Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich - polis aktuell
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polis aktuell Nr. 5 2010 Aktualisiert im Juli 2013 Soziale Ausgrenzung Fokus: Roma in Österreich oo Geschichte der Roma oo Aktuelle Lebenssituation oo Kultur und Sprache oo Folklorisierung und Stereotypen oo Didaktische Hinweise, Literatur- und Linktipps
p o l i s aktuell 2010 Liebe Leserin, lieber Leser! Jahren ansässigen Gruppen dieser größten ethnischen Minderheit Europas, auch formal den Status einer rechtlich In Europa leben etwa 12 Millionen Roma, ein großer anerkannten Volksgruppe gewährte. Dennoch sind Lebens- Teil davon am Rande der Gesellschaft und in Armut. In weise, Kultur und gegenwärtige politische Situation dieser dieser Ausgabe rücken wir die Geschichte der Roma in Minderheit nur wenigen Nicht-Roma bekannt. Der Anschlag Österreich in den Blickpunkt. Das Heft basiert auf dem von Oberwart im Februar 1995, bei dem vier Roma ermor- Text des info-blatt 4/2004 der Servicestelle Politische det wurden, rückte die Roma für kurze Zeit ins Interesse der Bildung* und wurde von Petra Cech und Mozes F. Hein- Öffentlichkeit. Es ist schwierig zu sagen, wie viele Angehörige schink aktualisiert und überarbeitet. Es führt in der Volksgruppe der Roma wirklich in Österreich leben. Viele die Geschichte der Roma ein, beleuchtet ihre aktu- Roma deklarieren sich, beispielsweise bei Volkszählungen, elle Lebenssituation in Österreich und gibt Hinweise aus Angst vor Diskriminierung und Marginalisierung nicht für die Behandlung des Themas im Unterricht. als Angehörige dieser Volksgruppe. So haben sich bei der Die Volksgruppe der Roma ist keine homogene Gruppe, Volkszählung 1991 nur 122 Menschen als Rom/Romni sondern setzt sich aus vielen verschiedenen Untergrup- oder Sinto/Sintiza bezeichnet, zehn Jahre später haben pen zusammen, die sich in Sprache und Kulturtraditionen immerhin 6.273 Menschen Romanes als ihre Umgangs- deutlich voneinander unterscheiden und auf diese Unter- sprache angegeben. Seriöse Schätzungen gehen aber von schiede auch Wert legen. Sie sind die größte Minderheit in 30.000 bis 35.000 Roma in Österreich aus. der Europäischen Union und werden von der Gesellschaft für bedrohte Völker als gefährdet eingestuft. Wir hoffen, dass Ihnen das Heft Anregungen zur Umsetzung der Thematik im Unterricht gibt und freuen uns wie immer Am 16. Dezember 1993 wurden die Roma als sech- über Ihr Feedback. ste Volksgruppe in Österreich anerkannt. Österreich wurde somit zu einem der ersten Länder Europas, das Patricia Hladschik zumindest einzelnen, in Österreich seit mehr als 100 für das Team von Zentrum polis patricia.hladschik@politik-lernen.at * Die Einrichtung wurde 2006 in das Zentrum polis eingegliedert. Die Roma-Hymne Gelem, gelem lungone dromesa Die Hymne der Roma widerspricht in vielem dem üblichen Bild von Nationalhymnen. Die Grundlage ist eine traditionelle Melo- die aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Text lautet: „Gelem, gelem lungone dromesa | Maladilem bahtale romenca“. Das bedeutet: „Ich bin weite Wege gegangen und habe glückliche Roma getroffen“. Ein solcher Inhalt steht in krassem Gegensatz zu sonst üblichen Hymnentexten, die von der ruhmreichen Geschichte, der landschaftlichen Schönheit oder den kriegerischen Auseinandersetzungen handeln. Er ist jedoch für die Roma absolut stimmig, und dieses Lied wurde 1971 bei einem Kongress der Romani-Union in London zur Hymne der Roma erklärt, allerdings von keiner staatlichen Autorität als solche geschützt. Seither hat sich dieses Lied weltweit zum Identitätslied vieler Romagruppen entwickelt und wurde in vielen verschiedenen musika- lischen Varianten kreativ bearbeitet. (Ursula Hemetek, in: STIMME von und für Minderheiten # 57, Wien ) Gelem, Gelem 1. Gelem, gelem, lungone dromenca 1. Ich bin weite Wege gegangen, malaðilem e bute romenca. und ich habe viele Roma getroffen. Barvalenca taj vi e čorenca Reiche und Arme habe ich getroffen taj vi lenge bute šavorenca. und auch ihre vielen Kinder. Refrain: Aj, romalen, aj šavalen. 2. Roma, woher kommt ihr? Woher kommt ihr, die ihr so viele seid? 2. Aj romalen, katar tumen aven? Wir kommen aus Indien Katar aven romale butalen? Wir Roma sind alle wie eine große Familie. Amen avas anda e Indija, sa le Rom sam sar jek familija. 3. Oh, Roma, es war ein schwerer Weg, den wir gegangen sind auf dieser Welt. 3. Aj romalen, kado drom sas pharo kaj phirasas ando them, o baro. Mit Wagen und mit ärmlichen Zelten, Vurdonenca taj čore cerenca, e asvenca taj bare dukhenca. mit Tränen und mit Schmerzen. (Version von Ruža Nikolić-Lakatos| Text: Miso Nikolić, April 1994) 2 www.politik-ler ne n . a t
Nr. 5 Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h 1 Geschichte Die Herkunft der Vorfahren der Roma aus Indien ist unbe- Praxis der einzelnen Landesfürsten in einem Land Verban- stritten. Durch sprachwissenschaftliche Daten ist heute nungsbefehle des Kaisers verschärft wurden, während sie nachgewiesen, dass die Vorfahren der Roma aus Zentral- im anderen missachtet oder sogar abgeschafft wurden. indien über Nordindien nach Europa ausgewandert sind. Dadurch waren die Roma gezwungen, von einem Herr- Die genaue zeitliche Einordnung ist nicht möglich, aber schaftsgebiet zum nächsten zu wandern. es ist wahrscheinlich, dass die Auswanderung lange vor 1674 erhielt der „Zigeunerwoiwode“ Martin Sarközi von dem 10. Jahrhundert begann. Stationen dieser Migration Graf Batthyány einen Schutzbrief zur Ansiedlung auf sei- und deren Reihenfolge lassen sich anhand der Lehnwör- nen Besitzungen im Südburgenland. Die Batthyány waren ter in der Sprache der Roma feststellen: Persien, Arme- in den Türkenkriegen auf Seite der Türken, die kaiser- nien und, wahrscheinlich mit sehr langem Aufenthalt, lichen Verordnungen waren für sie somit kaum beachtens- Kleinasien, welches zum Byzantinischen Reich gehörte wert. Im Gegensatz dazu vertrieben die habsburgtreuen und daher durch die griechische Kultur geprägt war. Eszterházy die Roma von ihren Besitzungen. Als 1688 Allen europäischen Varianten des Romanes ist neben per- große Teile Westungarns von den Habsburgern zurück- sischen und armenischen Lehnwörtern ein Grundbestand erobert wurden, hatte das auch schwerwiegende Kon- griechischer Prägungen gemeinsam, der auf einen langen sequenzen für die dort ansässigen Roma: Es galt wieder gemeinsamen Aufenthalt in Kleinasien hinweist.