Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell

Die Seite wird erstellt Lui-Horst Blum
 
WEITER LESEN
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
polis aktuell               Nr. 5   2010

                                  Aktualisiert im Juli 2013

Soziale Ausgrenzung
Fokus: Roma in Österreich

         oo Geschichte der Roma
         oo Aktuelle Lebenssituation
         oo Kultur und Sprache
         oo Folklorisierung und Stereotypen
         oo Didaktische Hinweise, Literatur- und Linktipps
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
p o l i s aktuell   2010

    Liebe Leserin, lieber Leser!                                                     Jahren ansässigen Gruppen dieser größten ethnischen
                                                                                     Minderheit Europas, auch formal den Status einer rechtlich
    In Europa leben etwa 12 Millionen Roma, ein großer
                                                                                     anerkannten Volksgruppe gewährte. Dennoch sind Lebens-
    Teil davon am Rande der Gesellschaft und in Armut. In
                                                                                     weise, Kultur und gegenwärtige politische Situation dieser
    dieser Ausgabe rücken wir die Geschichte der Roma in
                                                                                     Minderheit nur wenigen Nicht-Roma bekannt. Der Anschlag
    Österreich in den Blickpunkt. Das Heft basiert auf dem
                                                                                     von Oberwart im Februar 1995, bei dem vier Roma ermor-
    Text des info-blatt 4/2004 der Servicestelle Politische
                                                                                     det wurden, rückte die Roma für kurze Zeit ins Interesse der
    Bildung* und wurde von Petra Cech und Mozes F. Hein-
                                                                                     Öffentlichkeit. Es ist schwierig zu sagen, wie viele Angehörige
    schink aktualisiert und überarbeitet. Es führt in
                                                                                     der Volksgruppe der Roma wirklich in Österreich leben. Viele
    die Geschichte der Roma ein, beleuchtet ihre aktu-
                                                                                     Roma deklarieren sich, beispielsweise bei Volkszählungen,
    elle Lebenssituation in Österreich und gibt Hinweise
                                                                                     aus Angst vor Diskriminierung und Marginalisierung nicht
    für die Behandlung des Themas im Unterricht.
                                                                                     als Angehörige dieser Volksgruppe. So haben sich bei der
    Die Volksgruppe der Roma ist keine homogene Gruppe,
                                                                                     Volkszählung 1991 nur 122 Menschen als Rom/Romni
    sondern setzt sich aus vielen verschiedenen Untergrup-
                                                                                     oder Sinto/Sintiza bezeichnet, zehn Jahre später haben
    pen zusammen, die sich in Sprache und Kulturtraditionen
                                                                                     immerhin 6.273 Menschen Romanes als ihre Umgangs-
    deutlich voneinander unterscheiden und auf diese Unter-
                                                                                     sprache angegeben. Seriöse Schätzungen gehen aber von
    schiede auch Wert legen. Sie sind die größte Minderheit in
                                                                                     30.000 bis 35.000 Roma in Österreich aus.
    der Europäischen Union und werden von der Gesellschaft für
    bedrohte Völker als gefährdet eingestuft.                                        Wir hoffen, dass Ihnen das Heft Anregungen zur Umsetzung
                                                                                     der Thematik im Unterricht gibt und freuen uns wie immer
    Am 16. Dezember 1993 wurden die Roma als sech-
                                                                                     über Ihr Feedback.
    ste Volksgruppe in Österreich anerkannt. Österreich
    wurde somit zu einem der ersten Länder Europas, das                              Patricia Hladschik
    zumindest einzelnen, in Österreich seit mehr als 100                             für das Team von Zentrum polis
                                                                                     patricia.hladschik@politik-lernen.at
    * Die Einrichtung wurde 2006 in das Zentrum polis eingegliedert.

    Die Roma-Hymne Gelem, gelem lungone dromesa
    Die Hymne der Roma widerspricht in vielem dem üblichen Bild von Nationalhymnen. Die Grundlage ist eine traditionelle Melo-
    die aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Text lautet: „Gelem, gelem lungone dromesa | Maladilem bahtale romenca“. Das
    bedeutet: „Ich bin weite Wege gegangen und habe glückliche Roma getroffen“. Ein solcher Inhalt steht in krassem Gegensatz
    zu sonst üblichen Hymnentexten, die von der ruhmreichen Geschichte, der landschaftlichen Schönheit oder den kriegerischen
    Auseinandersetzungen handeln. Er ist jedoch für die Roma absolut stimmig, und dieses Lied wurde 1971 bei einem Kongress der
    Romani-Union in London zur Hymne der Roma erklärt, allerdings von keiner staatlichen Autorität als solche geschützt. Seither
    hat sich dieses Lied weltweit zum Identitätslied vieler Romagruppen entwickelt und wurde in vielen verschiedenen musika-
    lischen Varianten kreativ bearbeitet. (Ursula Hemetek, in: STIMME von und für Minderheiten # 57, Wien )

                                                                      Gelem, Gelem
                                                1. Gelem, gelem, lungone dromenca                 1. Ich bin weite Wege gegangen,
                                                         malaðilem e bute romenca.                und ich habe viele Roma getroffen.
                                                        Barvalenca taj vi e čorenca               Reiche und Arme habe ich getroffen
                                                        taj vi lenge bute šavorenca.              und auch ihre vielen Kinder.

                                                     Refrain: Aj, romalen, aj šavalen.            2. Roma, woher kommt ihr?
                                                                                                  Woher kommt ihr, die ihr so viele seid?
                                                    2. Aj romalen, katar tumen aven?
                                                                                                  Wir kommen aus Indien
                                                           Katar aven romale butalen?
                                                                                                  Wir Roma sind alle wie eine große Familie.
                                                             Amen avas anda e Indija,
                                                       sa le Rom sam sar jek familija.            3. Oh, Roma, es war ein schwerer Weg,
                                                                                                  den wir gegangen sind auf dieser Welt.
       3. Aj romalen, kado drom sas pharo kaj phirasas ando them, o baro.
                                                                                                  Mit Wagen und mit ärmlichen Zelten,
                Vurdonenca taj čore cerenca, e asvenca taj bare dukhenca.
                                                                                                  mit Tränen und mit Schmerzen.
                            (Version von Ruža Nikolić-Lakatos| Text: Miso Nikolić, April 1994)

2   www.politik-ler ne n . a t
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
Nr. 5   Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h

        1 Geschichte
        Die Herkunft der Vorfahren der Roma aus Indien ist unbe-         Praxis der einzelnen Landesfürsten in einem Land Verban-
        stritten. Durch sprachwissenschaftliche Daten ist heute          nungsbefehle des Kaisers verschärft wurden, während sie
        nachgewiesen, dass die Vorfahren der Roma aus Zentral-           im anderen missachtet oder sogar abgeschafft wurden.
        indien über Nordindien nach Europa ausgewandert sind.            Dadurch waren die Roma gezwungen, von einem Herr-
        Die genaue zeitliche Einordnung ist nicht möglich, aber          schaftsgebiet zum nächsten zu wandern.
        es ist wahrscheinlich, dass die Auswanderung lange vor
                                                                         1674 erhielt der „Zigeunerwoiwode“ Martin Sarközi von
        dem 10. Jahrhundert begann. Stationen dieser Migration
                                                                         Graf Batthyány einen Schutzbrief zur Ansiedlung auf sei-
        und deren Reihenfolge lassen sich anhand der Lehnwör-
                                                                         nen Besitzungen im Südburgenland. Die Batthyány waren
        ter in der Sprache der Roma feststellen: Persien, Arme-
                                                                         in den Türkenkriegen auf Seite der Türken, die kaiser-
        nien und, wahrscheinlich mit sehr langem Aufenthalt,
                                                                         lichen Verordnungen waren für sie somit kaum beachtens-
        Kleinasien, welches zum Byzantinischen Reich gehörte
                                                                         wert. Im Gegensatz dazu vertrieben die habsburgtreuen
        und daher durch die griechische Kultur geprägt war.
                                                                         Eszterházy die Roma von ihren Besitzungen. Als 1688
        Allen europäischen Varianten des Romanes ist neben per-
                                                                         große Teile Westungarns von den Habsburgern zurück-
        sischen und armenischen Lehnwörtern ein Grundbestand
                                                                         erobert wurden, hatte das auch schwerwiegende Kon-
        griechischer Prägungen gemeinsam, der auf einen langen
                                                                         sequenzen für die dort ansässigen Roma: Es galt wieder
        gemeinsamen Aufenthalt in Kleinasien hinweist.*
                                                                         ein fast 200 (!) Jahre alter Beschluss des Reichstages von
        Die Turkisierung des Balkans führt die Roma ab dem 14.           Augsburg, wonach „keiner, der einen Zigeuner schädigte,
        Jahrhundert aus dem Balkan heraus bis nach Mittel-,              eine Sünde beging“. Die Roma waren somit für „vogelfrei“
        West- und Nordeuropa.                                            erklärt, und es kam zu Verfolgungen größeren Ausmaßes.

