Buchbesprechungen Hymne einer neuen Naturanschauung - Zeitschrift für Anthroposophie

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     Buchbesprechungen

Hymne einer neuen Naturanschauung
Mathias Bröckers: Newtons Gespenst und Goethes Polaroid – Über die Natur, Westend Verlag,
Frankfurt am Main 2019, 128 Seiten, 15 EUR

Der Journalist Mathias Bröckers, sonst eher        nen, nichts ist draußen: / Denn was innen, das
durch verschwörungstheoretische Bücher etwa        ist außen.«1 In diesem Zusammenhang schil-
zum 11. September bekannt, hat ein meinungs-       dert Bröckers kenntnisreich Goethes frühes Stu-
starkes, profund recherchiertes, im klassischen    dium der hermetisch-kabbalistischen Literatur,
Sinn gebildetes und in mehrfacher Hinsicht be-     das ihm bei gleichzeitigem Interesse für die
merkenswertes Büchlein über Goethes Natur-         Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit eine
auffassung verfasst. Bröckers zeigt, dass man      Sonderstellung unter den damaligen Denkern
Goethes Fragment ›Über die Natur‹ (1782) als       verschafft habe. Bröckers bespricht Goethes
Manifest einer postmodernen, ganzheitlichen        Auffassung der Gleichberechtigung von Ma-
und »überaus zeitgemäßen« Naturauffassung          terie und Geist im Zusammenhang mit einer
verstehen kann, weil Goethe die Natur weder        Auseinandersetzung zwischen Johannes Kepler
bloß mechanistisch noch kreationistisch dach-      und dem englischen Theosophen Robert Fludd
te, vielmehr »nie nur in Teilen, sondern gleich-   (1574–1637), in der es schon damals um die
zeitig immer als Ganzes, nicht in Teilchen und     Rolle des Geistes und Bewusstseins in der phy-
Elementen, sondern in Formen und Gestalten,        sikalischen Wirklichkeit gegangen sei. Das Be-
nie nur als materielles Objekt und ›Außen‹,        wusstsein – so Bröckers – sei durch die Wissen-
sondern stets in Verbindung mit ›Innen‹, mit       schaft Keplers und dann entscheidend durch
Bewusstsein, Geist« (S. 113).                      die Philosophie Immanuel Kants ins Subjektive
Bröckers sieht die in dem berühmten Fragment       abgedrängt worden, während Goethe die sinn-
ausgesprochenen Einsichten im Einklang mit         lich-sittliche Qualität der Natur habe retten und
neuen holistischen Naturanschauungen wie           damit der aufkommenden Naturwissenschaft
der Gaia-Theorie eines James Lovelock, der         eine andere Richtung geben wollen.
Symbiogenese-Theorie der Evolution von Lynn        Auf diesem Hintergrund versteht Bröckers auch
Margulis, der chemischen und biologischen          Goethes Polemik gegen Newtons Farbentheorie.
Selbstorganisation der Materie nach Ilya Prigo-    Goethe habe sie als reduktionistische »Halb-
gine und Humberto Maturana sowie der frak-         wahrheit« entlarvt, und das nicht nur deshalb,
talen Chaos-Geometrie von Benoît Mandelbrot.       weil im Fall der Gültigkeit der Newtonschen
Denn Goethe, so das im Buch oft wiederhol-         Logik auch die Finsternis aus – zu Newtons
te Mantram, habe durch eine »zarte Empirie,        Spektrum komplementären – Farben »zusam-
die sich mit dem Gegenstand innigst identisch      mengesetzt« sein müsste.2 Nein, der entschei-
macht und dadurch zur eigentlichen Theorie         dende Punkt sei, dass Newton lediglich auf ein
wird« eine ganzheitliche und damit der Lebens-     scheinbar objektives »Außen« blickte, während
wirklichkeit tatsächlich entsprechende Natur­      man Licht als Phänomen überhaupt nur verste-
anschauung ausgebildet, »die heute notwendi-       hen könne, indem man wie Goethe Außen und
ger erscheint denn je«. (S. 76)                    Innen, Materie und Bewusstsein zusammen-
Auch die Auffassung der Quantenphysik, dass        denke (weshalb sich heute auch insbesonde-
der Beobachter das Ergebnis eines Experiments      re Kognitionsforscher wie Rainer Mausfeld für
mitbestimmt, passe zu Goethes »Nichts ist drin-    Goethes Farbenlehre interessierten).