* ein fast 200 (!) Jahre alter Beschluss des Reichstages von Die Turkisierung des Balkans führt die Roma ab dem 14. Augsburg, wonach „keiner, der einen Zigeuner schädigte, Jahrhundert aus dem Balkan heraus bis nach Mittel-, eine Sünde beging“. Die Roma waren somit für „vogelfrei“ West- und Nordeuropa. erklärt, und es kam zu Verfolgungen größeren Ausmaßes. Ab dem 15. Jahrhundert begannen größere Gruppen von Verschärft wurde die politische Situation der Roma im Roma aus Zentralungarn in das damalige Westungarn, das Herrschaftsbereich der Habsburger durch Verlust der heutige Burgenland, einzuwandern. wirtschaftlichen Grundlagen: Die Befriedung Westun- garns machte die von den Roma ausgeübten Berufe über- In den Ländern des Habsburgerreiches war bis zur flüssig, es wurden keine Waffenschmiede und die Heere Regierungszeit Maria Theresias im 18. Jahrhundert die begleitende Musiker mehr gebraucht, der Bedarf an Händ- Siedlungspolitik gegenüber den Roma eine ständig wech- lern war ebenfalls äußerst gering. In ihrer wirtschaft- selnde: Werden sie von dem einen Lehnherrn verfolgt lichen Existenz massiv bedroht, nahmen Diebstähle und und ausgewiesen, dürfen sie beim benachbarten Lehn- Plünderungen durch Roma zu, was wiederum zu immer herrn ihre gerade erwünschten Berufe wie Handwerker restriktiveren Maßnahmen gegen sie führte. Inhumane oder Händler ausüben. Ändern sich die Herrschaftsver- Verordnungen wurden erlassen, mit denen „die Zigeuner hältnisse, ändert sich damit meist auch die Einstellung und jegliches liederliche Gesindel in Österreich“ ausge- gegenüber ihrer Gruppe. Der ihnen ausgestellte Schutz- rottet werden sollten. So sollten aufgegriffene Roma u.a. brief verliert plötzlich seine Gültigkeit und sie werden für am Rücken gebrandmarkt und abgeschoben werden. Die „vogelfrei“ erklärt und müssen fliehen. Der verklärende Durchsetzung dieser – in der Praxis kaum befolgten – Ver- Mythos von den „Zigeunern, die immer der unterge- ordnungen wollte man über Sanktionsdrohungen gegen henden Sonne nachziehen“, hat in deren ständiger Ver- die zur Ausführung Verpflichteten erreichen: Richter, folgung seinen realen Hintergrund, und es gilt wohl eher: die Roma nicht vertrieben, hatten mit „40 Prügeln“ zu „Die Roma wandern nicht, sie werden gewandert“. rechnen. Diese Anordnungen hatten in vielen Orten das Schutzbriefe, die Niederlassungsfreiheit und Ausübung berüchtigte „Zigeunerjagen“ zur Folge. ihres Handwerks garantierten, wurden für die einzelnen In Ländern anderer Herrschaftsbereiche war die Situation Roma-Gruppen gesondert ausgestellt, je nachdem, ob sie der Roma höchst unterschiedlich, so z.B. in den Fürsten- für den jeweiligen Grundherrn gerade wirtschaftlichen tümern der Walachei (heutiges Rumänien) und Molda- Nutzen brachten oder nicht. Es war auch durchaus nicht vien: Hier gerieten die Roma schon bei ihrer Ankunft für ungewöhnlich, dass durch die jeweils unterschiedliche die nächsten 500 Jahre in die Sklaverei bzw. Leibeigen- * Ausführlich dazu: Fact Sheets on Roma History des Europarats schaft. Sie wurden entweder Sklaven der Krone, also des w w w. p o l i t i k- ler nen.at 3
p o l i s aktuell 2010 Herrschers direkt, Sklaven der Kirche oder Leibeigene Um die Roma am Wandern zu hindern, wurde ihnen der der adeligen Grundherren. Mit diesem Status waren weit- Besitz von Pferden und Fuhrwerken verboten, ihren reichende Konsequenzen verbunden. Sklaven der Krone Aufenthaltsort durften sie nur mehr mit Genehmigung und der Kirche hatten als tributpflichtige Wanderhand- des Dorfrichters ändern. Ihre Kinder wurden ihnen werker eine gewisse Bewegungsfreiheit, während die weggenommen und Bauern „zur christlichen Erzie- Sklaven der Grundbesitzer wie die leibeigenen Bauern hung“ übergeben, um isoliert von ihren leiblichen Eltern ortsgebunden waren. Sie waren dem stärksten Assimi- aufzuwachsen. Eheschließungen unter Roma wurden lationsdruck ausgesetzt. Viele Sippen vollzogen einen verboten, Mischehen staatlich gefördert (!) und es kompletten Sprachwechsel und verloren ihre Kompetenz fanden erstmalig „Zigeuner-Konskriptionen“ zur für Romanes. Diese geschichtlichen Ereignisse bedeu- Registrierung der Roma statt. teten eine Zäsur in der Geschichte der europäischen Im Sinne der Politik der Anpassung erfolgte auch die Roma: Walachische oder „Vlach“-Roma wanderten in Zuweisung von eigenem Grund an die Roma, wobei fast alle Teile Europas und Übersee aus. Ihre Gruppe die Lage der Grundstücke vorrangig in unmittelbarer und ihre Dialekte sind bis heute gegenüber den übrigen Nachbarschaft zu anderen Leuten des Dorfes gewählt europäischen Gruppen und Varianten („non-Vlach“-Roma wurde. Gettobildung wurde als nicht zielführend für die und -Dialekte) eindeutig zu identifizieren. Assimilation erkannt und fand daher auch nicht statt. Im osmanischen Herrschaftsbereich insbesondere des Die Gettoisierung ist keineswegs ein Merkmal der Balkans wiederum herrschte gegenüber den Roma eine sesshaft gewordenen Roma, sondern Ergebnis der größere Toleranz als im christlichen Abendland. Roma späteren Politik der Ausgrenzung und Verfolgung. litten zwar unter drückender Steuer- und Tributlast, waren aber im Allgemeinen nicht jenen extremen Joseph II. verschärfte die Zwangsassimilierungspolitik Verfolgungen und Pogromen ausgesetzt. noch erheblich: Das Verlassen des Wohnsitzes und die Sprache der Roma wurden gänzlich verboten, Berufsver- 1.1 A ssimilationspolitik bote sollten die bäuerliche Lebensform forcieren, Sprache und Kleidung hatten die der Mehrheitsbevölkerung zu in der A ufklärung sein. In ihrer – durch häufige Vertreibungen, Pogrome sowie In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte ein schmale ökonomische Nischen für Handwerker oder von Ungarn verhängtes Ausreiseverbot für Roma in Händler – erzwungenen Wanderschaft entwickelten Verbindung mit einer Abschiebung von Roma aus die Roma im Habsburgerreich eine mobile, angepasste Österreich nach Ungarn zu einem enormen Anstieg Lebensweise, die ihre Kultur und Traditionen beeinflus- der Zahl der Roma in den Grenzgebieten, v.a. in West- ste und formte. Unter Kaiserin Maria Theresia und Joseph ungarn im Gebiet des heutigen Bezirks Oberwart. Die II. kam es hingegen zu einer grundlegenden Änderung Roma sollten nach dem Willen des ungarischen Staates der Politik gegenüber den Roma: Anstatt sie zu verfolgen in den Dörfern sesshaft gemacht werden, die Gemeinden und zu verbannen, wollte man sie „zivilisieren“, indem waren zu deren Unterbringung und sozialer Versorgung sie zu sesshaften und „nützlichen“ BürgerInnen erzogen verpflichtet. Dies brachte große finanzielle Belastungen werden sollten. für die betroffenen Gemeinden. Zusätzlich zur