SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57

Die Seite wird erstellt Vanessa-Hortensia Riedl
 
WEITER LESEN
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
www.hephatamagazin.de | Das Magazin der Evangelischen Stiftung Hephata | Ausgabe 57 - August 2021

SPIRITUALITÄT

HephataMagazin                                                                                                       Nr.57
                                                                                                                  || August / 21
EINBLICKE - ANSICHTEN - AUSBLICKE
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
Inhalt                                                                                                                                                                                                                       Editorial
HephataMagazin
Ausgabe 57 | August 2021

                                          Editorial                               01   Die Spiritualität Hephatas		     14
    02                                                                                 Harald Ulland

                                                                                                                        18
                            VERBINDUNG

                                                                                       WAS HEPHATA AUSMACHT
                                          VERBINDUNG SPÜREN
                                          Udo Feist
                                                                                  02   Der wertvolle Kernwerteprozess        Liebe Leserin, lieber Leser,
                                                                                       Andreas Morneau
                            SPÜREN

                                                                                                                             Spiritualität ist ein Menschheitsthema. Es zeichnet den Menschen         Es wird auch ein ausführlicher Blick auf die Spiritualität der Unter-
                                                                                                                             aus, über sich und die materielle Welt hinaus denken, hoffen,            nehmensgründer geworfen und (nicht vergebens) nach Anschluss-
                                          Religiosität mit Behinderung
                                          Wolf Clüver
                                                                                  06   „Religiöse Assistenz“ 		         20   glauben zu können. Spiritualität hat mit Identität zu tun, mit tra-      möglichkeiten für heutiges Handeln gesucht: gibt es so etwas wie
                                                                                       als Thema im Religionsunterricht      genden Grundüberzeugungen und Wegen der Lebensbewältigung.               eine Spiritualität Hephatas, und wenn ja, wie sieht sie aus bzw. wie
                                                                                       Wolf Clüver
                                                                                                                             Spiritualität ist kein Thema, das allein in den Wellnessbereich des      könnte sie künftig aussehen? Da ist noch Platz für Neues, aber es
                                          Riuale schaffen Vertrauen,              08                                         Lebens gehört.                                                           gibt schon etwas Wichtiges: Andreas Morneau berichtet von
                                          Zuversicht und Hoffnung
                                          Alwin Braunsmann
                                                                                       Der Glaube hilft mir
                                                                                       in den meisten Fällen
                                                                                                                        21   Spiritualität ist in aller Munde. Aber was ist das eigentlich? Und
                                                                                                                                                                                                      Projekten zu Hephatas Kernwerten Freiheit, Fairness, Leben, Liebe,
                                                                                                                                                                                                      Zuversicht, die er mit Mitarbeitenden gestaltet hat.
                                                                                       Okan Türkyilmaz im Interview          was bedeutet das für die Stiftung Hephata, die ja nach Stifterwillen     Nicht zuletzt kommen mehrere unterschiedliche Beispiele von der
                                                                                                                             eine „evangelische“ sein soll? Die Welt hat sich in den vergange-        bunten gelebten Spiritualität bei Hephata in den Blick.
                                          Erkundungen zum Thema                   09                                         nen 162 Jahren sehr verändert. Kirchen finden sich auf einem             Kurzum: Hier sind viele interessante Aspekte des Themas zu finden.
                                          „Spiritualität im Alltag“
                                          Ralf Ramacher
                                                                                       Einige Schlaglichter aus der
                                                                                       bunten Hephata-Welt
                                                                                                                        22   bunten Markt verschiedenster Sinnanbieter wieder und verlieren           Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!
                                                                                                                             an Bedeutung.
 Die Spiritualität                                                                                                           Wie kann die Stiftung Hephata „evangelisch“ sein oder das mit            In dem Moment, wo dieses Heft fertiggestellt ist und diese Zeilen
 Hephatas                                                                                                                    „evangelisch“ Gemeinte für alle plausibel machen, trotz oder ge-         geschrieben werden, stehen wir alle unter den überwältigenden
                                          Spiritualität ist nicht einfach da...   10   Texte zum Thema		                24   rade wegen der unterschiedlichen geistlichen Ausrichtung der             Eindrücken der Hochwasserkatastrophe, die auch Menschen und
                              14          Angela Rietdorf                              Atelier Strichstärke
                                                                                                                             Menschen? Es geht um nicht weniger als die Identität des Unter-          Gebäude von Hephata getroffen hat. Eine solche Ausnahmesitua-
                                                                                                                             nehmens, aber auch um seine Marktposition. Durch Rechtsprechung          tion stellt uns vor viele lebenspraktischen Fragen und die Organisa-
                                          Spiritualität im Alltag                 11   Unter die Lupe genommen		        25   ist das Einstellungskriterium „Zugehörigkeit zu einer christlichen
                                                                                                                             Kirche“ nicht mehr umfassend gültig und die ethische Profilierung
                                                                                                                                                                                                      tion dessen, wie es weitergehen kann. Mehr dazu im nächsten
                                                                                                                                                                                                      HephataMagazin.
                                                                                       Das Social-Media-Team
                                                                                       über Meditation                       eines Sozialunternehmens ist ganz entscheidend für Kunden- und           Unseren Spendenauftruf dazu finden Sie auf Seite 29.
                                          Gemeinsam Singen und Beten
                                          – ohne Gehör
                                                                                  12                                         Mitarbeitergewinnung.
                                                                                                                                                                                                      Ihre
                                          Annette Beuschel                             Namen und Neuigkeiten		          26   In diesem Heft werden verschiedene Annäherungen an das Thema             Dipl.-Kaufmann 		                       Pfarrer
                                                                                                                             vorgenommen. Der Leitartikel von Udo Feist macht das Feld in             Klaus-Dieter Tichy 		                   Dr. Harald Ulland
                                                                                                                             einem gesellschaftlich-kulturellen Horizont weit auf.
                                                                                                                             Es kommen Fachleute zu Wort, die sich mit den besonderen Anfor-
                                                                                                                             derungen von Spiritualität im Kontext von geistiger Behinderung
                                                                                                                             beschäftigen. Alwin Braunsmann und Wolf Clüver beleuchten das
                                                                                                                             Thema aus psychologischer und religionspädagogischer Sicht.
                                                                                                                             Es wird gezeigt, wie vielfältig Spiritualität gelebt werden kann: Ralf
                                                                                                                             Ramacher berichtet von einem eigens für dieses Heft initiierten
                                                                                                                             Projekt in einer Wohngruppe. Annette Beuschel stellt dar, wie
                                                                                                                             Menschen ohne Gehör gemeinsam Gottesdienst feiern können.
                                                                                                                             Und das inklusive Social-Media-Team lässt uns teilhaben an seiner
Titel: © udo leist unter Verwendung eines Fotos
                                                                                                                             Begegnung mit christlicher Meditation.
von Tinnakorn, stock.adobe.com

                                                                                                                                                                                                                                      HephataMagazin 57 l August 2021 01
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
VERBINDUNG

                                             Spiritualität                                          Ökologisches Bewusstsein hat offenbar
                                                                                                    einen emotionalen Kern. Da knüpft Rede
                                                                                                    von Spiritualität an: Es geht um Zu- und
                                             hat viele Gesichter

                                                                                                                                                                                                                                                                                           © theartofphoto, stock.adobe.com
                                                                                                                                                                                                       © JenkoAtaman, stock.adobe.com
                                                                                                    Zusammengehörigkeit und diffuses Gespür
                                                                                                    dafür, das gehemmt scheint und das es

                                             und ist uralt,                                         wiederzuerwecken gelte. Für den Einzelnen
                                                                                                    ließe sich da von Entfremdung reden und
                                                                                                    philosophisch von Sinn: Wo kommen wir

                                             hieß früher aber anders                                her, wo gehen wir hin? Anders akzentuiert
                                                                                                    spiegelt sich dies im kirchlichen Reden von
SPÜREN

