SPIRITUALITÄT Hephata Magazin - | Nr.57
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www.hephatamagazin.de | Das Magazin der Evangelischen Stiftung Hephata | Ausgabe 57 - August 2021 SPIRITUALITÄT HephataMagazin Nr.57 || August / 21 EINBLICKE - ANSICHTEN - AUSBLICKE
Inhalt Editorial HephataMagazin Ausgabe 57 | August 2021 Editorial 01 Die Spiritualität Hephatas 14 02 Harald Ulland 18 VERBINDUNG WAS HEPHATA AUSMACHT VERBINDUNG SPÜREN Udo Feist 02 Der wertvolle Kernwerteprozess Liebe Leserin, lieber Leser, Andreas Morneau SPÜREN Spiritualität ist ein Menschheitsthema. Es zeichnet den Menschen Es wird auch ein ausführlicher Blick auf die Spiritualität der Unter- aus, über sich und die materielle Welt hinaus denken, hoffen, nehmensgründer geworfen und (nicht vergebens) nach Anschluss- Religiosität mit Behinderung Wolf Clüver 06 „Religiöse Assistenz“ 20 glauben zu können. Spiritualität hat mit Identität zu tun, mit tra- möglichkeiten für heutiges Handeln gesucht: gibt es so etwas wie als Thema im Religionsunterricht genden Grundüberzeugungen und Wegen der Lebensbewältigung. eine Spiritualität Hephatas, und wenn ja, wie sieht sie aus bzw. wie Wolf Clüver Spiritualität ist kein Thema, das allein in den Wellnessbereich des könnte sie künftig aussehen? Da ist noch Platz für Neues, aber es Riuale schaffen Vertrauen, 08 Lebens gehört. gibt schon etwas Wichtiges: Andreas Morneau berichtet von Zuversicht und Hoffnung Alwin Braunsmann Der Glaube hilft mir in den meisten Fällen 21 Spiritualität ist in aller Munde. Aber was ist das eigentlich? Und Projekten zu Hephatas Kernwerten Freiheit, Fairness, Leben, Liebe, Zuversicht, die er mit Mitarbeitenden gestaltet hat. Okan Türkyilmaz im Interview was bedeutet das für die Stiftung Hephata, die ja nach Stifterwillen Nicht zuletzt kommen mehrere unterschiedliche Beispiele von der eine „evangelische“ sein soll? Die Welt hat sich in den vergange- bunten gelebten Spiritualität bei Hephata in den Blick. Erkundungen zum Thema 09 nen 162 Jahren sehr verändert. Kirchen finden sich auf einem Kurzum: Hier sind viele interessante Aspekte des Themas zu finden. „Spiritualität im Alltag“ Ralf Ramacher Einige Schlaglichter aus der bunten Hephata-Welt 22 bunten Markt verschiedenster Sinnanbieter wieder und verlieren Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre! an Bedeutung. Die Spiritualität Wie kann die Stiftung Hephata „evangelisch“ sein oder das mit In dem Moment, wo dieses Heft fertiggestellt ist und diese Zeilen Hephatas „evangelisch“ Gemeinte für alle plausibel machen, trotz oder ge- geschrieben werden, stehen wir alle unter den überwältigenden Spiritualität ist nicht einfach da... 10 Texte zum Thema 24 rade wegen der unterschiedlichen geistlichen Ausrichtung der Eindrücken der Hochwasserkatastrophe, die auch Menschen und 14 Angela Rietdorf Atelier Strichstärke Menschen? Es geht um nicht weniger als die Identität des Unter- Gebäude von Hephata getroffen hat. Eine solche Ausnahmesitua- nehmens, aber auch um seine Marktposition. Durch Rechtsprechung tion stellt uns vor viele lebenspraktischen Fragen und die Organisa- Spiritualität im Alltag 11 Unter die Lupe genommen 25 ist das Einstellungskriterium „Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche“ nicht mehr umfassend gültig und die ethische Profilierung tion dessen, wie es weitergehen kann. Mehr dazu im nächsten HephataMagazin. Das Social-Media-Team über Meditation eines Sozialunternehmens ist ganz entscheidend für Kunden- und Unseren Spendenauftruf dazu finden Sie auf Seite 29. Gemeinsam Singen und Beten – ohne Gehör 12 Mitarbeitergewinnung. Ihre Annette Beuschel Namen und Neuigkeiten 26 In diesem Heft werden verschiedene Annäherungen an das Thema Dipl.-Kaufmann Pfarrer vorgenommen. Der Leitartikel von Udo Feist macht das Feld in Klaus-Dieter Tichy Dr. Harald Ulland einem gesellschaftlich-kulturellen Horizont weit auf. Es kommen Fachleute zu Wort, die sich mit den besonderen Anfor- derungen von Spiritualität im Kontext von geistiger Behinderung beschäftigen. Alwin Braunsmann und Wolf Clüver beleuchten das Thema aus psychologischer und religionspädagogischer Sicht. Es wird gezeigt, wie vielfältig Spiritualität gelebt werden kann: Ralf Ramacher berichtet von einem eigens für dieses Heft initiierten Projekt in einer Wohngruppe. Annette Beuschel stellt dar, wie Menschen ohne Gehör gemeinsam Gottesdienst feiern können. Und das inklusive Social-Media-Team lässt uns teilhaben an seiner Titel: © udo leist unter Verwendung eines Fotos Begegnung mit christlicher Meditation. von Tinnakorn, stock.adobe.com HephataMagazin 57 l August 2021 01
VERBINDUNG Spiritualität Ökologisches Bewusstsein hat offenbar einen emotionalen Kern. Da knüpft Rede von Spiritualität an: Es geht um Zu- und hat viele Gesichter © theartofphoto, stock.adobe.com © JenkoAtaman, stock.adobe.com Zusammengehörigkeit und diffuses Gespür dafür, das gehemmt scheint und das es und ist uralt, wiederzuerwecken gelte. Für den Einzelnen ließe sich da von Entfremdung reden und philosophisch von Sinn: Wo kommen wir hieß früher aber anders her, wo gehen wir hin? Anders akzentuiert spiegelt sich dies im kirchlichen Reden von SPÜREN der „Bewahrung der Schöpfung“ und der das Wesentliche und letztlich Übereinstim- jährigen Krieges (1618-48) hatten ihr mit Vision vom biblischen „Tierfrieden“: Wenn mung mit sich selber. Baumfrau Julia Hill den Boden bereitet. Die Aufklärer setzten „Wölfe bei Lämmern wohnen“, Kälber und schreibt: „Wenn wir nicht tun, was wir sa- auf Vernunft, ließe sich arg verkürzt sagen Löwen zu einer Herde gehören. Spiritualität gen, mindert das unseren Wert als Person.“ und auch, dass dies im 19. Jahrhundert in ist im kirchlichen Sprachgebrauch bereits Spiritualität, wäre zu folgern, trägt zu Nietzsches Rede vom „Tode Gottes “ gipfel- eingezogen. Das Gemeinte war zuvor nicht Selbstvergewisserung bei oder kann es te, die den Menschen vor leerem Himmel unbekannt, hieß aber anders,„Frömmigkeit“ jedenfalls – ähnlich wie jegliche religiöse auf sich selbst zurückwarf. Eine weltanschau- oder „gläubig sein“, und war klarer defi- Praxis und damit jeweils verbundener Glau- liche Erschütterung, die nicht erdrutschartig niert. be. oder massenhaft erfolgte - aber sie war in Die Verwandtschaft ist augenfällig, auch in der Welt. Naturwissenschaftliche Erkennt- Ein befreundeter Kollege meidet „Spiritu- der Ausrichtung von Tun und Empfinden. nisse kamen dazu. Als Mittelpunkt des Uni- alität“. Das Wort erscheint ihm zu wabernd, Sie zielen auf sinnlich und rational nicht versums war die Erde bereits abgelöst, doch unpräzise: Irgendwas mit Geist – oder Zugängliches, das aber mit rechter Offenheit Darwins „Entstehungslehre der Arten“ wirk- Geistern? Da kommt es her, vom lateinischen als erreichbar gilt. Das mögen Götter sein, te noch kränkender. Die vormalige Krone spiritus: Geist, Hauch. Spiritus Sanctus, der Geister, Engel und Ahnen oder der Kosmos der Schöpfung reihte sie in eine lange Reihe Heilige