ablehnen- den Haltung der DorfbewohnerInnen waren die Roma nun Im Vordergrund stand dabei die Kontrolle des zentralis- auch mit „offiziellen“ Ressentiments durch die Gemein- tisch regierenden Staates über seine Untertanen sowie den konfrontiert. Um die finanziellen Ausgaben so gering deren wirtschaftlicher Faktor. Humanitäre Denkweisen wie möglich zu halten, wurden den Roma minderwertige spielten bei dieser Politik wohl eine geringe Rolle, wie bis wertlose Grundstücke meist deutlich außerhalb des die Maßnahmen, mit denen man die vollständige Assimi- Ortes zugewiesen, auf denen sie ihre Hütten bzw. Häuser lation erreichen wollte, zeigen: Zwischen 1758 und 1773 als Superädifikate – d.h. ohne Grundbesitz, ohne Eintra- wurden vier Verordnungen erlassen, mit denen die Roma gung ins Grundbuch und daher meist ohne nachweisbare nach jahrhundertelanger unfreiwilliger, aber prägender Eigentumsverhältnisse! – errichten durften. So wurde Mobilität gezwungen wurden, sich niederzulassen und der Grundstein für die räumliche Ausgrenzung der Roma ihre alte Lebensweise aufzugeben. aus der Mehrheitsgesellschaft gelegt, und die Entstehung 4 www.politik-ler ne n . a t
Nr. 5 Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h der sog. „Zigeunerkolonien“, die die z.T. bis heute beste- der „unheimlichen Vermehrung der Zigeuner“ Herr hende Gettoisierung zur Folge hatte, begann. zu werden, die Einführung von Arbeitspflicht oder die Einweisung von Kindern in Erziehungsheime wurden 1.2 D iskriminierungspolitik (schon lange vor der Machtergreifung durch die National- sozialisten) erwogen. Radikale Lösungsvorschläge kamen der Z wischenkriegszeit von Tobias Portschy, zunächst Landeshauptmann im Burgenland, ab Oktober 1938 stellvertretender Gauleiter Mit der Angliederung des Burgenlands 1921 kamen der Steiermark. Er war fest entschlossen, „die Zigeuner- auch einige tausend Roma zu Österreich. Ihre Abschie- frage einer nationalsozialistischen Lösung zuzuführen“. bung nach Ungarn war nun nicht mehr möglich und es Sein Programm sah die „Ausmerzung“ der Roma durch wurden andere Wege gesucht, die „Zigeunerfrage“ zu Zwangsarbeit, Deportation und Sterilisation vor. Mit der lösen. Als besonders unerwünscht galt die „unstete Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1938 Lebensweise“ der Roma, die man zum einen durch das wurde begonnen, dieses Programm in die Tat umzusetzen. Verbot des Umherwanderns zu unterbinden versuchte. Zum anderen wollte man durch Personenzählungen und Häuserregistrierungen Neuzuwanderungen von fremden 1.3 G enozid im N ationalsozialismus Roma-Familien verhindern. Eine der ersten Verfolgungsmaßnahmen war der 1926 wurden alle im Burgenland wohnhaften, über Entzug des Wahlrechts für alle Roma, eine Teilnahme an 14-jährigen Roma fotografiert, seit 1928 führte das Bun- der Volksabstimmung am 10. April 1938 war für sie daher despolizeikommissariat Eisenstadt die sog. „Zigeuner- nicht mehr möglich. kartothek“, in der rund 8.000 Roma namentlich und mit Fingerabdrücken registriert waren. 1936 wurde in Wien Im Mai 1938 wurden alle Roma-Kinder vom Schulbesuch die „Zentralstelle zur Bekämpfung des Zigeunerwesens“ ausgeschlossen, im Juli die Schließung von Mischehen gegründet. verboten und die Arbeitspflicht, d.h. Zwangsarbeit, für alle „arbeitsfähigen Zigeuner“ eingeführt. Im September Die Registrierungen der 1920er-Jahre bildeten die Grund- wurde dann auch das öffentliche Musizieren verboten. lage der Erfassung der Roma durch die Nationalsozia- listen, die mit Hilfe dieser Daten die systematische Depor- Antiziganismus ist die feindliche Haltung gegen- tation und Ermordung der Volksgruppe umsetzten. über den Roma, die von inneren Vorbehalten über offene Ablehnung, Ausgrenzung und Vertreibung Die Wirtschaftskrise der späten 1920er-Jahre wurde für bis zu Tötung und massenhafter Vernichtung reicht. die Roma, die ihren Lebensunterhalt zum Großteil mit Diese Haltung zeigt sich ebenso in der Diskriminie- verschiedensten Hilfsarbeiten im Dorf bzw. der Repa- rung und Dämonisierung der Minderheit wie in der ratur oder dem Verkauf von Haushaltsgegenständen Verklärung des „lustigen Zigeunerlebens“. verdienten, zu einer existenziellen Bedrohung. Neue restriktive Bestimmungen, wie z.B. das Verbot des Hau- Ein „rassebiologisches Gutachten“ von Robert Ritter, sierens, damals ein traditioneller Erwerbszweig der Roma, Leiter der „Rassenhygienischen und erbbiologischen For- verschärften ihre wirtschaftliche Notlage zusätzlich und schungsstelle des Reichsgesundheitshauptamtes“ in Ber- trugen zur fortschreitenden Kriminalisierung der Roma lin bezeichnete die Burgenland-Roma als „Mischlinge der bei. Da bald sämtliche Einkommensquellen aufgrund untersten Kategorie, die unfähig zur sozialen Anpassung“ der schlechten Lage auch der übrigen Bevölkerung ver- wären. Zusätzlich zu der ihnen unterstellten „Asozialität“ siegt waren, waren die Roma auf die Armenfürsorge der kam nun auch die „rassische Minderwertigkeit“. * Gemeinden und das Betteln angewiesen. Ihre immer Dennoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die „For- verzweifeltere wirtschaftliche Lage ging einher mit schungsergebnisse“ Ritters für die Deportationen der einer immer stärker werdenden Ablehnung und offenen Roma im Burgenland nicht ausschlaggebend waren: Denn Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung. wer als „Zigeuner“ galt, entschieden die Behörden vor Ort Die Presse heizte die romafeindliche Atmosphäre nach „Menschenkenntnis“: Unter dem Begriff „Zigeuner“ zusätzlich an, mit einer immer radikaler werdenden verstanden Polizei und „Ortsvorsteher“ auch „Asoziale“, Sprache wurde gegen die „Zigeunerplage“ Stimmung „Berufsverbrecher“ oder Landstreicher, also Menschen, gemacht. Gemeindevertreter erörterten Möglichkeiten, * Zitiert in: Samer, Helmut: Die Roma von Oberwart, 2001, S. 16 w w w. p o l i t i k- ler nen.at 5
