Buchbesprechungen Hymne einer neuen Naturanschauung - Zeitschrift für Anthroposophie
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
86 Buchbesprechungen Buchbesprechungen Hymne einer neuen Naturanschauung Mathias Bröckers: Newtons Gespenst und Goethes Polaroid – Über die Natur, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2019, 128 Seiten, 15 EUR Der Journalist Mathias Bröckers, sonst eher nen, nichts ist draußen: / Denn was innen, das durch verschwörungstheoretische Bücher etwa ist außen.«1 In diesem Zusammenhang schil- zum 11. September bekannt, hat ein meinungs- dert Bröckers kenntnisreich Goethes frühes Stu- starkes, profund recherchiertes, im klassischen dium der hermetisch-kabbalistischen Literatur, Sinn gebildetes und in mehrfacher Hinsicht be- das ihm bei gleichzeitigem Interesse für die merkenswertes Büchlein über Goethes Natur- Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit eine auffassung verfasst. Bröckers zeigt, dass man Sonderstellung unter den damaligen Denkern Goethes Fragment ›Über die Natur‹ (1782) als verschafft habe. Bröckers bespricht Goethes Manifest einer postmodernen, ganzheitlichen Auffassung der Gleichberechtigung von Ma- und »überaus zeitgemäßen« Naturauffassung terie und Geist im Zusammenhang mit einer verstehen kann, weil Goethe die Natur weder Auseinandersetzung zwischen Johannes Kepler bloß mechanistisch noch kreationistisch dach- und dem englischen Theosophen Robert Fludd te, vielmehr »nie nur in Teilen, sondern gleich- (1574–1637), in der es schon damals um die zeitig immer als Ganzes, nicht in Teilchen und Rolle des Geistes und Bewusstseins in der phy- Elementen, sondern in Formen und Gestalten, sikalischen Wirklichkeit gegangen sei. Das Be- nie nur als materielles Objekt und ›Außen‹, wusstsein – so Bröckers – sei durch die Wissen- sondern stets in Verbindung mit ›Innen‹, mit schaft Keplers und dann entscheidend durch Bewusstsein, Geist« (S. 113). die Philosophie Immanuel Kants ins Subjektive Bröckers sieht die in dem berühmten Fragment abgedrängt worden, während Goethe die sinn- ausgesprochenen Einsichten im Einklang mit lich-sittliche Qualität der Natur habe retten und neuen holistischen Naturanschauungen wie damit der aufkommenden Naturwissenschaft der Gaia-Theorie eines James Lovelock, der eine andere Richtung geben wollen. Symbiogenese-Theorie der Evolution von Lynn Auf diesem Hintergrund versteht Bröckers auch Margulis, der chemischen und biologischen Goethes Polemik gegen Newtons Farbentheorie. Selbstorganisation der Materie nach Ilya Prigo- Goethe habe sie als reduktionistische »Halb- gine und Humberto Maturana sowie der frak- wahrheit« entlarvt, und das nicht nur deshalb, talen Chaos-Geometrie von Benoît Mandelbrot. weil im Fall der Gültigkeit der Newtonschen Denn Goethe, so das im Buch oft wiederhol- Logik auch die Finsternis aus – zu Newtons te Mantram, habe durch eine »zarte Empirie, Spektrum komplementären – Farben »zusam- die sich mit dem Gegenstand innigst identisch mengesetzt« sein müsste.2 Nein, der entschei- macht und dadurch zur eigentlichen Theorie dende Punkt sei, dass Newton lediglich auf ein wird« eine ganzheitliche und damit der Lebens- scheinbar objektives »Außen« blickte, während wirklichkeit tatsächlich entsprechende Natur man Licht als Phänomen überhaupt nur verste- anschauung ausgebildet, »die heute notwendi- hen könne, indem man wie Goethe Außen und ger erscheint denn je«. (S. 76) Innen, Materie und Bewusstsein zusammen- Auch die Auffassung der Quantenphysik, dass denke (weshalb sich heute auch insbesonde- der Beobachter das Ergebnis eines Experiments re Kognitionsforscher wie Rainer Mausfeld für mitbestimmt, passe zu Goethes »Nichts ist drin- Goethes Farbenlehre interessierten). die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
Buchbesprechungen 87 Für den Laien leider nicht einfach zu verstehen 100 Jahre nach Steiners Tod ist es immer noch sind die Schilderungen über die Erfindung von bemerkenswert, wenn er einmal in selbstver- Edwin Lang, der, so Bröckers, eine technische ständlicher Sachlichkeit zu Wort kommen darf. Umsetzung der Goetheschen Farbenlehre in der Und doch muss gerade an dieser Stelle auch Polaroid Sofortbildfotografie erreicht habe. eine kritische Bemerkung gemacht werden. Nach derselben Logik, die Goethes Kritik an Denn Rudolf Steiner zeigte in seiner Studie3 Newton zugrunde liegt, wären auch der Allein detailliert, was Goethe bereits selbst über das erklärungsanspruch der molekularen Genetik ›Fragment‹ geäußert hatte: dass es eine Art und die darwinistische Erklärung der Evoluti- Vorstudie war, zu der seine späteren naturwis- on nur Halbwahrheiten, gegen die sich Goethe senschaftlichen Forschungsergebnisse wie eine vermutlich ebenso vehement wie gegen New- Steigerung, ein »Superlativ« anzusehen seien. tons Lichttheorie gewendet hätte. Denn wie es Auf diese Goetheschen Forschungsergebnisse, Bewusstsein brauche, damit aus elektromagne- insbesondere auf die Idee des biologischen Ty- tischer Strahlung Licht und Farben werden, so pus, geht Bröckers nicht näher