        Ab dem 15. Jahrhundert begannen größere Gruppen von              Verschärft wurde die politische Situation der Roma im
        Roma aus Zentralungarn in das damalige Westungarn, das           Herrschaftsbereich der Habsburger durch Verlust der
        heutige Burgenland, einzuwandern.                                wirtschaftlichen Grundlagen: Die Befriedung Westun-
                                                                         garns machte die von den Roma ausgeübten Berufe über-
        In den Ländern des Habsburgerreiches war bis zur
                                                                         flüssig, es wurden keine Waffenschmiede und die Heere
        Regierungszeit Maria Theresias im 18. Jahrhundert die
                                                                         begleitende Musiker mehr gebraucht, der Bedarf an Händ-
        Siedlungspolitik gegenüber den Roma eine ständig wech-
                                                                         lern war ebenfalls äußerst gering. In ihrer wirtschaft-
        selnde: Werden sie von dem einen Lehnherrn verfolgt
                                                                         lichen Existenz massiv bedroht, nahmen Diebstähle und
        und ausgewiesen, dürfen sie beim benachbarten Lehn-
                                                                         Plünderungen durch Roma zu, was wiederum zu immer
        herrn ihre gerade erwünschten Berufe wie Handwerker
                                                                         restriktiveren Maßnahmen gegen sie führte. Inhumane
        oder Händler ausüben. Ändern sich die Herrschaftsver-
                                                                         Verordnungen wurden erlassen, mit denen „die Zigeuner
        hältnisse, ändert sich damit meist auch die Einstellung
                                                                         und jegliches liederliche Gesindel in Österreich“ ausge-
        gegenüber ihrer Gruppe. Der ihnen ausgestellte Schutz-
                                                                         rottet werden sollten. So sollten aufgegriffene Roma u.a.
        brief verliert plötzlich seine Gültigkeit und sie werden für
                                                                         am Rücken gebrandmarkt und abgeschoben werden. Die
        „vogelfrei“ erklärt und müssen fliehen. Der verklärende
                                                                         Durchsetzung dieser – in der Praxis kaum befolgten – Ver-
        Mythos von den „Zigeunern, die immer der unterge-
                                                                         ordnungen wollte man über Sanktionsdrohungen gegen
        henden Sonne nachziehen“, hat in deren ständiger Ver-
                                                                         die zur Ausführung Verpflichteten erreichen: Richter,
        folgung seinen realen Hintergrund, und es gilt wohl eher:
                                                                         die Roma nicht vertrieben, hatten mit „40 Prügeln“ zu
        „Die Roma wandern nicht, sie werden gewandert“.
                                                                         rechnen. Diese Anordnungen hatten in vielen Orten das
        Schutzbriefe, die Niederlassungsfreiheit und Ausübung            berüchtigte „Zigeunerjagen“ zur Folge.
        ihres Handwerks garantierten, wurden für die einzelnen
                                                                         In Ländern anderer Herrschaftsbereiche war die Situation
        Roma-Gruppen gesondert ausgestellt, je nachdem, ob sie
                                                                         der Roma höchst unterschiedlich, so z.B. in den Fürsten-
        für den jeweiligen Grundherrn gerade wirtschaftlichen
                                                                         tümern der Walachei (heutiges Rumänien) und Molda-
        Nutzen brachten oder nicht. Es war auch durchaus nicht
                                                                         vien: Hier gerieten die Roma schon bei ihrer Ankunft für
        ungewöhnlich, dass durch die jeweils unterschiedliche
                                                                         die nächsten 500 Jahre in die Sklaverei bzw. Leibeigen-
        * Ausführlich dazu: Fact Sheets on Roma History des Europarats   schaft. Sie wurden entweder Sklaven der Krone, also des

                                                                                                       w w w. p o l i t i k- ler nen.at   3
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
p o l i s aktuell   2010

    Herrschers direkt, Sklaven der Kirche oder Leibeigene      Um die Roma am Wandern zu hindern, wurde ihnen der
    der adeligen Grundherren. Mit diesem Status waren weit-    Besitz von Pferden und Fuhrwerken verboten, ihren
    reichende Konsequenzen verbunden. Sklaven der Krone        Aufenthaltsort durften sie nur mehr mit Genehmigung
    und der Kirche hatten als tributpflichtige Wanderhand-     des Dorfrichters ändern. Ihre Kinder wurden ihnen
    werker eine gewisse Bewegungsfreiheit, während die         weggenommen und Bauern „zur christlichen Erzie-
    Sklaven der Grundbesitzer wie die leibeigenen Bauern       hung“ übergeben, um isoliert von ihren leiblichen Eltern
    ortsgebunden waren. Sie waren dem stärksten Assimi-        aufzuwachsen. Eheschließungen unter Roma wurden
    lationsdruck ausgesetzt. Viele Sippen vollzogen einen      verboten, Mischehen staatlich gefördert (!) und es
    kompletten Sprachwechsel und verloren ihre Kompetenz       fanden erstmalig „Zigeuner-Konskriptionen“ zur
    für Romanes. Diese geschichtlichen Ereignisse bedeu-       Registrierung der Roma statt.
    teten eine Zäsur in der Geschichte der europäischen
                                                               Im Sinne der Politik der Anpassung erfolgte auch die
    Roma: Walachische oder „Vlach“-Roma wanderten in
                                                               Zuweisung von eigenem Grund an die Roma, wobei
    fast alle Teile Europas und Übersee aus. Ihre Gruppe
                                                               die Lage der Grundstücke vorrangig in unmittelbarer
    und ihre Dialekte sind bis heute gegenüber den übrigen
                                                               Nachbarschaft zu anderen Leuten des Dorfes gewählt
    europäischen Gruppen und Varianten („non-Vlach“-Roma
                                                               wurde. Gettobildung wurde als nicht zielführend für die
    und -Dialekte) eindeutig zu identifizieren.
                                                               Assimilation erkannt und fand daher auch nicht statt.
    Im osmanischen Herrschaftsbereich insbesondere des
                                                                 Die Gettoisierung ist keineswegs ein Merkmal der
    Balkans wiederum herrschte gegenüber den Roma eine
                                                                 sesshaft gewordenen Roma, sondern Ergebnis der
    größere Toleranz als im christlichen Abendland. Roma
                                                                 späteren Politik der Ausgrenzung und Verfolgung.
    litten zwar unter drückender Steuer- und Tributlast,
    waren aber im Allgemeinen nicht jenen extremen             Joseph II. verschärfte die Zwangsassimilierungspolitik
    Verfolgungen und Pogromen ausgesetzt.                      noch erheblich: Das Verlassen des Wohnsitzes und die
                                                               Sprache der Roma wurden gänzlich verboten, Berufsver-

    1.1 A ssimilationspolitik                                  bote sollten die bäuerliche Lebensform forcieren, Sprache
                                                               und Kleidung hatten die der Mehrheitsbevölkerung zu
    in der A ufklärung                                         sein.