p o l i s aktuell 2010 die „rassisch“ oder sprachlich nichts mit der ethnischen eingezäunt und in ein Sammellager umgewandelt, Gruppe der Roma zu tun hatten. Ausschlaggebend war das nicht mehr verlassen werden durfte. Kurze Zeit eben ein „polizeilich-administrativer“ Zigeunerbegriff, später wurden das Lager liquidiert und sämtliche Bewoh- für den es keine eindeutigen (ethnischen) Kriterien gab, nerInnen deportiert. Über deren weiteres Schicksal ist sondern der sich aus der jahrzehntelangen Praxis der nichts bekannt. Keiner kehrte lebend zurück. Polizei gegenüber den von ihr als „Zigeuner“ bezeichne- ten Personen entsprechend den Vagabondage-Gesetzen und Zigeuner-Erlässen des späten 19. Jahrhunderts ent- wickelt hat. „Zigeuner“ waren zwar hauptsächlich aber nicht ausschließlich Roma und Sinti. Dieses „Wissen aus Erfahrung“, wer Zigeuner sei und wer nicht, wurde von den Nationalsozialisten in Österreich übernommen und bei der Einteilung der Menschen praktiziert. Im Verhältnis zu dieser Praxis waren die rassischen Beschreibungen Rit- ters für die Kategorisierung der Menschen als „Zigeuner“ Gedenktafel im Baranka-Park, der ehemaligen „Hellerwiese“ relativ unbedeutend. Foto: Barbara Tiefenbacher 2010 Im November 1940 wurde das „Zigeunerlager Lackenbach“ Bereits 1938 erfolgten die ersten Deportationen burgen- – ein Konzentrationslager – im Burgenland eröffnet, das ländischer Roma nach Dachau. Allein im Juni 1939 wur- als „Familienlager“ geführt wurde und wo Frauen, Männer den 3.000 Roma, auch wenn sie Arbeit hatten, als „krimi- und Kinder in desolaten Viehställen ohne sanitäre Ein- nell Anfällige“ in Konzentrationslagern interniert. Dazu richtungen zusammengepfercht leben mussten. Erwach- ein Zitat des steirischen Gauleiters Uiberreither : sene wie Kinder mussten schwerste Arbeiten verrichten „Obwohl es sich hier um anständig beschäftigte und waren denselben Schikanen wie in den anderen Zigeuner handelt, die weder vorbestraft noch Konzentrationslagern ausgesetzt. Die Häftlingszahl arbeitsscheu sind oder in anderer Weise der Allge- wuchs von anfangs 200 kontinuierlich an, zeitweise meinheit zur Last fallen, will ich ihre Unterbrin- lebten mehr als 2.000 Menschen in dem Lager. Der Aus- gung in Zwangsarbeitslagern aus der Erwägung bruch von Seuchen forderte zahlreiche Todesopfer. Auf heraus anordnen, dass ein Zigeuner als außerhalb die Flecktyphusepidemie, die Ende 1941 im Lager aus- der Volksgemeinschaft stehend stets asozial ist.“* brach, wurde erst reagiert, als der Lagerleiter in das Kran- kenhaus eingeliefert wurde. Das Lager wurde vollständig Die verbliebenen Roma wurden in Sammellagern im isoliert, die Menschen eingesperrt und sich selbst über- Umkreis größerer Romasiedlungen festgehalten und von lassen. Bis zu 300 Personen, darunter v.a. Neugeborene, dort aus täglich zur Zwangsarbeit geführt. Kleinkinder und ältere Menschen, starben an der Seuche. In Wien wurde einer der größten traditionellen Stellplätze, Eine ehemalige Lagerinsassin erzählt: „Ich war damals die „Hellerwiese“ im 10. Bezirk (heute: Baranka-Park), 12 ½ Jahre alt. Ich habe immer mit den Erwachsenen 1941 über Nacht von der SS mit Stacheldrahtwänden arbeiten müssen, aber meine Kost war wie für ein Klein- kind.“ (in: Thurner, Erika: Kurzgeschichte des nationalso- zialistischen Zigeunerlagers in Lackenbach (1940-1945). Eisenstadt 1984, S. 37) Im November 1941 begann mit den Transporten nach Lodz (Litzmannstadt) die physische Auslöschung der Roma: 5.007 „Zigeuner“, mehr als die Hälfte davon Kinder, wurden in das Getto von Lodz deportiert. 600 von ihnen sterben in den ersten zwei Wochen im Getto, alle Übrigen werden in Chelmo (Kulmhof) vergast, niemand überlebt. Angehörigen wird auf Anfragen mitgeteilt, dass es für die Historische Aufnahme der „Hellerwiese“ im 10. Wiener Bezirk Foto: Bezirksmuseum Favoriten nach Lodz Umgesiedelten keine Besuchserlaubnis gäbe. Zu * Entnommen aus: Baumgartner, Gerhard; Freund, diesem Zeitpunkt waren bereits alle „Umgesiedelten“ tot. Florian: Roma-Politik in Österreich, in der EU und im übri- gen Europa. Kulturverein Österreichischer Roma, S. 25 6 www.politik-ler ne n . a t
Nr. 5 Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h Der „Auschwitz-Erlass“ Heinrich Himmlers im Jänner an die Lebensbedingungen der Mehrheitsbevölkerung 1943 hatte die Einweisung aller Roma in Konzentrations- sollte erst sehr viel später ein Anliegen der verantwort- lager zur Folge. In Auschwitz-Birkenau wurde ein eigenes lichen GemeindevertreterInnen werden. „Zigeunerfamilienlager“ errichtet, in dem die Menschen Einerseits stellten fehlende Personaldokumente und unter furchtbaren Bedingungen leben mussten. Nachweise über Festnahme, Haftzeiten und Heimatzu- Ungefähr 2.760 österreichische Roma wurden gemein- gehörigkeit die Behörden bei der Wiedergutmachung sam mit über 20.000 Roma aus den besetzten Ländern ab vor (scheinbar) unüberwindbare Probleme, andererseits Februar 1943 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Der waren die Roma ja häufig als „Kriminelle“ bzw. „Asozi- Großteil von ihnen starb – wie auch die anderen Lager- ale“ in die Konzentrationslager eingewiesen worden und insassen – an Krankheiten und Unterernährung, viele wurden deshalb nicht als Opfer rassischer Verfolgung überlebten die medizinischen Versuche des KZ-Arztes anerkannt. Dr. Mengele nicht, Tausende wurden in den Gaskammern Das Lager in Lackenbach galt laut Opferfürsorgege- ermordet. Das „Zigeunerfamilienlager“ hatte die höchste setz nicht als Konzentrationslager und die ehemaligen Todesrate von allen „Lagereinheiten“ in Auschwitz. InsassInnen waren von der Opferfürsorge gänzlich aus- Im Sommer 1944 wurde das „Zigeunerfamilienlager“ in geschlossen. Erst 1961 erhielten sie eine geringe Ent- Auschwitz-Birkenau aufgelöst. Die noch arbeitsfähigen schädigung für „Freiheitsbeschränkung“, und erst 1988 Männer und Frauen wurden nach Buchenwald bzw. erfolgte eine komplette Gleichstellung der „Lackenba- Ravensbrück überstellt, die 2.897 verbliebenen Menschen cher“ mit den anderen KZ-Häftlingen. wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August in den Gas- Bis in die 1970er-Jahre wurde die Politik der Ausgren- kammern ermordet. zung und Gettoisierung fortgesetzt und die eklatanten Von den ca. 11.000 Roma, die vor dem Zweiten Weltkrieg sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Roma in Österreich gelebt haben, haben nur 10 % die Zeit des ignoriert. Die für eine Verbesserung der Lebensumstände Nationalsozialismus überlebt. Von der seit etwa 1850 im besonders wichtige Bildungspolitik ging völlig an den Nordburgenland (Jois) ansässigen Gruppe der Lovara Bedürfnissen der Roma vorbei und trug ihren Teil zur (Pferdehändler), die mehrere hundert Leute umfasste und anhaltenden Diskriminierung der Roma bei. zur Gänze deportiert wurde, kehrte niemand zurück. Seit dem Holocaust leben keine Lovara mehr im Burgenland. 