Geist und Gottes dritte Person, ist und was ihn diesseits naturwissenschaftli- blinder Entwicklung ein. Die Industrialisie- aus dem katholischen Kirchenlatein geläu- cher Gesetze ausmacht, seine Seele sozusa- rung verwandelte zugleich das Gesicht der von Udo Feist fig. Englisch spirit ist heute wohl bekannter, gen. Solche Gestimmtheit wird mittlerweile Welt. Massenmigration vom Land zur Arbeit sorgt aber für den spukhaften Nebenton, eben „spirituell“ genannt. in rasant wachsende Städte riss viele auch kann es doch auch Gespenst und Geister aus religiöser Beheimatung. Das soziale Elend Es geschieht selten, manchmal aber doch. Wir sehen meinen. Daher vermuten manche Eso- Anders als bei etablierten Religionen mit des Kapitalismus tat das Übrige, und Ent- im Park, auf dem Friedhof oder im Wald jemanden terisches dahinter, religiöses Geheimwissen, institutioneller Gestalt und festem Kanon wurzelung fand bei der Entstehung der mo- einen Baum umarmen - und das sichtlich nicht, um obwohl das so geheim meist auch nicht dessen, was es zu glauben gilt, ist die Spann- dernen, materialistischen Welt vielfältig statt. den Stammumfang zu messen. Das Befremden haben mehr ist. Besonders stört den Freund aber weite hier größer, weniger exklusiv. Der Just in der Epoche beginnt die Wortkarriere wir gezähmt, statt dessen eine Ahnung und lassen der aus seiner Sicht inflationäre Gebrauch. Einzelne entscheidet. „Religiosität“ wäre der „Spiritualität“ samt zugehöriger Praxis das inzwischen gelten. Alexandras Lied „Mein Freund, insofern nahezu bedeutungsgleich. – zunächst zaghaft, teils auch obskur. der Baum“, 1968 erschienen, berührt schließlich bis Sogar gesund essen, mit Finesse aufgebrüh- Menschen, die sich spirituell nennen, beto- heute. Unvergessen bleibt auch, wie die 22-jährige ter Grüner Tee, Coachings oder Schrank- nen aber oft, nicht „religiös“ zu sein. Viel- Im Englischen taucht sie im Umfeld der „Theo- Julia Hill 1997 auf einen tausend Jahre alten Mam- entrümpeln mit Tipps von Bestsellerautorin leicht spiegelt sich darin die Wortkarriere als sophischen Gesellschaft“ auf, aus dem spä- mutbaum in Kalifornien stieg, um ihn vorm Abholzen Marie Kondo („Unordnung im Zimmer ist Abgrenzungsbegriff: Für eine die körperli- ter auch die „Anthroposophie“ hervorging. zu retten. Zwei Jahre trotzte sie Unwettern und Unordnung im Herzen“) lasse Lifestyle- chen Begierden bekämpfende Haltung gab „Spirituality“ betont eine Nähe zum Spiri- Helikopterattacken. Ihr Buch „Die Botschaft der Schwadroneure wie sonst Barfußgänger es „Spiritualität“ in theologischen Werken tismus, der Geisterbeschwörung in Séancen. Baumfrau“ ist der „Essenz“ des Riesen gewidmet, von spirituellem Erleben reden. Kondo gibt schon zuvor, doch den allgemeinen Sprach- Zugleich klingt Offenheit für fernöstliche der für sie „Luna“ hieß: „Stärke, Ausdauer, Hingabe, Aufräum-Seminare („Magic Cleaning: Wie raum betrat sie erst zur zweiten Hälfte des religiöse Vorstellungen wie jene der Seelen- Liebe“. Ähnliches, landläufig spirituell genanntes richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert “) 19. Jahrhunderts. Der Einfluss der Kirchen wanderung an, die gerade populär zu wer- Empfinden dürfte auch manche der Aktivisten bewegt und weist so Wege zu „innerer Ordnung“. war noch groß, doch ihre weltanschauliche den begann. Der Akzent ist antichristlich, haben, die im rheinischen Braunkohlerevier mit Baum- Das lasse im Konsum- und Geltungsgewusel Dominanz bröckelte. Unwidersprochen war knüpft aber daran an, dass das individuelle häusern die Rodung des „Hambacher Forstes“ zu ver- zum wahren Selbst finden. Die Reserve des sie da schon längst nicht mehr. Sehnen nach Sinn und Einbettung ja nicht hindern suchten. Davon geblieben sind Bilder von der Freundes ist nachvollziehbar, das hinter sol- An die Stelle von vorgeblich Offenbartem erloschen war. Bloß das Hergebrachte galt Räumung 2018, ihr schillerndes Mantra„Hambi chen Praktiken durchscheinende Bedürfnis und kirchlicher Deutung setzte die Aufklä- als nicht länger tragfähig, auch in anderen © Udo Leist bleibt“ und, bis jetzt, der Wald. Neben symbolischer aber auch. Im Spirituellen geht es zudem rung das Motto „Selber denken“. Die Verhe- Bereichen, wie die ebenfalls aufkommende Aufladung steht jeweils empfundene Nähe zu ande- durchaus um Reinigung, Konzentration auf erungen des konfessionell geführten Dreißig- Reformpädagogik zeigt. ren Lebewesen. 02 HephataMagazin 57 l August 2021 HephataMagazin 57 l August 2021 03
„Spiritualität“, Künstlerkolonien etwa wie Anfang des 20. Jahrhunderts der Hügel Monte Verità im „Spiritualität“, so sehr sie in der Sache das- selbe wie Religiosität bedeuten mag, ist Darum irritiert es mitunter, wenn sich Men- schen „gläubig“ nennen: Schwingt exklu- Dass die Kirchen die neue Sprachregelung inzwischen adoptieren, ist ein Gewinn. Zum schweizerischen Ascona. Dort trafen sich weicher, auch weniger belastet von jeder siver Wahrheitsanspruch mit oder ist es einen haben sie Toleranz von der Aufklärung so sehr sie in der Aussteiger, Künstler, Lebensreformer und Gleichsetzung mit verfasster Religion, also alte Sprache? In Profilen von Partnerbörsen, gelernt, zum andern gilt es mit Luther, „dem Revolutionäre und lebten eine Mischung aus den Kirchen. Sie klingt dem Zeitgeist, der ja sofern nicht auf „Gläubige“ spezialisiert, Volk aufs Maul zu schauen “. Zugleich ha- Sache dasselbe wie Vegetarismus und freier Liebe nach kommu- nitär-anarchistischen Ideen, eben „Keine auf den skizzierten Wandlungen beruht, gemäßer. In einem Glauben wurde man frü- findet sich die Bezeichnung auch kaum, „spirituell interessiert“ hingegen häufiger. ben sie selbst starke Sprachbilder in ihrem Bestand. So nannte der Theologe Urs von Religiosität bedeuten Macht für Niemand“, wie die Berliner Band her erzogen und wuchs darin auf, was schon Balthasar Spiritualität die subjektive Seite der „Ton Steine Scherben“ viel später textete. einen Hauch von Richtigkeit im Sinne von Spiritualität ist durchlässiger und erscheint Dogmatik. Sie sei das Fleisch am Knochen. absoluter Wahrheit enthält. Solch ein An- insofern zeitgemäßer. Da aber auch sie da- Oder anders: Es kommt auf den Einzelnen mag, ist weicher, Unmittelbar zuvor, im Jahrzehnt des anti- autoritären und jugendkulturellen Auf- spruch erscheint heute kaum haltbar. Der Einfluss der Familie, kirchlicher Unterricht rauf zielt, tiefe oder jedenfalls tragfähige Gewissheiten für das Leben zu formulieren und die Lebendigkeit an. Und sicher auch auf die Folgen im Leben und Zusammenleben, auch weniger be- lastet von jeder NATUR Gleichsetzung mit YOGA ÜBERSINNLICH verfasster Religion, ANTHROPOSOPHIE also den Kirchen FERNOST SPIRITISMUS RELIGIOSITÄT SPIRITUS ESOTERISCH Lat.: der Geist © danieldep, stock.adobe.com © milkovasa, stock.adobe.com © Sonja Birkelbach, stock.adobe.com © paul, stock.adobe.com © Svitlana, stock.adobe.com © Adam Ján Figeľ , stock.adobe.com Die schillernde Lebensreform-Bewegung, die sich teils auch