Beitrag: Eingeschleppte Mutationen-Manuskript

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Manuskript

Beitrag: Eingeschleppte Mutationen –
              Grenzkontrollen ohne Wirkung

Sendung vom 9. Februar 2021

von Anna Feist, Tonja Pölitz, Magdalena Schwabe und Tatyana Synkova

Mitarbeit: Laura Pickl und Maximilian Reiber

Anmoderation:
Nur machen die Mutationen die Lage nicht normaler, sondern, im
Gegenteil, noch gefährlicher. In 13 der 16 Bundesländer ist die
britische Mutante laut RKI schon aufgetaucht. Um die Ausbreitung
des Virus in allen Varianten aufzuhalten, gelten für Reisende und
Pendler aus Risikogebieten strenge Regeln. Aber wie sieht das in
der Praxis aus? Unsere Frontal21-Reporterinnen über den
Kontrollwirrwarr an deutschen Grenzen.

Text:
Polnische Reinigungskräfte auf dem Weg zur Arbeit nach Berlin:
Ohne Corona-Tests und Anmeldung ist so eine Fahrt nicht mehr
an allen deutschen Grenzübergängen legal. Beim Grenzübertritt
wollen sie deshalb lieber unentdeckt bleiben.

O-Ton Polnische Reinigungskraft:
Wir müssen zur Arbeit und nicht den Urlaub - und das
immerzu in diesem Stress, ob wir es über die Grenze
schaffen oder nicht.

Circa 400.000 Polen arbeiten in Deutschland. Doch für
Grenzpendler gelten von Bundesland zu Bundesland völlig
unterschiedliche Quarantäne-, Test- und Meldepflichten. Viele
Polen fahren derzeit über Brandenburg. Denn in Brandenburg gibt
es für Berufspendler aus Polen keine Test- und
Quarantänepflicht - anders als in Mecklenburg-Vorpommern, wo
bei Einreise ein negativer Test verlangt wird. In Brandenburg gibt
es auch weniger Grenzkontrollen. Wer weiterfährt bis nach Berlin,
muss dort eine Arbeitsgeberbescheinigung vorweisen. So eine
Bescheinigung haben nur Reinigungskräfte mit ordentlichen
Arbeitsverträgen. Wer schwarz putzt in der Hauptstadt, muss also
heimlich dorthin.

O-Ton Polnische Reinigungskraft:
Die aktuelle Rechtslage ist überall anders und
unübersichtlich. Wahrscheinlich gibt’s das Chaos nur, um
uns normalen Menschen zu verwirren.

Noch eine Zigarette vor der Grenze - und online checken, welche
Kontrollen andere Pendler beobachtet haben. Am Grenzübergang
Olszyna soll es heute ganz ruhig sein.

In Sachsen sind die Regeln wieder anders. Hier gelten
verschärfte Einreisebestimmungen: Berufspendler aus Polen
müssen einmal die Woche zum Schnelltest, die aus Tschechien
zweimal die Woche. Für so viele Tests aber fehlen Teststationen
an der Grenze zu Sachsen. Und Schnelltesten darf in
Deutschland immer noch ausschließlich medizinisch geschultes
Personal - ein Problem für die Lebensmittelfirma Lausitzer: Ohne
Tests dürfen ihre Pendler aus Polen und Tschechien die Arbeit
nicht antreten.

Marion Bittner ist die Rettung für Lausitzer. Normalerweise
untersucht sie Konserven auf Qualität, jetzt testet sie Kollegen auf
Corona. Als gelernte medizinisch-technische Assistentin darf sie
Tests sogar auf dem Betriebsgelände anbieten.

O-Ton Marion Bittner, Mitarbeiterin Lausitzer:
Und es ist noch nicht ein positiver Test dabei gewesen.

Noch kein einziger positiver Test - überhaupt waren bei Lausitzer
bislang nur zwei deutsche Mitarbeiter infiziert. Nur Pendler aus
Polen und Tschechien zu testen, führe deshalb kaum zum Ziel,
sagt der Chef.

O-Ton Maximilian Deharde, Geschäftsführer Lausitzer:
Dass man generell immer mal wieder testet, ist vielleicht
nicht schlecht. Aber dass man immer die gleichen Leute jede
Woche testet und dafür andere nicht testet, macht nicht
wirklich viel Sinn.

Erst Ende Januar versprach die Kanzlerin: Grenzschließungen
wie im Frühjahr soll es nicht wieder geben.

An der Grenze zu Tschechien, unweit von Dresden, wird
inzwischen beinahe jeder überprüft, sogar Familienväter. Weil er
ohne Test nicht rüber darf, übergab Denis Riediger seinen 12-
Jahre alten Sohn hier am Grenzübergang der tschechischen
Mutter. Als der Dresdener Anwalt zurückfuhr, stoppte ihn die
Polizei. Man wollte einen Corona-Test sehen.

O-Ton Denis Riediger, Rechtsanwalt:
Meine Antwort war: Sie haben doch gesehen, dass ich direkt
vor ihrer Grenzstation gewendet habe. - Ja, aber ihr Fahrzeug
hat tschechischen Boden berührt, sie waren mit Rädern in
Tschechien.