1.5 L ebensbedingungen in den 1970 er - und 1980 er -J ahren 1.4 V ersäumnisse der N achkriegszeit Jene Roma, denen der soziale Aufstieg nicht gelang, oder die ihre Lebensweise nicht an die der Mehrheitsbevölke- Die Überlebenden, die nach Kriegsende in ihre Heimat- rung angleichen wollten, mussten weiterhin soziale und orte zurückkehrten, fanden dort weder Verwandte noch wirtschaftliche Ausgrenzung im täglichen Leben ertra- ihre Häuser vor, die ihnen von der Bevölkerung entge- gen. Die Situation der aus dem ehemaligen Jugoslawien gengebrachten Vorbehalte unterschieden sich kaum von in den 1960er-Jahren eingewanderten Roma ist nicht mit jenen der Vorkriegszeit. der der Roma im Burgenland zu vergleichen und wird in diesem Beitrag nicht angesprochen. Die „Zigeunersiedlungen“ waren nach der Deportation ihrer BewohnerInnen vollständig zerstört worden. Feh- Schulische Ausbildung lende Grundbucheintragungen machten Rück- bzw. Eine gute und abgeschlossene Ausbildung als Voraus- Entschädigungsforderungen für die Roma zu einem un- setzung für eine erfolgreiche Arbeitssuche stellte für die überwindlichen Hindernis. Die Gemeinden stellten den Roma nach wie vor ein großes Hindernis dar. Die Roma der Zurückkehrenden notdürftige Baracken und Hütten zur älteren Generation, die in der Zwischenkriegszeit nicht Verfügung, winzige Behausungen, vielfach ohne Strom- ordentlich eingeschult und von den Nationalsozialisten und Wasseranschluss, wurden errichtet. vom Schulbesuch ausgeschlossen worden waren, sind zu Wie früher wurden die Roma am Ortsende bzw. außer- einem großen Teil AnalphabetInnen geblieben. Ihre Kin- halb der Ortschaften angesiedelt und mussten dort unter der waren zwar zum Schulbesuch verpflichtet, die Rah- unzumutbaren Wohnverhältnissen leben. Eine Anpassung menbedingungen dafür aber denkbar ungünstig: Eltern, w w w. p o l i t i k- ler nen.at 7
p o l i s aktuell 2010 die sie als AnalphabetInnen beim Lernen nicht unterstüt- mit dem Vermerk „Bitte keine Zigeuner vermitteln“ zen konnten, beengte Wohnverhältnisse sowie die auf- versehen zu lassen. ** recht gebliebenen Vorurteile der Bevölkerung gegenüber Die Motivation der Roma, v.a. der Jugendlichen, eine den Roma hatten zur Folge, dass viele die Schule nicht Arbeit zu suchen und auch zu erhalten, wich unter abschlossen oder nur über einen Sonderschulabschluss diesen Umständen der Desillusionierung und Resignation, verfügten. Tätigkeiten als HilfsarbeiterInnen waren meist die Die Praxis, Roma-Kinder in Sonderschulklassen einzigen Jobs, die sie erhielten. Die Degradierung zu abzuschieben, lässt sich auch in den 1980er-Jah- SozialhilfeempfängerInnen wurde für den Großteil von ren noch nachweisen. Der Anteil der Roma-Kinder ihnen triste Realität. in Sonderschulklassen bewegte sich bis 1984 zwi- schen 33 und 50 Prozent. * Wohnsituation Die Überstellung ihrer Kinder in die Sonderschule Die Wohnsituation war damals eines der gravierendsten erlebten viele Roma als Ablehnung und Diskriminierung, Probleme der Roma. Ende der 1960er-Jahre kam es zu was angesichts ihres überproportional hohen Anteils an einer neuerlichen „Umsiedlung“ der Oberwarter Roma: SonderschülerInnen nicht verwundert. Eine positive Die Gemeinde hatte die Errichtung eines Schwerpunkt- Einstellung der Eltern zur Schule hatte dieses Vorgehen krankenhauses beschlossen, als Standort war ein Areal verständlicherweise nicht zur Folge. vorgesehen, auf dem sich die Grundstücke der nach dem Krieg angesiedelten Roma befanden. Die Verlegung Außerdem trug diese Art der Diskriminierung auch der Siedlung 1972 war in rechtlicher Hinsicht korrekt dazu bei, das ohnehin schon geringe Selbstbewusstsein abgelaufen. Menschlich ist in diesem Zusammenhang der Roma weiter zu schmälern. Viele junge Roma waren mehreres fragwürdig, so z.B., dass die neue Siedlung daher bestrebt, ihre Roma-Identität geheim zu halten. noch weiter zum Ortsende hin verlegt wurde, und der Die Geringschätzung durch die Nicht-Roma und die Gettozustand bis heute bewahrt blieb. ständige Konfrontation mit Vorurteilen führte dazu, dass viele Roma das negative Bild von sich verinnerlichten und Dass die Ortstafel, die das Ortsende von Oberwart anzeigt, ein Gefühl der eigenen Minderwertigkeit ihr Selbstbild räumlich vor der Roma-Siedlung aufgestellt wurde, war prägte. Interesse an der eigenen Kultur konnte so nicht für die Roma – aber auch einige Nicht-Roma – symbo- wachsen, die eigene Sprache wurde nicht mehr gespro- lisch für ihre Ausgrenzung. Der „Ortstafelkonflikt“ leitete chen und somit nicht weitergegeben. Der Sprachverlust zusammen mit anderen Vorfällen offensiver Diskriminie- des Romani ist ein trauriges Ergebnis dieser Entwicklung, rung (wie pauschale Lokalverbote in Diskotheken und die in der (Zwangs)Assimilation sehr vieler Roma endete. die o.g. rassistischen Stellenausschreibungen) einen Wendepunkt im Agieren der Roma ein: Die Resignation Arbeitssituation wich der Entschlossenheit, „ihre Sache“ selbst in die Hand zu nehmen, sich zu organisieren und gemeinsam Die mangelnde berufliche Qualifikation war einer der für eine Änderung der Politik der Ausgrenzung zu kämp- Hauptgründe für die Benachteiligung der österrei- fen. Neben realen Verbesserungen der misslichen sozialen chischen Roma am Arbeitsmarkt. Die außergewöhnlich Situation war die Anerkennung als eigene Volksgruppe hohe Arbeitslosigkeit ist jedoch darauf zurückzuführen, mit den dazugehörigen Minderheitenrechten und ihrer dass selbst Stellen, die keine hohe Qualifikation ver- gesellschaftlichen Akzeptanz ein Anliegen, für deren Ver- langten, so gut wie ausschließlich an Nicht-Roma verge- wirklichung sich zum ersten Mal Roma und Nicht-Roma ben wurden. Nicht nur private ArbeitgeberInnen, sondern zusammenschlossen. auch manche Behörden trugen die Diskriminierung zum Teil mit. So war es am Oberwarter Arbeitsamt bis zum Ende 1.6 A nerkennung als der 1980er-Jahre möglich, Stellenausschreibungen V olksgruppe 1993 Die Anerkennung des Status einer eigenen Volksgruppe ist an verschiedene Voraussetzungen gebunden und * Kassanits, Andreas: Die Zigeuner als Minoritätenproblem in unserer Gesellschaft unter besonderer Berücksichtigung des burgenländischen ** Vgl. Samer, Helmut: Die Roma von Oberwart, Raumes. S. 61, zitiert in: Samer: Die Roma von Oberwart, S. 45, FN 17. Oberwart 2001, S. 45 und FN 10. 8 www.politik-ler ne n . a t