ausdrücklich spirituell ver- bruchs der 1960er Jahre begann die bis heute wirkmächtige Popularisierung von und Sonntagspflicht sind nicht mehr prä- gend. Die Kirche ist nicht mehr im Dorf, in oder zu erspüren, kann sie da durchaus in die Bedrouille geraten. Denn das Vorge- um die es im Gespräch eher gehen sollte als darum, ob „das“ nun stimme oder nicht. Orientierung stand, macht das besonders deutlich. Natur- „Spiritualität“: Zu einem neuerlichen Schwap- dem sich Kinder verschiedener Konfession gebene ist vage. Ein Kanon, was zu glauben Denn auch Spiritualität oder spirituelle Auf- heilkunde, vegetarische Ernährung, Frei- körperkultur mit Lichtbädern und befreiende pen von östlicher Religiosität gen Westen (die Beatles spielten Sitar und besuchten wegen deren großer Bedeutung einst noch prügelten. Doch damit sind auch Orte und sei, fehlt und wäre andernfalls auch ver- dächtig. Der Einzelne wählt selbstbestimmt, geschlossenheit sind, so alt sie auch sein mögen, keineswegs aus sich heraus „gut“, kann bei so viel Reformkleidung gehören ebenso zu ihren Facetten wie ökologische Landwirtschaft, ihren Guru in Indien) und zu vielgestaltiger Suche nach „richtigem“ Leben und „wah- Gelegenheiten verloren gegangen, um spi- rituelles Bedürfnis und Empfinden auszu- sozusagen mit voller Freiheit. Aber das bür- det ihm einiges auf, hat er doch die Wahl in sondern können durchaus verstören, den Einzelnen wie im Zusammenleben. Nebeneinander die alle nach naturnahem Leben streben. rem“ Selbst etablierte sie sich im aktiven drücken und zu leben. einer kaum überschaubar scheinenden Fülle Dahinter steckt ein Entfremdungserleben Wortschatz. Zwischen mystischen LSD-Erfah- spiritueller Möglichkeiten oder auch „An- Der erwähnte Freund ziert sich übrigens wei- zum Problem angesichts von Industrialisierung und Ver- rungen, Reiki-Sitzung, Veganismus, Kirchen- Verstanden als Wunsch, sich Größerem zu- gebote“. Das reicht von teils sogar politisch terhin mit der „Spiritualität“. Das hat viel- städterung. Oder anders: Suche nach dem wahren, zudem naturversöhnten Selbst, teils tag und Kondo-Schrank deckt sie seither eine Menge ab. gehörig zu fühlen, Kontakt zur andern, wie auch immer gearteten unsichtbaren Welt zu achtbar gelebten Neuauflagen germanischer Mythologie und das weite Feld östlicher leicht mit dem fordernden Glauben zu tun, in dem er aufgewachsen ist. Mit der Kirche werden auch direkt verknüpft mit neuen spirituellen haben oder zu dem, was alles zusammen- Traditionen über manche esoterischen Seiten- hat er wohl auch deshalb schon länger ge- Lehren wie Theosophie und Anthroposophie Zum Spotten besteht kein Anlass, denn zu- hält, ist dies jedoch uralt. Steinzeitliche arme bis hin zum abendländisch Herge- brochen, bezeichnet sich selber jedoch nach oder dem Praktizieren von Yoga. meist wird das individuell unspektakulär, Heiligtümer aus der Zeit lange vor dem brachten. Orientierung kann bei so viel wie vor als religiös. Und immer wieder fährt sozial unauffällig und gut integriert gelebt Sesshaftwerden belegen das. Allzu weit ent- Nebeneinander zum Problem werden. Belie- er aus dem Ballungsraum zu langen Wande- Die bürgerlichen Zirkel, in denen sich Spiritu- – aber nicht von allen und erst recht nicht fernt davon mögen wir ohnehin nicht sein, bigkeit mag ebenso drohen wie Verführung rungen in den „richtigen“ Wald. Er brauche alität so verbreitete, waren zwar über- verpflichtend, was mutmaßlich ein Grund doch immerhin ist wüster Streit um die oder subtiler Druck aus dem eigenen Umfeld. das, sagt er. Für ihn sei Wald eine Seelen- schaubar, aber doch einflussreich und einige dafür ist, dass sich viele auf das Wort ein- Richtigkeit eines Glaubens nun weniger ge- Stabile Mündigkeit wäre insofern wohl ein region. Was damit zu tun haben mag, dass er auch avantgardistisch und spektakulär: lassen können. sellschaftsfähig. gutes Fundament. da, nämlich im Sauerland, aufgewachsen ist. 04 HephataMagazin 57 l August 2021 HephataMagazin 57 l August 2021 05
© Krakenimages.com , stock.adobe.com von Wolf Clüver Es war im Frühjahr 2020. Ich tippte folgenden Satz des Theologen Grundsätzlich kann die Welt für jeden Menschen unabhängig von Wilhelm Gräb in den Computer: „Religiöser Glaube ist nicht körperlichen, geistigen oder emotionalen Fähigkeiten verstehbar, Glaube an Heilstatsachen oder Dogmen, sondern die gefühlsbe- handhabbar und bedeutungsvoll sein. Das bedeutet auch, dass jede zogene Selbstdeutung sinnbewusster Individualität.“1 und jeder fähig ist, das eigene Leben zu deuten und ihm einen Sinn zu Die Korrekturfunktion schlug vor, statt „Selbstdeutung“ geben – also religiös zu glauben. Sinn wird immer da sein, auch wenn „Selbstdarstellung“ zu schreiben und statt „sinnbewusst“ das vielleicht nicht immer bewusst ist. Es wird gefühlt. „stilbewusst“. Wer Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung assistiert, Geht es nach dem Textverarbeitungsprogramm, spielt also die wird darauf achten müssen, worin dieses Gefühl Ausdruck findet. Was Deutung des eigenen Lebens keine Rolle. Wichtiger ist, wie ich braucht der oder die Assistenz Nehmende, um die eigene Sinndeutung wirke, wie ich mich darstelle. Auch nach dem Sinn fragt keiner zu erleben? Oft sind es allein die Assistenz Gebenden, die ihnen den mehr. Stil ist entscheidend. Sinnlos, aber beeindruckend soll Zugang dazu ermöglichen können. mein Leben sein, dachte ich. Menschen mit und ohne Be- Reli Das fand ich gar nicht über- hinderung benutzen häufig zeugend. traditionelle Bilder und tradi- tionelle Sprache, um Religiö- Denn jeder Mensch deutet. Wir ses zu benennen. Wenn der müssen uns erklären können, Freund gestorben ist, geht giosität wie und was die Welt ist, damit der Blick nach oben, und der wir nicht verrückt werden. Und Trauernde redet vom Himmel, jede und jeder von uns hat diese wo der Freund jetzt ist. Ein- Erklärungen. Nicht immer be- zelne theologische Aussagen mit wusst und sagbar, aber sie sind sind oft nicht bekannt und da. Wir „verstehen“ die Welt, werden häufig auch nicht ver- wir erklären sie uns selbst. Dass standen. Aber die Riten, in wir uns dabei mehr von unserer denen sie vorkommen – Got- Intuition als von unserer Ver- tesdienste und Trauerfeiern Behin nunft leiten lassen, steht auf z. B. – machen die Menschen einem anderen Blatt. sicher, dass das Vertrauen in ihre eigenen (!) Vorstellungen Darin gibt es keinen Unterschied berechtigt ist. zwischen Menschen, die als „mit derung? Behinderung“ bezeichnet wer- Von Selbstdeutung der Indi- den, und anderen. Wer Menschen vidualität sprach Wilhelm mit Behinderungserfahrung nach Gräb. Glaube, der nicht mein ihrem religiösen Glauben befragt, persönlicher Glaube ist, trägt wird keine wesentlich anderen mich nicht. Man kann nicht Vorstellungen zu hören bekom- andere für sich glauben las- men als vom Rest der Bevölkerung. Es wird nur – wie es im Übrigen bei sen. Man soll aber anderen ihren individuellen Glauben lassen und allen genauso ist – nach dem Maß der