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Für den Laien leider nicht einfach zu verstehen    100 Jahre nach Steiners Tod ist es immer noch
sind die Schilderungen über die Erfindung von      bemerkenswert, wenn er einmal in selbstver-
Edwin Lang, der, so Bröckers, eine technische      ständlicher Sachlichkeit zu Wort kommen darf.
Umsetzung der Goetheschen Farbenlehre in der       Und doch muss gerade an dieser Stelle auch
Polaroid Sofortbildfotografie erreicht habe.       eine kritische Bemerkung gemacht werden.
Nach derselben Logik, die Goethes Kritik an        Denn Rudolf Steiner zeigte in seiner Studie3
Newton zugrunde liegt, wären auch der Allein­      detailliert, was Goethe bereits selbst über das
erklärungsanspruch der molekularen Genetik         ›Fragment‹ geäußert hatte: dass es eine Art
und die darwinistische Erklärung der Evoluti-      Vorstudie war, zu der seine späteren naturwis-
on nur Halbwahrheiten, gegen die sich Goethe       senschaftlichen Forschungsergebnisse wie eine
vermutlich ebenso vehement wie gegen New-          Steigerung, ein »Superlativ« anzusehen seien.
tons Lichttheorie gewendet hätte. Denn wie es      Auf diese Goetheschen Forschungsergebnisse,
Bewusstsein brauche, damit aus elektromagne-       insbesondere auf die Idee des biologischen Ty-
tischer Strahlung Licht und Farben werden, so      pus, geht Bröckers nicht näher ein. Gerade der
brauche es »Bewusstsein und Geist«, damit aus      Typusgedanke ist aber für die Höherentwick-
den Genen Leben und Höherentwicklung ent-          lung im Verlauf der Evolution erhellend4, die
stehen können (S. 104). Hier bringt Bröckers       Bröckers – und hier greift er einfach zu kurz
den schönen Vergleich mit dem Techniker, der       – nur durch das Wirken eines allgemeinen Le-
herausfinden will, wie die Schaltkreise eines      bensprinzips sowie durch Symbiogenese und
Fernsehers samstags um 18 Uhr die Sportschau       Kooperation erklärt haben will (S. 90ff.). Und
hervorbringen. »Kaum anders verhalten sich         so ist Bröckers leider auch der Meinung, dass
Naturwissenschaftler, die Evolution und Leben      Goethes Forschung keine wissenschaftliche
auf Gene und Moleküle reduzieren und Geist,        Schule begründet habe (S. 66). 100 Jahre pro-
Bewusstsein und Seele für Produkte dieser Teile    duktiver goetheanistischer Forschung zeigen
halten.« Dann folgt ein Satz, der den Rezen-       jedoch etwas anderes.
senten innerlich jubeln ließ und als Motto für     Insgesamt ist dieser kenntnisreichen, ebenso
Bröckers‘ gesamtes Anliegen stehen könnte:         fundiert wie engagiert geschriebenen Studie
»Wer solche Experten ernst nimmt und sie ma-       eine breite Leserschaft zu wünschen. Im Sturm
chen lässt, hat das Denken in der Tat aufgege-     der ökologischen Krise erscheint sie wie ein
ben. Und eben dies – das Denken – können wir       Leuchtturm, der die Richtung weist, in der eine
mit Goethe wieder lernen« (S. 105).                wirklich heilende Veränderung unseres Verhält-
Kenntnisreich schildert Bröckers auch die his­     nisses zur Natur gesucht werden muss.
torische Wirkung des ›Fragments‹. Naturfor-                                       Christoph Hueck
scher und Ärzte wie Alexander von Humboldt,
Ernst Haeckel, Rudolf Virchow, Hermann von
Helmholtz, Sigmund Freud, aber auch Dichter
                                                   1 Johann Wolfgang von Goethe: ›Epirrhema‹, in
wie Stefan Zweig, Gottfried Benn und Rilke         ders.: ›Werke‹, Hamburger Ausgabe Band I, Mün-
bezogen sich darauf, und T.H. Huxley, einer        chen 1981, S. 258.
der großen Popularisierer des Darwinismus,         2 Das wird ausführlich gezeigt in Olaf L. Müller:
verwendete es 1869 sogar als Editorial für die     ›Mehr Licht: Goethe und Newton im Streit um die
erste Ausgabe der international führenden Wis-     Farben‹, Frankfurt a.M. 2015. Vgl. die Buchbespre-
senschaftszeitschrift ›Nature‹.                    chung von Troy Vine in: die Drei 11/2015, S. 9ff.
Schließlich zeigt Bröckers seine geistige Souve-   3 Abgedruckt in Rudolf Steiner: ›Methodische
                                                   Grundlagen der Anthroposophie 1884-1901‹ (GA
ränität, indem er Rudolf Steiners ausführliche
                                                   30), Dornach 1989, S. 320ff.
Analyse zur Autorenschaft des ›Fragments‹ (das     4 Vgl. Ernst Michael Kranich: ›Von der Gewissheit
eben nicht direkt von Goethe stammt, sondern       zur Wissenschaft der Evolution‹, Stuttgart 1989 so-
– als Wiedergabe von Goethes Ideen – von Ge-       wie Christoph Hueck: ›Evolution im Doppelstrom
org Christoph Tobler) vollständig zitiert. Fast    der Zeit‹, Dornach 2012.

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Das Wagnis der Freiheit
Peter Neumann: Jena 1800. Die Republik der freien Geister, Siedler Verlag, München 2018, 256
Seiten, 22 EUR

Warum muss ein Sachbuch unbedingt trocken           Natur erkennt der Geist sich wieder und findet
sein? Es geht auch anders, wie das vorliegende      zu sich selber; im Geist des Menschen schlägt
Werk von Peter Neumann zeigt. Er gliedert sein      die Natur die Augen auf und findet zur Erkennt-
Thema ›Jena 1800‹ in drei Teile, die zunächst       nis, dass sie da ist. Die Natur ist nur das andere
auf die Auswirkungen der Französischen Revo-        des Geistes ...« (zitiert auf S. 82) Es ist einer der
lution eingehen, dann auf die geistige Antwort      größten Gedanken dieser Zeit, und er klingt so
aus der Mitte Deutschlands und abschließend         neu, als sei er eben erst gedacht.
auf das Motiv »Der rastlose Weltgeist«.             Die Freunde wollen eine Kommune des Den-
Man schreibt das Jahr 1800 – sechs Jahre nach       kens als Republik freier Geister gründen, und
dem Ende der Französischen Revolution, die          die Brüder Schlegel wohnen mit ihren Frauen
allgemein als unvollendet gilt. Im politischen      alle zusammen in der Leutragasse 5. Friedrich
Europa geht alles durcheinander. Und gerade         Schlegel schreibt hier sein Buch ›Lucinde‹, über
zu dieser Zeit ereignet sich in Jena ein unglaub-   das sich die Gemüter erregen. Das Haus wurde
licher geistiger Aufbruch! Getragen wird er von     im Zweiten Weltkrieg zerstört und lag ungefähr
den Brüdern Friedrich und Wilhelm Schlegel          dort, wo sich heute der ›JenTower‹ erhebt.
mit ihren Frauen Dorothea und Caroline, dem         Mit Fichte stieg die Einbildungskraft, die Ich
Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling und         und Welt verbindet und Gegensätze vermitteln
dem Dichter Novalis. Außerdem sind die Ge-          kann, zu einem philosophischen Prinzip auf.
danken Immanuel Kants und Johann Gottlieb           Aber: »Die Einbildungskraft ist nicht bloß, als
Fichtes präsent, im Hintergrund sind Goethe         was Kant und Fichte sie bestimmt haben […].
und Schiller anwesend. Später kommen G.W.F.         Sie ist eine Form der Wirklichkeit, weil die
Hegel und Madame de Staël hinzu.                    Wirklichkeit selbst, in ihrem tiefsten Inneren,
In Neumanns Buch geht es nicht nur um die           aus Widersprüchen besteht.« (S. 82) – Schelling
großen neuen Gedanken, sondern auch um au-          will, dass seine Philosophie den Menschen zu
ßergewöhnliche Schicksale und den Alltag der        einem selbstständigen Wesen macht und das
beteiligten Menschen – wie von Caroline, geb.       erste System der Freiheit sein soll.
Michaelis, verw. Böhmer, gesch. Schlegel, verh.     Und der zarte Novalis schreibt in all diesen
Schelling. Die Freiheit, die sich alle und beson-   Wirren ›Europa‹ (später ›Die Christenheit oder
ders Caroline nehmen, ist nur eine Äußerlich-       Europa‹), und liest es, in der Hoffnung auf
keit. Im Innersten geht es um eine neue, freiere    »Symphilosophieren«, den Freunden vor. Aller-
Haltung zur Welt. Kritisches Denken ist ange-       dings können sie nur wenig damit anfangen.
sagt. So kommt es zu einer philosophischen          Europa! Und so viel über’s Christentum! Aber
Revolution in Jena, welche die Welt aus den         klingt das nicht nach einer Gründungsschrift
Angeln heben wird, bis heute.                       für die Idee eines vereinigten Europa und ist
Nur Goethe in Weimar bleibt gelassen und            modern geblieben, trotz aller Widrigkeiten?
»setzt der Ereignishaftigkeit der Geschichte        Eine zukunftsweisende Idee, so hoffnungslos
die Stetigkeit der Natur entgegen – ein Akt der     die Gegenwart manchmal erscheint?
Selbstbehauptung inmitten einer an allen En-        Auch Friedrich Schlegel erkennt, wie Kunst und
den lose gewordenen Zeit.« (S. 31) Diese Zeit       Wissenschaft in Fächer zersplittert werden und
muss bewältigt werden, nach Schelling am bes­       die in Wahrheit bestehende Gemeinschaft von
ten durch »eine Philosophie, die kein Innen und     Gelehrten und Künstlern entzweit wird. »Sie ar-
kein Außen mehr kennt, kein Subjekt und kein        beiten einem Ziel entgegen: dem Unendlichen.
Objekt, bloß ein Absolutes … Im Medium der          Die Wurzel des Aberglaubens, der Schlechtig-