Nr. 5 Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h verpflichtet den Staat, für den Erhalt der Volksgruppe, d.h. für den Bestand ihrer Kultur und Sprache, auch mit 1.7 D er A nschlag von O berwart Hilfe finanzieller Mittel, zu sorgen. Der Bombenanschlag von Oberwart war der bis dato Nach dem Volksgruppengesetz von 1976 sind zur schwerste politisch motivierte Anschlag in Österreich seit Anerkennung die Kriterien der österreichischen 1945. In der Nacht von 4. auf 5. Februar 1995 wurden vier Staatsbürgerschaft sowie der eigenen Sprache und Roma aus der Oberwarter Siedlung von einer Rohrbombe Kultur, des geschlossenen Siedlungsgebiets und getötet, als sie versuchten, ein Schild mit der Aufschrift der Bodenständigkeit zu erfüllen. Den Roma wurde „Roma zurück nach Indien“ zu entfernen. Die Sprengfalle neben Erfüllung der übrigen Kriterien abgesprochen, war auf einem Feldweg postiert, der nur von den Bewoh- autochthon, also „alteingesessen“ zu sein, da sie eine nerInnen der Siedlung benutzt wird. Die Leichen der vier „traditionell umherziehende Gruppe“ seien, die keine Männer wurden erst am nächsten Morgen entdeckt. Die ständige Beheimatung in einem Gebiet Österreichs hätte. ermittelnden Behörden vertraten zunächst die These, Es musste erst von HistorikerInnen nachgewiesen wer- dass es sich um einen Unfall handelte, bei dem sich die den, dass die Roma, Sinti und Lovara seit Generationen Männer bei dem Versuch, die Tafel mit Hilfe von selbst- in Österreich, vorwiegend im Burgenland, ansässig sind. gebautem Sprengstoff zu entfernen, in die Luft gesprengt hätten. Der erste Verdacht richtete sich somit gegen die Ein weiteres Hindernis zur Anerkennung war die Opfer selbst, und erst als in den Wohnungen der Siedlung fehlende Organisation der Roma-Gruppen, da nur dadurch keinerlei Sprengmaterial sichergestellt werden konnte, ausgedrückt werden könne, „dass sie sich selbst als Volks- wich man von der „Unfallversion“ ab und stellte den gruppe verstehen“.* Ohne Vertretungsorganisation hatte (sich als richtig herausstellenden) Zusammenhang eines die Bundesregierung keine Verhandlungspartner in rassistisch motivierten Attentats her. Angelegenheiten der Roma. Mit der Gründung des „Vereins Roma“ 1989 in Oberwart und dem „Kulturverein Die Roma empfanden die Verdächtigungen, ihren Tod Österreichischer Roma“ 1991 in Wien war ein weiterer selbst verursacht zu haben, und die angeordneten Schritt in Richtung Anerkennung getan. Eine Petition Hausdurchsuchungen, die sie zusätzlich zum erlittenen zur Anerkennung als Volksgruppe wurde im National- Verlust ihrer Angehörigen zu ertragen hatten, als rat eingebracht, und im Dezember 1993 wurden die ungeheuer diskriminierend. Alte Vorurteile wur- österreichischen Roma als „Volksgruppe der Roma“ den spürbar, Zweifel tauchten unter ihnen auf, ob (Roma als Oberbegriff für die verschiedenen in der eingeschlagene Weg in die Öffentlichkeit und das Österreich lebenden autochthonen Untergruppen) mit politische Engagement für die Volksgruppe ihnen nicht einstimmigem Beschluss im Hauptausschuss des mehr Schwierigkeiten denn Nutzen brachten. Das Nationalrates anerkannt. ohnehin nur sehr langsam wachsende Selbstbewusstsein der Roma hatte einen schweren Rückschlag erlitten. ** 1995 wurde der Volksgruppenbeirat der Roma ein- gerichtet, mit dem den Roma ein eigenes politisches Medienberichterstattung und Aufmerksamkeit durch Gremium zur Wahrung ihrer Rechte als Minderheit zur führende PolitikerInnen waren nach dem Anschlag Verfügung steht. ungleich größer als bei dem positiven Ereignis der Anerkennung als Volksgruppe. So berichteten die Medien Die Anerkennung als Volksgruppe war nicht zuletzt über die schlechten sozialen Bedingungen, mit denen ein wichtiges gesellschaftspolitisches Signal, um den die Roma konfrontiert waren und überzeugten sich die immer noch massiven Vorurteilen ausgesetzten Roma zu PolitikerInnen vor Ort von den katastrophalen gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen. Wohnverhältnissen in der Oberwarter Siedlung. Immer Die Lösung der sozialen und wirtschaftlichen wieder wurde betont, dass das Verhältnis zwischen der Probleme der Roma sollte spätestens mit der Anerken- Mehrheitsbevölkerung und den Roma ein sehr gutes sei. nung als Volksgruppe in Angriff genommen werden, Ein Zusammengehörigkeitsgefühl von Roma und Nicht- leider geschah das aber erst in Zusammenhang mit dem Roma als „eine Familie der Österreicher“*** wurde konstru- Attentat von Oberwart 1995. Danach wurde die Verbesse- iert, obwohl die gesellschaftspolitische Realität von den rung der Lebensumstände der Burgenländischen Roma (Oberwarter) Roma ganz anders empfunden wurde. gezielt vorangetrieben. ** Ausführlich dazu Samer, Helmut: Die Roma von Oberwart, S. 70. * Vgl. dazu Samer, Helmut: Die Roma von Oberwart, S. 65. *** Ausführliche Zitate ebenda, S. 78f. w w w. p o l i t i k- ler nen.at 9
p o l i s aktuell 2010 Viele Versprechungen zur Verbesserung der Lebens- andere Vorhaben wurden erst später realisiert: Die bedingungen wurden gemacht, manche früher einge- Renovierungsarbeiten in der Siedlung, deren gettoartige halten – so erhielt die Roma-Beratungsstelle Lage diesmal auf Wunsch der Mehrheit der BewohnerInnen größere Räumlichkeiten, ein Projekt zur beruflichen beibehalten wurde, wurden erst 1999 abgeschlossen. Qualifizierung von Roma wurde ins Leben gerufen – 2 DIE SITUATION HEUTE In Europa leben geschätzte zwölf Millionen Roma. Die längste Zeit hatten die Roma als „staatenlose“ Ethnie Zusammen bilden sie die größte ethnische und keine politische Lobby, ein Selbstbewusstsein als eigene sprachliche Minderheit Europas. Roma leben oftmals Minderheit samt damit verbundenen Rechten hat sich in am Rande der Gesellschaft, da sie von der Mehrheits- Österreich erst langsam entwickelt. Das Zusammengehö- gesellschaft abgelehnt werden. rigkeitsgefühl wird in erster Linie aus der Großfamilie und nicht aus organisierten Zusammenschlüssen bezogen. Die Gruppe der Roma ist nicht homogen, sondern setzt Das bewusste Bekenntnis zur Volksgruppe der Roma und sich aus vielen verschiedenen Gruppen mit unterschied- die Pflege der Sprache sind bei den einzelnen Gruppen lichen Lebensstilen, Traditionen und Dialekten zusam- unterschiedlich stark ausgeprägt. men. So gibt es auch viele Roma, die sich an die Mehr- heitsgesellschaft anpassen, aber auch Gruppen, die noch Die Roma in Österreich – Lovara, Burgenland-Roma und nach ihren Traditionen leben. In den letzten Jahren ist Sinti – wurden jahrhundertelang als Randgruppe am bei einigen Roma-Gruppen eine Rückbesinnung auf die untersten Ende der Sozialskala stigmatisiert. Die starke eigenen Werte, auf das „Roma-Sein“ (romanipe oder Betroffenheit ihrer Gruppe durch den Holocaust hatte romanšago), festzustellen. Obwohl es natürlich Roma die Zerstörung der Familienstrukturen zur Folge und gibt, die erfolgreiche Geschäftsleute, KünstlerInnen oder die für die Verarbeitung der Traumata so wichtige Unter- WissenschafterInnen sind, lebt der größte Teil der Roma stützung durch die Großfamilie war nicht möglich. So in Europa in Armut. Besonders