen (ELG) begonnen. Und im Nationalrat steht in der zweiten Hälfte 2017 die 7. IVG-Revision auf dem Programm. Die erste Säule wird also rundum renoviert. Alle drei Versicherungen der ersten Säule werden an phase mehr sparen und bekommt später – hoffentlich neue Gegebenheiten angepasst. Denn alle drei können – eine höhere Rente. Zudem sollen Personen mit tiefen ihre Ausgaben nur noch teilweise mit den Einnahmen Einkommen einen besseren Zugang zur Pensionskasse decken. Alternativ sind folgende Lösungsansätze mög- bekommen als bisher. Sie sparen in der Folge mehr und lich: Ausgaben senken, Einnahmen erhöhen oder eine sollten später ebenfalls höhere Renten erhalten. Die Mischung der beiden Varianten. Die Variante «Men- Renten von neuen Altersrentnern/Altersrentnerinnen schen statt Armut abschaffen» funktioniert dank Prä- erhöhen sich schliesslich ab 2019 monatlich um 70 implantationsdiagnostik erst in Ansätzen. Und ein frei- Franken, jene von Ehepaaren um bis zu 226 Franken. williger Ausgleich zwischen Höchst- und Tiefstverdie- Die Übergangsgeneration, das sind die über 45-Jähri- nenden – etwa zwischen dem UBS-Bankenchef mit gen, bekommen Extra-Zuschüsse aus dem Sicherheits- einem Jahresgehalt von 13,4 Mio. und der Seniorenbe- fonds der Pensionskassen. Diese Mehrausgaben wer- treuerin in einem Privathaushalt mit 20’000 Franken im den mit einer Erhöhung der AHV-Beiträge ab 2021 fi- Jahr – ist noch nicht so weit gediehen, dass die erste nanziert, zudem wird die Mehrwertsteuer in zwei Säule entlastet würde. Etappen um 0,6% erhöht. Diese Erhöhung erfolgt jedoch nur, wenn auch die anderen Reformpunkte an der Urne Altersvorsorge 2020 angenommen werden. Dasselbe gilt umgekehrt. Auch wenn heute mehr Menschen in der Schweiz leben und mehr Menschen älter werden als noch vor 10 oder Die Altersvorsorge wird also mit einer Mischung aus 20 Jahren, auch wenn die Geburtenrate gesunken ist Leistungsabbau und zusätzlichen Einnahmen refor- und immer weniger Menschen Beiträge in die AHV ein- miert. zahlen: Die Menschen sollen in den kommenden Jahr- zehnten nach der Arbeitsphase von ihren Altersrenten Ergänzungsleistungen (EL) leben können. Deshalb hat sich das eidgenössische Die Sozial- und Gesundheitskommission des Ständera- Parlament in der Frühjahrssession, nach gut zwei Jah- tes (SGK-S) schliesst sich in den grossen Linien den ren teilweise heftiger Diskussionen, für folgende An- Vorschlägen des Bundesrates an (mehr dazu im Artikel passungen im AHVG und im BVG ausgesprochen (Aus- «Kunststück EL-Reform» auf Seite 20 der «Behinderung wahl der wichtigsten Punkte): & Politik» vom November 2016). Die SGK-S empfiehlt ihrem Plenum somit, bei den EL einige hundert Millio- Das Rentenalter für Frauen wird um ein Jahr erhöht nen Franken einzusparen. Personen, die auf EL ange- (jährliche Einsparungen: 1’219 Mio. Franken, zusätzli- wiesen sind, sollen diesen Leistungsabbau vor allem che Einnahmen jährlich: 110 Mio. Franken). Wer länger mit folgenden Einschränkungen bezahlen: als bis 65 arbeitet, kann mit den zusätzlichen Abgaben seine Rente erhöhen (bisher nicht möglich). Der Um- Einzelpersonen müssen ihr Vermögen bis auf 30’000 wandlungssatz für Renten der Pensionskassen wird Franken aufbrauchen (heute 35’000), Ehepaare bis auf gesenkt, was zu tieferen Renten führt. Zur Kompensa- 50’000 Franken (heute 60’000). Erwartete Einsparun- tion dieses Verlusts muss man während der Arbeits- gen: 64 Millionen Franken. Damit EL-Beziehende mög- 21
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