                                                                                                    der „Bewahrung der Schöpfung“ und der            das Wesentliche und letztlich Übereinstim-                                         jährigen Krieges (1618-48) hatten ihr mit
                                                                                                    Vision vom biblischen „Tierfrieden“: Wenn        mung mit sich selber. Baumfrau Julia Hill                                          den Boden bereitet. Die Aufklärer setzten
                                                                                                    „Wölfe bei Lämmern wohnen“, Kälber und           schreibt: „Wenn wir nicht tun, was wir sa-                                         auf Vernunft, ließe sich arg verkürzt sagen
                                                                                                    Löwen zu einer Herde gehören. Spiritualität      gen, mindert das unseren Wert als Person.“                                         und auch, dass dies im 19. Jahrhundert in
                                                                                                    ist im kirchlichen Sprachgebrauch bereits        Spiritualität, wäre zu folgern, trägt zu                                           Nietzsches Rede vom „Tode Gottes “ gipfel-
                                                                                                    eingezogen. Das Gemeinte war zuvor nicht         Selbstvergewisserung bei oder kann es                                              te, die den Menschen vor leerem Himmel
                                                                                                    unbekannt, hieß aber anders,„Frömmigkeit“        jedenfalls – ähnlich wie jegliche religiöse                                        auf sich selbst zurückwarf. Eine weltanschau-
                                                                                                    oder „gläubig sein“, und war klarer defi-        Praxis und damit jeweils verbundener Glau-                                         liche Erschütterung, die nicht erdrutschartig
                                                                                                    niert.                                           be.                                                                                oder massenhaft erfolgte - aber sie war in
                                                                                                                                                     Die Verwandtschaft ist augenfällig, auch in                                        der Welt. Naturwissenschaftliche Erkennt-
                                                                                                    Ein befreundeter Kollege meidet „Spiritu-        der Ausrichtung von Tun und Empfinden.                                             nisse kamen dazu. Als Mittelpunkt des Uni-
                                                                                                    alität“. Das Wort erscheint ihm zu wabernd,      Sie zielen auf sinnlich und rational nicht                                         versums war die Erde bereits abgelöst, doch
                                                                                                    unpräzise: Irgendwas mit Geist – oder            Zugängliches, das aber mit rechter Offenheit                                       Darwins „Entstehungslehre der Arten“ wirk-
                                                                                                    Geistern? Da kommt es her, vom lateinischen      als erreichbar gilt. Das mögen Götter sein,                                        te noch kränkender. Die vormalige Krone
                                                                                                    spiritus: Geist, Hauch. Spiritus Sanctus, der    Geister, Engel und Ahnen oder der Kosmos                                           der Schöpfung reihte sie in eine lange Reihe
                                                                                                    Heilige Geist und Gottes dritte Person, ist      und was ihn diesseits naturwissenschaftli-                                         blinder Entwicklung ein. Die Industrialisie-
                                                                                                    aus dem katholischen Kirchenlatein geläu-        cher Gesetze ausmacht, seine Seele sozusa-                                         rung verwandelte zugleich das Gesicht der
                                                                              von Udo Feist         fig. Englisch spirit ist heute wohl bekannter,   gen. Solche Gestimmtheit wird mittlerweile                                         Welt. Massenmigration vom Land zur Arbeit
                                                                                                    sorgt aber für den spukhaften Nebenton,          eben „spirituell“ genannt.                                                         in rasant wachsende Städte riss viele auch
                                                                                                    kann es doch auch Gespenst und Geister                                                                                              aus religiöser Beheimatung. Das soziale Elend
                                             Es geschieht selten, manchmal aber doch. Wir sehen     meinen. Daher vermuten manche Eso-               Anders als bei etablierten Religionen mit                                          des Kapitalismus tat das Übrige, und Ent-
                                             im Park, auf dem Friedhof oder im Wald jemanden        terisches dahinter, religiöses Geheimwissen,     institutioneller Gestalt und festem Kanon                                          wurzelung fand bei der Entstehung der mo-
                                             einen Baum umarmen - und das sichtlich nicht, um       obwohl das so geheim meist auch nicht            dessen, was es zu glauben gilt, ist die Spann-                                     dernen, materialistischen Welt vielfältig statt.
                                             den Stammumfang zu messen. Das Befremden haben         mehr ist. Besonders stört den Freund aber        weite hier größer, weniger exklusiv. Der                                           Just in der Epoche beginnt die Wortkarriere
                                             wir gezähmt, statt dessen eine Ahnung und lassen       der aus seiner Sicht inflationäre Gebrauch.      Einzelne entscheidet. „Religiosität“ wäre                                          der „Spiritualität“ samt zugehöriger Praxis
                                             das inzwischen gelten. Alexandras Lied „Mein Freund,                                                    insofern nahezu bedeutungsgleich.                                                  – zunächst zaghaft, teils auch obskur.
                                             der Baum“, 1968 erschienen, berührt schließlich bis    Sogar gesund essen, mit Finesse aufgebrüh-       Menschen, die sich spirituell nennen, beto-
                                             heute. Unvergessen bleibt auch, wie die 22-jährige     ter Grüner Tee, Coachings oder Schrank-          nen aber oft, nicht „religiös“ zu sein. Viel-                                      Im Englischen taucht sie im Umfeld der „Theo-
                                             Julia Hill 1997 auf einen tausend Jahre alten Mam-     entrümpeln mit Tipps von Bestsellerautorin       leicht spiegelt sich darin die Wortkarriere als                                    sophischen Gesellschaft“ auf, aus dem spä-
                                             mutbaum in Kalifornien stieg, um ihn vorm Abholzen     Marie Kondo („Unordnung im Zimmer ist            Abgrenzungsbegriff: Für eine die körperli-                                         ter auch die „Anthroposophie“ hervorging.
                                             zu retten. Zwei Jahre trotzte sie Unwettern und        Unordnung im Herzen“) lasse Lifestyle-           chen Begierden bekämpfende Haltung gab                                             „Spirituality“ betont eine Nähe zum Spiri-
                                             Helikopterattacken. Ihr Buch „Die Botschaft der        Schwadroneure wie sonst Barfußgänger             es „Spiritualität“ in theologischen Werken                                         tismus, der Geisterbeschwörung in Séancen.
                                             Baumfrau“ ist der „Essenz“ des Riesen gewidmet,        von spirituellem Erleben reden. Kondo gibt       schon zuvor, doch den allgemeinen Sprach-                                          Zugleich klingt Offenheit für fernöstliche
                                             der für sie „Luna“ hieß: „Stärke, Ausdauer, Hingabe,   Aufräum-Seminare („Magic Cleaning: Wie           raum betrat sie erst zur zweiten Hälfte des                                        religiöse Vorstellungen wie jene der Seelen-
                                             Liebe“. Ähnliches, landläufig spirituell genanntes     richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert “)       19. Jahrhunderts. Der Einfluss der Kirchen                                         wanderung an, die gerade populär zu wer-
                                             Empfinden dürfte auch manche der Aktivisten bewegt     und weist so Wege zu „innerer Ordnung“.          war noch groß, doch ihre weltanschauliche                                          den begann. Der Akzent ist antichristlich,
                                             haben, die im rheinischen Braunkohlerevier mit Baum-   Das lasse im Konsum- und Geltungsgewusel         Dominanz bröckelte. Unwidersprochen war                                            knüpft aber daran an, dass das individuelle
                                             häusern die Rodung des „Hambacher Forstes“ zu ver-     zum wahren Selbst finden. Die Reserve des        sie da schon längst nicht mehr.                                                    Sehnen nach Sinn und Einbettung ja nicht
                                             hindern suchten. Davon geblieben sind Bilder von der   Freundes ist nachvollziehbar, das hinter sol-    An die Stelle von vorgeblich Offenbartem                                           erloschen war. Bloß das Hergebrachte galt
                                             Räumung 2018, ihr schillerndes Mantra„Hambi            chen Praktiken durchscheinende Bedürfnis         und kirchlicher Deutung setzte die Aufklä-                                         als nicht länger tragfähig, auch in anderen
                               © Udo Leist

                                             bleibt“ und, bis jetzt, der Wald. Neben symbolischer   aber auch. Im Spirituellen geht es zudem         rung das Motto „Selber denken“. Die Verhe-                                         Bereichen, wie die ebenfalls aufkommende
                                             Aufladung steht jeweils empfundene Nähe zu ande-       durchaus um Reinigung, Konzentration auf         erungen des konfessionell geführten Dreißig-                                       Reformpädagogik zeigt.
                                             ren Lebewesen.

  02 HephataMagazin 57 l August 2021                                                                                                                                                                                                            HephataMagazin 57 l August 2021 03
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
„Spiritualität“,                                         Künstlerkolonien etwa wie Anfang des 20.
                                                         Jahrhunderts der Hügel Monte Verità im
                                                                                                                 „Spiritualität“, so sehr sie in der Sache das-
                                                                                                                 selbe wie Religiosität bedeuten mag, ist
                                                                                                                                                                          Darum irritiert es mitunter, wenn sich Men-
                                                                                                                                                                          schen „gläubig“ nennen: Schwingt exklu-
                                                                                                                                                                                                                          Dass die Kirchen die neue Sprachregelung
                                                                                                                                                                                                                          inzwischen adoptieren, ist ein Gewinn. Zum
                                                         schweizerischen Ascona. Dort trafen sich                weicher, auch weniger belastet von jeder                 siver Wahrheitsanspruch mit oder ist es         einen haben sie Toleranz von der Aufklärung
so sehr sie in der                                       Aussteiger, Künstler, Lebensreformer und                Gleichsetzung mit verfasster Religion, also              alte Sprache? In Profilen von Partnerbörsen,    gelernt, zum andern gilt es mit Luther, „dem
                                                         Revolutionäre und lebten eine Mischung aus              den Kirchen. Sie klingt dem Zeitgeist, der ja            sofern nicht auf „Gläubige“ spezialisiert,      Volk aufs Maul zu schauen “. Zugleich ha-

Sache dasselbe wie                                       Vegetarismus und freier Liebe nach kommu-
                                                         nitär-anarchistischen Ideen, eben „Keine
                                                                                                                 auf den skizzierten Wandlungen beruht,
                                                                                                                 gemäßer. In einem Glauben wurde man frü-
                                                                                                                                                                          findet sich die Bezeichnung auch kaum,
                                                                                                                                                                          „spirituell interessiert“ hingegen häufiger.
                                                                                                                                                                                                                          ben sie selbst starke Sprachbilder in ihrem
                                                                                                                                                                                                                          Bestand. So nannte der Theologe Urs von

