ÜBERLEBENSFRAGEN DER MENSCHHEIT - Eine Bilanz von acht Jahren Entwicklungspolitik unter Bundesminister Müller
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STANDPUNKT ÜBERLEBENSFRAGEN DER MENSCHHEIT Eine Bilanz von acht Jahren Entwicklungspolitik unter Bundesminister Müller Die Erklärung kam im Herbst 2020 unerwartet. Ent- den Globalen Pakten für Flucht und Migration im wicklungsminister Gerd Müller kündigte überra- Jahr 2018 ein Stück weit vorangekommen. schend seinen Rückzug aus der Bundespolitik an. Bei der Bundestagswahl 2021 wolle er nicht wieder Bemerkenswert im Kontext all dieser Entwicklungen kandidieren und damit einen Generationenwechsel ist der Bedeutungszuwachs, den die Entwicklungs- einleiten. Wir nehmen die bevorstehende Bundes- politik erfahren hat. Sie ist keine Nischenpolitik für tagswahl am 26. September und das nahende Ende Weltverbesser_innen mehr, sondern steht im Zent- der Legislatur zum Anlass, eine entwicklungspoliti- rum der Kernfrage, wie wir das Zusammenleben sche Bilanz zu ziehen. Was waren wichtige Ergeb- heutiger und zukünftiger Generationen auf diesem nisse der vergangenen acht Jahre unter Müller, wo Planeten gestalten. liegen die aktuellen Herausforderungen und was bleibt für die neue Bundesregierung zu tun? Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung (BMZ) hat in diesem Schaut man zurück, drängt sich vor allem der Ein- Sinne in der Amtszeit von Minister Müller eine druck auf, dass die vergangenen Jahre durch Kriege ganze Reihe von Initiativen und Strategien entwi- und Krisen geprägt waren: Der seit zehn Jahren an- ckelt und innerhalb der Bundesregierung vorange- dauernde Krieg in Syrien, die weltweit schlimmste bracht. Folgende erscheinen uns dabei besonders humanitäre Krise im Jemen oder die Zahl der Men- bemerkenswert. schen auf der Flucht, die auf mehr als zehn Millio- nen gestiegen ist. Zuletzt hat die Corona-Pandemie Deutschlands Beitrag zu einer nachhaltigen Armut, Hunger und Ungleichheit weltweit nochmals Entwicklung weltweit verschärft. Gleichzeitig geriet vor allem in der Ära des früheren US-Präsidenten Donald Trump der Mit dem ersten großen Projekt seiner Amtszeit lie- Multilateralismus in eine große Krise. Die aktuellen ferte Minister Müller Antworten auf die Frage, wie Spannungen zwischen den USA, China und Russland Deutschland zu einer nachhaltigen Entwicklung wecken Erinnerungen an den Kalten Krieg. weltweit beitragen kann. Die Zukunftscharta „EINEWELT – Unsere Verantwortung“ blieb in ihren Beim Rückblick auf die letzten Jahre sehen wir aber Aussagen zwar allgemein und lieferte keine konkre- auch enorme Meilensteine für die internationale ten Indikatoren für die Umsetzung, präsentierte je- Zusammenarbeit. In den Weltklimaverhandlungen doch ein breites Verständnis von nachhaltiger Ent- gelang 2015 mit dem Pariser Abkommen ein Durch- wicklung, das Kohärenz zwischen allen Politikfel- bruch. Mit der Agenda 2030 und ihren 17 Zielen dern forderte. Damit war die Zukunftscharta bereits wurde im selben Jahr ein neuer Zukunftsplan für vor Verabschiedung der Agenda 2030 ein Beispiel nachhaltige Entwicklung weltweit verabschiedet. In dafür, wie die gesamte deutsche Politik auf nachhal- der Migrationspolitik ist die Weltgemeinschaft mit tige Entwicklung und Zukunftsfähigkeit ausgerichtet
STANDPUNKT werden müsste. In der Folge spielte sie aber keine mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil legte er ei- große Rolle mehr. Stattdessen machte die Bundes- nen Entwurf für ein Lieferkettengesetz vor und stritt regierung die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie zu für dessen Verabschiedung noch in dieser Legisla- ihrem zentralen Instrument für die Umsetzung der tur. Es ist ein großer Erfolg, nicht zuletzt auch der Agenda 2030. Auch wenn die Strategie in den letz- von VENRO mit unterstützten Initiative Lieferket- ten Jahren kontinuierlich weiterentwickelt wurde, tengesetz, dass der Bundestag am 11. Juni 2021 das