persönlichen „Entwicklungsstufe“ diesen unterstützen, so lange er lebens- und freiheitsfördernd ist. ausgedrückt sein. Ich kenne viele Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, Neben dem Verstehen müssen wir außerdem das Gefühl haben, die ganz naiv die Bilder und Geschichten aus ihrer religiösen etwas tun zu können, damit sich diese Welt für uns bewohnbar Erziehung benutzen, um ihre eigenen religiösen Vorstelllungen aus- anfühlt. Damit wir uns dieser Welt nicht hilflos ausgeliefert fühlen. zudrücken. Sie haben nicht die Vorbehalte des religionskritischen, An einem guten Tag fühlen wir, dass wir Möglichkeiten haben. Wir säkularisierten Glaubens, der in Europa und Nordamerika verbreitet sind frei, zu tun und zu lassen, was wir wollen. Was ist, können wir ist. Da es beim Religiösen um etwas geht, das uns entzogen bleibt zu unserem Nutzen verwenden. Die Welt fühlt sich handhabbar an. – nämlich die Transzendenz –, wäre es kindisch zu sagen, diese Und das Dritte, das uns mit der Welt in Einklang bringt, ist das naive Art sich auszudrücken sei weniger treffend als das, was Philo- Gefühl, dass Verstehen und Tun einen Sinn haben. Dass das alles sophen oder Theologen von sich geben. Heilsam und vorbildlich für etwas gut ist. finde ich es, wenn Menschen mit begrenzten kognitiven Fähigkeiten ihr Vertrauen mit Bestimmtheit ausdrücken: Darein, dass sich das Kohärenzgefühl hat Aaron Antonovsky das genannt,2 das Gefühl, Leben lohnt, dass es gut ist, ich selbst zu sein, und dass wir nicht dass alles sinnvoll miteinander zusammenhängt. Dieses Gefühl hat verloren gehen, wenn wir einmal gestorben sind. in der Regel jeder Mensch, der sich einigermaßen ausgeglichen fühlt. Und das ist unabhängig von den individuellen Fähigkeiten. Hier Und auch, wo Menschen nicht verständlich ausdrücken können, zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zu unterscheiden, worein sie ihr Vertrauen setzen, ist solches Vertrauen vorhanden. hat nur dann Sinn, wenn es dazu dient, Behinderungserfahrungen Jedenfalls hat niemand die Fähigkeit oder das Recht, etwas ande- zu vermeiden und das Kohärenzgefühl zu unterstützen. res zu behaupten. Mit Menschen umzugehen heißt immer, damit zu rechnen, dass mein Gegenüber von einem religiösen Glauben getragen ist. 1 Wilhelm Gräb, Sinnfragen, Gütersloh 2006, S. 41; 2 Aaron Antonovsky, Salutogenese, Tübingen 1997 06 HephataMagazin 57 l August 2021 HephataMagazin 57 l August 2021 07
Erkundungen zum Thema © rh2010, stock.adobe.com „Spiritualität im Alltag“ Rituale schaffen Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung Fotos: © Ralf Ramacher von Ralf Ramacher von Alwin Braunsmann Rituale helfen uns, unseren Alltag ein Stück Im Verlauf des Lebens durchlaufen wir meh- Hier ist dann Geduld gefragt, von den Men- Die Anfrage lautete, ob ich für das HephataMagazin einen für Alex V. mit Mama telefonieren. Wichtige Bezugsmenschen und vorhersehbarer zu machen. Ereignisse, die rere Entwicklungsphasen, in denen Rituale schen in der Assistenz genauso wie von den Artikel zum Thema „Spiritualität bei Menschen mit sog. geis- kleine Alltagsrituale, wie das Wichteln in der Gruppe an Weihnach- wiederkehren und im Procedere gleich blei- eine ganz unterschiedliche Bedeutung ha- Menschen mit sog. geistiger Behinderung, tiger Behinderung“ schreiben wollte. Daraus entwickelte sich ten oder die Lieder zum Geburtstag: „Wie schön, dass Du geboren ben, tragen dazu bei, Abläufen eine gewis- ben. Hierbei helfen uns Kenntnisse sozio- wobei Letztere allerdings oftmals gar keine spontan die Idee, in einem Workshop diesem Thema nach- bist…“. Und für Tim L. war klar: „Ich bin ein großer Sänger“ und se Struktur zu verleihen und sie dadurch emotionaler Entwicklungstheorien1. Geduld haben, entwicklungsgemäß unter zugehen. wenn es ihm gut geht, singt er. durchschaubarer zu machen: Vertrautheit Umständen gar nicht haben können. Auch Und so kam es, dass ich an einem Sonntag im Juni mit vier Men- Nach zweieinhalb Stunden ist die Luft raus und die Konzentration schafft Vertrauen. Menschen mit sog. geistiger Behinderung in solchen herausfordernden Situationen schen, die dort leben, am Frühstückstisch der ambulant betreuten lässt nach, also beenden wir unsere Entdeckungsreise. Gewiss durchlaufen dabei die gleichen Entwick- können Rituale hilfreich sein, hier beispiels- Wohngemeinschaft auf dem Tomper Weg in Mönchengladbach lassen sich diese Eindrücke nicht verallgemeinern, doch meinte Julia Wenn wir die Halt und Orientierung geben- lungsphasen wie sog. normale Menschen weise: um das (Ab-)Warten zu strukturieren, saß. Bei einem Kaffee stellte sich schnell heraus, dass alle neugierig Höwelmeier in der kurzen Nachbesprechung u.a., dass die Teilneh- de Bedeutung von Ritualen erkennen und – was auch immer normal sein mag. Sie tun bis man an der Reihe ist. waren auf den Besuch. menden konzentriert dabei waren und viel persönlich von sich Rituale gemeinsam mit- und ausgestalten, dies jedoch häufiger in einer anderen Ge- Bunte Tücher markierten nach der Frühstücksrunde, dass es los berichtet haben. Und sie hatte auch schon Ideen, wie sie das Thema vermitteln sie uns das Gefühl von Gemein- schwindigkeit und manche durchlaufen Auch insofern schaffen Rituale Vertrauen, geht. Und der Einstieg mit einer Klangschale war zufällig gut ge- beispielsweise mit den auf der Gruppe üblichen Piktogrammen samkeit. Und gemeinsam lässt sich Vieles auch nicht alle Phasen bis zum Erwach- Zuversicht und Hoffnung und sind somit ein wählt. „Klangschalen haben wir auch, meinte Tim L. und zeigte auf weiter aufgreifen könnte. Abschließend sagte die Teamleiterin: „Ich oftmals leichter tragen. sensein. durch und durch spirituelles Thema, gerade fünf unterschiedlich große Schalen im Regal. „Das machen wir denke, das Thema Glaube ist gesellschaftlich allgemein noch stark auch für Menschen mit sog. geistiger Behin- abends, zum Runterkommen.“ So konnten wir gleich an etwas an die Kirche gebunden und Spiritualität nicht einfach (be-)greifbar. Rituale können einen Bezug zu Höherem So kann es vorkommen, dass sie sich mit derung. Vertrautem anknüpfen. Vertrauensbildend war gewiss auch, dass herstellen und insofern Hoffnung und Zu- ihren sozio-emotionalen Bedürfnissen auf Julia Höwelmeier, die Teamleiterin der WG, dabei war und manch- Auf der Rückfahrt im Auto gehen mir manche Äußerungen noch versicht spenden: Gemeinsam ein Gebet einer niedrigeren Entwicklungsstufe befin- mal „übersetzt“ hat. durch den Kopf und ich bin sicher: „Auch mir täte es gut, in den 1 Sappok, T., & Zepperitz, S. (2019). Das Alter der sprechen oder ein Kirchenlied anstimmen, den, als es ihr Lebensalter oder auch ihre Gefühle: über die Bedeutung der emotionalen Über Gegenstände und vor allem über Fotokarten haben wir dann Arm genommen zu werden, wenn ich traurig bin.“ dem lieben Gott abends vor dem Schlafen- kognitiven Kompetenzen vermuten lassen. Entwicklung bei geistiger Behinderung. Hogrefe. das Thema in kleinen Gesprächsrunden erkundet. Da gab es ein gehen ein ganz privates Dankeschön sagen. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit kann rotes Herz aus Glas oder eine kleine Kerze in Form einer Marienfigur. Teamleiterin Julia Höwelmeier: „Unsere Kunden sind ganzheitlich Rituale können Sinn stiften und Identität für die Menschen selbst, aber auch für ihr Bei dieser kam schnell die Verbindung zur Kirche auf: „Das ist Maria, zu betrachten und dazu gehört auch ihre emotionale Entwicklung, bilden. soziales Umfeld manchmal schwer zu ertra- die steht in der Kirche“. Und für Katharina K. war es eine gute Fantasie und Vorstellungskraft. Umso mehr freue ich mich über gen sein: Einerseits sind sie erwachsene Bür- Gelegenheit, zu erzählen, dass sie Messdienerin ist und sich auf den einen gelungenen Vormittag, an dem es Herrn Ramacher durch gerinnen und Bürger, die beispielsweise gemeinsamen Ausflug der Messdiener*innen freut. Das kleine seine spontane, freundliche und aufgeschlossene Art gelungen ist, selbstverständlich ihr Wahlrecht ausüben; Holzkreuz hingegen wurde sofort mit Friedhof verbunden. unsere Kunden miteinander in Kommunikation zu bringen! Die © Pixel-Shot, stock.adobe.com auf der anderen Seite brauchen sie vielleicht Überhaupt waren Beerdigungen, der Tod von lieben Menschen und gemeinsame Betrachtung von kleinen Mitbringseln sowie der manchmal die sozio-emotionale Geborgen- traurig sein darüber, immer wieder mal Thema an diesem Morgen. Themen-Bildkarten sprach die Kunden sehr an. Die Fragen, was heit eines Kleinkindes. Und nicht selten fehlen Und alle am Tisch wussten was sie machen können, wenn jemand ist mir im Leben wichtig, wer ist mir wichtig, woran glaube ich, was ihnen gerade in solchen Situationen dann die traurig ist: Trösten! Für Alina W. bedeutete das konkret: in den Arm gibt mir die Kraft, was tut mir gut, was mache ich gern, was macht sprachlichen Kompetenzen, um diese Bedürf- nehmen und festhalten. Ebenso deutlich waren die Vorstellungen, mit glücklich oder traurig waren hier Thema.“ nisse erfolgreich zu kommunizieren. was sie selber tun, wenn es ihnen nicht gut geht: Musik hören oder 08 HephataMagazin 57 l August 2021 HephataMagazin 57 l August 2021 09
Spiritualität Spiritualität im Alltag von Angela Rietdorf ist nicht einfach da... … HAT ETWAS MIT ERFAHRUNG ZU TUN. Die Gesprächspartnerin im Interview von Angelika Rietdorf (siehe nehmen, die jeweilige Beschäftigung kurz zu unterbrechen, um linke Seite) beschreibt, dass sie auf Spaziergängen mit Gott in bewusst zu atmen oder ein Achtsamkeitsübung zu machen oder Kontakt kommen kann. Andere finden dies, wenn sie sich still in ein Gebet zu sprechen oder was auch immer einem hilft. © tierfoto-guenzburg, stock.adobe.com Kirchen setzen oder an Gottesdiensten teilnehmen oder sich in bestimmten Gruppen versammeln oder Musik hören. Oder anders. Wem es mehr um konkrete inhaltliche Impulse geht, der findet Apps wie z.B. „Andachtsapp“ oder „Xercise“ im AppStore. Letztere ist Spirituelles Leben hat also etwas mit bestimmten Orten zu tun. eine Adaption der Form des ursprünglich klösterlichen Stundenge- Auch mit unterschiedlichsten Medien und Methoden. Viele bets für den digitalen Raum. Menschen suchen für sich Input und Anlässe, das Thema in den Viele machen auch gute Erfahrungen mit den „Perlen des Glaubens“, Alltag zu holen, der ja bekanntlich das Gehirn mit vielerlei welt- die dabei helfen, sich meditativ auf Wesentliches zu fokussieren. lichen Herausforderungen und Dingen beschäftigt. Wo ist da Platz Das gibt es als „Rosenkranz“ im Katholizismus und als „Misbaha“ für den Geist? im Islam, als „Mala“ im Buddhismus und Hinduismus. Ein Gespräch über einen individuellen Weg Konkrete Hilfsmittel, Spiritualität im Alltag zu leben, sind zum einen die alten, traditionsreichen Medien wie Abreißkalender mit geist- lichen Texten für jeden Tag (z.B. Neukirchener Kalender) oder die täglich wechselnden „Herrenhuter Losungen“: für jeden Tag einen ausgelosten und einen zugeordneten Vers aus der Bibel und dazu passend ein Gebet. Das alles gibt es natürlich mittlerweile auch Glaube, Religion, Spiritualität, Erfahrungen, die Finsternis oder Licht in die digital. © bvfs, stock.adobe.com https://www.andachtsapp.de/ eigene Seele bringen, werden in unserer Gesellschaft als strikte Privatsache https://xrcs.de/ Produkte der Moderne sind Apps für Computer und Smartphone. betrachtet. Darüber wird nicht gesprochen, schon gar nicht mit Fremden. Auch hier finden sich viele verschiedene Angebote. Für Menschen, https://mindfulbell.app/ Umso gespannter bin ich auf meine Gesprächspartnerin an diesem sonni- die einfach nur den Alltag unterbrechen und dies nicht mit Hilfe https://www.losungen.de gen Morgen, an dem wir auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung des Stundenschlags der Kirchenglocken tun wollen oder können, Oder vielleicht doch ein Mandala ausmalen? Hephata verabredet sind. Was sie mir erzählt, möchte sie mit anderen …sie entwickelt sich gibt es zum Beispiel die App „Mindbell“. Es erklingt ein Gong in Was auch immer bei einem Menschen wirkt, ist sehr persönlich. einem frei festzulegenden Intervall und man kann dies zum Anlass Der Zweck heiligt die Mittel. teilen. Gleichzeitig aber soll es persönlich bleiben. Deswegen werde ich ihren Namen nicht nennen. im Laufe des Lebens, Und so erzählt sie mir von ihrem Weg, der „Ich habe viel gebetet in dieser Zeit. Um sie von der weit verbreiteten Auffassung von Heilung oder Erlösung.“ Nach seinem Tod macht Veränderungen Religion als freundlichem Accessoire an ringt sie mit sich. War es richtig, um Erlösung Feiertagen wie Weihnachten zu einem tie- feren Verständnis von Leben und Tod ge- zu bitten? Ist sie schuld an seinem Tod? Doch sie kommt mit sich ins Reine, hat das Gefühl, durch, ist inneren und führt hat. „Ich bin getauft und konfirmiert, dass das Gebet sie trägt und ihr Kraft gibt. aber nicht ernsthaft christlich erzogen“, sagt äußeren Einflüssen sie. Im Konfirmandenunterricht habe es Wenn das Schicksal zu einem Schlag aus- Berührungspunkte mit dem Glauben ge- geben und auch eine kirchliche Trauung sei holt, spricht sie mit Gott. Meist, wenn sie mit ihren Hunden draußen in der Natur ausgesetzt für sie wichtig gewesen, doch das führte unterwegs ist. „Ich habe das Gefühl, gehört nicht zu einer intensiveren Auseinander- zu werden. Es tröstet mich und gibt mir setzung mit spirituellen Themen. Aber dann Kraft.“ Es gibt Dinge, Emotionen, Erfahrun- – die Trauung liegt gerade drei Monate zu- gen, die sie mit den Menschen nicht teilen rück – stirbt der Vater. „Ich hatte ein sehr möchte. Aber mit Gott. enges Verhältnis zu ihm“, sagt meine Ge- sprächspartnerin. Zum ersten Mal kommt Aus dem, was sie beim Tod geliebter Men- sie so bewusst mit dem Tod in Berührung. schen erfahren hat, zieht sie Schlüsse für Und plötzlich sind da die existentiellen Fragen: ihre eigene Existenz. „Ich gehe jetzt acht- Was ist der Mensch eigentlich? Was macht samer durch das Leben, sehe genauer hin, ihn aus? Ist er nur ein Körper mit seinen was um mich herum geschieht. Ich genieße Funktionen, die erlöschen? „Nein“, sagt sie. die Natur, das Rauschen der Bäume, den „So ist es nicht.