ein. Gerade der brauche es »Bewusstsein und Geist«, damit aus Typusgedanke ist aber für die Höherentwick- den Genen Leben und Höherentwicklung ent- lung im Verlauf der Evolution erhellend4, die stehen können (S. 104). Hier bringt Bröckers Bröckers – und hier greift er einfach zu kurz den schönen Vergleich mit dem Techniker, der – nur durch das Wirken eines allgemeinen Le- herausfinden will, wie die Schaltkreise eines bensprinzips sowie durch Symbiogenese und Fernsehers samstags um 18 Uhr die Sportschau Kooperation erklärt haben will (S. 90ff.). Und hervorbringen. »Kaum anders verhalten sich so ist Bröckers leider auch der Meinung, dass Naturwissenschaftler, die Evolution und Leben Goethes Forschung keine wissenschaftliche auf Gene und Moleküle reduzieren und Geist, Schule begründet habe (S. 66). 100 Jahre pro- Bewusstsein und Seele für Produkte dieser Teile duktiver goetheanistischer Forschung zeigen halten.« Dann folgt ein Satz, der den Rezen- jedoch etwas anderes. senten innerlich jubeln ließ und als Motto für Insgesamt ist dieser kenntnisreichen, ebenso Bröckers‘ gesamtes Anliegen stehen könnte: fundiert wie engagiert geschriebenen Studie »Wer solche Experten ernst nimmt und sie ma- eine breite Leserschaft zu wünschen. Im Sturm chen lässt, hat das Denken in der Tat aufgege- der ökologischen Krise erscheint sie wie ein ben. Und eben dies – das Denken – können wir Leuchtturm, der die Richtung weist, in der eine mit Goethe wieder lernen« (S. 105). wirklich heilende Veränderung unseres Verhält- Kenntnisreich schildert Bröckers auch die his nisses zur Natur gesucht werden muss. torische Wirkung des ›Fragments‹. Naturfor- Christoph Hueck scher und Ärzte wie Alexander von Humboldt, Ernst Haeckel, Rudolf Virchow, Hermann von Helmholtz, Sigmund Freud, aber auch Dichter 1 Johann Wolfgang von Goethe: ›Epirrhema‹, in wie Stefan Zweig, Gottfried Benn und Rilke ders.: ›Werke‹, Hamburger Ausgabe Band I, Mün- bezogen sich darauf, und T.H. Huxley, einer chen 1981, S. 258. der großen Popularisierer des Darwinismus, 2 Das wird ausführlich gezeigt in Olaf L. Müller: verwendete es 1869 sogar als Editorial für die ›Mehr Licht: Goethe und Newton im Streit um die erste Ausgabe der international führenden Wis- Farben‹, Frankfurt a.M. 2015. Vgl. die Buchbespre- senschaftszeitschrift ›Nature‹. chung von Troy Vine in: die Drei 11/2015, S. 9ff. Schließlich zeigt Bröckers seine geistige Souve- 3 Abgedruckt in Rudolf Steiner: ›Methodische Grundlagen der Anthroposophie 1884-1901‹ (GA ränität, indem er Rudolf Steiners ausführliche 30), Dornach 1989, S. 320ff. Analyse zur Autorenschaft des ›Fragments‹ (das 4 Vgl. Ernst Michael Kranich: ›Von der Gewissheit eben nicht direkt von Goethe stammt, sondern zur Wissenschaft der Evolution‹, Stuttgart 1989 so- – als Wiedergabe von Goethes Ideen – von Ge- wie Christoph Hueck: ›Evolution im Doppelstrom org Christoph Tobler) vollständig zitiert. Fast der Zeit‹, Dornach 2012. die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
88 Buchbesprechungen Das Wagnis der Freiheit Peter Neumann: Jena 1800. Die Republik der freien Geister, Siedler Verlag, München 2018, 256 Seiten, 22 EUR Warum muss ein Sachbuch unbedingt trocken Natur erkennt der Geist sich wieder und findet sein? Es geht auch anders, wie das vorliegende zu sich selber; im Geist des Menschen schlägt Werk von Peter Neumann zeigt. Er gliedert sein die Natur die Augen auf und findet zur Erkennt- Thema ›Jena 1800‹ in drei Teile, die zunächst nis, dass sie da ist. Die Natur ist nur das andere auf die Auswirkungen der Französischen Revo- des Geistes ...« (zitiert auf S. 82) Es ist einer der lution eingehen, dann auf die geistige Antwort größten Gedanken dieser Zeit, und er klingt so aus der Mitte Deutschlands und abschließend neu, als sei er eben erst gedacht. auf das Motiv »Der rastlose Weltgeist«. Die Freunde wollen eine Kommune des Den- Man schreibt das Jahr 1800 – sechs Jahre nach kens als Republik freier Geister gründen, und dem Ende der Französischen Revolution, die die Brüder Schlegel wohnen mit ihren Frauen allgemein als unvollendet gilt. Im politischen alle zusammen in der Leutragasse 5. Friedrich Europa geht alles durcheinander. Und gerade Schlegel schreibt hier sein Buch ›Lucinde‹, über zu dieser Zeit ereignet sich in Jena ein unglaub- das sich die Gemüter erregen. Das Haus wurde licher geistiger Aufbruch! Getragen wird er von im Zweiten Weltkrieg zerstört und lag ungefähr den Brüdern Friedrich und Wilhelm Schlegel dort, wo sich heute der ›JenTower‹ erhebt. mit ihren Frauen Dorothea und Caroline, dem Mit Fichte stieg die Einbildungskraft, die Ich Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling und und Welt verbindet und Gegensätze vermitteln dem Dichter Novalis. Außerdem sind die Ge- kann, zu einem philosophischen Prinzip auf. danken Immanuel Kants und Johann Gottlieb Aber: »Die Einbildungskraft ist nicht bloß, als Fichtes präsent, im Hintergrund sind Goethe was Kant und Fichte sie bestimmt haben […]. und Schiller anwesend. Später kommen G.W.F. Sie ist eine Form der Wirklichkeit, weil die Hegel und Madame de Staël hinzu. Wirklichkeit selbst, in ihrem tiefsten Inneren, In Neumanns Buch geht es nicht nur um die aus Widersprüchen besteht.