    In ihrer – durch häufige Vertreibungen, Pogrome sowie      In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte ein
    schmale ökonomische Nischen für Handwerker oder            von Ungarn verhängtes Ausreiseverbot für Roma in
    Händler – erzwungenen Wanderschaft entwickelten            Verbindung mit einer Abschiebung von Roma aus
    die Roma im Habsburgerreich eine mobile, angepasste        Österreich nach Ungarn zu einem enormen Anstieg
    Lebensweise, die ihre Kultur und Traditionen beeinflus-    der Zahl der Roma in den Grenzgebieten, v.a. in West-
    ste und formte. Unter Kaiserin Maria Theresia und Joseph   ungarn im Gebiet des heutigen Bezirks Oberwart. Die
    II. kam es hingegen zu einer grundlegenden Änderung        Roma sollten nach dem Willen des ungarischen Staates
    der Politik gegenüber den Roma: Anstatt sie zu verfolgen   in den Dörfern sesshaft gemacht werden, die Gemeinden
    und zu verbannen, wollte man sie „zivilisieren“, indem     waren zu deren Unterbringung und sozialer Versorgung
    sie zu sesshaften und „nützlichen“ BürgerInnen erzogen     verpflichtet. Dies brachte große finanzielle Belastungen
    werden sollten.                                            für die betroffenen Gemeinden. Zusätzlich zur ablehnen-
                                                               den Haltung der DorfbewohnerInnen waren die Roma nun
    Im Vordergrund stand dabei die Kontrolle des zentralis-
                                                               auch mit „offiziellen“ Ressentiments durch die Gemein-
    tisch regierenden Staates über seine Untertanen sowie
                                                               den konfrontiert. Um die finanziellen Ausgaben so gering
    deren wirtschaftlicher Faktor. Humanitäre Denkweisen
                                                               wie möglich zu halten, wurden den Roma minderwertige
    spielten bei dieser Politik wohl eine geringe Rolle, wie
                                                               bis wertlose Grundstücke meist deutlich außerhalb des
    die Maßnahmen, mit denen man die vollständige Assimi-
                                                               Ortes zugewiesen, auf denen sie ihre Hütten bzw. Häuser
    lation erreichen wollte, zeigen: Zwischen 1758 und 1773
                                                               als Superädifikate – d.h. ohne Grundbesitz, ohne Eintra-
    wurden vier Verordnungen erlassen, mit denen die Roma
                                                               gung ins Grundbuch und daher meist ohne nachweisbare
    nach jahrhundertelanger unfreiwilliger, aber prägender
                                                               Eigentumsverhältnisse! – errichten durften. So wurde
    Mobilität gezwungen wurden, sich niederzulassen und
                                                               der Grundstein für die räumliche Ausgrenzung der Roma
    ihre alte Lebensweise aufzugeben.
                                                               aus der Mehrheitsgesellschaft gelegt, und die Entstehung

4   www.politik-ler ne n . a t
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
Nr. 5   Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h

        der sog. „Zigeunerkolonien“, die die z.T. bis heute beste-    der „unheimlichen Vermehrung der Zigeuner“ Herr
        hende Gettoisierung zur Folge hatte, begann.                  zu werden, die Einführung von Arbeitspflicht oder die
                                                                      Einweisung von Kindern in Erziehungsheime wurden

        1.2 D iskriminierungspolitik                                  (schon lange vor der Machtergreifung durch die National-
                                                                      sozialisten) erwogen. Radikale Lösungsvorschläge kamen
        der Z wischenkriegszeit                                       von Tobias Portschy, zunächst Landeshauptmann im
                                                                      Burgenland, ab Oktober 1938 stellvertretender Gauleiter
        Mit der Angliederung des Burgenlands 1921 kamen
                                                                      der Steiermark. Er war fest entschlossen, „die Zigeuner-
        auch einige tausend Roma zu Österreich. Ihre Abschie-
                                                                      frage einer nationalsozialistischen Lösung zuzuführen“.
        bung nach Ungarn war nun nicht mehr möglich und es
                                                                      Sein Programm sah die „Ausmerzung“ der Roma durch
        wurden andere Wege gesucht, die „Zigeunerfrage“ zu
                                                                      Zwangsarbeit, Deportation und Sterilisation vor. Mit der
        lösen. Als besonders unerwünscht galt die „unstete
                                                                      Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1938
        Lebensweise“ der Roma, die man zum einen durch das
                                                                      wurde begonnen, dieses Programm in die Tat umzusetzen.
        Verbot des Umherwanderns zu unterbinden versuchte.
        Zum anderen wollte man durch Personenzählungen und
        Häuserregistrierungen Neuzuwanderungen von fremden            1.3 G enozid im N ationalsozialismus
        Roma-Familien verhindern.
                                                                      Eine der ersten Verfolgungsmaßnahmen war der
        1926 wurden alle im Burgenland wohnhaften, über
                                                                      Entzug des Wahlrechts für alle Roma, eine Teilnahme an
        14-jährigen Roma fotografiert, seit 1928 führte das Bun-
                                                                      der Volksabstimmung am 10. April 1938 war für sie daher
        despolizeikommissariat Eisenstadt die sog. „Zigeuner-
                                                                      nicht mehr möglich.
        kartothek“, in der rund 8.000 Roma namentlich und mit
        Fingerabdrücken registriert waren. 1936 wurde in Wien         Im Mai 1938 wurden alle Roma-Kinder vom Schulbesuch
        die „Zentralstelle zur Bekämpfung des Zigeunerwesens“         ausgeschlossen, im Juli die Schließung von Mischehen
        gegründet.                                                    verboten und die Arbeitspflicht, d.h. Zwangsarbeit, für
                                                                      alle „arbeitsfähigen Zigeuner“ eingeführt. Im September
        Die Registrierungen der 1920er-Jahre bildeten die Grund-
                                                                      wurde dann auch das öffentliche Musizieren verboten.
        lage der Erfassung der Roma durch die Nationalsozia-
        listen, die mit Hilfe dieser Daten die systematische Depor-      Antiziganismus ist die feindliche Haltung gegen-
        tation und Ermordung der Volksgruppe umsetzten.                  über den Roma, die von inneren Vorbehalten über
                                                                         offene Ablehnung, Ausgrenzung und Vertreibung
        Die Wirtschaftskrise der späten 1920er-Jahre wurde für
                                                                         bis zu Tötung und massenhafter Vernichtung reicht.
        die Roma, die ihren Lebensunterhalt zum Großteil mit
                                                                         Diese Haltung zeigt sich ebenso in der Diskriminie-
        verschiedensten Hilfsarbeiten im Dorf bzw. der Repa-
                                                                         rung und Dämonisierung der Minderheit wie in der
        ratur oder dem Verkauf von Haushaltsgegenständen
                                                                         Verklärung des „lustigen Zigeunerlebens“.
        verdienten, zu einer existenziellen Bedrohung. Neue
        restriktive Bestimmungen, wie z.B. das Verbot des Hau-        Ein „rassebiologisches Gutachten“ von Robert Ritter,
        sierens, damals ein traditioneller Erwerbszweig der Roma,     Leiter der „Rassenhygienischen und erbbiologischen For-
        verschärften ihre wirtschaftliche Notlage zusätzlich und      schungsstelle des Reichsgesundheitshauptamtes“ in Ber-
        trugen zur fortschreitenden Kriminalisierung der Roma         lin bezeichnete die Burgenland-Roma als „Mischlinge der
        bei. Da bald sämtliche Einkommensquellen aufgrund             untersten Kategorie, die unfähig zur sozialen Anpassung“
        der schlechten Lage auch der übrigen Bevölkerung ver-         wären. Zusätzlich zu der ihnen unterstellten „Asozialität“
        siegt waren, waren die Roma auf die Armenfürsorge der         kam nun auch die „rassische Minderwertigkeit“. *
        Gemeinden und das Betteln angewiesen. Ihre immer
                                                                      Dennoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die „For-
        verzweifeltere wirtschaftliche Lage ging einher mit
                                                                      schungsergebnisse“ Ritters für die Deportationen der
        einer immer stärker werdenden Ablehnung und offenen
                                                                      Roma im Burgenland nicht ausschlaggebend waren: Denn
        Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung.
                                                                      wer als „Zigeuner“ galt, entschieden die Behörden vor Ort
        Die Presse heizte die romafeindliche Atmosphäre               nach „Menschenkenntnis“: Unter dem Begriff „Zigeuner“
        zusätzlich an, mit einer immer radikaler werdenden            verstanden Polizei und „Ortsvorsteher“ auch „Asoziale“,
        Sprache wurde gegen die „Zigeunerplage“ Stimmung              „Berufsverbrecher“ oder Landstreicher, also Menschen,
        gemacht. Gemeindevertreter erörterten Möglichkeiten,
                                                                      * Zitiert in: Samer, Helmut: Die Roma von Oberwart, 2001, S. 16