Religiosität bedeuten
                                                         Macht für Niemand“, wie die Berliner Band               her erzogen und wuchs darin auf, was schon                                                               Balthasar Spiritualität die subjektive Seite der
                                                         „Ton Steine Scherben“ viel später textete.              einen Hauch von Richtigkeit im Sinne von                 Spiritualität ist durchlässiger und erscheint   Dogmatik. Sie sei das Fleisch am Knochen.
                                                                                                                 absoluter Wahrheit enthält. Solch ein An-                insofern zeitgemäßer. Da aber auch sie da-      Oder anders: Es kommt auf den Einzelnen
mag, ist weicher,                                        Unmittelbar zuvor, im Jahrzehnt des anti-
                                                         autoritären und jugendkulturellen Auf-
                                                                                                                 spruch erscheint heute kaum haltbar. Der
                                                                                                                 Einfluss der Familie, kirchlicher Unterricht
                                                                                                                                                                          rauf zielt, tiefe oder jedenfalls tragfähige
                                                                                                                                                                          Gewissheiten für das Leben zu formulieren
                                                                                                                                                                                                                          und die Lebendigkeit an. Und sicher auch auf
                                                                                                                                                                                                                          die Folgen im Leben und Zusammenleben,

auch weniger be-
lastet von jeder
                                                                                                                                                                                                                                                     NATUR
Gleichsetzung mit                                                                                                                                                                                                                                     YOGA
                                                                                                                                                                                                                                                 ÜBERSINNLICH
verfasster Religion,                                                                                                                                                                                                                            ANTHROPOSOPHIE
also den Kirchen                                                                                                                                                                                                                                    FERNOST
                                                                                                                                                                                                                                                  SPIRITISMUS
                                                                                                                                                                                                                                                  RELIGIOSITÄT
                                                                                                                                                                                                                      SPIRITUS                     ESOTERISCH
                                                                                                                                                                                                                      Lat.: der Geist

                          © danieldep, stock.adobe.com                            © milkovasa, stock.adobe.com                      © Sonja Birkelbach, stock.adobe.com    © paul, stock.adobe.com                        © Svitlana, stock.adobe.com                    © Adam Ján Figeľ , stock.adobe.com

Die schillernde Lebensreform-Bewegung,
die sich teils auch ausdrücklich spirituell ver-
                                                         bruchs der 1960er Jahre begann die bis
                                                         heute wirkmächtige Popularisierung von
                                                                                                                 und Sonntagspflicht sind nicht mehr prä-
                                                                                                                 gend. Die Kirche ist nicht mehr im Dorf, in
                                                                                                                                                                          oder zu erspüren, kann sie da durchaus in
                                                                                                                                                                          die Bedrouille geraten. Denn das Vorge-
                                                                                                                                                                                                                          um die es im Gespräch eher gehen sollte als
                                                                                                                                                                                                                          darum, ob „das“ nun stimme oder nicht.             Orientierung
stand, macht das besonders deutlich. Natur-              „Spiritualität“: Zu einem neuerlichen Schwap-           dem sich Kinder verschiedener Konfession                 gebene ist vage. Ein Kanon, was zu glauben      Denn auch Spiritualität oder spirituelle Auf-
heilkunde, vegetarische Ernährung, Frei-
körperkultur mit Lichtbädern und befreiende
                                                         pen von östlicher Religiosität gen Westen
                                                         (die Beatles spielten Sitar und besuchten
                                                                                                                 wegen deren großer Bedeutung einst noch
                                                                                                                 prügelten. Doch damit sind auch Orte und
                                                                                                                                                                          sei, fehlt und wäre andernfalls auch ver-
                                                                                                                                                                          dächtig. Der Einzelne wählt selbstbestimmt,
                                                                                                                                                                                                                          geschlossenheit sind, so alt sie auch sein
                                                                                                                                                                                                                          mögen, keineswegs aus sich heraus „gut“,
                                                                                                                                                                                                                                                                             kann bei so viel
Reformkleidung gehören ebenso zu ihren
Facetten wie ökologische Landwirtschaft,
                                                         ihren Guru in Indien) und zu vielgestaltiger
                                                         Suche nach „richtigem“ Leben und „wah-
                                                                                                                 Gelegenheiten verloren gegangen, um spi-
                                                                                                                 rituelles Bedürfnis und Empfinden auszu-
                                                                                                                                                                          sozusagen mit voller Freiheit. Aber das bür-
                                                                                                                                                                          det ihm einiges auf, hat er doch die Wahl in
                                                                                                                                                                                                                          sondern können durchaus verstören, den
                                                                                                                                                                                                                          Einzelnen wie im Zusammenleben.                    Nebeneinander
die alle nach naturnahem Leben streben.                  rem“ Selbst etablierte sie sich im aktiven              drücken und zu leben.                                    einer kaum überschaubar scheinenden Fülle
Dahinter steckt ein Entfremdungserleben                  Wortschatz. Zwischen mystischen LSD-Erfah-                                                                       spiritueller Möglichkeiten oder auch „An-       Der erwähnte Freund ziert sich übrigens wei-       zum Problem
angesichts von Industrialisierung und Ver-               rungen, Reiki-Sitzung, Veganismus, Kirchen-             Verstanden als Wunsch, sich Größerem zu-                 gebote“. Das reicht von teils sogar politisch   terhin mit der „Spiritualität“. Das hat viel-
städterung. Oder anders: Suche nach dem
wahren, zudem naturversöhnten Selbst, teils
                                                         tag und Kondo-Schrank deckt sie seither
                                                         eine Menge ab.
                                                                                                                 gehörig zu fühlen, Kontakt zur andern, wie
                                                                                                                 auch immer gearteten unsichtbaren Welt zu
                                                                                                                                                                          achtbar gelebten Neuauflagen germanischer
                                                                                                                                                                          Mythologie und das weite Feld östlicher
                                                                                                                                                                                                                          leicht mit dem fordernden Glauben zu tun,
                                                                                                                                                                                                                          in dem er aufgewachsen ist. Mit der Kirche
                                                                                                                                                                                                                                                                             werden
auch direkt verknüpft mit neuen spirituellen                                                                     haben oder zu dem, was alles zusammen-                   Traditionen über manche esoterischen Seiten-    hat er wohl auch deshalb schon länger ge-
Lehren wie Theosophie und Anthroposophie                 Zum Spotten besteht kein Anlass, denn zu-               hält, ist dies jedoch uralt. Steinzeitliche              arme bis hin zum abendländisch Herge-           brochen, bezeichnet sich selber jedoch nach
oder dem Praktizieren von Yoga.                          meist wird das individuell unspektakulär,               Heiligtümer aus der Zeit lange vor dem                   brachten. Orientierung kann bei so viel         wie vor als religiös. Und immer wieder fährt
                                                         sozial unauffällig und gut integriert gelebt            Sesshaftwerden belegen das. Allzu weit ent-              Nebeneinander zum Problem werden. Belie-        er aus dem Ballungsraum zu langen Wande-
Die bürgerlichen Zirkel, in denen sich Spiritu-          – aber nicht von allen und erst recht nicht             fernt davon mögen wir ohnehin nicht sein,                bigkeit mag ebenso drohen wie Verführung        rungen in den „richtigen“ Wald. Er brauche
alität so verbreitete, waren zwar über-                  verpflichtend, was mutmaßlich ein Grund                 doch immerhin ist wüster Streit um die                   oder subtiler Druck aus dem eigenen Umfeld.     das, sagt er. Für ihn sei Wald eine Seelen-
schaubar, aber doch einflussreich und einige             dafür ist, dass sich viele auf das Wort ein-            Richtigkeit eines Glaubens nun weniger ge-               Stabile Mündigkeit wäre insofern wohl ein       region. Was damit zu tun haben mag, dass er
auch avantgardistisch und spektakulär:                   lassen können.                                          sellschaftsfähig.                                        gutes Fundament.                                da, nämlich im Sauerland, aufgewachsen ist.

    04 HephataMagazin 57 l August 2021                                                                                                                                                                                                                                                  HephataMagazin 57 l August 2021 05
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
© Krakenimages.com , stock.adobe.com
von Wolf Clüver

 Es war im Frühjahr 2020. Ich tippte folgenden Satz des Theologen        Grundsätzlich kann die Welt für jeden Menschen unabhängig von
 Wilhelm Gräb in den Computer: „Religiöser Glaube ist nicht              körperlichen, geistigen oder emotionalen Fähigkeiten verstehbar,
 Glaube an Heilstatsachen oder Dogmen, sondern die gefühlsbe-            handhabbar und bedeutungsvoll sein. Das bedeutet auch, dass jede
 zogene Selbstdeutung sinnbewusster Individualität.“1                    und jeder fähig ist, das eigene Leben zu deuten und ihm einen Sinn zu
  Die Korrekturfunktion schlug vor, statt „Selbstdeutung“                geben – also religiös zu glauben. Sinn wird immer da sein, auch wenn
 „Selbstdarstellung“ zu schreiben und statt „sinnbewusst“                das vielleicht nicht immer bewusst ist. Es wird gefühlt.
 „stilbewusst“.                                                          Wer Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung assistiert,
 Geht es nach dem Textverarbeitungsprogramm, spielt also die             wird darauf achten müssen, worin dieses Gefühl Ausdruck findet. Was
 Deutung des eigenen Lebens keine Rolle. Wichtiger ist, wie ich          braucht der oder die Assistenz Nehmende, um die eigene Sinndeutung
 wirke, wie ich mich darstelle. Auch nach dem Sinn fragt keiner          zu erleben? Oft sind es allein die Assistenz Gebenden, die ihnen den
 mehr. Stil ist entscheidend. Sinnlos, aber beeindruckend soll           Zugang dazu ermöglichen können.
 mein Leben sein, dachte ich.                                                                                     Menschen mit und ohne Be-

                                          Reli
 Das fand ich gar nicht über-                                                                                     hinderung benutzen häufig
 zeugend.                                                                                                         traditionelle Bilder und tradi-
                                                                                                                  tionelle Sprache, um Religiö-
 Denn jeder Mensch deutet. Wir                                                                                    ses zu benennen. Wenn der
 müssen uns erklären können,                                                                                      Freund gestorben ist, geht

                                          giosität
 wie und was die Welt ist, damit                                                                                  der Blick nach oben, und der
 wir nicht verrückt werden. Und                                                                                   Trauernde redet vom Himmel,
 jede und jeder von uns hat diese                                                                                 wo der Freund jetzt ist. Ein-
 Erklärungen. Nicht immer be-                                                                                     zelne theologische Aussagen