« (S. 82) – Schelling großen neuen Gedanken, sondern auch um au- will, dass seine Philosophie den Menschen zu ßergewöhnliche Schicksale und den Alltag der einem selbstständigen Wesen macht und das beteiligten Menschen – wie von Caroline, geb. erste System der Freiheit sein soll. Michaelis, verw. Böhmer, gesch. Schlegel, verh. Und der zarte Novalis schreibt in all diesen Schelling. Die Freiheit, die sich alle und beson- Wirren ›Europa‹ (später ›Die Christenheit oder ders Caroline nehmen, ist nur eine Äußerlich- Europa‹), und liest es, in der Hoffnung auf keit. Im Innersten geht es um eine neue, freiere »Symphilosophieren«, den Freunden vor. Aller- Haltung zur Welt. Kritisches Denken ist ange- dings können sie nur wenig damit anfangen. sagt. So kommt es zu einer philosophischen Europa! Und so viel über’s Christentum! Aber Revolution in Jena, welche die Welt aus den klingt das nicht nach einer Gründungsschrift Angeln heben wird, bis heute. für die Idee eines vereinigten Europa und ist Nur Goethe in Weimar bleibt gelassen und modern geblieben, trotz aller Widrigkeiten? »setzt der Ereignishaftigkeit der Geschichte Eine zukunftsweisende Idee, so hoffnungslos die Stetigkeit der Natur entgegen – ein Akt der die Gegenwart manchmal erscheint? Selbstbehauptung inmitten einer an allen En- Auch Friedrich Schlegel erkennt, wie Kunst und den lose gewordenen Zeit.« (S. 31) Diese Zeit Wissenschaft in Fächer zersplittert werden und muss bewältigt werden, nach Schelling am bes die in Wahrheit bestehende Gemeinschaft von ten durch »eine Philosophie, die kein Innen und Gelehrten und Künstlern entzweit wird. »Sie ar- kein Außen mehr kennt, kein Subjekt und kein beiten einem Ziel entgegen: dem Unendlichen. Objekt, bloß ein Absolutes … Im Medium der Die Wurzel des Aberglaubens, der Schlechtig- die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
Buchbesprechungen 89 keit und des Unglücks liegt in der Beschrän- Peter Neumanns Buch, das Geschichte und kung, dem Wahn des bloß Endlichen.« (zitiert Geistesgeschichte vermittelt, erzählt sehr le- auf S. 152) Es geht um den Weltgeist, der sich bendig die Schicksale und Lebensumstände der selbst verwirklichen will. So wie die Menschen tragenden Personen. Besonders interessant sind sich selbst finden wollen, um dann erst wirk- die Einschübe, die gründlich auf eine Person lich arbeiten zu können. Poesie und Philoso- oder einen Sachverhalt eingehen. Ein Beispiel phie helfen dabei, sie heben »den menschlichen hierfür: »Dienstbare Geister«, hier vor allem Geist auf eine höhere, wenn nicht die höchste über die Botenfrau, die Jungfer Wenzel, ohne Stufe. Die Poesie, indem sie die Schärfe des die manches zwischen Weimar und Jena nicht Begriffs zu spüren bekommt; die Philosophie, zustande gekommen wäre. indem sie durch die Elastizität der bildlichen Oft verwendet der Autor moderne oder sogar Sprache aus der kahlen Endlichkeit der Refle- saloppe Ausdrücke, um auch jüngeren Lesern xion herausgehoben wird.« (zitiert auf S. 152f.) die mehr als 200 Jahre vergangene geistige Blü- Das Nur-Intellektuelle der Endlichkeit muss te Deutschlands näher zu bringen. Leider ist überwunden werden. Jeder Schritt aus dieser ihm eine Fehlinterpretation unterlaufen, betref- Enge wird als Freiheit empfunden. fend den Kampf Michaels mit dem Drachen: Will man Novalis verstehen, wird die Welt lich- Nicht Michael wurde bei diesem Kampf auf die ter, aber auch schwerer. »Man muss lernen, Erde geworfen, sondern der Drache! (S. 217 – sterben zu können, bevor man wirklich stirbt, vgl. Offb 12,7-9) Insgesamt ist der Text sehr einwilligen können in das, was als Schicksal, gut, überraschend und vergnüglich geschrie- als unmittelbare Gewissheit vor einem steht.« ben. Dazu kommt das großzügige, angenehme (S. 200) In diesem Sinne ist »Poiesis in seiner Layout mit schönen Illustrationen, darunter ursprünglichen, griechischen Bedeutung […] das alte Jena, eingebettet ins Saaletal, als Um- kein literarisches Verfahren, sondern eine Le- schlagbild und als topografische Reliefkarte. benspraxis, die es jeden Tag aufs Neue einzuü- Und zu dem Wohlgefühl, das Neumanns Buch ben gilt«. (S. 208) Die Welt von heute scheint beim Lesen erzeugt, kommt noch etwas hinzu: noch mehr entzaubert als die des Novalis, aber Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt – im Ver- Neumann schreibt über ihn: »In einer entzau- gleich zu manch anderen Büchern neigt es sich berten Welt klingt sein Ruf nach einer Wieder- sogar dem Leser zu. verzauberung nur umso heller.