                                                                                                              w w w. p o l i t i k- ler nen.at   5
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
p o l i s aktuell   2010

    die „rassisch“ oder sprachlich nichts mit der ethnischen      eingezäunt und in ein Sammellager umgewandelt,
    Gruppe der Roma zu tun hatten. Ausschlaggebend war            das nicht mehr verlassen werden durfte. Kurze Zeit
    eben ein „polizeilich-administrativer“ Zigeunerbegriff,       später wurden das Lager liquidiert und sämtliche Bewoh-
    für den es keine eindeutigen (ethnischen) Kriterien gab,      nerInnen deportiert. Über deren weiteres Schicksal ist
    sondern der sich aus der jahrzehntelangen Praxis der          nichts bekannt. Keiner kehrte lebend zurück.
    Polizei gegenüber den von ihr als „Zigeuner“ bezeichne-
    ten Personen entsprechend den Vagabondage-Gesetzen
    und Zigeuner-Erlässen des späten 19. Jahrhunderts ent-
    wickelt hat. „Zigeuner“ waren zwar hauptsächlich aber
    nicht ausschließlich Roma und Sinti. Dieses „Wissen aus
    Erfahrung“, wer Zigeuner sei und wer nicht, wurde von
    den Nationalsozialisten in Österreich übernommen und
    bei der Einteilung der Menschen praktiziert. Im Verhältnis
    zu dieser Praxis waren die rassischen Beschreibungen Rit-
    ters für die Kategorisierung der Menschen als „Zigeuner“      Gedenktafel im Baranka-Park, der ehemaligen „Hellerwiese“
    relativ unbedeutend.                                          Foto: Barbara Tiefenbacher 2010

                                                                  Im November 1940 wurde das „Zigeunerlager Lackenbach“
    Bereits 1938 erfolgten die ersten Deportationen burgen-
                                                                  – ein Konzentrationslager – im Burgenland eröffnet, das
    ländischer Roma nach Dachau. Allein im Juni 1939 wur-
                                                                  als „Familienlager“ geführt wurde und wo Frauen, Männer
    den 3.000 Roma, auch wenn sie Arbeit hatten, als „krimi-
                                                                  und Kinder in desolaten Viehställen ohne sanitäre Ein-
    nell Anfällige“ in Konzentrationslagern interniert. Dazu
                                                                  richtungen zusammengepfercht leben mussten. Erwach-
    ein Zitat des steirischen Gauleiters Uiberreither :
                                                                  sene wie Kinder mussten schwerste Arbeiten verrichten
       „Obwohl es sich hier um anständig beschäftigte             und waren denselben Schikanen wie in den anderen
       Zigeuner handelt, die weder vorbestraft noch               Konzentrationslagern ausgesetzt. Die Häftlingszahl
       arbeitsscheu sind oder in anderer Weise der Allge-         wuchs von anfangs 200 kontinuierlich an, zeitweise
       meinheit zur Last fallen, will ich ihre Unterbrin-         lebten mehr als 2.000 Menschen in dem Lager. Der Aus-
       gung in Zwangsarbeitslagern aus der Erwägung               bruch von Seuchen forderte zahlreiche Todesopfer. Auf
       heraus anordnen, dass ein Zigeuner als außerhalb           die Flecktyphusepidemie, die Ende 1941 im Lager aus-
       der Volksgemeinschaft stehend stets asozial ist.“*         brach, wurde erst reagiert, als der Lagerleiter in das Kran-
                                                                  kenhaus eingeliefert wurde. Das Lager wurde vollständig
    Die verbliebenen Roma wurden in Sammellagern im
                                                                  isoliert, die Menschen eingesperrt und sich selbst über-
    Umkreis größerer Romasiedlungen festgehalten und von
                                                                  lassen. Bis zu 300 Personen, darunter v.a. Neugeborene,
    dort aus täglich zur Zwangsarbeit geführt.
                                                                  Kleinkinder und ältere Menschen, starben an der Seuche.
    In Wien wurde einer der größten traditionellen Stellplätze,
                                                                  Eine ehemalige Lagerinsassin erzählt: „Ich war damals
    die „Hellerwiese“ im 10. Bezirk (heute: Baranka-Park),
                                                                  12 ½ Jahre alt. Ich habe immer mit den Erwachsenen
    1941 über Nacht von der SS mit Stacheldrahtwänden
                                                                  arbeiten müssen, aber meine Kost war wie für ein Klein-
                                                                  kind.“ (in: Thurner, Erika: Kurzgeschichte des nationalso-
                                                                  zialistischen Zigeunerlagers in Lackenbach (1940-1945).
                                                                  Eisenstadt 1984, S. 37)

                                                                  Im November 1941 begann mit den Transporten nach Lodz
                                                                  (Litzmannstadt) die physische Auslöschung der Roma:
                                                                  5.007 „Zigeuner“, mehr als die Hälfte davon Kinder,
                                                                  wurden in das Getto von Lodz deportiert. 600 von ihnen
                                                                  sterben in den ersten zwei Wochen im Getto, alle Übrigen
                                                                  werden in Chelmo (Kulmhof) vergast, niemand überlebt.
                                                                  Angehörigen wird auf Anfragen mitgeteilt, dass es für die
    Historische Aufnahme der „Hellerwiese“ im 10. Wiener Bezirk
    Foto: Bezirksmuseum Favoriten                                 nach Lodz Umgesiedelten keine Besuchserlaubnis gäbe. Zu
    * Entnommen aus: Baumgartner, Gerhard; Freund,                diesem Zeitpunkt waren bereits alle „Umgesiedelten“ tot.
    Florian: Roma-Politik in Österreich, in der EU und im übri-
    gen Europa. Kulturverein Österreichischer Roma, S. 25

6   www.politik-ler ne n . a t
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
Nr. 5   Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h

        Der „Auschwitz-Erlass“ Heinrich Himmlers im Jänner           an die Lebensbedingungen der Mehrheitsbevölkerung
        1943 hatte die Einweisung aller Roma in Konzentrations-      sollte erst sehr viel später ein Anliegen der verantwort-
        lager zur Folge. In Auschwitz-Birkenau wurde ein eigenes     lichen GemeindevertreterInnen werden.
        „Zigeunerfamilienlager“ errichtet, in dem die Menschen
                                                                     Einerseits stellten fehlende Personaldokumente und
        unter furchtbaren Bedingungen leben mussten.
                                                                     Nachweise über Festnahme, Haftzeiten und Heimatzu-
         Ungefähr 2.760 österreichische Roma wurden gemein-          gehörigkeit die Behörden bei der Wiedergutmachung
        sam mit über 20.000 Roma aus den besetzten Ländern ab        vor (scheinbar) unüberwindbare Probleme, andererseits
        Februar 1943 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Der        waren die Roma ja häufig als „Kriminelle“ bzw. „Asozi-
        Großteil von ihnen starb – wie auch die anderen Lager-       ale“ in die Konzentrationslager eingewiesen worden und
        insassen – an Krankheiten und Unterernährung, viele          wurden deshalb nicht als Opfer rassischer Verfolgung
        überlebten die medizinischen Versuche des KZ-Arztes          anerkannt.
        Dr. Mengele nicht, Tausende wurden in den Gaskammern
                                                                     Das Lager in Lackenbach galt laut Opferfürsorgege-
        ermordet. Das „Zigeunerfamilienlager“ hatte die höchste
                                                                     setz nicht als Konzentrationslager und die ehemaligen
        Todesrate von allen „Lagereinheiten“ in Auschwitz.
                                                                     InsassInnen waren von der Opferfürsorge gänzlich aus-
        Im Sommer 1944 wurde das „Zigeunerfamilienlager“ in          geschlossen. Erst 1961 erhielten sie eine geringe Ent-
        Auschwitz-Birkenau aufgelöst. Die noch arbeitsfähigen        schädigung für „Freiheitsbeschränkung“, und erst 1988
        Männer und Frauen wurden nach Buchenwald bzw.                erfolgte eine komplette Gleichstellung der „Lackenba-
        Ravensbrück überstellt, die 2.897 verbliebenen Menschen      cher“ mit den anderen KZ-Häftlingen.
        wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August in den Gas-
                                                                     Bis in die 1970er-Jahre wurde die Politik der Ausgren-
        kammern ermordet.
                                                                     zung und Gettoisierung fortgesetzt und die eklatanten
        Von den ca. 11.000 Roma, die vor dem Zweiten Weltkrieg       sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Roma
        in Österreich gelebt haben, haben nur 10 % die Zeit des      ignoriert. Die für eine Verbesserung der Lebensumstände
        Nationalsozialismus überlebt. Von der seit etwa 1850 im      besonders wichtige Bildungspolitik ging völlig an den
        Nordburgenland (Jois) ansässigen Gruppe der Lovara           Bedürfnissen der Roma vorbei und trug ihren Teil zur
        (Pferdehändler), die mehrere hundert Leute umfasste und      anhaltenden Diskriminierung der Roma bei.
        zur Gänze deportiert wurde, kehrte niemand zurück. Seit
        dem Holocaust leben keine Lovara mehr im Burgenland.
                                                                     1.5 L ebensbedingungen in den
                                                                     1970 er - und 1980 er -J ahren
        1.4 V ersäumnisse der
        N achkriegszeit                                              Jene Roma, denen der soziale Aufstieg nicht gelang, oder
                                                                     die ihre Lebensweise nicht an die der Mehrheitsbevölke-
        Die Überlebenden, die nach Kriegsende in ihre Heimat-        rung angleichen wollten, mussten weiterhin soziale und
        orte zurückkehrten, fanden dort weder Verwandte noch         wirtschaftliche Ausgrenzung im täglichen Leben ertra-
        ihre Häuser vor, die ihnen von der Bevölkerung entge-        gen. Die Situation der aus dem ehemaligen Jugoslawien
        gengebrachten Vorbehalte unterschieden sich kaum von         in den 1960er-Jahren eingewanderten Roma ist nicht mit
        jenen der Vorkriegszeit.                                     der der Roma im Burgenland zu vergleichen und wird in
                                                                     diesem Beitrag nicht angesprochen.
        Die „Zigeunersiedlungen“ waren nach der Deportation
        ihrer BewohnerInnen vollständig zerstört worden. Feh-        Schulische Ausbildung
        lende Grundbucheintragungen machten Rück- bzw.
                                                                     Eine gute und abgeschlossene Ausbildung als Voraus-
        Entschädigungsforderungen für die Roma zu einem un-
                                                                     setzung für eine erfolgreiche Arbeitssuche stellte für die
        überwindlichen Hindernis. Die Gemeinden stellten den
                                                                     Roma nach wie vor ein großes Hindernis dar. Die Roma der
        Zurückkehrenden notdürftige Baracken und Hütten zur
                                                                     älteren Generation, die in der Zwischenkriegszeit nicht
        Verfügung, winzige Behausungen, vielfach ohne Strom-
                                                                     ordentlich eingeschult und von den Nationalsozialisten
        und Wasseranschluss, wurden errichtet.
                                                                     vom Schulbesuch ausgeschlossen worden waren, sind zu
        Wie früher wurden die Roma am Ortsende bzw. außer-           einem großen Teil AnalphabetInnen geblieben. Ihre Kin-
        halb der Ortschaften angesiedelt und mussten dort unter      der waren zwar zum Schulbesuch verpflichtet, die Rah-
        unzumutbaren Wohnverhältnissen leben. Eine Anpassung         menbedingungen dafür aber denkbar ungünstig: Eltern,