schlecht ist die Lage der versuchte jede Gruppe auf ihre Weise mit dieser Situation Roma in Ost- und Südeuropa. Im Kosovo wurden die Roma fertig zu werden. Viele Burgenland-Roma sahen einen nach Ende des Kosovo-Krieges von der Mehrheitsbevölke- Ausweg nur in einer selbstverordneten, zwanghaften rung unter Duldung der Internationalen Einsatztruppen Assimilation. Mangelnde Hilfe zur Selbsthilfe und fort- KFOR systematisch aus ihren Siedlungen vertrieben. Die dauernde Diskriminierung machten es für sie besonders Flüchtlinge leben z.B. in Mitrovica in bleiverseuchten schwierig, ein Selbstbewusstsein als Angehörige dieser Lagern neben den Abraumhalden einer ehemaligen Volksgruppe wachsen zu lassen. Im Burgenland wurden Bleischmelzanlage unter unmenschlichen Bedingungen. und werden bestimmte Familiennamen der Volksgruppe der Roma zugeordnet, und für Personen entsprechender In fast allen europäischen Ländern sind Roma viel Namen wurden häufig Ausbildungsplätze, Lehrstellen, öfter von Arbeitslosigkeit betroffen als Angehörige der Baugenehmigungen etc. aus fadenscheinigen Gründen Mehrheitsgesellschaft. Auch das Bildungsniveau ist oft verweigert. In dieser Hinsicht bieten Städte eine höhere entsprechend niedrig. Einerseits liegt das natürlich an Anonymität. Die meisten Lovara und viele Sinti suchten der prekären sozialen Lage, andererseits werden auch diese Anonymität der urbanen Räume, lebten „im oftmals Roma-Kinder in der Schule ausgegrenzt oder Verborgenen“* und verdienten ihren Lebensunterhalt mit in Sonderschulen abgeschoben. Manchmal aufgrund Teppichhandel, Marktfahren und Hausieren. Sie führten mangelnder Kenntnisse der Mehrheitssprache, öfter bis vor kurzem ein Leben nicht in Assimilation, sondern passiert dies aber aufgrund ihrer ethnischen Zugehörig- in innerer Emigration. keit und des damit meist verbundenen niedrigen sozialen Status. Vorurteile, Diskriminierung und Rassismus verschärfen die Situation. * Siehe dazu: Ceija Stojka: Wir leben im Verborgenen, Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin. Wien: Picus, 1988 10 www.politik-ler ne n . a t
Nr. 5 Soziale A usg ren z u n g | R o m a i n Ö s t e r re i c h Nicht-Roma, denen die starke Heterogenität der Roma Der Verein KETANI nimmt sich der Belange der Sinti und nicht bewusst ist, erkennen oft nicht die Schwierig- Roma in Österreich an. Er kümmert sich um die Pflege keiten, die sich im Zusammenhang mit der sozio-kultu- der Kultur und Sprache und setzt sich seit elf Jahren rellen Vielfalt der einzelnen Gruppen z.B. auf politischer für die Verbesserung der sozialen, wirtschaftlichen und Ebene ergeben können. Für Anliegen und Forderungen rechtlichen Stellung der Sinti und Roma ein. Ein der verschiedenen Roma-Gruppen musste erst ein Schwerpunkt der Tätigkeit liegt in der Organisation gemeinsames Vorgehen gefunden werden. Organisa- und Teilnahme an Gedenkveranstaltungen für die Opfer tionen zu gründen, die die Interessen „aller“ Roma des NS-Regimes. Der Verein gestaltet einmal im Monat vertreten, ist eine diffizile Angelegenheit, wenn man der die Radiosendung „Ketani“, die jeweils am ersten Verschiedenartigkeit der einzelnen Gruppen Beachtung Freitag eines Monats von 11 bis 12 Uhr auf FRO Linz schenken will. (105.0) ausgestrahlt wird. Heute gibt es Vereine, in denen sich die Roma selbst Diese Vereine (siehe auch Kapitel 7.1. Roma-Vereine) organisieren und mit deren Hilfe sie ihre Rechte als tragen dazu bei, dass die Anliegen der Roma verstärkt Minderheit wahrnehmen. Als erster Verein wurde 1989 wahrgenommen werden. Zu den Anliegen gehören: der Verein Roma in Oberwart gegründet, der heute politische und soziale Anerkennung, Erhalt von Sprache erfolgreich außerschulische Lernbetreuung für und Kultur, besserer Zugang zum Arbeitsmarkt, Abbau Roma-Kinder anbietet (seitdem ist der Anteil der von Vorurteilen von Seiten der Mehrheitsbevölkerung, „SitzenbleiberInnen“ und SonderschülerInnen unter aber auch die Versorgung von Roma-Siedlungen mit den Roma-Kindern auf nahezu Null zurückgegangen), Wasser und Strom. am Romani-Projekt der Universität Graz mitarbeitete Von wirklicher politischer Einflussnahme kann nicht (Kodifizierung und Didaktisierung der in Österreich die Rede sein, aber es handelt sich immerhin um gesprochenen Romani-Varianten) und die zweisprachige Teilerfolge, die erzielt werden. In Österreich wurde in Vereinszeitung „Romani Patrin“ herausgibt. Folge der Anerkennung der Roma als Volksgruppe im Der Verein Romano Centro vertritt alle in Österreich Bundeskanzleramt ein Volksgruppenbeirat einge- lebenden Roma. Dies ist insofern von Bedeutung, als die richtet. Dieser hat beratende Funktion (auch für die Volksgruppenanerkennung aus gesetzlichen Gründen nur einzelnen Landesregierungen), vertritt die Interessen der für „autochthone“, also „alteingesessene“ Romagruppen Volksgruppe gegenüber der Regierung und hat Parteien- in Österreich gilt. Erst in jüngerer Zeit (die letzten 40 stellung bei der Erlassung von Rechtsvorschriften und Jahre) eingewanderte Roma fallen somit aus der primären Planungen im Förderungswesen. Auf europäischer Ebene Anerkennung von 1993 heraus. Besonderes Augenmerk wurde 2001 auf Initiative Finnlands eine internationale wird im Verein Roman Centro sowohl auf die Vertretung NGO, das European Roma and Traveller Forum (ERTF) der als GastarbeiterInnen ab den 1960er-Jahren einge- gegründet, das seinen Sitz im Europarat in Straßburg hat wanderten Roma gelegt, als auch auf die Betreuung der in und aufgrund eines 2004 geschlossenen Partnerschafts- jüngster Zeit als Flüchtlinge vom Balkan nach Österreich abkommens durch den Europarat finanziert wird. Die gekommenen Roma. Lernbetreuung sowie die Anstel- Aufgabe des ERTF besteht darin, Vorschläge und lung muttersprachlicher LernassistentInnen an Wiener Meinungen bei den europäischen Entscheidungsgre- Schulen werden vom Verein Romano Centro organisiert, mien im Europarat einzubringen. Das ERTF ist somit die weiters werden eigene kulturelle Veranstaltungen (z.B. Repräsentationsplattform der Roma und Traveller Ausstellungen, Lesungen von Roma-KünstlerInnen) und (Fahrenden) auf europäischer Ebene. Informationen zu anderen kulturellen Veranstaltungen Es braucht eine europäische Politik, die Minderheiten- geboten. Der Verein bietet Sprachkurse für Romanes an rechte und Antidiskriminierungsgesetze für alle Roma und hält monatliche Diskussionsrunden in Form eines tatsächlich zur Anwendung bringt, und Roma, die jour fixe zu den aktuellen Problemen der Roma-Sozietät gemeinsam an einem Strang ziehen. ab. Das jährliche Roma-Festival am Mexikoplatz in Wien, das vom Romano Centro organisiert wird, ist mittler- weile ein kultureller Fixpunkt für Roma und Nicht-Roma geworden. Der Verein gibt vierteljährlich die zwei- sprachige Vereinszeitung „Romano Centro“ heraus. w w w. p o l i t i k- ler nen.at 11