« (S. 221) Peter Neumann (geb. 1987 in Neubrandenburg) Nach dem Einschub ›Am Vorabend‹ endet das studierte hauptsächlich Philosophie in Jena eigentliche Buch mit Hegels Brief an Friedrich und war bis 2019 wissenschaftlicher Mitarbei- Niethammer über die Vorkommnisse nach der ter an der dortigen Philosophieprofessur. Sein Schlacht von Jena und Auerstedt am 13. Okto- Promotionsthema beschäftigte sich mit dem ber 1806. Hier schrieb Hegel davon, dass er den Zeitbegriff bei Schelling und Kant. Wohnhaft in Kaiser Napoleon – »diese Weltseele« – durch Weimar, hält er philosophische Vorlesungen an die Stadt reiten sah. So ist auch die übergroße der Jenaer Universität und ist außerdem Schrift- Gestalt Napoleons mit anwesend, der sechs steller und Lyriker. Für seine Bücher und Ge- Jahre nach diesem geistigen Aufbruch alles hin- dichtbände erhielt er mehrere Literaturpreise. wegfegen wird: die Ordnung des Alten Reichs, Das vorliegende Buch – hat er es als Philosoph, und das zarte Geistige gleich mit. als Schriftsteller oder als Lyriker geschrieben? Es folgt eine kurze Übersicht zu den einzelnen Von allem etwas: Der Philosoph ordnet die Ge- Personen. Dazu eine Zeittafel – notwendig we- danken, der Schriftsteller setzt die Fakten an gen der unumgänglichen Sprünge im Text. Die die richtige Stelle, und der Lyriker verleiht dem Anmerkungen, genannt ›Ausflüge in die Um- Ganzen einen inneren Schwung, der es leben- gebung‹, sind leider nicht durch Hinweise mit dig und lesenswert macht – geradezu im Sinne dem Fließtext verbunden. Zum Schluss folgt von Novalis’ »Poetisieren« der Welt. ein originelles Literaturverzeichnis. Maja Rehbein die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
90 Buchbesprechungen Vom Wesen der Bäume Jan Albert Rispens: Bäume verstehen lernen. Ein goetheanistisch-anthroposophischer Schu- lungsweg an der Natur, Schneider Editionen, Stuttgart 2017, 296 Seiten, 200 farbige Abbildungen, 38 EUR // Ders.: Bäume sprechen lassen. Eine Exkursion in die vielfältigen Erscheinungs- formen der mitteleuropäischen Baumwelt, Schneider Editionen, Stuttgart 2019, 384 Seiten, 260 farbige Abbildungen, 48 EUR In anspruchsvoller, reich ausgestatteter Edition lungenen, sprechenden Baum-Fotografien und hat Jan Albert Rispens im vergangenen Jahr hilfreichen schematischen Zeichnungen. Die einen zweiten Band seiner eindrucksvollen Mo- qualitativ hochwertigen Fotografien fertigte der nografien zum Wesen der Bäume vorgelegt. Als Verfasser übrigens weitgehend selbst an. Botaniker, der seit Jahrzehnten auf den Feldern Um dem Baum-Wesen näherzukommen, be- einer goetheanistischen, durch Anthroposophie trachtet Rispens auch den innerhalb der Pflan- befruchteten Naturwissenschaft unterwegs ist, zenwelt den Bäumen gegenüberliegenden Pol: umreißt er seinen Ansatz zum Verstehen des das einjährige Kraut. Etwa, indem er an ihm Baumwesens so, dass er immer wieder von die Blattmetamorphose untersucht oder Wur- der Frage an sein Gegenüber, den Baum also, zel, Blüte, Frucht und Samen; und indem er die ausgeht. Auch bewege ihn die Suche nach ei- Umgebung der Pflanze in Augenschein nimmt, ner neuen Art der Naturerkenntnis, welche die wie auch das Verhältnis »einjähriges Kraut und Erfahrungen gemeinsam Forschender so zube- Mensch«, kann im nächsten Schritt – im Kon- reitet, dass ein natürliches und naturgemäßes trast dazu – das Baum-Wesen umso charakte- Denken diese – in spirituellem Licht – begriff- ristischer hervortreten. Zum Beispiel unter der lich klar und zugleich beweglich zum Bewusst- Fragestellung, welchen Stellenwert die Blattme- sein bringen kann. tamorphose an Bäumen hat. Schöne Gedanken, Rispens orientiert sich an Johann Wolfgang von die einem da begegnen. So arbeitet Rispens für Goethe und Rudolf Steiner, aber auch an Ver- den Baum als »Dauer-Pflanze« überzeugend tretern des Goetheanismus im 20. Jahrhundert. heraus, dass ihm – bei allem Dauerhaften – Mit ihnen fühlt er sich methodisch darin ver- doch kein ewiges Leben beschert ist. Vielmehr bunden, zunächst zu den reinen Phänomenen zeigt der Baum etwas wie eine »Bio-Grafie«, vorzudringen und das Naturwesen als ein Ge- denn: »Er modelliert in seiner Gestalt die ver- genüber sich selbst aussprechen zu lassen, um flossene Lebenszeit zum Raum.« Und: »Auch dann in einem zweiten Schritt zur Hervorbrin- ein Baum altert und zieht sich, bevor er end- gung freier Imaginationen zu gelangen. In den gültig abstirbt, langsam aus dem Raum zurück, Letzteren soll der Mensch sich ebenso frei be- indem seine Krone allmählich in sich zusam- wegen lernen wie sonst nur in seiner Verstan- menfällt und sein Stamm zunehmend morsch destätigkeit. Denn so eingeübt, können diese wird.« (›Bäume verstehen lernen‹ – S. 60) »den Geist der Natur enthüllen«1 helfen. Eine bedeutende Unterscheidung, die der Autor Diesem Vorsatz getreu breitet Rispens in vielfäl- in dem Band über das Verstehen-Lernen her tigen Beschreibungen verschiedenster Phäno- ausarbeitet, ist die zwischen »Erdkraut« (die mene ein weit gefächertes Erfahrungsfeld vor einjährige Pflanze) und »Baumkraut«. Auch das dem Leser aus, stets den fachlich geschulten, Letztere lebt sich bei den meisten Laubbäumen präzisen Blick des Botanikers beweisend, aber im Wechsel des Vegetationszyklus dar – ähnlich stets auch geleitet von der fragenden Suche dem Erdkraut. Dies vollzieht sich am Baume nach dem, was sich in den Phänomenen we- aber in der Polarität zu dem »Bleibenden am senhaft mitteilen will. An dieser Stelle ist der Baum«. (Ebd. – S. 85f.) – Eben das Bleibende Hinweis auf die große Fülle an hervorragendem des Baumes untersucht Rispens nun in so viel- Bildmaterial angebracht, die zahllosen, sehr ge- fältigen Hinsichten, anhand so reichlich zusam- die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