“ Sie gelangt zu der Erkennt- Wind auf meiner Haut, die Menschen um nis: „Der Mensch ist mehr als Fleisch und mich herum.“ Sie sei dankbar, Vater und Blut. Der Körper ist nur das Gefäß, die Bruder gehabt zu haben und versuche, nicht Persönlichkeit verschwindet nicht, wenn das ständig die Zukunft zu planen, sondern be- Gefäß verbraucht ist.“ Das, was man Seele wusst in der Gegenwart zu leben. Mir gehen © actionplanet, stock.adobe.com nennt, ist weiterhin da. Jahre später stirbt die Worte Jesu aus der Bergpredigt durch © Tom Bayer, stock.adobe.com der geliebte ältere Bruder, nur acht Wochen, den Kopf: „Sorgt also nicht für den morgi- nachdem die Diagnose Leukämie gestellt gen Tag, denn der morgige Tag wird für das wurde. Täglich besucht sie ihn im Kranken- Seine sorgen.“ Eine Frau geht ihren ganz haus, erlebt das Schwanken zwischen Hoffen eigenen Weg und findet ihn doch in der und Bangen, seine Angst, sein Leiden. christlichen Botschaft gespiegelt. 10 HephataMagazin 57 l August 2021 HephataMagazin 57 l August 2021 11
GEMEINSAM SINGEN © stock.adobe.com © Christian Mauer Deutsches Gebärden-Alphabet UND BETEN A H Ä I B J C K D L E M F N Ö G – ohne Gehör von Annette Beuschel O P Q R SCH S T Ü U V W X Y Z Und führe uns nicht in Versuchung. Pfarrerin Annette Beuschel gebärdet das Vater unser. Geht das überhaupt? Gemeinsam singen und beten – Apostel auch in der Gebärdensprache pre- selbst deuten. Zum Beispiel die Bitte: Und Deutsche Gebärdensprache digte. Denn die christliche Botschaft wirkt führe uns nicht in Versuchung. Der sich zum- ohne Gehör? Singen? Gemeinsam ein Gebet sprechen? seit neustem auch doch nur, wenn sie das Herz erreicht. Körper krümmende Zeigefinger (im Halbkreis Kulturerbe Wie soll das möglich sein, ohne sich selbst und den vor dem Körper wiederholend) ist hier die Gebärden, die sich beinah von selbst Gebärde für das Wort Versuchung. Seit dem 19. März 2021 gehört die Deutsche anderen zu hören? verstehen. Gebärdensprache zum Immateriellen Kul- Gemeinsam singen und beten – ohne Gehör! Gebärdenden … Die meisten Gehörlosen wol- Auch Hörende können sich in einem Got- Selbstverständlich werden auch zusammen- turerbe in Deutschland. Nach Auffassung Ja! Und wie! Zum Beispiel in einem Gebär- len erleben, wie die Bibel gebärdet wird. Sie tesdienst, der in Gebärdensprache gefeiert hängende Texte gebärdet, die den Gram- der UNESCO vermittelt die Deutsche Gebä- denchor. Mich beeindruckt es immer wieder, wollen Gebärden und Gesichter sehen.“1 wird, die eine oder andere Gebärde selbst matikregeln der Gebärdensprache folgen. densprache (DGS) Identität und Kontinuität Der Gebärdenchor BBW Leipzig beim 5. Traumkonzert Quelle Screengrab: https://traumkonzert.de/ so eine musikalische Formation zu erleben. Gehörlose Gemeindemitglieder gestalten erschließen. Gebärden haben innerhalb des Im Gottesdienst sind das meistens die Pre- und sorgt für eine gleichberechtigte Teilhabe von der Website der Bürgerstiftung Chemnitz Ein Gebärdenlied kann sowohl ein alter Choral deshalb den Gottesdienst auch aktiv mit dreidimensionalen Gebärdenraums ihren digt und die biblische Lesung. Im Internet am gesellschaftlichen, kulturellen oder po- als auch ein moderneres Kirchenlied sein. In etwa durch Gebärdenlieder, die in einem Ort. Das ist der körpernahe Bereich, in dem gibt es dazu reichlich Anschauungsmaterial. litischen Leben, unabhängig von technischen beiden Fällen muss der Text ohnehin zuerst bestimmten Rhythmus synchron gebärdet die Gebärden ausgeführt werden. Er schließt Kommunikationsmitteln. Die Deutsche Ge- in Gebärdensprache übersetzt werden. Die werden. Die Gehörlosenkultur redet auch die beim Gebärden einbezogene Körper- So habe ich für die Online-Ausgabe der bärdensprache bildet das soziale und kul- Kommunikation in Gebärdensprache ist die von Gebärdenpoesie. Sehr viel Bewegung oberfläche des Sprechers mit ein. Durch diese Rheinischen Post die Weihnachtsgeschichte turelle Fundament der deutschen Gehörlo- elementare Bedingung für jegliche Form von ist dann im Kirchenschiff zu sehen. Gebärden Begrenzung auf den Bereich vor Oberkörper aus Lukas 2 gebärdet. Das Video ist abrufbar sengemeinschaft. Spiritualität unter Gehörlosen. Ohne sie sind ja viel mehr als ein Handzeichen. Der und Kopf können die Gesprächspartner bei YouTube. Um die Eingangsfrage noch einmal aufzu- geht es nicht. Das ist ihre eigene Sprache, ganze Oberkörper mit Kopf, Armen, Händen Gesichts- und Handaktivitäten gleichzeitig greifen: Geht das überhaupt? Gemeinsam die Muttersprache der Gehörlosen, die Spra- und Fingern wird zum Gebärden eingesetzt. wahrnehmen. singen und beten – ohne Gehör? Die Antwort che, die Herz und Gefühl erreicht. Daneben spielen auch die Mimik, das Mund- In diesem Gebärdenraum hat zum Beispiel lautet: Ja! Nämlich in Gebärdensprache. bild und die Handstellung eine wichtige die Gebärde für Gott ihren Platz: Vater, Gebärdensprache als Muttersprache Rolle. Der Blickkontakt ist enorm wichtig. Sohn, Heiliger Geist. Die Gebärde für Gott Im Alltag müssen sich Gehörlose mit viel wird in Höhe der Stirn angesetzt: Daumen, Mühe unter Hörenden zurechtfinden. Das In der aktuellen Situation erschwert das Zeigefinger und Mittelfinger zeigen Richtung ist anstrengend. Schon deshalb ist es wich- Tragen der Mund-Nase-Maske die Kommu- Himmel: Sie stehen für Vater, Sohn und tig, dass sie in der Kirche in ihrer Sprache nikation zwischen Gehörlosen und Hören- Heiliger Geist. © screengrab:youtube/rp und in ihrer eigenen Kultur barrierefrei von den. Wenn das Mundbild wegfällt und die Wenn man nun wie im Glaubensbekenntnis Gott hören und ihn in der Gebärdensprache Mimik nur eingeschränkt wahrzunehmen insbesondere auf Jesus Christus zu sprechen loben können. Denn für Gehörlose ist es ist, dann können Gehörlose nichts mehr kommen will, wird folgende Gebärde ver- kompliziert, die Bibel in Schriftdeutsch zu verstehen. wendet: die beiden Mittelfinger deuten je lesen und zu verstehen. in der Mitte der gegenüberliegenden Hand- Neben den Gebärdenliedern gibt es im Got- fläche die Wundmale Jesu am Kreuz an. Anmerkungen: Entsprechend äußert sich auch Jennifer Emler, tesdienst auch das „Glaubensbekenntnis“ Auch beim zentralen Gebet der Christenheit 1 Das ganze Interview von Jennifer Emler in: gehörlos und Mitglied der Evangelischen und das „Vater unser“, beides wird selbst- können sich Außenstehende manche Bitte Reformation - ein theologischer Impuls, 2017, Gehörlosengemeinde Mönchengladbach: verständlich mit gemeinsamen Gebärden herausgegeben von der Evangelischen Kirche im © aradaphotography, stock.adobe.com Rheinland, S. 35 „Da ich gehörlos bin, gehe ich in Gottes- gesprochen und gebetet. So kann ein inten- dienste in Gebärdensprache … Die Gebär- sives Gefühl von Gemeinschaft entstehen Literaturtipp: Helene Jarmer, Schreien nützt nichts. densprache vermittelt die wesentlichen und Spiritualität erlebt werden. Mittendrin statt still dabei. Südwest Verlag, 2011. H. © screengrab:br Inhalte eines Textes und auch die Gefühle, Im Blick auf das pfingstliche Sprachwunder Jarmer ist 2009 die erste gehörlose Abgeordnete im die der Text ausdrücken soll. Ich verstehe in Jerusalem halte ich es nicht für ausge- deutschsprachigen Raum. Die Politikerin plädiert in ihrer Autobiographie für ein barrierefreies Miteinander alles durch die Gebärden und die Mimik des schlossen, dass damals wenigstens ein zwischen Hörenden und Gehörlosen. Ohne den Code zu entschlüsseln verstehen Sie nichts? Nutzen Sie den QR-Code! 12 HephataMagazin 57 l August 2021 HephataMagazin 57 l August 2021 13