zeigt sich in ihr bis heute ein starker Fokus auf nati- Gesetz verabschiedet hat. Auch wenn es noch große onale Ziele und Indikatoren. Die globalen Wirkun- Schwächen aufweist, ist damit ein wichtiger Para- gen deutschen Handelns sollten viel stärker abgebil- digmenwechsel von Freiwilligkeit zu verbindlichen det werden. Das gilt vor allem für Bereiche wie die Vorgaben für Unternehmen vollzogen. wachstums- und exportorientierte Wirtschaftspoli- tik sowie die Agrar- und Handelspolitik. Auch der Die angekündigte neue Partnerschaft mit Entwicklungsausschuss der Organisation für wirt- Afrika steht noch aus schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) spricht in seinem Bericht des Peer Review Die Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas 2021 die klare Empfehlung aus, dass Deutschland spielte für das BMZ und die Bundesregierung eine Spill-over-Effekte systematischer analysieren und herausgehobene Rolle. 2017 veröffentliche das BMZ sich stärker um Kohärenz bemühen sollte. seinen Marshallplan mit Afrika. Damit verbunden war das Ziel, während der deutschen EU-Ratspräsi- Das Lieferkettengesetz kommt dentschaft 2020 Impulse für eine gleichberechtigte Partnerschaft zu setzen. Bisher konnte dieser An- Die Einhaltung von Menschenrechten und Umwelt- spruch nicht in die Tat umgesetzt werden. Dazu feh- standards in der weltweiten Produktion ist seit vie- len nicht zuletzt die dringend erforderlichen Konsul- len Jahren eines der Kernanliegen von entwick- tationen sowohl mit den afrikanischen Partnerregie- lungspolitischen Nichtregierungsorganisationen rungen als auch mit zivilgesellschaftlichen Organisa- (NRO). Zahlreiche Kampagnen haben immer wieder tionen von beiden Kontinenten. Um der Partner- auf skandalöse Arbeitsbedingungen und unhaltbare schaft eine neue Dynamik zu geben, ist eine ge- Zustände entlang der globalen Lieferketten deut- meinsame Agenda und Strategie notwendig, die scher Unternehmen hingewiesen. Im April 2013 den Interessen der Gesellschaften beider Konti- starben über Tausend Menschen bei dem Einsturz nente gerecht wird. Bisher ist die Zusammenarbeit eines achtstöckigen Textilfabrik-Gebäudes in Dhaka zu stark auf die Wirtschaft ausgerichtet und darauf, in Bangladesch. Diese Katastrophe steht symptoma- afrikanische Migrant_innen aus Europa fernzuhal- tisch für die desolaten Arbeits- und Sicherheitsbe- ten. dingungen in der gesamten Textil-, Kleider- und Schuhindustrie weltweit. Für Minister Müller war Entwicklungszusammenarbeit im sie der Anstoß zur Gründung eines „Textilbündnis- Spannungsfeld von ses“, einer freiwilligen Initiative zur Verbesserung Fluchtursachenbekämpfung und der Bedingungen in der weltweiten Textilproduk- Migrationsabwehr tion. Auch wenn NRO das Textilbündnis genutzt ha- ben, um Initiativen zur Beendigung von Ausbeutung 2015 und 2016 stand das Thema Flucht und Migra- voranzubringen, war ihr Tenor von Anfang an: Frei- tion infolge der hohen Migrationsbewegungen nach willige Initiativen reichen nicht aus. Zu diesem Europa ganz oben auf der politischen Agenda. Das Schluss kam auch Minister Müller 2020. Gemeinsam Augenmerk der Bundesregierung aber auch die auf- gelegten Programme im BMZ konzentrierten sich www.venro.org 2
STANDPUNKT auf die Themen Rückkehr, Migrations- und Grenz- mutsbekämpfung sowie die soziale Entwicklung ver- management. Das Schlagwort der „Fluchtursachen- nachlässigt. Die Menschen in den ärmsten und fra- bekämpfung“ bekam einen negativen Beige- gilsten Ländern, die in besonderem Maße auf inter- schmack, denn viele Maßnahmen schienen sich nationale Solidarität und Unterstützung angewiesen eher auf die Bekämpfung der Fluchtbewegungen, sind, dürfen nicht vergessen werden. Hierauf weist statt auf deren Ursachen zu fokussieren. Die Ent- auch der Entwicklungsausschuss der OECD in sei- wicklungszusammenarbeit war in Gefahr, von Kon- nem aktuellen Peer Review hin, in dem er Deutsch- zepten der Migrationssteuerung vereinnahmt zu land