Buchbesprechungen 91 mengetragener Details, dass der Leser nur wird sche) und Kernobst (Apfel) verstehen lassen. zustimmen können, wenn all dies schließlich (›Bäume sprechen lassen‹ – S. 167f.) Man er- als eine ganz eigenständige Herleitung der fährt aus der eingehenden Betrachtung der Bil- oft kolportierten geisteswissenschaftlichen Er- degesten von Kirsche und Apfel, dass die Früch- kenntnis dasteht, dass der Baum – vor allem te der Steinobstarten eine Metamorphose des in seiner Stammbildung – zu verstehen ist als Blattes, die Früchte der Kernobstarten hingegen »ausgestülpte Erde« (Ebd. – S. 99f.) eine des Stammes darstellen. An einer ganzen Ähnlich sorgfältig und ausgiebig werden behan- Reihe einzelner Phänomene findet Rispens delt: blühendes und fruchtendes Baumkraut, diese »Signatur« in diversen Lebensprozessen Rinde und Borke, das Kambium; der Wald, der von Apfel und Kirsche wieder. Und immer aufs die Erde als ein Lebewesen erfahrbar macht, Neue macht die Fülle geisteswissenschaftlicher der Baum als Mistelstandort, das Veredeln von Bezüge, die er zur Vertiefung des Gefundenen Bäumen usw. Nach einem großen Kapitel über anführt, schlicht staunen. – Die Methodik der die Linde, das auch deren Mythologie befragt, Betrachtung der einzelnen Bäume ist wiederer- umreißt er einen Schulungsweg für den abend- kennbar, entspricht aber nicht einem starren, ländischen Menschen, gerade im Umgang mit formalen Gerüst. Vielmehr schmiegt sie sich dem Wesen des Baumes. Hier vertieft er, was bei Rispens liebevoll an die Wesensart des be- schon eingangs angedeutet wurde: die Erfor- treffenden Baumes immer neu an. dernisse eines reinen Anschauens der Sinnes- Der Autor stammt aus den Niederlanden, lebt welt und eines selbstständigen Hervorbringen- allerdings schon seit Jahrzehnten im deutsch- Könnens von freien Imaginationen. sprachigen Raum und hat die beiden vorlie- Der Schulungsweg, den der Autor hier im Auge genden Arbeiten auf Deutsch verfasst. Dieser hat, umfasst seiner Einsicht und praktischen Umstand hätte auf Seiten des Verlags eine er- Erfahrung gemäß besonders – und vor allem höhte Wachsamkeit aufrufen sollen, da – we- auch für den Naturwissenschaftler – dasjenige, niger in der Wortwahl und eher hinsichtlich was Rudolf Steiner als den Lichtseelenprozess spracheigener Wendungen und auch der Gram- bzw. als den »neuen Yoga-Willen« charakteri- matik (des Gebrauch der Kasūs) – häufige Hol- sierte.2 Dabei geht es um ein seelisches, spiri- landianismen aufstoßen, die es zu vermeiden tuelles Erwachen im Feld des rhythmischen Le- gegolten hätte. Aber vielleicht kann diese Notiz bens zwischen der reinen Sinnesempfindung, des Rezensenten auch so gelesen werden, dass wie sie sich der Begegnung mit dem einzelnen die gemeinten sprachlichen Besonderheiten Naturwesen verdankt, und dem Denkwillen, zum unzweifelhaften Charme der beiden Bü- dem Steiner eine überindividuelle, ja mensch- cher beitragen. – Wem es um das Baumwesen, heitliche Dimension beimisst. um Einzelbäume wie um die Wälder weltweit, Der zweite hier besprochene Band ›Bäume zu tun ist, die ja unser aller Leben tragen, wird sprechen lassen‹, ist ebenso prachtvoll ausge- in den Arbeiten Jan Albert Rispens’ in großer stattet wie der vorausgehende. Darin werden, Zahl Anregungen vorfinden, die helfen können, im Sinne einer Konkretisierung des im ersten die eigene Beziehung zum Baumwesen in wohl allgemein gehaltenen Verstehensansatzes, acht ungeahnter Weise zu vertiefen. europäische Laubbäume und – zusammenfas- Klaus J. Bracker send – die Nadelbäume in einzelnen Kapiteln vorgestellt. Einen der Höhepunkte bildet dabei fraglos das Kapitel ›Zu den Rosen-Obstbäumen 1 Vgl. Vortrag vom 14. Oktober 1916 in Rudolf Stei- ner: ›Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. – Apfel und Kirsche‹. Der Autor zeigt hier auf, Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhun- inwiefern die Rosengewächse insgesamt im derts‹ (GA 171), Dornach 1984, S. 257. Kreis der Blütenpflanzen »eine Art Herzorgan« 2 Vgl. Rudolf Steiner: ›Die Sendung Michaels‹ (GA bilden und die ihnen zugehörigen Obstbäume 194), Dornach 1962 und ders.: ›Grenzen der Naturer- sich im Sinne der Polarität von Steinobst (Kir- kenntnis‹ (GA 322), Dornach 1988. die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