Spirit Die ualität von Harald Ulland Der Titel eckt an. Kann die „Evangelische Stiftung Hephata“, das Unternehmen Mensch, „spirituell“ sein oder eine Spiritualität haben?1 Bezieht sich Spiritualität nicht in erster Hephatas Linie auf Menschen? Und wenn das so ist: kann man überhaupt noch von „der“ im Sinne von einer alle verbindenden Spiritualität sprechen, wo doch unsere Gesellschaft zuneh- mend entkirchlicht ist und die Konfessionen und Glaubensüberzeugungen der Kunden und Mitarbeitenden – meist katholisch – an den vielen verschiedenen Standorten Hephatas so vielfältig sind? Richtig ist, dass es in dem Sinne keine allgemeine, evangelisch geprägte Spiritualität Hephatas gibt, auch wenn „Evangelisch“ quasi der Vorname der Stiftung ist. Dennoch ist es nötig, sich der Frage zu nähern, und das nicht allein wegen der geforderten Treue zum Stifterwillen. Ein Sozialunternehmen in der religiös pluralen Welt muss sich erkennbar profilieren. Nicht als Etikett, sondern lebendig. Es geht vor allem um das Wohlergehen von Kunden, die sich bestens behandelt und gefördert wissen wollen. Ohne Kunden kann ein Unternehmen seinen Zweck nicht erfüllen. Aber es geht natürlich auch um die Mitarbeitenden, mittlerweile ein seltenes Gut. Gerade in helfenden Berufen ist Burnout ein Thema und in einem Unternehmen können gelebte christliche Werte prophylaktisch wirken: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.2 Jesus stellt die Liebe zu sich selbst und die Nächstenliebe gleich- berechtigt nebeneinander. Das kann und muss vielfältig entfaltet werden. Zufriedene oder sogar begeisterte Kunden und Mitarbeitende sind das Ziel und zugleich die Basis Hephatas. Die große Frage ist aber: wie geht das? Wie kann die christliche Profilierung eines Sozial- unternehmens so geschehen, dass sie allen genannten Rahmenbedingungen und Erforder- nissen gerecht wird? In diesem Aufsatz verfolge ich die These: wenn der Gründergeist vom Staub der Geschichte befreit sichtbar wird, kann man erkennen, welche Teile von ihm auch heute Kraft entfalten können. Dazu untersuche ich zunächst die Umstände der Unternehmensgründung, bevor ich mich mit der spirituellen Haltung derer beschäftige, die für die Unternehmensgründung ver- antwortlich waren. Die Gründung Hephatas I: FORSCHERGEIST UND UNTERNEHMERGEIST Mitte des 19. Jahrhunderts erfährt der evangelische Pfarrer Julius Disselhoff in Kaiserswerth von der schrecklichen Vernachlässigung, unter der Menschen mit Behinderung leiden, die aus Scham und wohl auch wegen der Erwerbstätigkeit der Eltern in den Häusern eingesperrt werden. Disselhoff will es genau wissen und erstellt die wohl erste Forschungsarbeit zur Lage der Menschen mit Behinderung in den deutschen Ländern.1 Das Ergebnis: die Zustände schreien gerade in Preußen (in dessen Gebiet auch das heutige NRW und die Standorte Hephatas liegen) besonders zum Himmel. Der scharfe Vorwurf: der König interessiert sich wohl mehr für das Wohlergehen von Pferden und Rindern als für das von Menschen mit Behinderung. Disselhoff stellt dar, dass man anderswo viel weiter ist. In Süddeutschland und der Schweiz hat man längst mit der Betreuung und Bildung von Menschen mit Behinderung begonnen. Disselhoffs Untersuchung erscheint 1857 und weckt den Unter- nehmergeist im evangelischen Pfarrer Franz Balke (Rheydt). Er versammelt Menschen, die über das nötige Geld bzw. die Kontakte verfügen, dass aus dieser Idee auch etwas ent- © Hephata Archiv stehen kann: Vertreter von vier Kirchengemeinden und des Johanniterordens beschließen 1858 die Gründung Hephatas. Nur ein Jahr später beginnt die Arbeit. Die Gründung Hephatas verdankt sich also unter anderem diesen beiden hier sichtbar gewordenen Geistern: Forschergeist und Unternehmergeist. 1 Ich verstehe Spiritualität in diesem Artikel im engeren religiösen Sinn, dass menschlicher Geist vom christlich verstandenen göttlichen Geist beflügelt, getrieben, verändert wird, so dass ein Mensch tatsächlich be-Geist-ert ist. 2 Matthäus 19,19 3 Julius Disselhoff, Die gegenwärtige Lage der Cretinen, Blödsinnigen und Idioten in den christlichen Ländern, Bonn 1857 14 HephataMagazin 57 l August 2021
Hier kann man leicht Impulse für gegenwärtige Herausforderungen Was bedeutet dieser Befund für die Frage nach einer Unterneh- Was folgt daraus für die Frage nach der Spiritualität Hephatas? erkennen: Hephata braucht die Nähe zur aktuellen Forschung, um mensspiritualität heute? Hephata kann über Kommunikation und Hephata kann Räume zur Verfügung stellen, in denen eine Begeg- inhaltlich auf der Höhe der Zeit zu sein und bestmögliche Arbeit zu Bildung Fachwissen zur Verfügung stellen, das dabei hilft, gute nung von Menschen und Worten der Bibel stattfinden könnte – tun. Es braucht Unternehmergeist, um unsere Arbeitsfelder weiter- Arbeit zu machen. Hephata kann – wie bereits geschehen –Unter- wenn der Geist denn zünden will. Das bliebe unverfügbar und zuentwickeln. Und es braucht Menschen, die Netzwerke spinnen, nehmenswerte definieren, unsere sog. Kernwerte (Leben, Liebe, setzte allen entsprechenden Bemühungen eine Grenze des Mach- um die Sache der Menschen mit Behinderung in Politik und Ge- Freiheit, Fairness, Zuversicht, siehe den Artikel von Andreas Morneau, baren. Ich finde, das ist eine heilsame Grenze, denn der Machbar- sellschaft sowie bei den Kostenträgern so zu platzieren, dass sie S.18.), die Orientierung für den Geist geben sollen, in dem die Arbeit keitswahn führt ja viele Menschen in die Überforderung. Aber nur auch richtig wahrgenommen und auskömmlich finanziert wird. getan werden soll. Aber das ist noch keine Spiritualität. Da fehlt weil sich etwas dem direkten Zugriff entzieht ist es ja nicht unmög- Was war damals an der Forschung und der Unternehmensgründung noch etwas: die „Zündung“. Der Heilige Geist zündet ja leider nicht lich, dass es sich dennoch ereignet. Nur eben nicht auf Kommando, © Iakov Kalini, stock.adobe.com „spirituell“? Brauchte es überhaupt eine religiöse Überzeugung auf Kommando, er zündet wo er will.3 Wie kann diese besondere sondern wenn es „zünden“ will. Solche Begegnungsräume sind oder hätte das nicht auch ohne eine solche funktioniert? Art der Be-Geist-erung gefördert werden (sofern Menschen die daher eher