Sachsen hat inzwischen die 20. Infektionsschutzverordnung –
nicht mal Anwälte behielten da den Überblick, sagt Denis
Riediger. Er klagt gegen die sächsische Testpflicht für Pendler.

O-Ton Denis Riediger, Rechtsanwalt:
Wir hatten jetzt viele Monate Zeit, um uns zu koordinieren.
Das bedeutet, man hätte sich längst auf politischer Ebene
treffen können, einheitliche Maßnahmen einleiten. Jetzt
erscheint alles wieder chaotisch, als Flickenteppich, und
nicht durchschaubar.

Und der Flickenteppich setzt sich in Bayern fort. Anders als in
Sachsen oder Brandenburg müssen Pendler aus Tschechien hier
gleich alle 48 Stunden zum Test.

Für Tschechen wie Martin Rehor, der in Bayern als Lackierer
arbeitet, heißt das an seinem freien Sonntag: einmal zum Testen
nach Bayern und wieder zurück - zwei Stunden Fahrt, nur, damit
er morgen früh seine Schicht in Deutschland antreten kann.

O-Ton Martin Rehor, Berufspendler aus Tschechien:
Dieser Test reicht uns dann bis Mittwoch. Bei mir ist aber
wieder Problem, weil, ich habe am Mittwoch Spätschicht.

Manchmal sind es vier Tests die Woche. Tschechien ist
Hochinzidenzgebiet, aber nicht alle Regionen haben gleich viele
Infektionen. In seinem Dorf, sagt Martin, gäbe es aktuell keinen
einzigen Fall - auch sein Test: wieder negativ.

O-Ton Martin Rehor, Berufspendler aus Tschechien:
Das ist schon langsam eine kleine Schikane von deutscher
Seite praktisch zu tschechischen Pendlern. Sie meinen, dass
die Infektionen alle kommen von tschechischen Pendlern.
Aber ich glaube, das ist nicht die Wahrheit.

Hier, im Landkreis, wurden in der vergangenen Woche fast
ausschließlich tschechische Pendler getestet. Von 6.200 Tests
waren 1,6 Prozent positiv.

Dass Berufspendler entscheidende Treiber des
Infektionsgeschehens in Deutschland seien, behaupten Politiker,
Wissenschaftler zweifeln daran.

Virus-Mutanten wie B.1.1.7 werden bis März das
Infektionsgeschehen beherrschen, zeigen Simulationen von
Professor Nagel in Berlin. Und daran könnten auch die Tests an
Grenzpendlern kaum noch etwas ändern.
O-Ton Prof. Kai Nagel, Mobilitätsforscher TU Berlin:
Das leistet einen Beitrag, aber der ist wahrscheinlich in der
Tat nicht sehr hoch. Unser Eindruck ist im Moment, dass wir
hier eh zu spät dran sind - also, dass wir sozusagen die
neuen Variationen schon bei uns im Umlauf haben und dass
wir da eigentlich nicht mehr so fürchterlich viel ändern
können.

Stichproben an allen deutschen Grenzen seien zielführender,
anstatt nur die immer gleichen Pendler wie etwa in Bayern und
Sachsen zu testen.

O-Ton Prof. Kai Nagel, Mobilitätsforscher TU Berlin:
Optimalerweise würden wir dann an allen deutschen
Grenzen - wie gesagt - systematisch testen. Das heißt also,
dass wir irgendwie sagen, wir ziehen ein Prozent der Leute,
die einreisen, raus und machen da irgendeine Art von Test.
Dann wüssten wir nämlich auch, von wo was reinkommt.

Bisher schaut die Politik vor allem nach Osten. Doch sieht es an
der Grenze im Westen aus. Immerhin wurden wegen der Virus-
Mutation die Flugverbindungen von Großbritannien eingestellt.

Wir fahren von Dover über Frankreich, Belgien und die
Niederlande nach Nordrhein-Westfalen. Bei der Ausreise aus
Großbritannien zeigen wir unseren negativen Corona-Test vor.

Was aber passiert, wenn wir in die EU und später in Deutschland
aus einem Mutationsgebiet einreisen? Frankreich, Belgien und
die Niederlande sind dazu Risikogebiete mit höheren Inzidenzen
als in Polen.

Wir stellen fest: Wir haben freie Fahrt - nicht nur an allen
europäischen Grenzen. Auch in Nordrhein-Westfalen kontrolliert
niemand unsere Test- und Quarantänepflicht.

O-Ton Frontal 21:
Das ist echt irre, wir sind seit Großbritannien kein einziges
Mal kontrolliert worden.

Warum müssen Pendler aus Großbritannien und Frankreich und
den Benelux-Staaten seltener Tests vorweisen als Polen?

Zurück zu den polnischen Reinigungskräften auf dem Weg über
die Grenze nach Brandenburg und Berlin.

Bloß schnell rüber über Grenze - sie sind erleichtert, dass es
keine Kontrolle gibt. Mitten in der Nacht, Ankunft auf dem
Kudamm in Berlin - in aller Heimlichkeit. Morgen geht’s an den
Arbeitsplatz und nächste Woche wieder irgendwo rüber - über die
Grenze.
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