                                                                                                   w w w. p o l i t i k- ler nen.at   7
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
p o l i s aktuell   2010

    die sie als AnalphabetInnen beim Lernen nicht unterstüt-                    mit dem Vermerk „Bitte keine Zigeuner vermitteln“
    zen konnten, beengte Wohnverhältnisse sowie die auf-                        versehen zu lassen. **
    recht gebliebenen Vorurteile der Bevölkerung gegenüber
                                                                             Die Motivation der Roma, v.a. der Jugendlichen, eine
    den Roma hatten zur Folge, dass viele die Schule nicht
                                                                             Arbeit zu suchen und auch zu erhalten, wich unter
    abschlossen oder nur über einen Sonderschulabschluss
                                                                             diesen Umständen der Desillusionierung und Resignation,
    verfügten.
                                                                             Tätigkeiten als HilfsarbeiterInnen waren meist die
       Die Praxis, Roma-Kinder in Sonderschulklassen                         einzigen Jobs, die sie erhielten. Die Degradierung zu
       abzuschieben, lässt sich auch in den 1980er-Jah-                      SozialhilfeempfängerInnen wurde für den Großteil von
       ren noch nachweisen. Der Anteil der Roma-Kinder                       ihnen triste Realität.
       in Sonderschulklassen bewegte sich bis 1984 zwi-
       schen 33 und 50 Prozent. *                                            Wohnsituation

    Die Überstellung ihrer Kinder in die Sonderschule                        Die Wohnsituation war damals eines der gravierendsten
    erlebten viele Roma als Ablehnung und Diskriminierung,                   Probleme der Roma. Ende der 1960er-Jahre kam es zu
    was angesichts ihres überproportional hohen Anteils an                   einer neuerlichen „Umsiedlung“ der Oberwarter Roma:
    SonderschülerInnen nicht verwundert. Eine positive                       Die Gemeinde hatte die Errichtung eines Schwerpunkt-
    Einstellung der Eltern zur Schule hatte dieses Vorgehen                  krankenhauses beschlossen, als Standort war ein Areal
    verständlicherweise nicht zur Folge.                                     vorgesehen, auf dem sich die Grundstücke der nach
                                                                             dem Krieg angesiedelten Roma befanden. Die Verlegung
    Außerdem trug diese Art der Diskriminierung auch
                                                                             der Siedlung 1972 war in rechtlicher Hinsicht korrekt
    dazu bei, das ohnehin schon geringe Selbstbewusstsein
                                                                             abgelaufen. Menschlich ist in diesem Zusammenhang
    der Roma weiter zu schmälern. Viele junge Roma waren
                                                                             mehreres fragwürdig, so z.B., dass die neue Siedlung
    daher bestrebt, ihre Roma-Identität geheim zu halten.
                                                                             noch weiter zum Ortsende hin verlegt wurde, und der
    Die Geringschätzung durch die Nicht-Roma und die
                                                                             Gettozustand bis heute bewahrt blieb.
    ständige Konfrontation mit Vorurteilen führte dazu, dass
    viele Roma das negative Bild von sich verinnerlichten und                Dass die Ortstafel, die das Ortsende von Oberwart anzeigt,
    ein Gefühl der eigenen Minderwertigkeit ihr Selbstbild                   räumlich vor der Roma-Siedlung aufgestellt wurde, war
    prägte. Interesse an der eigenen Kultur konnte so nicht                  für die Roma – aber auch einige Nicht-Roma – symbo-
    wachsen, die eigene Sprache wurde nicht mehr gespro-                     lisch für ihre Ausgrenzung. Der „Ortstafelkonflikt“ leitete
    chen und somit nicht weitergegeben. Der Sprachverlust                    zusammen mit anderen Vorfällen offensiver Diskriminie-
    des Romani ist ein trauriges Ergebnis dieser Entwicklung,                rung (wie pauschale Lokalverbote in Diskotheken und
    die in der (Zwangs)Assimilation sehr vieler Roma endete.                 die o.g. rassistischen Stellenausschreibungen) einen
                                                                             Wendepunkt im Agieren der Roma ein: Die Resignation
    Arbeitssituation                                                         wich der Entschlossenheit, „ihre Sache“ selbst in die
                                                                             Hand zu nehmen, sich zu organisieren und gemeinsam
    Die mangelnde berufliche Qualifikation war einer der
                                                                             für eine Änderung der Politik der Ausgrenzung zu kämp-
    Hauptgründe für die Benachteiligung der österrei-
                                                                             fen. Neben realen Verbesserungen der misslichen sozialen
    chischen Roma am Arbeitsmarkt. Die außergewöhnlich
                                                                             Situation war die Anerkennung als eigene Volksgruppe
    hohe Arbeitslosigkeit ist jedoch darauf zurückzuführen,
                                                                             mit den dazugehörigen Minderheitenrechten und ihrer
    dass selbst Stellen, die keine hohe Qualifikation ver-
                                                                             gesellschaftlichen Akzeptanz ein Anliegen, für deren Ver-
    langten, so gut wie ausschließlich an Nicht-Roma verge-
                                                                             wirklichung sich zum ersten Mal Roma und Nicht-Roma
    ben wurden. Nicht nur private ArbeitgeberInnen, sondern
                                                                             zusammenschlossen.
    auch manche Behörden trugen die Diskriminierung zum
    Teil mit.

       So war es am Oberwarter Arbeitsamt bis zum Ende
                                                                             1.6 A nerkennung als
       der 1980er-Jahre möglich, Stellenausschreibungen                      V olksgruppe 1993
                                                                             Die Anerkennung des Status einer eigenen Volksgruppe
                                                                             ist an verschiedene Voraussetzungen gebunden und
    * Kassanits, Andreas: Die Zigeuner als Minoritätenproblem in unserer
    Gesellschaft unter besonderer Berücksichtigung des burgenländischen      ** Vgl. Samer, Helmut: Die Roma von Oberwart,
    Raumes. S. 61, zitiert in: Samer: Die Roma von Oberwart, S. 45, FN 17.   Oberwart 2001, S. 45 und FN 10.