92 Buchbesprechungen Immer schon Mystiker gewesen Kaj Skagen: Anarchist, Individualist, Mystiker. Rudolf Steiners frühe Berliner Jahre 1897-1902, aus dem Norwegischen von Jutta Schloon, Rudolf Steiner Verlag, Basel 2020, 135 Seiten, 18,80 EUR Der norwegische Schriftsteller und Philosoph latan darzustellen, sei psychologisch unglaub- Kaj Skagen weist in seiner neuen biografischen würdig. Das Unterschieben minderwertiger Studie (die teilweise auf seine 2016 erschienene Motive (die Beschäftigung mit Philosophie, nur Steiner-Biografie ›Morgen um Mitternacht‹ zu- um Karriere zu machen) habe mit dem wirk- rückgreift), auf die Polemik hin, die bald hun- lichen Steiner nichts zu tun. Sowohl das an- dert Jahre nach Steiners Tod noch immer um throposophisch korrekte Heiligenbild als auch seine Person, seine Lehre und die von ihm in- das Doppelgängergespenst seien unsachlich augurierten Reformbewegungen stattfindet. Ein und von Interessen geleitet. »Wo die pro Stei- Hauptgrund dafür sei die Uneinigkeit über die ner argumentierenden Verteidigungsschriften wichtigen »Übergangsjahre« Steiners um 1900, allzu menschliche Wesenszüge seiner Person denen sich Skagen in seiner Studie besonders überdecken und wegdiskutieren, so etwa sei- widmet. Er belegt stichhaltig, dass Steiner ne jugendliche Weltfremdheit oder strategische seit seiner ersten Goethe-Edition bis hin zur Aussagen in seiner Autobiografie, zeigen die Mystik-Schrift im Eckhartschen Sinne Mystiker Vertreter der Doppelgänger-Theorie einen au- war. Vielleicht lag Steiners Jugendfreund Mo- genfälligen Mangel an Wohlwollen und keh- ritz Zitter gar nicht so falsch, als er 1903 an ren alles an Steiner ins Schlechte.« (S. 21) Die Rosa Mayreder schrieb: »Er ist natürlich immer Doppelgänger-Figur werde vor allem dadurch Myste gewesen. Wir haben das nur nicht gese- charakterisiert, dass mittelmäßige Fähigkeiten hen.«1 Die kontroversen Standpunkte zeigten gepaart sind mit großen Ambitionen: »Die trau- sich einerseits im »korrekten anthroposophi- rige Gestalt« (S. 23), also Steiner, scheitert bei schen Heiligenbild« (S. 17), wie es beispielswei- fast allem, was sie sich vorgenommen hat, so- se die Steiner-Biografen Guenther Wachsmuth, wohl im Berufs- als auch im Privatleben. Der Christoph Lindenberg und Peter Selg malten, eigentliche Grund, weshalb der junge Steiner andererseits in dem diffusen Gespenst eines zum Goethe-Herausgeber ernannt worden sei, Steiner-Doppelgängers, wie es etwa Helmut liege nach Zander darin, dass der Verleger kei- Zander konstruiere. Die plausibelste Erklärung ne Zeit gehabt habe, seine Qualifikationen zu für Rudolf Steiners rätselhaften Gesinnungs- prüfen. Auch Steiners »Radikalität« sei eine wandel sieht er in David Marc Hoffmanns Deu- Konstruktion. Mithilfe einer unredlichen Zi- tung einer »Hadesfahrt«, also von einem tief tatverkürzung werde versucht, den scharfen einschneidenden Einweihungserlebnis. Skagen Bruch zwischen Steiners Nihilismus und der kommt zu dem Schluss, dass im Hintergrund »Bekehrung« zur Theosophie zu belegen. Dass von Steiners Atheismus und Materialismus Steiner dem Stirnerschen Gedanken das Faust- immer die Erinnerung an eine früh erfahrene Zitat entgegensetzt: »In deinem Nichts hoff‘ ich geistige Welt wie auch deren fortwährende Er- das All zu finden«, verschweige Zander. fahrbarkeit gestanden habe. Steiners Jahre 1897 bis 1902 würden so dar- Er kritisiert Zanders Methoden, die denen des gestellt, dass er jahrelang einen Lebenswandel norwegischen Ideen-Historikers Jan-Erik Eb- »voll von Ausschweifungen, Bummelei, Trink- bestad Hansen gleichen. Beide weigerten sich, gelagen und Frauengeschichten« (S. 68) geführt eine liebevolle Hermeneutik auf Steiner anzu- habe. Skagen kann dagegen nachweisen, dass wenden. Stattdessen stellen sie einen karrie- Steiner für das Nachtleben der Bohème denk- resüchtigen, immer wieder Gescheiterten dar, bar ungeeignet war und außerdem damals ein dem sie eine ehrliche Wahrheitssuche abspre- immenses Arbeitspensum absolvierte. Schon chen. Steiner als einen Quacksalber oder Schar- 1898 verließ er Otto Erich Hartlebens Stamm- die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
Buchbesprechungen 93 tisch, zwei Jahre vor Zanders Zeitangabe. Die- in Steiners Leben eine entscheidende Grenz ser Fehler habe große Konsequenzen für die Be- überschreitung stattgefunden haben muss. Stei- urteilung von Ursache und Wirkung in der Zeit ner schreibt hier auch: »Was ein Mystiker wie bis zu seinem Übergang zu den Theosophen. Jakob Böhme mit den Worten ausgesprochen Auch die berühmte Cogna cflasche mit der Stei- hat: der Tod ist die Wurzel alles Lebens, das ner-Puppe, ein Geschenk Ludwig Jacobowskis, hat Goethe mit der sich opfernden Schlange ist für Zander ein Beweis, dass Steiner noch im zum Ausdruck gebracht.«2 In der Vorrede zur Dezember 1898 den »alkoholischen Freuden« ersten Auflage der ›Philosophie der Freiheit‹ zugeneigt war. Skagen dazu: »Dies dürfte der lesen wir dann, die Beobachtung des Wesens einzige Fall in der Forschungsgeschichte sein, der Welt müsse »durch die Entwicklung aller in dass ein Mann allein aufgrund einer Flasche uns schlummernden Fähigkeiten«3 geschehen – Cognak, die zur Dekoration im Wohnzimmer eine Formulierung, die später in seinem Medi- stand, als trunksüchtig charakterisiert worden tationsbuch wieder auftaucht.4 ist.« (S. 72) Gegenteilige Zeugenaussagen (etwa Mit seiner gründlichen Studie überwindet Ska- von Josef Rolletschek) ignoriere Zander. gen die Kontinuität-Diskontinuitäts-Debatte auf In dem Kapitel ›War Steiner Atheist?