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keit und des Unglücks liegt in der Beschrän-       Peter Neumanns Buch, das Geschichte und
kung, dem Wahn des bloß Endlichen.« (zitiert       Geis­tesgeschichte vermittelt, erzählt sehr le-
auf S. 152) Es geht um den Weltgeist, der sich     bendig die Schicksale und Lebensumstände der
selbst verwirklichen will. So wie die Menschen     tragenden Personen. Besonders interessant sind
sich selbst finden wollen, um dann erst wirk-      die Einschübe, die gründlich auf eine Person
lich arbeiten zu können. Poesie und Philoso-       oder einen Sachverhalt eingehen. Ein Beispiel
phie helfen dabei, sie heben »den menschlichen     hierfür: »Dienstbare Geister«, hier vor allem
Geist auf eine höhere, wenn nicht die höchste      über die Botenfrau, die Jungfer Wenzel, ohne
Stufe. Die Poesie, indem sie die Schärfe des       die manches zwischen Weimar und Jena nicht
Begriffs zu spüren bekommt; die Philosophie,       zustande gekommen wäre.
indem sie durch die Elastizität der bildlichen     Oft verwendet der Autor moderne oder sogar
Sprache aus der kahlen Endlichkeit der Refle-      saloppe Ausdrücke, um auch jüngeren Lesern
xion herausgehoben wird.« (zitiert auf S. 152f.)   die mehr als 200 Jahre vergangene geistige Blü-
Das Nur-Intellektuelle der Endlichkeit muss        te Deutschlands näher zu bringen. Leider ist
überwunden werden. Jeder Schritt aus dieser        ihm eine Fehlinterpretation unterlaufen, betref-
Enge wird als Freiheit empfunden.                  fend den Kampf Michaels mit dem Drachen:
Will man Novalis verstehen, wird die Welt lich-    Nicht Michael wurde bei diesem Kampf auf die
ter, aber auch schwerer. »Man muss lernen,         Erde geworfen, sondern der Drache! (S. 217 –
sterben zu können, bevor man wirklich stirbt,      vgl. Offb 12,7-9) Insgesamt ist der Text sehr
einwilligen können in das, was als Schicksal,      gut, überraschend und vergnüglich geschrie-
als unmittelbare Gewissheit vor einem steht.«      ben. Dazu kommt das großzügige, angenehme
(S. 200) In diesem Sinne ist »Poiesis in seiner    Layout mit schönen Illustrationen, darunter
ursprünglichen, griechischen Bedeutung […]         das alte Jena, eingebettet ins Saaletal, als Um-
kein literarisches Verfahren, sondern eine Le-     schlagbild und als topografische Reliefkarte.
benspraxis, die es jeden Tag aufs Neue einzuü-     Und zu dem Wohlgefühl, das Neumanns Buch
ben gilt«. (S. 208) Die Welt von heute scheint     beim Lesen erzeugt, kommt noch etwas hinzu:
noch mehr entzaubert als die des Novalis, aber     Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt – im Ver-
Neumann schreibt über ihn: »In einer entzau-       gleich zu manch anderen Büchern neigt es sich
berten Welt klingt sein Ruf nach einer Wieder-     sogar dem Leser zu.
verzauberung nur umso heller.« (S. 221)            Peter Neumann (geb. 1987 in Neubrandenburg)
Nach dem Einschub ›Am Vorabend‹ endet das          studierte hauptsächlich Philosophie in Jena
eigentliche Buch mit Hegels Brief an Friedrich     und war bis 2019 wissenschaftlicher Mitarbei-
Niethammer über die Vorkommnisse nach der          ter an der dortigen Philosophieprofessur. Sein
Schlacht von Jena und Auerstedt am 13. Okto-       Promotionsthema beschäftigte sich mit dem
ber 1806. Hier schrieb Hegel davon, dass er den    Zeitbegriff bei Schelling und Kant. Wohnhaft in
Kaiser Napoleon – »diese Weltseele« – durch        Weimar, hält er philosophische Vorlesungen an
die Stadt reiten sah. So ist auch die übergroße    der Jenaer Universität und ist außerdem Schrift-
Gestalt Napoleons mit anwesend, der sechs          steller und Lyriker. Für seine Bücher und Ge-
Jahre nach diesem geistigen Aufbruch alles hin-    dichtbände erhielt er mehrere Literaturpreise.
wegfegen wird: die Ordnung des Alten Reichs,       Das vorliegende Buch – hat er es als Philosoph,
und das zarte Geistige gleich mit.                 als Schriftsteller oder als Lyriker geschrieben?
Es folgt eine kurze Übersicht zu den einzelnen     Von allem etwas: Der Philosoph ordnet die Ge-
Personen. Dazu eine Zeittafel – notwendig we-      danken, der Schriftsteller setzt die Fakten an
gen der unumgänglichen Sprünge im Text. Die        die richtige Stelle, und der Lyriker verleiht dem
Anmerkungen, genannt ›Ausflüge in die Um-          Ganzen einen inneren Schwung, der es leben-
gebung‹, sind leider nicht durch Hinweise mit      dig und lesenswert macht – geradezu im Sinne
dem Fließtext verbunden. Zum Schluss folgt         von Novalis’ »Poetisieren« der Welt.
ein originelles Literaturverzeichnis.                                                  Maja Rehbein