8   www.politik-ler ne n . a t
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
Nr. 5   Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h

        verpflichtet den Staat, für den Erhalt der Volksgruppe,
        d.h. für den Bestand ihrer Kultur und Sprache, auch mit
                                                                     1.7 D er A nschlag von O berwart
        Hilfe finanzieller Mittel, zu sorgen.
                                                                     Der Bombenanschlag von Oberwart war der bis dato
        Nach dem Volksgruppengesetz von 1976 sind zur                schwerste politisch motivierte Anschlag in Österreich seit
        Anerkennung die Kriterien der österreichischen               1945. In der Nacht von 4. auf 5. Februar 1995 wurden vier
        Staatsbürgerschaft sowie der eigenen Sprache und             Roma aus der Oberwarter Siedlung von einer Rohrbombe
        Kultur, des geschlossenen Siedlungsgebiets und               getötet, als sie versuchten, ein Schild mit der Aufschrift
        der Bodenständigkeit zu erfüllen. Den Roma wurde             „Roma zurück nach Indien“ zu entfernen. Die Sprengfalle
        neben Erfüllung der übrigen Kriterien abgesprochen,          war auf einem Feldweg postiert, der nur von den Bewoh-
        autochthon, also „alteingesessen“ zu sein, da sie eine       nerInnen der Siedlung benutzt wird. Die Leichen der vier
        „traditionell umherziehende Gruppe“ seien, die keine         Männer wurden erst am nächsten Morgen entdeckt. Die
        ständige Beheimatung in einem Gebiet Österreichs hätte.      ermittelnden Behörden vertraten zunächst die These,
        Es musste erst von HistorikerInnen nachgewiesen wer-         dass es sich um einen Unfall handelte, bei dem sich die
        den, dass die Roma, Sinti und Lovara seit Generationen       Männer bei dem Versuch, die Tafel mit Hilfe von selbst-
        in Österreich, vorwiegend im Burgenland, ansässig sind.      gebautem Sprengstoff zu entfernen, in die Luft gesprengt
                                                                     hätten. Der erste Verdacht richtete sich somit gegen die
        Ein weiteres Hindernis zur Anerkennung war die
                                                                     Opfer selbst, und erst als in den Wohnungen der Siedlung
        fehlende Organisation der Roma-Gruppen, da nur dadurch
                                                                     keinerlei Sprengmaterial sichergestellt werden konnte,
        ausgedrückt werden könne, „dass sie sich selbst als Volks-
                                                                     wich man von der „Unfallversion“ ab und stellte den
        gruppe verstehen“.* Ohne Vertretungsorganisation hatte
                                                                     (sich als richtig herausstellenden) Zusammenhang eines
        die Bundesregierung keine Verhandlungspartner in
                                                                     rassistisch motivierten Attentats her.
        Angelegenheiten der Roma. Mit der Gründung des
        „Vereins Roma“ 1989 in Oberwart und dem „Kulturverein        Die Roma empfanden die Verdächtigungen, ihren Tod
        Österreichischer Roma“ 1991 in Wien war ein weiterer         selbst verursacht zu haben, und die angeordneten
        Schritt in Richtung Anerkennung getan. Eine Petition         Hausdurchsuchungen, die sie zusätzlich zum erlittenen
        zur Anerkennung als Volksgruppe wurde im National-           Verlust ihrer Angehörigen zu ertragen hatten, als
        rat eingebracht, und im Dezember 1993 wurden die             ungeheuer diskriminierend. Alte Vorurteile wur-
        österreichischen Roma als „Volksgruppe der Roma“             den spürbar, Zweifel tauchten unter ihnen auf, ob
        (Roma als Oberbegriff für die verschiedenen in               der eingeschlagene Weg in die Öffentlichkeit und das
        Österreich lebenden autochthonen Untergruppen) mit           politische Engagement für die Volksgruppe ihnen nicht
        einstimmigem Beschluss im Hauptausschuss des                 mehr Schwierigkeiten denn Nutzen brachten. Das
        Nationalrates anerkannt.                                     ohnehin nur sehr langsam wachsende Selbstbewusstsein
                                                                     der Roma hatte einen schweren Rückschlag erlitten. **
        1995 wurde der Volksgruppenbeirat der Roma ein-
        gerichtet, mit dem den Roma ein eigenes politisches          Medienberichterstattung und Aufmerksamkeit durch
        Gremium zur Wahrung ihrer Rechte als Minderheit zur          führende PolitikerInnen waren nach dem Anschlag
        Verfügung steht.                                             ungleich größer als bei dem positiven Ereignis der
                                                                     Anerkennung als Volksgruppe. So berichteten die Medien
        Die Anerkennung als Volksgruppe war nicht zuletzt
                                                                     über die schlechten sozialen Bedingungen, mit denen
        ein wichtiges gesellschaftspolitisches Signal, um den
                                                                     die Roma konfrontiert waren und überzeugten sich die
        immer noch massiven Vorurteilen ausgesetzten Roma zu
                                                                     PolitikerInnen vor Ort von den katastrophalen
        gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen.
                                                                     Wohnverhältnissen in der Oberwarter Siedlung. Immer
        Die Lösung der sozialen und wirtschaftlichen                 wieder wurde betont, dass das Verhältnis zwischen der
        Probleme der Roma sollte spätestens mit der Anerken-         Mehrheitsbevölkerung und den Roma ein sehr gutes sei.
        nung als Volksgruppe in Angriff genommen werden,             Ein Zusammengehörigkeitsgefühl von Roma und Nicht-
        leider geschah das aber erst in Zusammenhang mit dem         Roma als „eine Familie der Österreicher“*** wurde konstru-
        Attentat von Oberwart 1995. Danach wurde die Verbesse-       iert, obwohl die gesellschaftspolitische Realität von den
        rung der Lebensumstände der Burgenländischen Roma            (Oberwarter) Roma ganz anders empfunden wurde.
        gezielt vorangetrieben.
                                                                     ** Ausführlich dazu Samer, Helmut: Die Roma von Oberwart, S. 70.
        * Vgl. dazu Samer, Helmut: Die Roma von Oberwart, S. 65.     *** Ausführliche Zitate ebenda, S. 78f.

                                                                                                            w w w. p o l i t i k- ler nen.at   9
Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
p o l i s aktuell   2010

     Viele Versprechungen zur Verbesserung der Lebens-           andere Vorhaben wurden erst später realisiert: Die
     bedingungen wurden gemacht, manche früher einge-            Renovierungsarbeiten in der Siedlung, deren gettoartige
     halten – so erhielt die Roma-Beratungsstelle                Lage diesmal auf Wunsch der Mehrheit der BewohnerInnen
     größere Räumlichkeiten, ein Projekt zur beruflichen         beibehalten wurde, wurden erst 1999 abgeschlossen.
     Qualifizierung von Roma wurde ins Leben gerufen –