‹ schreibt originelle Weise, indem er nachweist, dass Stei- Skagen: »Je stärker, reiner und intensiver un- ner von seiner ersten Goethe-Edition (1884) bis ser Individualismus ist, desto näher kommen zur Mystik-Schrift (1902) im Eckartschen Sinne wir Gott. Das ist das zentrale Paradoxon des immer ein Mystiker war und zunehmend »in- Steiner’schen Individualismus […] [Dieser] ist nere Mysterienerfahrungen« (S. 126) machte, gottlos, aber er führt gerade deswegen zu einer nämlich als Wahrnehmung, ja sogar als Kom- Mysterienerfahrung, die das Wesen des Men- munion mit der spirituellen Seite der Welt. schen und der Welt gewahr werden lässt.« (S. Wolfgang G. Vögele 85) Alle Werke Steiners von vor 1902 »enthalten dieselbe Grundidee, die von einem rein geis tigen Weltengrund ausgeht, gebildet von Ge- 1 Wolfgang G. Vögele (Hrsg.): ›Der andere Rudolf dankenstoff, der das Weltall durchwebt und in Steiner‹, Basel 2011, S. 148. 2 Rudolf Steiner: ›Methodische Grundlagen der An- individualisierter Form im Geist und in der See- throposophie‹ (GA 30), Dornach 1989, S. 94. le des Menschen Gestalt annimmt.« (S. 82) In 3 Ders.: ›Die Philosophie der Freiheit‹ (GA 4), Dor- seinem Aufsatz ›Goethes geheime Offenbarung‹ nach 1995, S. 271. (1899) spricht Steiner erstmals öffentlich von 4 Ders.: ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren einem höheren Ich. Skagen folgert daraus, dass Welten?‹ (GA 10), Dornach 1993, S. 91. Von der Würde des Materials Thomas Rau & Sabine Oberhuber: Material Matters. Wie wir es schaffen, die Ressourcenver- schwendung zu beenden, die Wirtschaft zu motivieren, bessere Produkte zu erzeugen, und wie Unternehmen, Verbraucher und die Umwelt davon profitieren, Econ Verlag, Berlin 2018, 222 Seiten, 20 EUR Das in rustikaler Pappbindung daherkom- kommt: Dadurch, dass sowohl das Produkt als mende Buch, zuerst 2016 in den Niederlanden auch das Material, aus dem dieses hergestellt erschienen, analysiert kritisch die zur Zeit vor- wird, nicht als veräußerbares Eigentum, son- herrschende lineare Wirtschaftsform und zeigt dern als gegen Gebühr zur Verfügung gestell- exemplarisch wie theoretisch neue Wege einer ter »Service« gehandhabt wird, soll die lineare Kreislaufwirtschaft auf, die konsequent vom Wirtschaftskette durchbrochen werden. Um Material ausgeht und im Ideal ohne Abfall aus- Beispiele zu nennen: Der Kunde kauft nicht die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
94 Buchbesprechungen eine Lampe oder eine Beleuchtungsanlage, son- Bei den Materialien liegt nach Thomas Rau und dern nur das Licht, das diese seinen Wünschen Sabine Oberhuber das alleinige Eigentumsrecht gemäß liefert. Er kauft auch kein Haus, sondern bei der Erde als solcher, die das größte denk- nur das Recht, seinen Bedürfnissen und Mög- bare Depot darstellt, das von den Menschen nur lichkeiten gemäß zu wohnen. verwaltet werden kann. Wie bei einer Allmende Die Verantwortung für Produkt oder Material haben die gegenwärtigen Generationen nur das bleibt durchgängig beim Hersteller bzw. bei Recht, Gewinne und Erträge durch die Nutzung dem, der es als Rohstoff aus der Erde gewinnt. des Gutes zu erwirtschaften. Das heißt, so wie Die Konsumenten erwerben nur ein Nutzungs- weder Produzent noch Konsument Eigentümer recht von vertraglich festgelegter Dauer für ein der benutzten Materialien werden, so können Produkt. Betriebs- Wartungs- und Produkti- auch Rohstoffe nicht verkauft, sondern nur onskosten gehen zu Lasten des Produzenten. verliehen werden. Im Sinne des von den Au- Dadurch ist dieser sowohl an der Langlebig- toren entwickelten Turntoo-Modells bleibt das keit als auch z.B. an einem sparsamen Energie- Material »Eigentum der Erde, das Nutzungs- verbrauch interessiert, ebenso daran, nur das recht an Material wird von der Gemeinschaft, zu liefern, was wirklich gebraucht wird. Nach aus deren Gebiet die Rohstoffe stammen, ver- Vertragsablauf fällt das Produkt an den Produ- handelt. Material wird Service.« (S. 166) Eine zenten zurück. Nun kann er es entweder ande- »Allgemeine Erklärung der Materialrechte«, ren Nutzern zur Verfügung stellen, oder aber wie sie am Schluss des Buches als Entwurf (auf er recycelt es, um das Material wieder zu ver- englisch) abgedruckt ist, soll verhindern, dass wenden. Insofern wird der Produzent nicht nur Materialien ihre Verwertbarkeit verlieren. »Auf darauf achten, dass es leicht und kostengüns diese Weise entsteht zusätzlich zu der heutigen tig reparierbar ist, sondern auch darauf, dass Wertschöpfungskette, die bekanntlich mit der die verarbeiteten Materialien zurückgewonnen Vernichtung aller Werte auf dem Müllberg en- werden können, um diese für neue Produkte det, eine echte Werterhaltungskette.