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Vom Wesen der Bäume
Jan Albert Rispens: Bäume verstehen lernen. Ein goetheanistisch-anthroposophischer Schu-
lungsweg an der Natur, Schneider Editionen, Stuttgart 2017, 296 Seiten, 200 farbige Abbildungen,
38 EUR // Ders.: Bäume sprechen lassen. Eine Exkursion in die vielfältigen Erscheinungs-
formen der mitteleuropäischen Baumwelt, Schneider Editionen, Stuttgart 2019, 384 Seiten, 260
farbige Abbildungen, 48 EUR

In anspruchsvoller, reich ausgestatteter Edition    lungenen, sprechenden Baum-Fotografien und
hat Jan Albert Rispens im vergangenen Jahr          hilfreichen schematischen Zeichnungen. Die
einen zweiten Band seiner eindrucksvollen Mo-       qualitativ hochwertigen Fotografien fertigte der
nografien zum Wesen der Bäume vorgelegt. Als        Verfasser übrigens weitgehend selbst an.
Botaniker, der seit Jahrzehnten auf den Feldern     Um dem Baum-Wesen näherzukommen, be-
einer goetheanistischen, durch Anthroposophie       trachtet Rispens auch den innerhalb der Pflan-
befruchteten Naturwissenschaft unterwegs ist,       zenwelt den Bäumen gegenüberliegenden Pol:
umreißt er seinen Ansatz zum Verstehen des          das einjährige Kraut. Etwa, indem er an ihm
Baumwesens so, dass er immer wieder von             die Blattmetamorphose untersucht oder Wur-
der Frage an sein Gegenüber, den Baum also,         zel, Blüte, Frucht und Samen; und indem er die
ausgeht. Auch bewege ihn die Suche nach ei-         Umgebung der Pflanze in Augenschein nimmt,
ner neuen Art der Naturerkenntnis, welche die       wie auch das Verhältnis »einjähriges Kraut und
Erfahrungen gemeinsam Forschender so zube-          Mensch«, kann im nächsten Schritt – im Kon-
reitet, dass ein natürliches und naturgemäßes       trast dazu – das Baum-Wesen umso charakte-
Denken diese – in spirituellem Licht – begriff-     ristischer hervortreten. Zum Beispiel unter der
lich klar und zugleich beweglich zum Bewusst-       Fragestellung, welchen Stellenwert die Blattme-
sein bringen kann.                                  tamorphose an Bäumen hat. Schöne Gedanken,
Rispens orientiert sich an Johann Wolfgang von      die einem da begegnen. So arbeitet Rispens für
Goethe und Rudolf Steiner, aber auch an Ver-        den Baum als »Dauer-Pflanze« überzeugend
tretern des Goetheanismus im 20. Jahrhundert.       heraus, dass ihm – bei allem Dauerhaften –
Mit ihnen fühlt er sich methodisch darin ver-       doch kein ewiges Leben beschert ist. Vielmehr
bunden, zunächst zu den reinen Phänomenen           zeigt der Baum etwas wie eine »Bio-Grafie«,
vorzudringen und das Naturwesen als ein Ge-         denn: »Er modelliert in seiner Gestalt die ver-
genüber sich selbst aussprechen zu lassen, um       flossene Lebenszeit zum Raum.« Und: »Auch
dann in einem zweiten Schritt zur Hervorbrin-       ein Baum altert und zieht sich, bevor er end-
gung freier Imaginationen zu gelangen. In den       gültig abstirbt, langsam aus dem Raum zurück,
Letzteren soll der Mensch sich ebenso frei be-      indem seine Krone allmählich in sich zusam-
wegen lernen wie sonst nur in seiner Verstan-       menfällt und sein Stamm zunehmend morsch
destätigkeit. Denn so eingeübt, können diese        wird.« (›Bäume verstehen lernen‹ – S. 60)
»den Geist der Natur enthüllen«1 helfen.            Eine bedeutende Unterscheidung, die der Autor
Diesem Vorsatz getreu breitet Rispens in vielfäl-   in dem Band über das Verstehen-Lernen her­
tigen Beschreibungen verschiedenster Phäno-         ausarbeitet, ist die zwischen »Erdkraut« (die
mene ein weit gefächertes Erfahrungsfeld vor        einjährige Pflanze) und »Baumkraut«. Auch das
dem Leser aus, stets den fachlich geschulten,       Letztere lebt sich bei den meisten Laubbäumen
präzisen Blick des Botanikers beweisend, aber       im Wechsel des Vegetationszyklus dar – ähnlich
stets auch geleitet von der fragenden Suche         dem Erdkraut. Dies vollzieht sich am Baume
nach dem, was sich in den Phänomenen we-            aber in der Polarität zu dem »Bleibenden am
senhaft mitteilen will. An dieser Stelle ist der    Baum«. (Ebd. – S. 85f.) – Eben das Bleibende
Hinweis auf die große Fülle an hervorragendem       des Baumes untersucht Rispens nun in so viel-
Bildmaterial angebracht, die zahllosen, sehr ge-    fältigen Hinsichten, anhand so reichlich zusam-