p o l i s aktuell 2010 Tipp RomBus Musikkultur der Roma Der Verein Roma-Service in Kleinbachselten hat seit In den letzten Jahrzehnten hat sich in Österreich und 2004 die Betreuung der laufenden Sprachprojekte des international eine Musikszene entwickelt, die zunehmend Vereins Roma übernommen und setzt Ideen wie die des ins Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft gedrungen ist „RomBusses“ um. Der Verein gibt die zweisprachige Kin- und sich so als fester Bestandteil der österreichischen derzeitschrift „Mri nevi Mini Multi“ sowie das ebenfalls Musikkultur etabliert hat. Die Musiktraditionen der Roma zweisprachige Magazin dROMa heraus. sind äußerst vielfältig. In Österreich und Ungarn haben www.roma-service.at einerseits die Musik der Lovara, ursprünglich a capella und auf die Insider-Domäne beschränkt, und andererseits Tipp Angebote für Schulen die Musik der Romagruppen aus dem Balkan, ihren Weg Der 1991 in Wien gegründete Kulturverein Österrei- in die Öffentlichkeit gefunden. Internationale Anerken- chischer Roma mit seinem Obmann Rudolf Sarközi war nung, zahlreiche Auftritte auf regelmäßigen Festivals 1993 maßgeblich an der erfolgreichen Anerkennung der und intensive Aufnahmetätigkeit zeigen den Erfolg dieser Roma als autochthone Volksgruppe beteiligt. Im Verein Musik. Musikgruppen wie jene von Ruža Nikolić-Lakatos ist eine Dauerausstellung über die Roma in Österreich zu versuchen, die traditionelle Musik der Lovara vor dem besuchen, interessierte Schulklassen können auch Vor- Vergessen zu bewahren und betrachten sich als Botschaf- tragende zu sich in die Klasse einladen. ter ihrer Ethnie gegenüber der Mehrheitsbevölkerung. www.kv-roma.at Weiters hat sich auch die von Django Reinhardt kreierte, als „Gypsy Swing“ bezeichnte Jazzmusik von Proponenten Vormittägliche Workshops mit Schulklassen organisiert wie Zipflo Weinrich, Harri Stojka und Diknu Schneeberger das zentrum exil im Amerlinghaus Wien gemeinsam mit in der Öffentlichkeit etabliert. Musiker wie Karl Ratzer der Autorin und Malerin Ceija Stojka. Sie ist eine der und Harri Stojka sind international bekannte Größen des wenigen noch aktiven ZeitzeugInnen des Holocaust, Jazz geworden. Der Verein gypsymusic organisiert und überlebte die mehrjährige Haft in den Konzentrations- betreut Konzerte von RomamusikerInnen und -gruppen: lagern des Dritten Reiches und ist eine engagierte Roma- www.gipsymusic.at Aktivistin, die auch als Zeitzeugin in Schulen referiert. www.zentrumexil.at > Schulworkshops Links: Musikgruppe von Ruža Nikolić-Lakatos; foto credit Michaela Bruckmüller Rechts: Harri Stojka; foto credit Andreas Müller 12 www.politik-ler ne n . a t
Armut und soziale Ausgrenzung Die Armutsgefährdungsquote lag in Österreich 2011 bei 12,6 %, das heißt mehr als eine Million Men- schen sind in Österreich armutsgefährdet. Auch 17 % aller EU-BürgerInnen, also etwa 84 Millionen Men- schen, gelten als von Armut betroffen. Die Europa 2020 Strategie wurde vom Europäischen Rat im Juni 2010 angenommen, die unter anderem als eines der Ziele festlegt, die Zahl der von Armutsgefährdung und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen bis zum Jahr 2020 um 20 Millionen zu reduzieren. Im Vergleich mit anderen EU-Ländern hat Österreich bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung bereits Erfolge erzielt, jedoch steigt die Anzahl der manifesten Armut in Österreich seit 2005 kontinuierlich an. Zahlen und Fakten zu Armut Bevölkerungsgruppen mit hohem Armutsrisiko: •• Haushalte mit Langzeitarbeitslosigkeit (41 %) Wer als arm gilt* •• AlleinerzieherInnen (36 %) Das Messverfahren EU-SILC** misst die Armutsgefähr- •• Drittstaatenangehörige (34 %) dung am Median-Haushaltseinkommen, welches das •• allein lebende Frauen ohne Pension (34 %) Gesamteinkommen der Bevölkerung in genau zwei Hälf- •• allein lebende Pensionistinnen (32 %) ten teilt. Das heißt, das Messverfahren orientiert sich •• Familien mit drei oder mehr Kindern (29 %) an den durchschnittlichen Standards in diesen Staaten. •• Personen mit Pflichtschulabschluss (27 %) Wer weniger als 60 % dieses Mittelwertes zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet. Dieser Wert ist dabei von ••Faktoren der Armutsgefährdung: Land zu Land verschieden. Während beispielsweise in •• Ausmaß der Beschäftigung bzw. Arbeitslosigkeit ärmeren Ländern die durchschnittliche Armutsgefähr- •• Höhe und Verteilung der Sozialleistungen dungsschwelle für einen Einpersonenhaushalt bei 300 •• Personen- und Haushaltsmerkmale (z.B. allein Euro im Monat liegen kann, liegt die Armutsgefährdungs- lebende Pensionistinnen, Behinderung, Ein-Eltern- grenze in Österreich bei einem Einkommen von 1066 Euro Haushalte, Haushalte mit drei oder mehr Kindern, monatlich. Migrationshintergrund) •• Bildungs- und Ausbildungshintergrund Dabei muss nicht jeder, der armutsgefährdet ist, auch tatsächlich arm sein. Von manifester Armut wird dann gesprochen, wenn zur finanziellen Einschränkung auch Tipp Literatur noch weitere schwierige Lebensbedingungen kommen, die Personen beispielsweise krank oder chronisch krank Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung in Österreich. sind, ihre Wohnung nicht angemessen heizen, abgetra- Ergebnisse aus EU-SILC 2011 gene Kleidung nicht ersetzen oder keine unerwarteten Sozialpolitische Studienreihe, Wien: BM für Arbeit, Sozi- Ausgaben tätigen können oder in schlechten Wohnungen ales und Konsumentenschutz, 2013. und Wohngegenden leben müssen. Die Definition von Dieser Band dokumentiert die Einkommens- und Lebens- Armut und sozialer Ausgrenzung beinhaltet also gleich- bedingungen in Österreich auf Basis der EU-SILC-Daten. zeitig auch die eingeschränkte bzw. nicht angemessene Zusätzlich gibt es einen eigenen Tabellenband. Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben. www.bmask.gv.at/site/Soziales/ Allgemeine_Sozialpolitik/Armut * vgl. im Folgenden: Gemeinsam gegen Armut! Informationen, Zahlen, Fakten, Wien: BMASK, 2010 sowie Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung in Österreich. Ergebnisse aus EU-SILC 2011. Wien: BMASK, 2013. ** = Statistics on income, social inclusion and living conditions Die Daten werden jährlich in allen Mitgliedstaaten erhoben.
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