empfiehlt, seine Instrumente der bilateralen werden. Minister Müller nutzte das Thema ge- Zusammenarbeit stärker auf das Prinzip „Leave no schickt, um die Bedeutung der Entwicklungszusam- one behind“ auszurichten. menarbeit zu unterstreichen. Er konnte jedoch nicht immer ausreichend klarstellen, dass es bei der Ent- Der Bericht bestätigt auch die langjährige Kritik wicklungszusammenarbeit darum geht, Menschen VENROs, dass das BMZ bisher nicht genug dafür tut, bessere Lebensbedingungen und Perspektiven für damit seine Maßnahmen konsequent zur Gleichbe- ihre Zukunft zu schaffen, und nicht darum, Migra- rechtigung der Geschlechter und der Stärkung von tion nach Europa zu stoppen. Die 2019 von der Bun- Frauenrechten beitragen. Der 2020 ausgelaufene desregierung eingesetzte Fachkommission Fluchtur- zweite Gender-Aktionsplan (GAP II) war zwar inhalt- sachen legte in ihrem Abschlussbericht im Mai 2021 lich ambitioniert, jedoch nicht ausreichend finan- Empfehlungen vor, die eine gute Orientierung für ziert. Momentan findet eine Evaluation statt, die die Gestaltung kohärenter Politikansätze in der mangels Indikatoren nicht befriedigend möglich ist. nächsten Legislaturperiode bieten. Im Dezember 2019 veröffentlichte das BMZ seine Steht die Bekämpfung von Armut und Inklusionsstrategie. Darin wurden die zentralen Ungleichheit noch im Zentrum der Empfehlungen der „Evaluierung des Aktionsplans Entwicklungspolitik? zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen“ des DEval nicht berücksichtigt. Das DEval hatte un- Im Rahmen seiner Reformstrategie „BMZ 2030“ hat ter anderem festgestellt, dass „der Mangel an disag- das Entwicklungsministerium die Anzahl der Part- gregierten Daten zur Lebenssituation von Menschen nerländer reduziert. Auch viele der am wenigsten mit Behinderungen einen wichtigen hemmenden entwickelten Länder (LDCs) sind künftig keine Part- Faktor“ darstellt. Das Institut empfahl dem BMZ, nerländer der deutschen Entwicklungszusammenar- diese Leerstelle zu schließen und einen Umset- beit mehr. Das BMZ will die bilaterale Zusammenar- zungsplan vorzulegen. beit in „Reformpartnerschaften“ auf solche Länder konzentrieren, die gezielt Reformen zu guter Regie- In der im Frühjahr 2020 veröffentlichten Strategie rungsführung umsetzen, Menschenrechte wahren „BMZ 2030“ wurde angekündigt, dass die bilaterale und Korruption bekämpfen. Das BMZ nutzt das In- Zusammenarbeit auf fünf Kernthemen reduziert strument der „Reformpartnerschaften“ auch mit werden soll. Wichtige Themen wie Gesundheit ge- dem Ziel, die Rahmenbedingungen für privatwirt- hören demnach nicht mehr dazu und zentrale Ziele schaftliches Engagement zu verbessern. der Agenda 2030 wie Armutsbekämpfung, Ge- schlechtergerechtigkeit, Inklusion und Menschen- Damit besteht die Gefahr, dass sich die bilaterale rechte sind lediglich als Qualitätsmerkmale defi- Entwicklungszusammenarbeit zu stark auf die För- niert. Kinderrechte werden gar nicht explizit be- derung von Investitionen konzentriert und die Ar- nannt. www.venro.org 3
STANDPUNKT Finanzierung: das Erreichen eines 50 in der nächsten Legislaturperiode braucht es dafür Jahre alten Versprechens ein starkes und eigenständiges BMZ, vor allem aber eine Bundesregierung, die die Umsetzung der Zwischen 2013 und 2021 hat sich der BMZ-Haushalt Agenda 2030 zum Leitbild aller Ressorts macht. Aus von 6,3 auf 12,43 Milliarden Euro verdoppelt. Die- der hier vorgenommenen Bilanz ergeben sich be- ser Anstieg ist ein großer Erfolg, denn Deutschland reits einige wichtige Vorhaben für die nächste Bun- rückt damit dicht an sein vor 50 Jahren gemachtes desregierung: Versprechen heran, 0,7 Prozent des Bruttonational- einkommens in die Entwicklungszusammenarbeit zu • Mit einer kohärenten Politik müssen alle Res- investieren. Diese Quote wurde nur in den Jahren sorts der Bundesregierung zu nachhaltiger Ent- 2016 und 2020 erreicht. wicklung weltweit beitragen. Um die Effekte, die die deutsche Politik auf andere Länder