                                          mit
 wusst und sagbar, aber sie sind                                                                                  sind oft nicht bekannt und
 da. Wir „verstehen“ die Welt,                                                                                    werden häufig auch nicht ver-
 wir erklären sie uns selbst. Dass                                                                                standen. Aber die Riten, in
 wir uns dabei mehr von unserer                                                                                   denen sie vorkommen – Got-
 Intuition als von unserer Ver-                                                                                   tesdienste und Trauerfeiern

                                          Behin
 nunft leiten lassen, steht auf                                                                                   z. B. – machen die Menschen
 einem anderen Blatt.                                                                                             sicher, dass das Vertrauen in
                                                                                                                  ihre eigenen (!) Vorstellungen
 Darin gibt es keinen Unterschied                                                                                 berechtigt ist.
 zwischen Menschen, die als „mit

                                          derung?
 Behinderung“ bezeichnet wer-                                                                                  Von Selbstdeutung der Indi-
 den, und anderen. Wer Menschen                                                                                vidualität sprach Wilhelm
 mit Behinderungserfahrung nach                                                                                Gräb. Glaube, der nicht mein
 ihrem religiösen Glauben befragt,                                                                             persönlicher Glaube ist, trägt
 wird keine wesentlich anderen                                                                                 mich nicht. Man kann nicht
 Vorstellungen zu hören bekom-                                                                                 andere für sich glauben las-
 men als vom Rest der Bevölkerung. Es wird nur – wie es im Übrigen bei   sen. Man soll aber anderen ihren individuellen Glauben lassen und
 allen genauso ist – nach dem Maß der persönlichen „Entwicklungsstufe“   diesen unterstützen, so lange er lebens- und freiheitsfördernd ist.
 ausgedrückt sein.
                                                                         Ich kenne viele Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung,
 Neben dem Verstehen müssen wir außerdem das Gefühl haben,               die ganz naiv die Bilder und Geschichten aus ihrer religiösen
 etwas tun zu können, damit sich diese Welt für uns bewohnbar            Erziehung benutzen, um ihre eigenen religiösen Vorstelllungen aus-
 anfühlt. Damit wir uns dieser Welt nicht hilflos ausgeliefert fühlen.   zudrücken. Sie haben nicht die Vorbehalte des religionskritischen,
 An einem guten Tag fühlen wir, dass wir Möglichkeiten haben. Wir        säkularisierten Glaubens, der in Europa und Nordamerika verbreitet
 sind frei, zu tun und zu lassen, was wir wollen. Was ist, können wir    ist. Da es beim Religiösen um etwas geht, das uns entzogen bleibt
 zu unserem Nutzen verwenden. Die Welt fühlt sich handhabbar an.         – nämlich die Transzendenz –, wäre es kindisch zu sagen, diese
 Und das Dritte, das uns mit der Welt in Einklang bringt, ist das        naive Art sich auszudrücken sei weniger treffend als das, was Philo-
 Gefühl, dass Verstehen und Tun einen Sinn haben. Dass das alles         sophen oder Theologen von sich geben. Heilsam und vorbildlich
 für etwas gut ist.                                                      finde ich es, wenn Menschen mit begrenzten kognitiven Fähigkeiten
                                                                         ihr Vertrauen mit Bestimmtheit ausdrücken: Darein, dass sich das
 Kohärenzgefühl hat Aaron Antonovsky das genannt,2 das Gefühl,           Leben lohnt, dass es gut ist, ich selbst zu sein, und dass wir nicht
 dass alles sinnvoll miteinander zusammenhängt. Dieses Gefühl hat        verloren gehen, wenn wir einmal gestorben sind.
 in der Regel jeder Mensch, der sich einigermaßen ausgeglichen fühlt.
 Und das ist unabhängig von den individuellen Fähigkeiten. Hier          Und auch, wo Menschen nicht verständlich ausdrücken können,
 zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zu unterscheiden,            worein sie ihr Vertrauen setzen, ist solches Vertrauen vorhanden.
 hat nur dann Sinn, wenn es dazu dient, Behinderungserfahrungen          Jedenfalls hat niemand die Fähigkeit oder das Recht, etwas ande-
 zu vermeiden und das Kohärenzgefühl zu unterstützen.                    res zu behaupten. Mit Menschen umzugehen heißt immer, damit
                                                                         zu rechnen, dass mein Gegenüber von einem religiösen Glauben
                                                                         getragen ist.

 1 Wilhelm Gräb, Sinnfragen, Gütersloh 2006, S. 41;    2 Aaron Antonovsky, Salutogenese, Tübingen 1997

     06 HephataMagazin 57 l August 2021                                                                                                             HephataMagazin 57 l August 2021 07
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
Erkundungen zum Thema

                                                                                                                                                                                   © rh2010, stock.adobe.com
                                                                                                                                                                                                                      „Spiritualität im Alltag“

Rituale
schaffen
Vertrauen,
Zuversicht
und
Hoffnung

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Fotos: © Ralf Ramacher
                                                                                                                                                                                                               von Ralf Ramacher
von Alwin Braunsmann

Rituale helfen uns, unseren Alltag ein Stück                               Im Verlauf des Lebens durchlaufen wir meh-        Hier ist dann Geduld gefragt, von den Men-                                        Die Anfrage lautete, ob ich für das HephataMagazin einen                 für Alex V. mit Mama telefonieren. Wichtige Bezugsmenschen und
vorhersehbarer zu machen. Ereignisse, die                                  rere Entwicklungsphasen, in denen Rituale         schen in der Assistenz genauso wie von den                                        Artikel zum Thema „Spiritualität bei Menschen mit sog. geis-             kleine Alltagsrituale, wie das Wichteln in der Gruppe an Weihnach-
wiederkehren und im Procedere gleich blei-                                 eine ganz unterschiedliche Bedeutung ha-          Menschen mit sog. geistiger Behinderung,                                          tiger Behinderung“ schreiben wollte. Daraus entwickelte sich             ten oder die Lieder zum Geburtstag: „Wie schön, dass Du geboren
ben, tragen dazu bei, Abläufen eine gewis-                                 ben. Hierbei helfen uns Kenntnisse sozio-         wobei Letztere allerdings oftmals gar keine                                       spontan die Idee, in einem Workshop diesem Thema nach-                   bist…“. Und für Tim L. war klar: „Ich bin ein großer Sänger“ und
se Struktur zu verleihen und sie dadurch                                   emotionaler Entwicklungstheorien1.                Geduld haben, entwicklungsgemäß unter                                             zugehen.                                                                 wenn es ihm gut geht, singt er.
durchschaubarer zu machen: Vertrautheit                                                                                      Umständen gar nicht haben können. Auch                                            Und so kam es, dass ich an einem Sonntag im Juni mit vier Men-           Nach zweieinhalb Stunden ist die Luft raus und die Konzentration
schafft Vertrauen.                                                         Menschen mit sog. geistiger Behinderung           in solchen herausfordernden Situationen                                           schen, die dort leben, am Frühstückstisch der ambulant betreuten         lässt nach, also beenden wir unsere Entdeckungsreise. Gewiss
                                                                           durchlaufen dabei die gleichen Entwick-           können Rituale hilfreich sein, hier beispiels-                                    Wohngemeinschaft auf dem Tomper Weg in Mönchengladbach                   lassen sich diese Eindrücke nicht verallgemeinern, doch meinte Julia
Wenn wir die Halt und Orientierung geben-                                  lungsphasen wie sog. normale Menschen             weise: um das (Ab-)Warten zu strukturieren,                                       saß. Bei einem Kaffee stellte sich schnell heraus, dass alle neugierig   Höwelmeier in der kurzen Nachbesprechung u.a., dass die Teilneh-
de Bedeutung von Ritualen erkennen und                                     – was auch immer normal sein mag. Sie tun         bis man an der Reihe ist.                                                         waren auf den Besuch.                                                    menden konzentriert dabei waren und viel persönlich von sich
Rituale gemeinsam mit- und ausgestalten,                                   dies jedoch häufiger in einer anderen Ge-                                                                                           Bunte Tücher markierten nach der Frühstücksrunde, dass es los            berichtet haben. Und sie hatte auch schon Ideen, wie sie das Thema
vermitteln sie uns das Gefühl von Gemein-                                  schwindigkeit und manche durchlaufen              Auch insofern schaffen Rituale Vertrauen,                                         geht. Und der Einstieg mit einer Klangschale war zufällig gut ge-        beispielsweise mit den auf der Gruppe üblichen Piktogrammen
samkeit. Und gemeinsam lässt sich Vieles                                   auch nicht alle Phasen bis zum Erwach-            Zuversicht und Hoffnung und sind somit ein                                        wählt. „Klangschalen haben wir auch, meinte Tim L. und zeigte auf        weiter aufgreifen könnte. Abschließend sagte die Teamleiterin: „Ich
oftmals leichter tragen.                                                   sensein.                                          durch und durch spirituelles Thema, gerade                                        fünf unterschiedlich große Schalen im Regal. „Das machen wir             denke, das Thema Glaube ist gesellschaftlich allgemein noch stark
                                                                                                                             auch für Menschen mit sog. geistiger Behin-                                       abends, zum Runterkommen.“ So konnten wir gleich an etwas                an die Kirche gebunden und Spiritualität nicht einfach (be-)greifbar.
Rituale können einen Bezug zu Höherem                                      So kann es vorkommen, dass sie sich mit           derung.                                                                           Vertrautem anknüpfen. Vertrauensbildend war gewiss auch, dass
herstellen und insofern Hoffnung und Zu-                                   ihren sozio-emotionalen Bedürfnissen auf                                                                                            Julia Höwelmeier, die Teamleiterin der WG, dabei war und manch-          Auf der Rückfahrt im Auto gehen mir manche Äußerungen noch
versicht spenden: Gemeinsam ein Gebet                                      einer niedrigeren Entwicklungsstufe befin-                                                                                          mal „übersetzt“ hat.                                                     durch den Kopf und ich bin sicher: „Auch mir täte es gut, in den
                                                                                                                             1 Sappok, T., & Zepperitz, S. (2019). Das Alter der
sprechen oder ein Kirchenlied anstimmen,                                   den, als es ihr Lebensalter oder auch ihre        Gefühle: über die Bedeutung der emotionalen
                                                                                                                                                                                                               Über Gegenstände und vor allem über Fotokarten haben wir dann            Arm genommen zu werden, wenn ich traurig bin.“
dem lieben Gott abends vor dem Schlafen-                                   kognitiven Kompetenzen vermuten lassen.           Entwicklung bei geistiger Behinderung. Hogrefe.                                   das Thema in kleinen Gesprächsrunden erkundet. Da gab es ein
gehen ein ganz privates Dankeschön sagen.                                  Diese scheinbare Widersprüchlichkeit kann                                                                                           rotes Herz aus Glas oder eine kleine Kerze in Form einer Marienfigur.    Teamleiterin Julia Höwelmeier: „Unsere Kunden sind ganzheitlich
Rituale können Sinn stiften und Identität                                  für die Menschen selbst, aber auch für ihr                                                                                          Bei dieser kam schnell die Verbindung zur Kirche auf: „Das ist Maria,    zu betrachten und dazu gehört auch ihre emotionale Entwicklung,
bilden.                                                                    soziales Umfeld manchmal schwer zu ertra-                                                                                           die steht in der Kirche“. Und für Katharina K. war es eine gute          Fantasie und Vorstellungskraft. Umso mehr freue ich mich über
                                                                           gen sein: Einerseits sind sie erwachsene Bür-                                                                                       Gelegenheit, zu erzählen, dass sie Messdienerin ist und sich auf den     einen gelungenen Vormittag, an dem es Herrn Ramacher durch
                                                                           gerinnen und Bürger, die beispielsweise                                                                                             gemeinsamen Ausflug der Messdiener*innen freut. Das kleine               seine spontane, freundliche und aufgeschlossene Art gelungen ist,
                                                                           selbstverständlich ihr Wahlrecht ausüben;                                                                                           Holzkreuz hingegen wurde sofort mit Friedhof verbunden.                  unsere Kunden miteinander in Kommunikation zu bringen! Die
                                           © Pixel-Shot, stock.adobe.com