                                                                                   die Drei 7-8/2020

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mengetragener Details, dass der Leser nur wird     sche) und Kernobst (Apfel) verstehen lassen.
zustimmen können, wenn all dies schließlich        (›Bäume sprechen lassen‹ – S. 167f.) Man er-
als eine ganz eigenständige Herleitung der         fährt aus der eingehenden Betrachtung der Bil-
oft kolportierten geisteswissenschaftlichen Er-    degesten von Kirsche und Apfel, dass die Früch-
kenntnis dasteht, dass der Baum – vor allem        te der Steinobstarten eine Metamorphose des
in seiner Stammbildung – zu verstehen ist als      Blattes, die Früchte der Kernobstarten hingegen
»ausgestülpte Erde« (Ebd. – S. 99f.)               eine des Stammes darstellen. An einer ganzen
Ähnlich sorgfältig und ausgiebig werden behan-     Reihe einzelner Phänomene findet Rispens
delt: blühendes und fruchtendes Baumkraut,         diese »Signatur« in diversen Lebensprozessen
Rinde und Borke, das Kambium; der Wald, der        von Apfel und Kirsche wieder. Und immer aufs
die Erde als ein Lebewesen erfahrbar macht,        Neue macht die Fülle geisteswissenschaftlicher
der Baum als Mistelstandort, das Veredeln von      Bezüge, die er zur Vertiefung des Gefundenen
Bäumen usw. Nach einem großen Kapitel über         anführt, schlicht staunen. – Die Methodik der
die Linde, das auch deren Mythologie befragt,      Betrachtung der einzelnen Bäume ist wiederer-
umreißt er einen Schulungsweg für den abend-       kennbar, entspricht aber nicht einem starren,
ländischen Menschen, gerade im Umgang mit          formalen Gerüst. Vielmehr schmiegt sie sich
dem Wesen des Baumes. Hier vertieft er, was        bei Rispens liebevoll an die Wesensart des be-
schon eingangs angedeutet wurde: die Erfor-        treffenden Baumes immer neu an.
dernisse eines reinen Anschauens der Sinnes-       Der Autor stammt aus den Niederlanden, lebt
welt und eines selbstständigen Hervorbringen-      allerdings schon seit Jahrzehnten im deutsch-
Könnens von freien Imaginationen.                  sprachigen Raum und hat die beiden vorlie-
Der Schulungsweg, den der Autor hier im Auge       genden Arbeiten auf Deutsch verfasst. Dieser
hat, umfasst seiner Einsicht und praktischen       Umstand hätte auf Seiten des Verlags eine er-
Erfahrung gemäß besonders – und vor allem          höhte Wachsamkeit aufrufen sollen, da – we-
auch für den Naturwissenschaftler – dasjenige,     niger in der Wortwahl und eher hinsichtlich
was Rudolf Steiner als den Lichtseelenprozess      spracheigener Wendungen und auch der Gram-
bzw. als den »neuen Yoga-Willen« charakteri-       matik (des Gebrauch der Kasūs) – häufige Hol-
sierte.2 Dabei geht es um ein seelisches, spiri-   landianismen aufstoßen, die es zu vermeiden
tuelles Erwachen im Feld des rhythmischen Le-      gegolten hätte. Aber vielleicht kann diese Notiz
bens zwischen der reinen Sinnesempfindung,         des Rezensenten auch so gelesen werden, dass
wie sie sich der Begegnung mit dem einzelnen       die gemeinten sprachlichen Besonderheiten
Naturwesen verdankt, und dem Denkwillen,           zum unzweifelhaften Charme der beiden Bü-
dem Steiner eine überindividuelle, ja mensch-      cher beitragen. – Wem es um das Baumwesen,
heitliche Dimension beimisst.                      um Einzelbäume wie um die Wälder weltweit,
Der zweite hier besprochene Band ›Bäume            zu tun ist, die ja unser aller Leben tragen, wird
sprechen lassen‹, ist ebenso prachtvoll ausge-     in den Arbeiten Jan Albert Rispens’ in großer
stattet wie der vorausgehende. Darin werden,       Zahl Anregungen vorfinden, die helfen können,
im Sinne einer Konkretisierung des im ersten       die eigene Beziehung zum Baumwesen in wohl
allgemein gehaltenen Verstehensansatzes, acht      ungeahnter Weise zu vertiefen.
europäische Laubbäume und – zusammenfas-                                            Klaus J. Bracker
send – die Nadelbäume in einzelnen Kapiteln
vorgestellt. Einen der Höhepunkte bildet dabei
fraglos das Kapitel ›Zu den Rosen-Obstbäumen       1 Vgl. Vortrag vom 14. Oktober 1916 in Rudolf Stei-
                                                   ner: ›Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit.
– Apfel und Kirsche‹. Der Autor zeigt hier auf,
                                                   Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhun-
inwiefern die Rosengewächse insgesamt im           derts‹ (GA 171), Dornach 1984, S. 257.
Kreis der Blütenpflanzen »eine Art Herzorgan«      2 Vgl. Rudolf Steiner: ›Die Sendung Michaels‹ (GA
bilden und die ihnen zugehörigen Obstbäume         194), Dornach 1962 und ders.: ›Grenzen der Naturer-
sich im Sinne der Polarität von Steinobst (Kir-    kenntnis‹ (GA 322), Dornach 1988.