« (S. 166f.) nicht neu erwerben müssen. Hintergrund dieses auf unendliche (Wieder-) Entsprechend werden die Produkte bei dieser Nutzung der Ressourcen ist eine organismische Wirtschaftsform als »Materialdepots« betrach- Anschauung der Erde als einem geschlossenen tet und sind mit einem bei einem zentralen Re- und somit endlichen System. gister – dem mit dem Kataster vergleichbaren Im Unterschied zu anderen Kreislaufmodellen, »Madaster« – eingetragenen Materialpass aus- die Müllvermeidung und Recycling als Orga- gestattet. Dieser macht nicht nur die Zusam- nisationsproblem in den Vordergrund stellen, mensetzung eines Produktes transparent, son- geht das Turntoo-Modell von Rau und Ober- dern auch, wie und wo die Materialien verbaut huber von der elementaren Erkenntnis aus: Ei- sind, sodass das Recycling erleichtert wird. gentum bedeutet Verantwortung, die konkret Auf diesem Wege wird nicht nur Abfall ver- wahrzunehmen ist – auch der Erde gegenüber. mieden, der bisher meist außerhalb des Verant- Dabei muss man nicht auf einen Systemwech- wortungsbereiches des Produzenten lag, son- sel von oben warten. Die Autoren – der auf dern die Wirtschaft wird angeregt, sich an den nachhaltiges und energieproduzierendes Bauen tatsächlichen Bedürfnissen der Verbraucher zu (z.B. das Gebäude der Triodos-Bank in Zeist) orientieren. Dadurch, dass bei ihr nicht nur die spezialisierte Architekt Thomas Rau und die Macht, sondern auch die Letztverantwortung Betriebswirtin Sabine Oberhuber – zeigen an für ihre Produkte liegt, verändert sich das Ver- konkreten Beispielen, wie dies durch entspre- hältnis zwischen Produzent und Konsument. chende Vertragsgestaltung auch schon im Klei- Es geht weniger um Abhängigkeiten als um nen möglich ist und durchaus auf das Interesse Gemeinsamkeiten. Das Gleiche gilt für das Ver- einzelner Produzenten stößt. Beide sind diesbe- hältnis von Zulieferern und Produzenten und züglich auch vielfach beratend tätig. andere Glieder der Kette. Stephan Stockmar die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
Buchbesprechungen 95 Ein Priester der Poesie Rüdiger Safranski: Hölderlin – Komm! ins Offene, Freund!, Hanser Verlag, München 2019, 336 Seiten, 28 EUR Was braucht es, um einem Dichter wie Fried- etwa Hölderlin als Gescheiterten anzusehen, rich Hölderlin gerecht zu werden und ihm, zu- denn die Überzartheit der Seele, die ihn an mal zu seinem 250. Geburtstag, eine entspre- der Welt leiden und in der Gesellschaft keinen chende Biografie zu widmen? Genaue Kennt- Platz finden ließ, brachte die Geist-Offenheit nis der Werk-, Wirkungs- und Zeitgeschichte, mit sich, aus der herrliche Werke entspran- Einblick in den aktuellen Forschungsstand zu gen. Hölderlin strebte nach dem Allgemeinen, dieser in der ersten Hälfte von Unrast und Hei- mochte das Pfarramt so wenig annehmen wie matlosigkeit, in der zweiten Hälfte von Krank- seine Freunde aus Tübinger Stift-Zeiten, G.W.F. heit gekennzeichneten Vita, Empathie für die Hegel und Friedrich Schelling, auch blieb er Beschaffenheit der Seele, aus der meisterhafte ohne feste (Ehe-)Verbindung. Von Schelling Gedichte entsprangen, sowie den nötigen Ab- stammt auch die wohl feinste Charakteristik stand, um nicht in Schwärmerei zu verfallen. von Hölderlins Zustand, der ihn von 1807 an Das alles ist das Handwerkszeug; und dass bis zu seinem Tod 1843 an jenes Turmzimmer Rüdiger Safranski über dieses verfügt, hat er in Tübingen fesselte: »Ich überzeugte mich vielfach bewiesen. Hinzu kommt hier etwas, bald, dass dieses zart besaitete Instrument auf was sich schwer lernen lässt, eine Art wahl- immer zerstört sey.« (S. 258) verwandtschaftliche Intuition. Diese Qualität Gerade da der Text Safranskis einem inneren eignet Safranskis 300-seitiger Studie. Man mag Duktus und nicht einer strengen Chronologie es das Grundthema, den Zentralgedanken, das folgt, ist der Anhang mit einer ausführlichen Leitmotiv nennen, was sich kaum in einem zeitlichen Übersicht von Hölderlins Leben Satz ausdrücken lässt, gleichwohl aber immer enorm hilfreich. Safranski, der ausgewählte wieder anklingt: »An Feuer fehlte es Hölder- Gedichte passend zu den behandelten Themen lin nicht, das wusste er; doch fehlte es ihm bzw. Lebensabschnitten in voller Länge in den an Bestimmtheit, an Entschiedenheit und an Text gesetzt hat, endet mit der offenen Frage, ob dem Willen, das Eigene konsequent und, wenn auch künftig die Wahlverwandtschaft Hölder- nötig, mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit lins gesucht werde: »Erreicht er uns noch, und durchzusetzen.« (S. 112) »Die Geschichte einer erreichen wir ihn? Schön wäre es.« (S. 307) unendlichen, nie ans Ziel kommenden Annähe- Johannes Roth rung an einen absoluten Text.« (S. 301) In dem Abgrund zwischen Leben und Poe- Anzeige sie erkennt Safranski ein Leitmotiv im Leben Hölderlins; dieses wird freilich der Biografie nicht aufgestempelt, sondern ergibt sich an- hand der Symptomatik der biografischen Er- eignisse, die Safranski lesefreundlich und über- sichtlich gliedert, mit genauer Kenntnis der Vor- gänge, soweit sie dokumentiert sind, und dem Eingeständnis dessen, was nicht bekannt oder gewiss ist, z.B. weshalb es schon nach wenigen Monaten zum Abbruch von Hölderlins Tätigkeit als Hofmeister in Bordeaux kam. Diese wissenschaftliche Redlichkeit hält ihn auch von abschließenden Urteilen zurück, die Drei 7-8/2020 www.diedrei.org
Sie können auch lesen