                                                                           auf der anderen Seite brauchen sie vielleicht                                                                                       Überhaupt waren Beerdigungen, der Tod von lieben Menschen und            gemeinsame Betrachtung von kleinen Mitbringseln sowie der
                                                                           manchmal die sozio-emotionale Geborgen-                                                                                             traurig sein darüber, immer wieder mal Thema an diesem Morgen.           Themen-Bildkarten sprach die Kunden sehr an. Die Fragen, was
                                                                           heit eines Kleinkindes. Und nicht selten fehlen                                                                                     Und alle am Tisch wussten was sie machen können, wenn jemand             ist mir im Leben wichtig, wer ist mir wichtig, woran glaube ich, was
                                                                           ihnen gerade in solchen Situationen dann die                                                                                        traurig ist: Trösten! Für Alina W. bedeutete das konkret: in den Arm     gibt mir die Kraft, was tut mir gut, was mache ich gern, was macht
                                                                           sprachlichen Kompetenzen, um diese Bedürf-                                                                                          nehmen und festhalten. Ebenso deutlich waren die Vorstellungen,          mit glücklich oder traurig waren hier Thema.“
                                                                           nisse erfolgreich zu kommunizieren.                                                                                                 was sie selber tun, wenn es ihnen nicht gut geht: Musik hören oder

    08 HephataMagazin 57 l August 2021                                                                                                                                                                                                                                                                                 HephataMagazin 57 l August 2021 09
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
Spiritualität                                                                                                                                                                                             Spiritualität im Alltag
                                                                                                             von Angela Rietdorf

    ist nicht einfach da...
                                                                                                                                                                                                          … HAT ETWAS MIT ERFAHRUNG ZU TUN.
                                                                                                                                                                                                          Die Gesprächspartnerin im Interview von Angelika Rietdorf (siehe         nehmen, die jeweilige Beschäftigung kurz zu unterbrechen, um
                                                                                                                                                                                                          linke Seite) beschreibt, dass sie auf Spaziergängen mit Gott in          bewusst zu atmen oder ein Achtsamkeitsübung zu machen oder
                                                                                                                                                                                                          Kontakt kommen kann. Andere finden dies, wenn sie sich still in          ein Gebet zu sprechen oder was auch immer einem hilft.

                                                                                                                                                                  © tierfoto-guenzburg, stock.adobe.com
                                                                                                                                                                                                          Kirchen setzen oder an Gottesdiensten teilnehmen oder sich in
                                                                                                                                                                                                          bestimmten Gruppen versammeln oder Musik hören. Oder anders.             Wem es mehr um konkrete inhaltliche Impulse geht, der findet Apps
                                                                                                                                                                                                                                                                                   wie z.B. „Andachtsapp“ oder „Xercise“ im AppStore. Letztere ist
                                                                                                                                                                                                          Spirituelles Leben hat also etwas mit bestimmten Orten zu tun.           eine Adaption der Form des ursprünglich klösterlichen Stundenge-
                                                                                                                                                                                                          Auch mit unterschiedlichsten Medien und Methoden. Viele                  bets für den digitalen Raum.
                                                                                                                                                                                                          Menschen suchen für sich Input und Anlässe, das Thema in den             Viele machen auch gute Erfahrungen mit den „Perlen des Glaubens“,
                                                                                                                                                                                                          Alltag zu holen, der ja bekanntlich das Gehirn mit vielerlei welt-       die dabei helfen, sich meditativ auf Wesentliches zu fokussieren.
                                                                                                                                                                                                          lichen Herausforderungen und Dingen beschäftigt. Wo ist da Platz         Das gibt es als „Rosenkranz“ im Katholizismus und als „Misbaha“
                                                                                                                                                                                                          für den Geist?                                                           im Islam, als „Mala“ im Buddhismus und Hinduismus.
Ein Gespräch über einen individuellen Weg                                                                                                                                                                 Konkrete Hilfsmittel, Spiritualität im Alltag zu leben, sind zum einen
                                                                                                                                                                                                          die alten, traditionsreichen Medien wie Abreißkalender mit geist-
                                                                                                                                                                                                          lichen Texten für jeden Tag (z.B. Neukirchener Kalender) oder die
                                                                                                                                                                                                          täglich wechselnden „Herrenhuter Losungen“: für jeden Tag einen
                                                                                                                                                                                                          ausgelosten und einen zugeordneten Vers aus der Bibel und dazu
                                                                                                                                                                                                          passend ein Gebet. Das alles gibt es natürlich mittlerweile auch
Glaube, Religion, Spiritualität, Erfahrungen, die Finsternis oder Licht in die                                                                                                                            digital.                                                                                                                           © bvfs, stock.adobe.com
                                                                                                                                                                                                                                                                                   https://www.andachtsapp.de/
eigene Seele bringen, werden in unserer Gesellschaft als strikte Privatsache                                                                                                                                                                                                       https://xrcs.de/
                                                                                                                                                                                                          Produkte der Moderne sind Apps für Computer und Smartphone.
betrachtet. Darüber wird nicht gesprochen, schon gar nicht mit Fremden.                                                                                                                                   Auch hier finden sich viele verschiedene Angebote. Für Menschen,         https://mindfulbell.app/
Umso gespannter bin ich auf meine Gesprächspartnerin an diesem sonni-                                                                                                                                     die einfach nur den Alltag unterbrechen und dies nicht mit Hilfe         https://www.losungen.de
gen Morgen, an dem wir auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung                                                                                                                                         des Stundenschlags der Kirchenglocken tun wollen oder können,            Oder vielleicht doch ein Mandala ausmalen?