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Immer schon Mystiker gewesen
Kaj Skagen: Anarchist, Individualist, Mystiker. Rudolf Steiners frühe Berliner Jahre 1897-1902, aus
dem Norwegischen von Jutta Schloon, Rudolf Steiner Verlag, Basel 2020, 135 Seiten, 18,80 EUR

Der norwegische Schriftsteller und Philosoph        latan darzustellen, sei psychologisch unglaub-
Kaj Skagen weist in seiner neuen biografischen      würdig. Das Unterschieben minderwertiger
Studie (die teilweise auf seine 2016 erschienene    Motive (die Beschäftigung mit Philosophie, nur
Steiner-Biografie ›Morgen um Mitternacht‹ zu-       um Karriere zu machen) habe mit dem wirk-
rückgreift), auf die Polemik hin, die bald hun-     lichen Steiner nichts zu tun. Sowohl das an-
dert Jahre nach Steiners Tod noch immer um          throposophisch korrekte Heiligenbild als auch
seine Person, seine Lehre und die von ihm in-       das Doppelgängergespenst seien unsachlich
augurierten Reformbewegungen stattfindet. Ein       und von Interessen geleitet. »Wo die pro Stei-
Hauptgrund dafür sei die Uneinigkeit über die       ner argumentierenden Verteidigungsschriften
wichtigen »Übergangsjahre« Steiners um 1900,        allzu menschliche Wesenszüge seiner Person
denen sich Skagen in seiner Studie besonders        überdecken und wegdiskutieren, so etwa sei-
widmet. Er belegt stichhaltig, dass Steiner         ne jugendliche Weltfremdheit oder strategische
seit seiner ersten Goethe-Edition bis hin zur       Aussagen in seiner Autobiografie, zeigen die
Mystik-Schrift im Eckhartschen Sinne Mystiker       Vertreter der Doppelgänger-Theorie einen au-
war. Vielleicht lag Steiners Jugendfreund Mo-       genfälligen Mangel an Wohlwollen und keh-
ritz Zitter gar nicht so falsch, als er 1903 an     ren alles an Steiner ins Schlechte.« (S. 21) Die
Rosa Mayreder schrieb: »Er ist natürlich immer      Doppelgänger-Figur werde vor allem dadurch
Myste gewesen. Wir haben das nur nicht gese-        charakterisiert, dass mittelmäßige Fähigkeiten
hen.«1 Die kontroversen Standpunkte zeigten         gepaart sind mit großen Ambitionen: »Die trau-
sich einerseits im »korrekten anthroposophi-        rige Gestalt« (S. 23), also Steiner, scheitert bei
schen Heiligenbild« (S. 17), wie es beispielswei-   fast allem, was sie sich vorgenommen hat, so-
se die Steiner-Biografen Guenther Wachsmuth,        wohl im Berufs- als auch im Privatleben. Der
Christoph Lindenberg und Peter Selg malten,         eigentliche Grund, weshalb der junge Steiner
andererseits in dem diffusen Gespenst eines         zum Goethe-Herausgeber ernannt worden sei,
Steiner-Doppelgängers, wie es etwa Helmut           liege nach Zander darin, dass der Verleger kei-
Zander konstruiere. Die plausibelste Erklärung      ne Zeit gehabt habe, seine Qualifikationen zu
für Rudolf Steiners rätselhaften Gesinnungs-        prüfen. Auch Steiners »Radikalität« sei eine
wandel sieht er in David Marc Hoffmanns Deu-        Konstruktion. Mithilfe einer unredlichen Zi-
tung einer »Hadesfahrt«, also von einem tief        tatverkürzung werde versucht, den scharfen
einschneidenden Einweihungserlebnis. Skagen         Bruch zwischen Steiners Nihilismus und der
kommt zu dem Schluss, dass im Hintergrund           »Bekehrung« zur Theosophie zu belegen. Dass
von Steiners Atheismus und Materialismus            Steiner dem Stirnerschen Gedanken das Faust-
immer die Erinnerung an eine früh erfahrene         Zitat entgegensetzt: »In deinem Nichts hoff‘ ich
geis­tige Welt wie auch deren fortwährende Er-      das All zu finden«, verschweige Zander.
fahrbarkeit gestanden habe.                         Steiners Jahre 1897 bis 1902 würden so dar-
Er kritisiert Zanders Methoden, die denen des       gestellt, dass er jahrelang einen Lebenswandel
norwegischen Ideen-Historikers Jan-Erik Eb-         »voll von Ausschweifungen, Bummelei, Trink-
bestad Hansen gleichen. Beide weigerten sich,       gelagen und Frauengeschichten« (S. 68) geführt
eine liebevolle Hermeneutik auf Steiner anzu-       habe. Skagen kann dagegen nachweisen, dass
wenden. Stattdessen stellen sie einen karrie-       Steiner für das Nachtleben der Bohème denk-
resüchtigen, immer wieder Gescheiterten dar,        bar ungeeignet war und außerdem damals ein
dem sie eine ehrliche Wahrheitssuche abspre-        immenses Arbeitspensum absolvierte. Schon
chen. Steiner als einen Quacksalber oder Schar-     1898 verließ er Otto Erich Hartlebens Stamm-