hat, Die Bundesregierung hat in der Corona-Pandemie besser beobachten und verändern zu können, schnell reagiert und für ein Corona-Sofort-Pro- müssen die Indikatoren der Deutschen Nachhal- gramm zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt. Die tigkeitsstrategie globaler ausgerichtet werden. mittelfristige Finanzplanung für die Jahre ab 2023 sieht allerdings drastische Rückgänge für den BMZ • Das Ziel, 0,7 Prozent für die öffentliche Entwick- Etat vor, während zum Beispiel der Verteidigungs- lungszusammenarbeit (ODA) bereitzustellen, etat dauerhaft fortgeschrieben wird. muss in den nächsten Jahren wieder erreicht werden. Dabei muss sichergestellt werden, dass Notwendige Zuwächse gab es in der aktuellen Legis- die ODA-Ausgaben auch in der mittelfristigen laturperiode im Titel Private Träger. Andere Förder- Finanzplanung nicht unter das Niveau von 2021 titel sind jedoch in den vergangenen Jahren kaum fallen. Zusätzlich sind die Mittel für Klimaschutz gewachsen. Nur mit einem konsequenten Aufwuchs und -anpassung in Ländern mit niedrigem Ein- in den zivilgesellschaftlichen Titeln kann das selbst- kommen bis 2025 auf acht Milliarden Euro jähr- gesteckte Ziel des BMZ, die Rolle und Teilhabe zivil- lich zu steigern. gesellschaftlicher Akteur_innen in der Entwicklungs- zusammenarbeit weiter auszubauen, erreicht wer- • Angesichts der gesunkenen Zahl am wenigsten den. Die Förderung der Zivilgesellschaft sollte per- entwickelter Länder (LDCs) auf der Liste der spektivisch einen Anteil von mindestens 20 Prozent deutschen Partnerländer ist es wichtig, dass des BMZ-Etats erreichen. Auch der Entwicklungs- Deutschland seiner Verpflichtung gerecht wird, ausschuss der OECD empfiehlt im diesjährige Peer 0,15 bis 0,2 Prozent der Entwicklungsgelder in Review Deutschland, seine Förderung auszubauen LDCs zu investieren. und bürokratische Hürden abzubauen. Letzteres ist ebenfalls eine langjährige Forderung von VENRO. • Ein neuer Gender-Aktionsplan muss verfasst Mit Unterstützung aus dem Parlament konnten wir werden, der Indikatoren, Meilensteine, ausrei- im Jahr 2021 endlich einen Prozess anstoßen, um chende Finanzierung und zivilgesellschaftliche die Förderung der Privaten Träger zu reformieren. Beteiligung beinhaltet. Aufgaben für die nächste • Es muss eine kohärente, auf die Erreichung von Bundesregierung Kinderrechte abzielende Gesamtstrategie ent- wickelt werden, die als Grundlage der deut- Entwicklungszusammenarbeit ist ein zentraler Bau- schen Entwicklungspolitik dient. stein der internationalen Politik Deutschlands. Auch www.venro.org 4
STANDPUNKT • Neben der weiteren Unterstützung internatio- • Im Vorfeld des nächsten Gipfels zwischen der naler Gesundheitsorganisationen muss die Bun- Afrikanischen und Europäischen Union sollten desregierung die Investitionen in Forschung und intensive Konsultationen auf zivilgesellschaftli- Entwicklung sowie einen gerechten Zugang zu cher und staatlicher Ebene erfolgen. Dafür Diagnostika, Impfstoffen und Medikamenten im sollte sich die Bundesregierung auf europäi- globalen Süden fördern, etwa durch Änderun- scher Ebene stark machen. gen im Patentrecht zwecks schneller Bereitstel- lung von Generika in Krisensituationen. • Die Empfehlungen der Kommission für Fluchtur- sachen sollten konsequent umgesetzt werden. • Das Lieferkettengesetz muss konsequent umge- setzt werden. Auch auf europäischer und UN- • Zivilgesellschaftliche Organisationen benötigen Ebene sind verbindliche Regelungen erforder- mehr finanzielle Unterstützung und weniger Bü- lich. rokratie in den Förderbedingungen. IMPRESSUM Herausgeber Redaktion Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe Moritz Böttcher, Anke Kurat, Heike Spielmans deutscher Nichtregierungsorganisationen e. V. (VENRO) Endredaktion Stresemannstraße 72, 10963 Berlin Janna Völker Telefon: 030/2 63 92 99-10 E-Mail: sekretariat@venro.org Berlin, August 2021 www.venro.org 5
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