Hephata verabredet sind. Was sie mir erzählt, möchte sie mit anderen
                                                                                                     …sie entwickelt sich                                                                                 gibt es zum Beispiel die App „Mindbell“. Es erklingt ein Gong in         Was auch immer bei einem Menschen wirkt, ist sehr persönlich.
                                                                                                                                                                                                          einem frei festzulegenden Intervall und man kann dies zum Anlass         Der Zweck heiligt die Mittel.
teilen. Gleichzeitig aber soll es persönlich bleiben. Deswegen werde ich ihren
Namen nicht nennen.                                                                                  im Laufe des Lebens,
Und so erzählt sie mir von ihrem Weg, der          „Ich habe viel gebetet in dieser Zeit. Um
sie von der weit verbreiteten Auffassung von       Heilung oder Erlösung.“ Nach seinem Tod           macht Veränderungen
Religion als freundlichem Accessoire an            ringt sie mit sich. War es richtig, um Erlösung
Feiertagen wie Weihnachten zu einem tie-
feren Verständnis von Leben und Tod ge-
                                                   zu bitten? Ist sie schuld an seinem Tod? Doch
                                                   sie kommt mit sich ins Reine, hat das Gefühl,
                                                                                                     durch, ist inneren und
führt hat. „Ich bin getauft und konfirmiert,       dass das Gebet sie trägt und ihr Kraft gibt.
aber nicht ernsthaft christlich erzogen“, sagt                                                       äußeren Einflüssen
sie. Im Konfirmandenunterricht habe es             Wenn das Schicksal zu einem Schlag aus-
Berührungspunkte mit dem Glauben ge-
geben und auch eine kirchliche Trauung sei
                                                   holt, spricht sie mit Gott. Meist, wenn sie
                                                   mit ihren Hunden draußen in der Natur             ausgesetzt
für sie wichtig gewesen, doch das führte           unterwegs ist. „Ich habe das Gefühl, gehört
nicht zu einer intensiveren Auseinander-           zu werden. Es tröstet mich und gibt mir
setzung mit spirituellen Themen. Aber dann         Kraft.“ Es gibt Dinge, Emotionen, Erfahrun-
– die Trauung liegt gerade drei Monate zu-         gen, die sie mit den Menschen nicht teilen
rück – stirbt der Vater. „Ich hatte ein sehr       möchte. Aber mit Gott.
enges Verhältnis zu ihm“, sagt meine Ge-
sprächspartnerin. Zum ersten Mal kommt             Aus dem, was sie beim Tod geliebter Men-
sie so bewusst mit dem Tod in Berührung.           schen erfahren hat, zieht sie Schlüsse für
Und plötzlich sind da die existentiellen Fragen:   ihre eigene Existenz. „Ich gehe jetzt acht-
Was ist der Mensch eigentlich? Was macht           samer durch das Leben, sehe genauer hin,
ihn aus? Ist er nur ein Körper mit seinen          was um mich herum geschieht. Ich genieße
Funktionen, die erlöschen? „Nein“, sagt sie.       die Natur, das Rauschen der Bäume, den
„So ist es nicht.“ Sie gelangt zu der Erkennt-     Wind auf meiner Haut, die Menschen um
nis: „Der Mensch ist mehr als Fleisch und          mich herum.“ Sie sei dankbar, Vater und
Blut. Der Körper ist nur das Gefäß, die            Bruder gehabt zu haben und versuche, nicht
Persönlichkeit verschwindet nicht, wenn das        ständig die Zukunft zu planen, sondern be-
Gefäß verbraucht ist.“ Das, was man Seele          wusst in der Gegenwart zu leben. Mir gehen

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          © actionplanet, stock.adobe.com
nennt, ist weiterhin da. Jahre später stirbt       die Worte Jesu aus der Bergpredigt durch
                                                                                                                                   © Tom Bayer, stock.adobe.com

der geliebte ältere Bruder, nur acht Wochen,       den Kopf: „Sorgt also nicht für den morgi-
nachdem die Diagnose Leukämie gestellt             gen Tag, denn der morgige Tag wird für das
wurde. Täglich besucht sie ihn im Kranken-         Seine sorgen.“ Eine Frau geht ihren ganz
haus, erlebt das Schwanken zwischen Hoffen         eigenen Weg und findet ihn doch in der
und Bangen, seine Angst, sein Leiden.              christlichen Botschaft gespiegelt.

    10 HephataMagazin 57 l August 2021                                                                                                                                                                                                                                                                            HephataMagazin 57 l August 2021 11
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
GEMEINSAM SINGEN

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            © stock.adobe.com
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  © Christian Mauer
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Deutsches Gebärden-Alphabet

UND BETEN                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 A

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           H
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Ä

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 I
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      B

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        J
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                C

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                K
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        D

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        L
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                E

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    M
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            F

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                N   Ö
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        G

– ohne Gehör                                                                                    von Annette Beuschel                                                                                                                                                                                                      O      P          Q       R   SCH     S                       T

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Ü      U          V       W       X           Y           Z

                                                                                                                                                                                      Und führe uns nicht in Versuchung. Pfarrerin Annette Beuschel gebärdet das Vater unser.

Geht das überhaupt? Gemeinsam singen und beten –                                                Apostel auch in der Gebärdensprache pre-                                              selbst deuten. Zum Beispiel die Bitte: Und               Deutsche Gebärdensprache
                                                                                                digte. Denn die christliche Botschaft wirkt                                           führe uns nicht in Versuchung. Der sich zum-
ohne Gehör? Singen? Gemeinsam ein Gebet sprechen?                                                                                                                                                                                                                             seit neustem auch
                                                                                                doch nur, wenn sie das Herz erreicht.                                                 Körper krümmende Zeigefinger (im Halbkreis
                                                                                                                                                                                                                                                                                 Kulturerbe
Wie soll das möglich sein, ohne sich selbst und den                                                                                                                                   vor dem Körper wiederholend) ist hier die
                                                                                                Gebärden, die sich beinah von selbst                                                  Gebärde für das Wort Versuchung.                         Seit dem 19. März 2021 gehört die Deutsche
anderen zu hören?                                                                               verstehen.                                                                                                                                     Gebärdensprache zum Immateriellen Kul-
Gemeinsam singen und beten – ohne Gehör!        Gebärdenden … Die meisten Gehörlosen wol-       Auch Hörende können sich in einem Got-                                                Selbstverständlich werden auch zusammen-                 turerbe in Deutschland. Nach Auffassung
Ja! Und wie! Zum Beispiel in einem Gebär-       len erleben, wie die Bibel gebärdet wird. Sie   tesdienst, der in Gebärdensprache gefeiert                                            hängende Texte gebärdet, die den Gram-                   der UNESCO vermittelt die Deutsche Gebä-
denchor. Mich beeindruckt es immer wieder,      wollen Gebärden und Gesichter sehen.“1          wird, die eine oder andere Gebärde selbst                                             matikregeln der Gebärdensprache folgen.                  densprache (DGS) Identität und Kontinuität                             Der Gebärdenchor BBW Leipzig beim 5. Traumkonzert
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      Quelle Screengrab: https://traumkonzert.de/
so eine musikalische Formation zu erleben.      Gehörlose Gemeindemitglieder gestalten          erschließen. Gebärden haben innerhalb des                                             Im Gottesdienst sind das meistens die Pre-               und sorgt für eine gleichberechtigte Teilhabe                          von der Website der Bürgerstiftung Chemnitz
Ein Gebärdenlied kann sowohl ein alter Choral   deshalb den Gottesdienst auch aktiv mit         dreidimensionalen Gebärdenraums ihren                                                 digt und die biblische Lesung. Im Internet               am gesellschaftlichen, kulturellen oder po-
als auch ein moderneres Kirchenlied sein. In    etwa durch Gebärdenlieder, die in einem         Ort. Das ist der körpernahe Bereich, in dem                                           gibt es dazu reichlich Anschauungsmaterial.              litischen Leben, unabhängig von technischen
beiden Fällen muss der Text ohnehin zuerst      bestimmten Rhythmus synchron gebärdet           die Gebärden ausgeführt werden. Er schließt                                                                                                    Kommunikationsmitteln. Die Deutsche Ge-
in Gebärdensprache übersetzt werden. Die        werden. Die Gehörlosenkultur redet auch         die beim Gebärden einbezogene Körper-                                                 So habe ich für die Online-Ausgabe der                   bärdensprache bildet das soziale und kul-
Kommunikation in Gebärdensprache ist die        von Gebärdenpoesie. Sehr viel Bewegung          oberfläche des Sprechers mit ein. Durch diese                                         Rheinischen Post die Weihnachtsgeschichte                turelle Fundament der deutschen Gehörlo-
elementare Bedingung für jegliche Form von      ist dann im Kirchenschiff zu sehen. Gebärden    Begrenzung auf den Bereich vor Oberkörper                                             aus Lukas 2 gebärdet. Das Video ist abrufbar             sengemeinschaft.
Spiritualität unter Gehörlosen. Ohne sie        sind ja viel mehr als ein Handzeichen. Der      und Kopf können die Gesprächspartner                                                  bei YouTube.                                             Um die Eingangsfrage noch einmal aufzu-
geht es nicht. Das ist ihre eigene Sprache,     ganze Oberkörper mit Kopf, Armen, Händen        Gesichts- und Handaktivitäten gleichzeitig                                                                                                     greifen: Geht das überhaupt? Gemeinsam
die Muttersprache der Gehörlosen, die Spra-     und Fingern wird zum Gebärden eingesetzt.       wahrnehmen.                                                                                                                                    singen und beten – ohne Gehör? Die Antwort
che, die Herz und Gefühl erreicht.              Daneben spielen auch die Mimik, das Mund-       In diesem Gebärdenraum hat zum Beispiel                                                                                                        lautet: Ja! Nämlich in Gebärdensprache.
                                                bild und die Handstellung eine wichtige         die Gebärde für Gott ihren Platz: Vater,
Gebärdensprache als Muttersprache               Rolle. Der Blickkontakt ist enorm wichtig.      Sohn, Heiliger Geist. Die Gebärde für Gott
Im Alltag müssen sich Gehörlose mit viel                                                        wird in Höhe der Stirn angesetzt: Daumen,
Mühe unter Hörenden zurechtfinden. Das          In der aktuellen Situation erschwert das        Zeigefinger und Mittelfinger zeigen Richtung
ist anstrengend. Schon deshalb ist es wich-     Tragen der Mund-Nase-Maske die Kommu-           Himmel: Sie stehen für Vater, Sohn und
tig, dass sie in der Kirche in ihrer Sprache    nikation zwischen Gehörlosen und Hören-         Heiliger Geist.