     2 DIE SITUATION HEUTE
     In Europa leben geschätzte zwölf Millionen Roma.            Die längste Zeit hatten die Roma als „staatenlose“ Ethnie
     Zusammen bilden sie die größte ethnische und                keine politische Lobby, ein Selbstbewusstsein als eigene
     sprachliche Minderheit Europas. Roma leben oftmals          Minderheit samt damit verbundenen Rechten hat sich in
     am Rande der Gesellschaft, da sie von der Mehrheits-        Österreich erst langsam entwickelt. Das Zusammengehö-
     gesellschaft abgelehnt werden.                              rigkeitsgefühl wird in erster Linie aus der Großfamilie und
                                                                 nicht aus organisierten Zusammenschlüssen bezogen.
     Die Gruppe der Roma ist nicht homogen, sondern setzt
                                                                 Das bewusste Bekenntnis zur Volksgruppe der Roma und
     sich aus vielen verschiedenen Gruppen mit unterschied-
                                                                 die Pflege der Sprache sind bei den einzelnen Gruppen
     lichen Lebensstilen, Traditionen und Dialekten zusam-
                                                                 unterschiedlich stark ausgeprägt.
     men. So gibt es auch viele Roma, die sich an die Mehr-
     heitsgesellschaft anpassen, aber auch Gruppen, die noch     Die Roma in Österreich – Lovara, Burgenland-Roma und
     nach ihren Traditionen leben. In den letzten Jahren ist     Sinti – wurden jahrhundertelang als Randgruppe am
     bei einigen Roma-Gruppen eine Rückbesinnung auf die         untersten Ende der Sozialskala stigmatisiert. Die starke
     eigenen Werte, auf das „Roma-Sein“ (romanipe oder           Betroffenheit ihrer Gruppe durch den Holocaust hatte
     romanšago), festzustellen. Obwohl es natürlich Roma         die Zerstörung der Familienstrukturen zur Folge und
     gibt, die erfolgreiche Geschäftsleute, KünstlerInnen oder   die für die Verarbeitung der Traumata so wichtige Unter-
     WissenschafterInnen sind, lebt der größte Teil der Roma     stützung durch die Großfamilie war nicht möglich. So
     in Europa in Armut. Besonders schlecht ist die Lage der     versuchte jede Gruppe auf ihre Weise mit dieser Situation
     Roma in Ost- und Südeuropa. Im Kosovo wurden die Roma       fertig zu werden. Viele Burgenland-Roma sahen einen
     nach Ende des Kosovo-Krieges von der Mehrheitsbevölke-      Ausweg nur in einer selbstverordneten, zwanghaften
     rung unter Duldung der Internationalen Einsatztruppen       Assimilation. Mangelnde Hilfe zur Selbsthilfe und fort-
     KFOR systematisch aus ihren Siedlungen vertrieben. Die      dauernde Diskriminierung machten es für sie besonders
     Flüchtlinge leben z.B. in Mitrovica in bleiverseuchten      schwierig, ein Selbstbewusstsein als Angehörige dieser
     Lagern neben den Abraumhalden einer ehemaligen              Volksgruppe wachsen zu lassen. Im Burgenland wurden
     Bleischmelzanlage unter unmenschlichen Bedingungen.         und werden bestimmte Familiennamen der Volksgruppe
                                                                 der Roma zugeordnet, und für Personen entsprechender
     In fast allen europäischen Ländern sind Roma viel
                                                                 Namen wurden häufig Ausbildungsplätze, Lehrstellen,
     öfter von Arbeitslosigkeit betroffen als Angehörige der
                                                                 Baugenehmigungen etc. aus fadenscheinigen Gründen
     Mehrheitsgesellschaft. Auch das Bildungsniveau ist oft
                                                                 verweigert. In dieser Hinsicht bieten Städte eine höhere
     entsprechend niedrig. Einerseits liegt das natürlich an
                                                                 Anonymität. Die meisten Lovara und viele Sinti suchten
     der prekären sozialen Lage, andererseits werden auch
                                                                 diese Anonymität der urbanen Räume, lebten „im
     oftmals Roma-Kinder in der Schule ausgegrenzt oder
                                                                 Verborgenen“* und verdienten ihren Lebensunterhalt mit
     in Sonderschulen abgeschoben. Manchmal aufgrund
                                                                 Teppichhandel, Marktfahren und Hausieren. Sie führten
     mangelnder Kenntnisse der Mehrheitssprache, öfter
                                                                 bis vor kurzem ein Leben nicht in Assimilation, sondern
     passiert dies aber aufgrund ihrer ethnischen Zugehörig-
                                                                 in innerer Emigration.
     keit und des damit meist verbundenen niedrigen sozialen
     Status. Vorurteile, Diskriminierung und Rassismus
     verschärfen die Situation.
                                                                 * Siehe dazu: Ceija Stojka: Wir leben im Verborgenen,
                                                                 Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin. Wien: Picus, 1988

10   www.politik-ler ne n . a t
Nr. 5   Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h

        Nicht-Roma, denen die starke Heterogenität der Roma          Der Verein KETANI nimmt sich der Belange der Sinti und
        nicht bewusst ist, erkennen oft nicht die Schwierig-         Roma in Österreich an. Er kümmert sich um die Pflege
        keiten, die sich im Zusammenhang mit der sozio-kultu-        der Kultur und Sprache und setzt sich seit elf Jahren
        rellen Vielfalt der einzelnen Gruppen z.B. auf politischer   für die Verbesserung der sozialen, wirtschaftlichen und
        Ebene ergeben können. Für Anliegen und Forderungen           rechtlichen Stellung der Sinti und Roma ein. Ein
        der verschiedenen Roma-Gruppen musste erst ein               Schwerpunkt der Tätigkeit liegt in der Organisation
        gemeinsames Vorgehen gefunden werden. Organisa-              und Teilnahme an Gedenkveranstaltungen für die Opfer
        tionen zu gründen, die die Interessen „aller“ Roma           des NS-Regimes. Der Verein gestaltet einmal im Monat
        vertreten, ist eine diffizile Angelegenheit, wenn man der    die Radiosendung „Ketani“, die jeweils am ersten
        Verschiedenartigkeit der einzelnen Gruppen Beachtung         Freitag eines Monats von 11 bis 12 Uhr auf FRO Linz
        schenken will.                                               (105.0) ausgestrahlt wird.

        Heute gibt es Vereine, in denen sich die Roma selbst         Diese Vereine (siehe auch Kapitel 7.1. Roma-Vereine)
        organisieren und mit deren Hilfe sie ihre Rechte als         tragen dazu bei, dass die Anliegen der Roma verstärkt
        Minderheit wahrnehmen. Als erster Verein wurde 1989          wahrgenommen werden. Zu den Anliegen gehören:
        der Verein Roma in Oberwart gegründet, der heute             politische und soziale Anerkennung, Erhalt von Sprache
        erfolgreich    außerschulische    Lernbetreuung  für         und Kultur, besserer Zugang zum Arbeitsmarkt, Abbau
        Roma-Kinder anbietet (seitdem ist der Anteil der             von Vorurteilen von Seiten der Mehrheitsbevölkerung,
        „SitzenbleiberInnen“ und SonderschülerInnen unter            aber auch die Versorgung von Roma-Siedlungen mit
        den Roma-Kindern auf nahezu Null zurückgegangen),            Wasser und Strom.
        am Romani-Projekt der Universität Graz mitarbeitete
                                                                     Von wirklicher politischer Einflussnahme kann nicht
        (Kodifizierung und Didaktisierung der in Österreich
                                                                     die Rede sein, aber es handelt sich immerhin um
        gesprochenen Romani-Varianten) und die zweisprachige
                                                                     Teilerfolge, die erzielt werden. In Österreich wurde in
        Vereinszeitung „Romani Patrin“ herausgibt.
                                                                     Folge der Anerkennung der Roma als Volksgruppe im
        Der Verein Romano Centro vertritt alle in Österreich         Bundeskanzleramt ein Volksgruppenbeirat einge-
        lebenden Roma. Dies ist insofern von Bedeutung, als die      richtet. Dieser hat beratende Funktion (auch für die
        Volksgruppenanerkennung aus gesetzlichen Gründen nur         einzelnen Landesregierungen), vertritt die Interessen der
        für „autochthone“, also „alteingesessene“ Romagruppen        Volksgruppe gegenüber der Regierung und hat Parteien-
        in Österreich gilt. Erst in jüngerer Zeit (die letzten 40    stellung bei der Erlassung von Rechtsvorschriften und
        Jahre) eingewanderte Roma fallen somit aus der primären      Planungen im Förderungswesen. Auf europäischer Ebene
        Anerkennung von 1993 heraus. Besonderes Augenmerk            wurde 2001 auf Initiative Finnlands eine internationale
        wird im Verein Roman Centro sowohl auf die Vertretung        NGO, das European Roma and Traveller Forum (ERTF)
        der als GastarbeiterInnen ab den 1960er-Jahren einge-        gegründet, das seinen Sitz im Europarat in Straßburg hat
        wanderten Roma gelegt, als auch auf die Betreuung der in     und aufgrund eines 2004 geschlossenen Partnerschafts-
        jüngster Zeit als Flüchtlinge vom Balkan nach Österreich     abkommens durch den Europarat finanziert wird. Die
        gekommenen Roma. Lernbetreuung sowie die Anstel-             Aufgabe des ERTF besteht darin, Vorschläge und
        lung muttersprachlicher LernassistentInnen an Wiener         Meinungen bei den europäischen Entscheidungsgre-
        Schulen werden vom Verein Romano Centro organisiert,         mien im Europarat einzubringen. Das ERTF ist somit die
        weiters werden eigene kulturelle Veranstaltungen (z.B.       Repräsentationsplattform      der Roma und Traveller
        Ausstellungen, Lesungen von Roma-KünstlerInnen) und          (Fahrenden) auf europäischer Ebene.
        Informationen zu anderen kulturellen Veranstaltungen
                                                                     Es braucht eine europäische Politik, die Minderheiten-
        geboten. Der Verein bietet Sprachkurse für Romanes an
                                                                     rechte und Antidiskriminierungsgesetze für alle Roma
        und hält monatliche Diskussionsrunden in Form eines
                                                                     tatsächlich zur Anwendung bringt, und Roma, die
        jour fixe zu den aktuellen Problemen der Roma-Sozietät
                                                                     gemeinsam an einem Strang ziehen.
        ab. Das jährliche Roma-Festival am Mexikoplatz in Wien,
        das vom Romano Centro organisiert wird, ist mittler-
        weile ein kultureller Fixpunkt für Roma und Nicht-Roma
        geworden. Der Verein gibt vierteljährlich die zwei-
        sprachige Vereinszeitung „Romano Centro“ heraus.