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tisch, zwei Jahre vor Zanders Zeitangabe. Die-      in Steiners Leben eine entscheidende Grenz­
ser Fehler habe große Konsequenzen für die Be-      überschreitung stattgefunden haben muss. Stei-
urteilung von Ursache und Wirkung in der Zeit       ner schreibt hier auch: »Was ein Mystiker wie
bis zu seinem Übergang zu den Theosophen.           Jakob Böhme mit den Worten ausgesprochen
Auch die berühmte Cog­na­ cflasche mit der Stei-    hat: der Tod ist die Wurzel alles Lebens, das
ner-Puppe, ein Geschenk Ludwig Jacobowskis,         hat Goethe mit der sich opfernden Schlange
ist für Zander ein Beweis, dass Steiner noch im     zum Ausdruck gebracht.«2 In der Vorrede zur
Dezember 1898 den »alkoholischen Freuden«           ersten Auflage der ›Philosophie der Freiheit‹
zugeneigt war. Skagen dazu: »Dies dürfte der        lesen wir dann, die Beobachtung des Wesens
einzige Fall in der Forschungsgeschichte sein,      der Welt müsse »durch die Entwicklung aller in
dass ein Mann allein aufgrund einer Flasche         uns schlummernden Fähigkeiten«3 geschehen –
Cognak, die zur Dekoration im Wohnzimmer            eine Formulierung, die später in seinem Medi-
stand, als trunksüchtig charakterisiert worden      tationsbuch wieder auftaucht.4
ist.« (S. 72) Gegenteilige Zeugenaussagen (etwa     Mit seiner gründlichen Studie überwindet Ska-
von Josef Rolletschek) ignoriere Zander.            gen die Kontinuität-Diskontinuitäts-Debatte auf
In dem Kapitel ›War Steiner Atheist?‹ schreibt      originelle Weise, indem er nachweist, dass Stei-
Skagen: »Je stärker, reiner und intensiver un-      ner von seiner ersten Goethe-Edition (1884) bis
ser Individualismus ist, desto näher kommen         zur Mystik-Schrift (1902) im Eckartschen Sinne
wir Gott. Das ist das zentrale Paradoxon des        immer ein Mystiker war und zunehmend »in-
Steiner’schen Individualismus […] [Dieser] ist      nere Mysterienerfahrungen« (S. 126) machte,
gottlos, aber er führt gerade deswegen zu einer     nämlich als Wahrnehmung, ja sogar als Kom-
Mysterienerfahrung, die das Wesen des Men-          munion mit der spirituellen Seite der Welt.
schen und der Welt gewahr werden lässt.« (S.                                    Wolfgang G. Vögele
85) Alle Werke Steiners von vor 1902 »enthalten
dieselbe Grundidee, die von einem rein geis­
tigen Weltengrund ausgeht, gebildet von Ge-         1 Wolfgang G. Vögele (Hrsg.): ›Der andere Rudolf
dankenstoff, der das Weltall durchwebt und in       Steiner‹, Basel 2011, S. 148.
                                                    2 Rudolf Steiner: ›Methodische Grundlagen der An-
individualisierter Form im Geist und in der See-
                                                    throposophie‹ (GA 30), Dornach 1989, S. 94.
le des Menschen Gestalt annimmt.« (S. 82) In        3 Ders.: ›Die Philosophie der Freiheit‹ (GA 4), Dor-
seinem Aufsatz ›Goethes geheime Offenbarung‹        nach 1995, S. 271.
(1899) spricht Steiner erstmals öffentlich von      4 Ders.: ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren
einem höheren Ich. Skagen folgert daraus, dass      Welten?‹ (GA 10), Dornach 1993, S. 91.

Von der Würde des Materials
Thomas Rau & Sabine Oberhuber: Material Matters. Wie wir es schaffen, die Ressourcenver-
schwendung zu beenden, die Wirtschaft zu motivieren, bessere Produkte zu erzeugen, und
wie Unternehmen, Verbraucher und die Umwelt davon profitieren, Econ Verlag, Berlin 2018,
222 Seiten, 20 EUR

Das in rustikaler Pappbindung daherkom-             kommt: Dadurch, dass sowohl das Produkt als
mende Buch, zuerst 2016 in den Niederlanden         auch das Material, aus dem dieses hergestellt
erschienen, analysiert kritisch die zur Zeit vor-   wird, nicht als veräußerbares Eigentum, son-
herrschende lineare Wirtschaftsform und zeigt       dern als gegen Gebühr zur Verfügung gestell-
exemplarisch wie theoretisch neue Wege einer        ter »Service« gehandhabt wird, soll die lineare
Kreislaufwirtschaft auf, die konsequent vom         Wirtschaftskette durchbrochen werden. Um
Material ausgeht und im Ideal ohne Abfall aus-      Beispiele zu nennen: Der Kunde kauft nicht

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eine Lampe oder eine Beleuchtungsanlage, son-      Bei den Materialien liegt nach Thomas Rau und
dern nur das Licht, das diese seinen Wünschen      Sabine Oberhuber das alleinige Eigentumsrecht
gemäß liefert. Er kauft auch kein Haus, sondern    bei der Erde als solcher, die das größte denk-
nur das Recht, seinen Bedürfnissen und Mög-        bare Depot darstellt, das von den Menschen nur
lichkeiten gemäß zu wohnen.                        verwaltet werden kann. Wie bei einer Allmende
Die Verantwortung für Produkt oder Material        haben die gegenwärtigen Generationen nur das
bleibt durchgängig beim Hersteller bzw. bei        Recht, Gewinne und Erträge durch die Nutzung
dem, der es als Rohstoff aus der Erde gewinnt.     des Gutes zu erwirtschaften. Das heißt, so wie
Die Konsumenten erwerben nur ein Nutzungs-         weder Produzent noch Konsument Eigentümer
recht von vertraglich festgelegter Dauer für ein   der benutzten Materialien werden, so können
Produkt. Betriebs- Wartungs- und Produkti-         auch Rohstoffe nicht verkauft, sondern nur
onskosten gehen zu Lasten des Produzenten.         verliehen werden. Im Sinne des von den Au-
Dadurch ist dieser sowohl an der Langlebig-        toren entwickelten Turntoo-Modells bleibt das
keit als auch z.B. an einem sparsamen Energie-     Material »Eigentum der Erde, das Nutzungs-
verbrauch interessiert, ebenso daran, nur das      recht an Material wird von der Gemeinschaft,
zu liefern, was wirklich gebraucht wird. Nach      aus deren Gebiet die Rohstoffe stammen, ver-
Vertragsablauf fällt das Produkt an den Produ-     handelt. Material wird Service.« (S. 166) Eine
zenten zurück. Nun kann er es entweder ande-       »Allgemeine Erklärung der Materialrechte«,
ren Nutzern zur Verfügung stellen, oder aber       wie sie am Schluss des Buches als Entwurf (auf
er recycelt es, um das Material wieder zu ver-     englisch) abgedruckt ist, soll verhindern, dass
wenden. Insofern wird der Produzent nicht nur      Materialien ihre Verwertbarkeit verlieren. »Auf
darauf achten, dass es leicht und kostengüns­      diese Weise entsteht zusätzlich zu der heutigen
tig reparierbar ist, sondern auch darauf, dass     Wertschöpfungskette, die bekanntlich mit der
die verarbeiteten Materialien zurückgewonnen       Vernichtung aller Werte auf dem Müllberg en-
werden können, um diese für neue Produkte          det, eine echte Werterhaltungskette.« (S. 166f.)
nicht neu erwerben müssen.                         Hintergrund dieses auf unendliche (Wieder-)
Entsprechend werden die Produkte bei dieser        Nutzung der Ressourcen ist eine organismische
Wirtschaftsform als »Materialdepots« betrach-      Anschauung der Erde als einem geschlossenen
tet und sind mit einem bei einem zentralen Re-     und somit endlichen System.
gister – dem mit dem Kataster vergleichbaren       Im Unterschied zu anderen Kreislaufmodellen,
»Madaster« – eingetragenen Materialpass aus-       die Müllvermeidung und Recycling als Orga-
gestattet. Dieser macht nicht nur die Zusam-       nisationsproblem in den Vordergrund stellen,
mensetzung eines Produktes transparent, son-       geht das Turntoo-Modell von Rau und Ober-
dern auch, wie und wo die Materialien verbaut      huber von der elementaren Erkenntnis aus: Ei-
sind, sodass das Recycling erleichtert wird.       gentum bedeutet Verantwortung, die konkret
Auf diesem Wege wird nicht nur Abfall ver-         wahrzunehmen ist – auch der Erde gegenüber.
mieden, der bisher meist außerhalb des Verant-     Dabei muss man nicht auf einen Systemwech-
wortungsbereiches des Produzenten lag, son-        sel von oben warten. Die Autoren – der auf
dern die Wirtschaft wird angeregt, sich an den     nachhaltiges und energieproduzierendes Bauen
tatsächlichen Bedürfnissen der Verbraucher zu      (z.B. das Gebäude der Triodos-Bank in Zeist)
orientieren. Dadurch, dass bei ihr nicht nur die   spezialisierte Architekt Thomas Rau und die
Macht, sondern auch die Letztverantwortung         Betriebswirtin Sabine Oberhuber – zeigen an
für ihre Produkte liegt, verändert sich das Ver-   konkreten Beispielen, wie dies durch entspre-
hältnis zwischen Produzent und Konsument.          chende Vertragsgestaltung auch schon im Klei-
Es geht weniger um Abhängigkeiten als um           nen möglich ist und durchaus auf das Interesse
Gemeinsamkeiten. Das Gleiche gilt für das Ver-     einzelner Produzenten stößt. Beide sind diesbe-
hältnis von Zulieferern und Produzenten und        züglich auch vielfach beratend tätig.
andere Glieder der Kette.                                                        Stephan Stockmar