                                                                                                                                                                                                                                                    © screengrab:youtube/rp
und in ihrer eigenen Kultur barrierefrei von    den. Wenn das Mundbild wegfällt und die         Wenn man nun wie im Glaubensbekenntnis
Gott hören und ihn in der Gebärdensprache       Mimik nur eingeschränkt wahrzunehmen            insbesondere auf Jesus Christus zu sprechen
loben können. Denn für Gehörlose ist es         ist, dann können Gehörlose nichts mehr          kommen will, wird folgende Gebärde ver-
kompliziert, die Bibel in Schriftdeutsch zu     verstehen.                                      wendet: die beiden Mittelfinger deuten je
lesen und zu verstehen.                                                                         in der Mitte der gegenüberliegenden Hand-
                                                Neben den Gebärdenliedern gibt es im Got-       fläche die Wundmale Jesu am Kreuz an.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      Anmerkungen:
Entsprechend äußert sich auch Jennifer Emler,   tesdienst auch das „Glaubensbekenntnis“         Auch beim zentralen Gebet der Christenheit                                                                                                                                                                            1 Das ganze Interview von Jennifer Emler in:
gehörlos und Mitglied der Evangelischen         und das „Vater unser“, beides wird selbst-      können sich Außenstehende manche Bitte                                                                                                                                                                                Reformation - ein theologischer Impuls, 2017,
Gehörlosengemeinde Mönchengladbach:             verständlich mit gemeinsamen Gebärden                                                                                                                                                                                                                                 herausgegeben von der Evangelischen Kirche im
                                                                                                                                                © aradaphotography, stock.adobe.com

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      Rheinland, S. 35
„Da ich gehörlos bin, gehe ich in Gottes-       gesprochen und gebetet. So kann ein inten-
dienste in Gebärdensprache … Die Gebär-         sives Gefühl von Gemeinschaft entstehen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      Literaturtipp: Helene Jarmer, Schreien nützt nichts.
densprache vermittelt die wesentlichen          und Spiritualität erlebt werden.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      Mittendrin statt still dabei. Südwest Verlag, 2011. H.
                                                                                                                                                                                                                                                       © screengrab:br

Inhalte eines Textes und auch die Gefühle,      Im Blick auf das pfingstliche Sprachwunder                                                                                                                                                                                                                            Jarmer ist 2009 die erste gehörlose Abgeordnete im
die der Text ausdrücken soll. Ich verstehe      in Jerusalem halte ich es nicht für ausge-                                                                                                                                                                                                                            deutschsprachigen Raum. Die Politikerin plädiert in
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      ihrer Autobiographie für ein barrierefreies Miteinander
alles durch die Gebärden und die Mimik des      schlossen, dass damals wenigstens ein                                                                                                                                                                                                                                 zwischen Hörenden und Gehörlosen.
                                                                                                                                                                                      Ohne den Code zu entschlüsseln verstehen Sie nichts? Nutzen Sie den QR-Code!

    12 HephataMagazin 57 l August 2021                                                                                                                                                                                                                                                                                           HephataMagazin 57 l August 2021 13
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
Spirit
Die

              ualität
von Harald Ulland
Der Titel eckt an. Kann die „Evangelische Stiftung Hephata“, das Unternehmen Mensch,
„spirituell“ sein oder eine Spiritualität haben?1 Bezieht sich Spiritualität nicht in erster
                                                                                                                                                                                                                                                     Hephatas

Linie auf Menschen? Und wenn das so ist: kann man überhaupt noch von „der“ im Sinne
von einer alle verbindenden Spiritualität sprechen, wo doch unsere Gesellschaft zuneh-
mend entkirchlicht ist und die Konfessionen und Glaubensüberzeugungen der Kunden
und Mitarbeitenden – meist katholisch – an den vielen verschiedenen Standorten Hephatas
so vielfältig sind?
Richtig ist, dass es in dem Sinne keine allgemeine, evangelisch geprägte Spiritualität
Hephatas gibt, auch wenn „Evangelisch“ quasi der Vorname der Stiftung ist. Dennoch ist
es nötig, sich der Frage zu nähern, und das nicht allein wegen der geforderten Treue zum
Stifterwillen. Ein Sozialunternehmen in der religiös pluralen Welt muss sich erkennbar
profilieren. Nicht als Etikett, sondern lebendig. Es geht vor allem um das Wohlergehen von
Kunden, die sich bestens behandelt und gefördert wissen wollen. Ohne Kunden kann ein
Unternehmen seinen Zweck nicht erfüllen. Aber es geht natürlich auch um die Mitarbeitenden,
mittlerweile ein seltenes Gut. Gerade in helfenden Berufen ist Burnout ein Thema und in
einem Unternehmen können gelebte christliche Werte prophylaktisch wirken: Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst.2 Jesus stellt die Liebe zu sich selbst und die Nächstenliebe gleich-
berechtigt nebeneinander. Das kann und muss vielfältig entfaltet werden. Zufriedene oder
sogar begeisterte Kunden und Mitarbeitende sind das Ziel und zugleich die Basis Hephatas.
Die große Frage ist aber: wie geht das? Wie kann die christliche Profilierung eines Sozial-
unternehmens so geschehen, dass sie allen genannten Rahmenbedingungen und Erforder-
nissen gerecht wird?
In diesem Aufsatz verfolge ich die These: wenn der Gründergeist vom Staub der Geschichte
befreit sichtbar wird, kann man erkennen, welche Teile von ihm auch heute Kraft entfalten
können.
Dazu untersuche ich zunächst die Umstände der Unternehmensgründung, bevor ich mich
mit der spirituellen Haltung derer beschäftige, die für die Unternehmensgründung ver-
antwortlich waren.

Die Gründung Hephatas I: FORSCHERGEIST UND UNTERNEHMERGEIST
Mitte des 19. Jahrhunderts erfährt der evangelische Pfarrer Julius Disselhoff in Kaiserswerth
von der schrecklichen Vernachlässigung, unter der Menschen mit Behinderung leiden, die
aus Scham und wohl auch wegen der Erwerbstätigkeit der Eltern in den Häusern eingesperrt
werden. Disselhoff will es genau wissen und erstellt die wohl erste Forschungsarbeit zur
Lage der Menschen mit Behinderung in den deutschen Ländern.1 Das Ergebnis: die Zustände
schreien gerade in Preußen (in dessen Gebiet auch das heutige NRW und die Standorte
Hephatas liegen) besonders zum Himmel. Der scharfe Vorwurf: der König interessiert sich
wohl mehr für das Wohlergehen von Pferden und Rindern als für das von Menschen mit
Behinderung. Disselhoff stellt dar, dass man anderswo viel weiter ist. In Süddeutschland
und der Schweiz hat man längst mit der Betreuung und Bildung von Menschen mit
Behinderung begonnen. Disselhoffs Untersuchung erscheint 1857 und weckt den Unter-
nehmergeist im evangelischen Pfarrer Franz Balke (Rheydt). Er versammelt Menschen, die
über das nötige Geld bzw. die Kontakte verfügen, dass aus dieser Idee auch etwas ent-

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          © Hephata Archiv
stehen kann: Vertreter von vier Kirchengemeinden und des Johanniterordens beschließen
1858 die Gründung Hephatas. Nur ein Jahr später beginnt die Arbeit. Die Gründung
Hephatas verdankt sich also unter anderem diesen beiden hier sichtbar gewordenen
Geistern: Forschergeist und Unternehmergeist.

                                                                                                 1 Ich verstehe Spiritualität in diesem Artikel im engeren religiösen Sinn, dass menschlicher Geist vom christlich verstandenen göttlichen Geist beflügelt, getrieben, verändert wird, so dass ein Mensch tatsächlich be-Geist-ert ist.

                                                                                                 2 Matthäus 19,19                                                3 Julius Disselhoff, Die gegenwärtige Lage der Cretinen, Blödsinnigen und Idioten in den christlichen Ländern, Bonn 1857

    14 HephataMagazin 57 l August 2021
SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
Hier kann man leicht Impulse für gegenwärtige Herausforderungen          Was bedeutet dieser Befund für die Frage nach einer Unterneh-                                                       Was folgt daraus für die Frage nach der Spiritualität Hephatas?
erkennen: Hephata braucht die Nähe zur aktuellen Forschung, um           mensspiritualität heute? Hephata kann über Kommunikation und                                                        Hephata kann Räume zur Verfügung stellen, in denen eine Begeg-
inhaltlich auf der Höhe der Zeit zu sein und bestmögliche Arbeit zu      Bildung Fachwissen zur Verfügung stellen, das dabei hilft, gute                                                     nung von Menschen und Worten der Bibel stattfinden könnte –
tun. Es braucht Unternehmergeist, um unsere Arbeitsfelder weiter-        Arbeit zu machen. Hephata kann – wie bereits geschehen –Unter-                                                      wenn der Geist denn zünden will. Das bliebe unverfügbar und
zuentwickeln. Und es braucht Menschen, die Netzwerke spinnen,            nehmenswerte definieren, unsere sog. Kernwerte (Leben, Liebe,                                                       setzte allen entsprechenden Bemühungen eine Grenze des Mach-
um die Sache der Menschen mit Behinderung in Politik und Ge-             Freiheit, Fairness, Zuversicht, siehe den Artikel von Andreas Morneau,                                              baren. Ich finde, das ist eine heilsame Grenze, denn der Machbar-
sellschaft sowie bei den Kostenträgern so zu platzieren, dass sie        S.18.), die Orientierung für den Geist geben sollen, in dem die Arbeit                                              keitswahn führt ja viele Menschen in die Überforderung. Aber nur
auch richtig wahrgenommen und auskömmlich finanziert wird.               getan werden soll. Aber das ist noch keine Spiritualität. Da fehlt                                                  weil sich etwas dem direkten Zugriff entzieht ist es ja nicht unmög-
Was war damals an der Forschung und der Unternehmensgründung             noch etwas: die „Zündung“. Der Heilige Geist zündet ja leider nicht                                                 lich, dass es sich dennoch ereignet. Nur eben nicht auf Kommando,