                                                                                                   w w w. p o l i t i k- ler nen.at   11
p o l i s aktuell   2010

     Tipp RomBus
                                                                         Musikkultur der Roma
     Der Verein Roma-Service in Kleinbachselten hat seit
                                                                         In den letzten Jahrzehnten hat sich in Österreich und
     2004 die Betreuung der laufenden Sprachprojekte des
                                                                         international eine Musikszene entwickelt, die zunehmend
     Vereins Roma übernommen und setzt Ideen wie die des
                                                                         ins Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft gedrungen ist
     „RomBusses“ um. Der Verein gibt die zweisprachige Kin-
                                                                         und sich so als fester Bestandteil der österreichischen
     derzeitschrift „Mri nevi Mini Multi“ sowie das ebenfalls
                                                                         Musikkultur etabliert hat. Die Musiktraditionen der Roma
     zweisprachige Magazin dROMa heraus.
                                                                         sind äußerst vielfältig. In Österreich und Ungarn haben
     www.roma-service.at
                                                                         einerseits die Musik der Lovara, ursprünglich a capella
                                                                         und auf die Insider-Domäne beschränkt, und andererseits
     Tipp      Angebote für Schulen
                                                                         die Musik der Romagruppen aus dem Balkan, ihren Weg
     Der 1991 in Wien gegründete Kulturverein Österrei-                  in die Öffentlichkeit gefunden. Internationale Anerken-
     chischer Roma mit seinem Obmann Rudolf Sarközi war                  nung, zahlreiche Auftritte auf regelmäßigen Festivals
     1993 maßgeblich an der erfolgreichen Anerkennung der                und intensive Aufnahmetätigkeit zeigen den Erfolg dieser
     Roma als autochthone Volksgruppe beteiligt. Im Verein               Musik. Musikgruppen wie jene von Ruža Nikolić-Lakatos
     ist eine Dauerausstellung über die Roma in Österreich zu            versuchen, die traditionelle Musik der Lovara vor dem
     besuchen, interessierte Schulklassen können auch Vor-               Vergessen zu bewahren und betrachten sich als Botschaf-
     tragende zu sich in die Klasse einladen.                            ter ihrer Ethnie gegenüber der Mehrheitsbevölkerung.
     www.kv-roma.at                                                      Weiters hat sich auch die von Django Reinhardt kreierte,
                                                                         als „Gypsy Swing“ bezeichnte Jazzmusik von Proponenten
     Vormittägliche Workshops mit Schulklassen organisiert               wie Zipflo Weinrich, Harri Stojka und Diknu Schneeberger
     das zentrum exil im Amerlinghaus Wien gemeinsam mit                 in der Öffentlichkeit etabliert. Musiker wie Karl Ratzer
     der Autorin und Malerin Ceija Stojka. Sie ist eine der              und Harri Stojka sind international bekannte Größen des
     wenigen noch aktiven ZeitzeugInnen des Holocaust,                   Jazz geworden. Der Verein gypsymusic organisiert und
     überlebte die mehrjährige Haft in den Konzentrations-               betreut Konzerte von RomamusikerInnen und -gruppen:
     lagern des Dritten Reiches und ist eine engagierte Roma-            www.gipsymusic.at
     Aktivistin, die auch als Zeitzeugin in Schulen referiert.
     www.zentrumexil.at > Schulworkshops

     Links: Musikgruppe von Ruža Nikolić-Lakatos; foto credit Michaela Bruckmüller
     Rechts: Harri Stojka; foto credit Andreas Müller

12   www.politik-ler ne n . a t
Armut und soziale Ausgrenzung
Die Armutsgefährdungsquote lag in Österreich 2011 bei 12,6 %, das heißt mehr als eine Million Men-
schen sind in Österreich armutsgefährdet. Auch 17 % aller EU-BürgerInnen, also etwa 84 Millionen Men-
schen, gelten als von Armut betroffen. Die Europa 2020 Strategie wurde vom Europäischen Rat im Juni 2010
angenommen, die unter anderem als eines der Ziele festlegt, die Zahl der von Armutsgefährdung und sozialer
Ausgrenzung betroffenen Menschen bis zum Jahr 2020 um 20 Millionen zu reduzieren. Im Vergleich mit
anderen EU-Ländern hat Österreich bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung bereits Erfolge erzielt,
jedoch steigt die Anzahl der manifesten Armut in Österreich seit 2005 kontinuierlich an.

Zahlen und Fakten zu Armut                                           Bevölkerungsgruppen mit hohem Armutsrisiko:

                                                                     •• Haushalte mit Langzeitarbeitslosigkeit (41 %)
Wer als arm gilt*
                                                                     •• AlleinerzieherInnen (36 %)
Das Messverfahren EU-SILC** misst die Armutsgefähr-                  •• Drittstaatenangehörige (34 %)
dung am Median-Haushaltseinkommen, welches das                       •• allein lebende Frauen ohne Pension (34 %)
Gesamteinkommen der Bevölkerung in genau zwei Hälf-                  •• allein lebende Pensionistinnen (32 %)
ten teilt. Das heißt, das Messverfahren orientiert sich              •• Familien mit drei oder mehr Kindern (29 %)
an den durchschnittlichen Standards in diesen Staaten.               •• Personen mit Pflichtschulabschluss (27 %)
Wer weniger als 60 % dieses Mittelwertes zur Verfügung
hat, gilt als armutsgefährdet. Dieser Wert ist dabei von             ••Faktoren der Armutsgefährdung:
Land zu Land verschieden. Während beispielsweise in                  •• Ausmaß der Beschäftigung bzw. Arbeitslosigkeit
ärmeren Ländern die durchschnittliche Armutsgefähr-                  •• Höhe und Verteilung der Sozialleistungen
dungsschwelle für einen Einpersonenhaushalt bei 300                  •• Personen- und Haushaltsmerkmale (z.B. allein
Euro im Monat liegen kann, liegt die Armutsgefährdungs-                 lebende Pensionistinnen, Behinderung, Ein-Eltern-
grenze in Österreich bei einem Einkommen von 1066 Euro                  Haushalte, Haushalte mit drei oder mehr Kindern,
monatlich.                                                              Migrationshintergrund)
                                                                     •• Bildungs- und Ausbildungshintergrund
Dabei muss nicht jeder, der armutsgefährdet ist, auch
tatsächlich arm sein. Von manifester Armut wird dann
gesprochen, wenn zur finanziellen Einschränkung auch
                                                                     Tipp Literatur
noch weitere schwierige Lebensbedingungen kommen,
die Personen beispielsweise krank oder chronisch krank               Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung in Österreich.
sind, ihre Wohnung nicht angemessen heizen, abgetra-                 Ergebnisse aus EU-SILC 2011
gene Kleidung nicht ersetzen oder keine unerwarteten                 Sozialpolitische Studienreihe, Wien: BM für Arbeit, Sozi-
Ausgaben tätigen können oder in schlechten Wohnungen                 ales und Konsumentenschutz, 2013.
und Wohngegenden leben müssen. Die Definition von                    Dieser Band dokumentiert die Einkommens- und Lebens-
Armut und sozialer Ausgrenzung beinhaltet also gleich-               bedingungen in Österreich auf Basis der EU-SILC-Daten.
zeitig auch die eingeschränkte bzw. nicht angemessene                Zusätzlich gibt es einen eigenen Tabellenband.
Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben.                   www.bmask.gv.at/site/Soziales/
                                                                     Allgemeine_Sozialpolitik/Armut
* vgl. im Folgenden: Gemeinsam gegen Armut! Informationen, Zahlen,
Fakten, Wien: BMASK, 2010 sowie Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung
in Österreich. Ergebnisse aus EU-SILC 2011. Wien: BMASK, 2013.
** = Statistics on income, social inclusion and living conditions
Die Daten werden jährlich in allen Mitgliedstaaten erhoben.
Sie können auch lesen