                                                                                  die Drei 7-8/2020

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Ein Priester der Poesie
Rüdiger Safranski: Hölderlin – Komm! ins Offene, Freund!, Hanser Verlag, München 2019, 336
Seiten, 28 EUR

Was braucht es, um einem Dichter wie Fried-         etwa Hölderlin als Gescheiterten anzusehen,
rich Hölderlin gerecht zu werden und ihm, zu-       denn die Überzartheit der Seele, die ihn an
mal zu seinem 250. Geburtstag, eine entspre-        der Welt leiden und in der Gesellschaft keinen
chende Biografie zu widmen? Genaue Kennt-           Platz finden ließ, brachte die Geist-Offenheit
nis der Werk-, Wirkungs- und Zeitgeschichte,        mit sich, aus der herrliche Werke entspran-
Einblick in den aktuellen Forschungsstand zu        gen. Hölderlin strebte nach dem Allgemeinen,
dieser in der ersten Hälfte von Unrast und Hei-     mochte das Pfarramt so wenig annehmen wie
matlosigkeit, in der zweiten Hälfte von Krank-      seine Freunde aus Tübinger Stift-Zeiten, G.W.F.
heit gekennzeichneten Vita, Empathie für die        Hegel und Friedrich Schelling, auch blieb er
Beschaffenheit der Seele, aus der meisterhafte      ohne feste (Ehe-)Verbindung. Von Schelling
Gedichte entsprangen, sowie den nötigen Ab-         stammt auch die wohl feinste Charakteristik
stand, um nicht in Schwärmerei zu verfallen.        von Hölderlins Zustand, der ihn von 1807 an
Das alles ist das Handwerkszeug; und dass           bis zu seinem Tod 1843 an jenes Turmzimmer
Rüdiger Safranski über dieses verfügt, hat er       in Tübingen fesselte: »Ich überzeugte mich
vielfach bewiesen. Hinzu kommt hier etwas,          bald, dass dieses zart besaitete Instrument auf
was sich schwer lernen lässt, eine Art wahl-        immer zerstört sey.« (S. 258)
verwandtschaftliche Intuition. Diese Qualität       Gerade da der Text Safranskis einem inneren
eignet Safranskis 300-seitiger Studie. Man mag      Duktus und nicht einer strengen Chronologie
es das Grundthema, den Zentralgedanken, das         folgt, ist der Anhang mit einer ausführlichen
Leitmotiv nennen, was sich kaum in einem            zeitlichen Übersicht von Hölderlins Leben
Satz ausdrücken lässt, gleichwohl aber immer        enorm hilfreich. Safranski, der ausgewählte
                                                    ­
wieder anklingt: »An Feuer fehlte es Hölder-        Gedichte passend zu den behandelten Themen
lin nicht, das wusste er; doch fehlte es ihm        bzw. Lebensabschnitten in voller Länge in den
an Bestimmtheit, an Entschiedenheit und an          Text gesetzt hat, endet mit der offenen Frage, ob
dem Willen, das Eigene konsequent und, wenn         auch künftig die Wahlverwandtschaft Hölder-
nötig, mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit       lins gesucht werde: »Erreicht er uns noch, und
durchzusetzen.« (S. 112) »Die Geschichte einer      erreichen wir ihn? Schön wäre es.« (S. 307)
unendlichen, nie ans Ziel kommenden Annähe-                                            Johannes Roth
rung an einen absoluten Text.« (S. 301)
In dem Abgrund zwischen Leben und Poe-                                                         Anzeige
sie erkennt Safranski ein Leitmotiv im Leben
Hölderlins; dieses wird freilich der Biografie
nicht aufgestempelt, sondern ergibt sich an-
hand der Symptomatik der biografischen Er-
eignisse, die Safranski lesefreundlich und über-
sichtlich gliedert, mit genauer Kenntnis der Vor-
gänge, soweit sie dokumentiert sind, und dem
Eingeständnis dessen, was nicht bekannt oder
gewiss ist, z.B. weshalb es schon nach wenigen
Monaten zum Abbruch von Hölderlins Tätigkeit
als Hofmeister in Bordeaux kam.
Diese wissenschaftliche Redlichkeit hält ihn
auch von abschließenden Urteilen zurück,

die Drei 7-8/2020

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