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  © Iakov Kalini, stock.adobe.com
„spirituell“? Brauchte es überhaupt eine religiöse Überzeugung           auf Kommando, er zündet wo er will.3 Wie kann diese besondere                                                       sondern wenn es „zünden“ will. Solche Begegnungsräume sind
oder hätte das nicht auch ohne eine solche funktioniert?                 Art der Be-Geist-erung gefördert werden (sofern Menschen die                                                        daher eher unter der Rubrik „Chancen“ zu sehen.
                                                                         nicht schon mitbringen), die Menschen über sich hinausführt und
Die Gründung Hephatas II: MENSCHLICHER GEIST UND                         sie in Kontakt mit dem guten Geist Gottes bringt, in dem aus Werten                                                 Schließlich geht es bei dem Thema Spiritualität bei Hephata auch
HEILIGER GEIST                                                           Überzeugungen werden? Kann man als Unternehmen Prozesse                                                             und nicht zuletzt um die Menschen mit Behinderung. Die Spiritua-
Interessant ist es die Bedingungen zu verstehen, die zur entschei-       initiieren, die dabei helfen, dass Menschen spirituell gestärkt werden,                                             lität Disselhoffs und der Gründerväter Hephatas bietet hier die
denden Wende führten.                                                    dass sie Zugang zu göttlicher Lebenskraft und Liebe finden, die                                                     vielleicht überraschendsten Punkte.
Man kann vier Elemente erkennen. Erstens ist es das notwenige            ihnen selbst und dem Nächsten gilt?                                                                                                                                                          Spiritualität als Chance
Wissen von der Not der Menschen mit Behinderung. Zweitens ist                                                                                                                                                                                                         Hephata braucht Raum für Be-Geist-erung, die der Arbeit am
es die durch die Untersuchung sichtbar gewordene Idee, wie mög-          In der Schrift Disselhoffs kann man ein wenig mehr darüber er-                                                                                                                               Menschen und für Menschen zugute kommt. Hephata braucht
liche Hilfe aussehen könnte, die das Packan lieferte. Drittens kann      fahren.                                                                                                             Teilhabe und Spiritualität                                               Spiritualität.
man den Willen erkennen und eine dahinter liegende Überzeugung                                                                                                                               Was Julius Disselhoff bewegte ist nicht nur, dass Menschen mit           Es können die Rahmenbedingungen hergestellt werden, in denen
voraussetzen, dass man etwas gegen die erkannte Not unternehmen                                                                                                                              geistiger Behinderung weggesperrt wurden, sondern dass - gerade          sich spirituelle Prozess ereignen können. Dazu gehört die Zuver-
muss.                                                                    Spiritueller Dreisatz: Sehen - Hören - Machen                                                                       sie! - keinen Zugang zu dem Trost des Glaubens hatten. „Wenn er          fügungstellung von Bildung in vielerlei Weise, auch religiöser
Nicht zuletzt muss da aber viertens auch ein Zündfunke gewesen           Disselhoff zitiert einen Bibelvers: „Tue deinen Mund auf für die                                                    (= der Mensch mit geistiger Behinderung) nur fühlte, dass, wenn          Bildung. Dazu gehört auch, dass Räume eröffnet werden, in denen
sein, der alles mit einer Initialzündung ans Laufen brachte, wie das     Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“4. Das tut                                                      auch Menschenaugen von ihm sich wegwenden, Gottes Auge doch              interessierte Kunden und Mitarbeitende spirituelle Erfahrungen
Benzin-Luft-Gemisch durch den Funken der Zündkerze zur Explosion         Disselhoff bewusst, weil der Vers für ihn offenbar eine große                                                       auch immer auf ihn gerichtet ist! Wenn er nur wüßte, dass, wenn          machen und vielleicht Formen einer lebendigen, zeitgemäßen
kommt und den Motor in Bewegung setzt. Denn es ist eine traurige         Überzeugungskraft besitzt. Das ist ja durchaus bemerkenswert: eine                                                  Menschenmund ihn entartet nennt, der Sohn Gottes sich nicht              Spiritualität finden (siehe den Artikel von R. Ramacher S.9). Es ist eine
Tatsache, dass es viel Not in der Welt gibt, von der viele Menschen      zweieinhalbtausend Jahre alte Aufforderung aus dem Buch der                                                         schämt, ihn Bruder zu nennen…“.5 Behinderung darf also nach              große Chance, Texte aus der Bibel so ins Gespräch zu bringen, dass
wissen - und die dennoch nichts dagegen tun, obwohl sie es könn-         Sprüche ist offenbar plötzlich den Grenzen der Buchdeckel ent-                                                      Disselhoff kein Grund dafür sein, einem Menschen den Zugang zur          sie als echte Gesprächspartner für heutige Menschen erkennbar
ten. So war es auch damals. Irgendetwas muss geschehen sein,             ronnen und von ihrer zeitlichen Entstehungssituation befreit und                                                    tröstenden Welt des Glaubens zu versperren. Damit formulierte er         werden. Ebenso ist es lohnenswert, sich mit der Spiritualität derer
damit sich das änderte. Aber was? In christlicher Begrifflichkeit hat    wird von Disselhoff aktuell als eine Botschaft für sich persönlich                                                  einen Auftrag zur religiösen Bildung von Menschen, die eigentlich        zu befassen, auf deren Initiative die Gründung Hephatas zurückgeht.
man ein Bild dafür: solche Zündfunken erzeugt der Heilige Geist          gehört, so als hätte Gott gesagt: „Julius Disselhoff, tue DU deinen                                                 als nicht bildungsfähig galten. Modern ausgedrückt: die Eröffnung        Denn ihr gelebter Glaube bietet die Möglichkeit, gegebenenfalls
(lat.: spiritus sanctus), der laut Bibel Menschen „entflammt“.2          Mund auf für die Schwachen und für die Sache aller, die verlassen                                                   von Teilhabemöglichkeiten auch in Sachen Spiritualität ist gefordert.    etwas zu finden, was einen selbst weiterbringt.
Wissen + Ideen + Überzeugung + Geist = Unternehmensgründung.             sind“. Das setzt Disselhoff in Bewegung.                                                                            Dazu gehört auch religiöse Bildung.
                                                                                                                                                                                                                                                                      So kann das Feld dafür bereitet werden, dass sich Menschen direkt
                                                                                                                                                                                             Auf dem Schmuckblatt, das zur Gründung Hephatas erstellt worden          angesprochen fühlen und der Funke überspringt, der sie tröstet,
                                                                                                                                                                                             ist (S.15), findet sich unter anderem ein Zitat Jesu. Es wird auf dem    orientiert, stärkt, begeistert oder in Bewegung setzt. Dabei ist es
                                                                                                                                                                                             Blatt in den Kontext von Behinderung gesetzt und stellt so die           nicht wichtig, welcher Konfession oder Religion jemand angehört.
                                                                                                                                                                                             verbreitete Betrachtungsweise von Menschen mit Behinderungen             Keiner ist ausgeschlossen und alle sind eingeladen. Das ist eine
                                                                                                                                                                                             auf den Kopf: „Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge                Antwort auf die oben gestellten Fragen: die Spiritualität Hephatas,
                                                                                                                                                                                             hast Du Lob zugerichtet“.6 Unmündige und Säuglinge sind der              wenn es sie denn gibt, kann nicht anders als inklusiv gedacht wer-
                                                                                                                                                                                             Inbegriff derer, die nicht ernstgenommen werden. Aber gerade             den.
                                                                                                                                                                                             ihnen erkennt Jesus eine besondere Würde zu, denn sie formulieren
                                                                                                                                                                                             das Lob Gottes - im Gegensatz zu vielen anderen, die äußerlich
                                                                                                                                                                                             besser dastehen. Das gehört auch in die geistliche DNA Hephatas
                                                                                                                                                                                             hinein. Menschen mit Behinderung werden geachtet als potentiell
                                                                                                                                                                                             spirituelle Wesen und als solche, durch die Gott selbst sprechen will.
                                                                                                                                                                                             Oder weltlich ausgedrückt: durch die man in Beziehung kommt mit
                                                                                                                                                                                             dem Grund des Lebens. Viele Mitarbeitende Hephatas erleben das
                                                                                                                                                                                             so, in welchen Worten auch immer sie es ausdrücken würden.

                                                                                                                                                                                             Was folgt daraus für heute? Zum einen die Erkenntnis, dass die
                                                                                                                                                                                             Spiritualität unserer Kunden einen selbstverständlichen Platz im
                                                                                                                                                                                             Unternehmen haben muss. Unser Anspruch, Teilhabe zu ermögli-
                                                                                                                                                                                             chen, umfasst auch dieses Feld. Zum andren muss die Haltung
                                                                                                                                                                                             immer wieder gestärkt werden, Menschen mit Behinderung als
                                                                                                                                                            © c-chez-marc, stock.adobe.com

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  © Seventyfour, stock.adobe.com
                                                                                                                                                                                             möglichen Sprachrohren Gottes mit Hochachtung zu begegnen
                                                                                                                                                                                             und sie zu verstehen suchen. Daraus folgt zum Beispiel, dass die
                                                                                                                                                                                             Mitarbeitenden bereits während der Ausbildung am Berufskolleg
                                                                                                                                                                                             entsprechend geschult werden (siehe die Artikel von Alwin Brauns-
                                                                                                                                                                                             mann und Wolf Clüver, S.8, 20). Hier sind allerdings noch weitere
                                                                                                                                                                                             Schulungs- und Erfahrungsräume vorstellbar.

                                                                        4 Apostelgeschichte 2; 5 Johannes 3,6;
                                                                        6 Sprüche Salomos 31,8. Disselhoff, aaO, V.   7 Disselhoff, aaO, 8 Matthäus 21,16
    16 HephataMagazin 57 l August 2021                                                                                                                                                                                                                                                                  HephataMagazin 57 l August 2021 17
Sie können auch lesen