unter der Rubrik „Chancen“ zu sehen. nicht schon mitbringen), die Menschen über sich hinausführt und Die Gründung Hephatas II: MENSCHLICHER GEIST UND sie in Kontakt mit dem guten Geist Gottes bringt, in dem aus Werten Schließlich geht es bei dem Thema Spiritualität bei Hephata auch HEILIGER GEIST Überzeugungen werden? Kann man als Unternehmen Prozesse und nicht zuletzt um die Menschen mit Behinderung. Die Spiritua- Interessant ist es die Bedingungen zu verstehen, die zur entschei- initiieren, die dabei helfen, dass Menschen spirituell gestärkt werden, lität Disselhoffs und der Gründerväter Hephatas bietet hier die denden Wende führten. dass sie Zugang zu göttlicher Lebenskraft und Liebe finden, die vielleicht überraschendsten Punkte. Man kann vier Elemente erkennen. Erstens ist es das notwenige ihnen selbst und dem Nächsten gilt? Spiritualität als Chance Wissen von der Not der Menschen mit Behinderung. Zweitens ist Hephata braucht Raum für Be-Geist-erung, die der Arbeit am es die durch die Untersuchung sichtbar gewordene Idee, wie mög- In der Schrift Disselhoffs kann man ein wenig mehr darüber er- Menschen und für Menschen zugute kommt. Hephata braucht liche Hilfe aussehen könnte, die das Packan lieferte. Drittens kann fahren. Teilhabe und Spiritualität Spiritualität. man den Willen erkennen und eine dahinter liegende Überzeugung Was Julius Disselhoff bewegte ist nicht nur, dass Menschen mit Es können die Rahmenbedingungen hergestellt werden, in denen voraussetzen, dass man etwas gegen die erkannte Not unternehmen geistiger Behinderung weggesperrt wurden, sondern dass - gerade sich spirituelle Prozess ereignen können. Dazu gehört die Zuver- muss. Spiritueller Dreisatz: Sehen - Hören - Machen sie! - keinen Zugang zu dem Trost des Glaubens hatten. „Wenn er fügungstellung von Bildung in vielerlei Weise, auch religiöser Nicht zuletzt muss da aber viertens auch ein Zündfunke gewesen Disselhoff zitiert einen Bibelvers: „Tue deinen Mund auf für die (= der Mensch mit geistiger Behinderung) nur fühlte, dass, wenn Bildung. Dazu gehört auch, dass Räume eröffnet werden, in denen sein, der alles mit einer Initialzündung ans Laufen brachte, wie das Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“4. Das tut auch Menschenaugen von ihm sich wegwenden, Gottes Auge doch interessierte Kunden und Mitarbeitende spirituelle Erfahrungen Benzin-Luft-Gemisch durch den Funken der Zündkerze zur Explosion Disselhoff bewusst, weil der Vers für ihn offenbar eine große auch immer auf ihn gerichtet ist! Wenn er nur wüßte, dass, wenn machen und vielleicht Formen einer lebendigen, zeitgemäßen kommt und den Motor in Bewegung setzt. Denn es ist eine traurige Überzeugungskraft besitzt. Das ist ja durchaus bemerkenswert: eine Menschenmund ihn entartet nennt, der Sohn Gottes sich nicht Spiritualität finden (siehe den Artikel von R. Ramacher S.9). Es ist eine Tatsache, dass es viel Not in der Welt gibt, von der viele Menschen zweieinhalbtausend Jahre alte Aufforderung aus dem Buch der schämt, ihn Bruder zu nennen…“.5 Behinderung darf also nach große Chance, Texte aus der Bibel so ins Gespräch zu bringen, dass wissen - und die dennoch nichts dagegen tun, obwohl sie es könn- Sprüche ist offenbar plötzlich den Grenzen der Buchdeckel ent- Disselhoff kein Grund dafür sein, einem Menschen den Zugang zur sie als echte Gesprächspartner für heutige Menschen erkennbar ten. So war es auch damals. Irgendetwas muss geschehen sein, ronnen und von ihrer zeitlichen Entstehungssituation befreit und tröstenden Welt des Glaubens zu versperren. Damit formulierte er werden. Ebenso ist es lohnenswert, sich mit der Spiritualität derer damit sich das änderte. Aber was? In christlicher Begrifflichkeit hat wird von Disselhoff aktuell als eine Botschaft für sich persönlich einen Auftrag zur religiösen Bildung von Menschen, die eigentlich zu befassen, auf deren Initiative die Gründung Hephatas zurückgeht. man ein Bild dafür: solche Zündfunken erzeugt der Heilige Geist gehört, so als hätte Gott gesagt: „Julius Disselhoff, tue DU deinen als nicht bildungsfähig galten. Modern ausgedrückt: die Eröffnung Denn ihr gelebter Glaube bietet die Möglichkeit, gegebenenfalls (lat.: spiritus sanctus), der laut Bibel Menschen „entflammt“.2 Mund auf für die Schwachen und für die Sache aller, die verlassen von Teilhabemöglichkeiten auch in Sachen Spiritualität ist gefordert. etwas zu finden, was einen selbst weiterbringt. Wissen + Ideen + Überzeugung + Geist = Unternehmensgründung. sind“. Das setzt Disselhoff in Bewegung. Dazu gehört auch religiöse Bildung. So kann das Feld dafür bereitet werden, dass sich Menschen direkt Auf dem Schmuckblatt, das zur Gründung Hephatas erstellt worden angesprochen fühlen und der Funke überspringt, der sie tröstet, ist (S.15), findet sich unter anderem ein Zitat Jesu. Es wird auf dem orientiert, stärkt, begeistert oder in Bewegung setzt. Dabei ist es Blatt in den Kontext von Behinderung gesetzt und stellt so die nicht wichtig, welcher Konfession oder Religion jemand angehört. verbreitete Betrachtungsweise von Menschen mit Behinderungen Keiner ist ausgeschlossen und alle sind eingeladen. Das ist eine auf den Kopf: „Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge Antwort auf die oben gestellten Fragen: die Spiritualität Hephatas, hast Du Lob zugerichtet“.6 Unmündige und Säuglinge sind der wenn es sie denn gibt, kann nicht anders als inklusiv gedacht wer- Inbegriff derer, die nicht ernstgenommen werden. Aber gerade den. ihnen erkennt Jesus eine besondere Würde zu, denn sie formulieren das Lob Gottes - im Gegensatz zu vielen anderen, die äußerlich besser dastehen. Das gehört auch in die geistliche DNA Hephatas hinein. Menschen mit Behinderung werden geachtet als potentiell spirituelle Wesen und als solche, durch die Gott selbst sprechen will. Oder weltlich ausgedrückt: durch die man in Beziehung kommt mit dem Grund des Lebens. Viele Mitarbeitende Hephatas erleben das so, in welchen Worten auch immer sie es ausdrücken würden. Was folgt daraus für heute? Zum einen die Erkenntnis, dass die Spiritualität unserer Kunden einen selbstverständlichen Platz im Unternehmen haben muss. Unser Anspruch, Teilhabe zu ermögli- chen, umfasst auch dieses Feld. Zum andren muss die Haltung immer wieder gestärkt werden, Menschen mit Behinderung als © c-chez-marc, stock.adobe.com © Seventyfour, stock.adobe.com möglichen Sprachrohren Gottes mit Hochachtung zu begegnen und sie zu verstehen suchen. Daraus folgt zum Beispiel, dass die Mitarbeitenden bereits während der Ausbildung am Berufskolleg entsprechend geschult werden (siehe die Artikel von Alwin Brauns- mann und Wolf Clüver, S.8, 20). Hier sind allerdings noch weitere Schulungs- und Erfahrungsräume vorstellbar. 4 Apostelgeschichte 2; 5 Johannes 3,6; 6 Sprüche Salomos 31,8. Disselhoff, aaO, V. 7 Disselhoff, aaO, 8 Matthäus 21,16 16 HephataMagazin 57 l August 2021 HephataMagazin 57 l August 2021 17
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