"Peak Capitalism"? Wachstumsgrenzen als Grenzen des Kapitalismus

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AUFSÄTZE                                                                                                   WSI MITTEILUNGEN 7/2014

                                                                                       „Peak Capitalism“? Wachstumsgrenzen
                                                                                       als Grenzen des Kapitalismus
                                                                                       Die nachfolgenden Überlegungen erläutern eine These, die bei vielen Zeitgenossinnen und
                                                                                       Zeitgenossen auf Unverständnis, Widerspruch oder sogar entschiedene Abwehr stoßen
                                                                                       wird. Verkürzt lautet sie: Der Kapitalismus befindet sich auf dem absteigenden Ast. Denn er
                                                                                       steckt nicht nur in einer tief greifenden, strukturellen Krise seiner Akkumulationsdynamik,
                                                                                       welche sich in einem säkularen Niedergang von Investitionen im Verhältnis zu den erzielten
                                                                                       Gewinnen und daher in einer Verlangsamung des globalen Wirtschaftswachstums ausdrückt.
                                                                                       Dies ist die Krise des Kapitalismus als sozioökonomisches System. In einer existenziellen
                                                                                       Krise befindet sich der Kapitalismus im dritten Jahrhundert seiner Existenz aber vor allem
                                                                                       als ein ökologisches Weltsystem – und für diese Krise gibt es, anders als für die zyklischen
                                                                                       Akkumulationskrisen, keine systemimmanente Lösung.

                                                                                       BIRGIT MAHNKOPF

                                                                                                                                                                   bergab geht – ob also eine Evolution (oder Transformation)
                                                                                       1. Einleitung                                                               des Systems noch möglich ist –, das können wir heute nicht
                                                                                                                                                                   wissen. Mit großer Sicherheit aber bricht ein sozioökono-
                                                                                       Die These von einem „Peak Capitalism“ (Mahnkopf 2013)                       misches System nicht einfach zusammen. Mit der existen-
                                                                                       – dass die kapitalistische Entwicklung also ihren Zenit er-                 ziellen Krise des Kapitalismus als eines weltökologischen
                                                                                       reicht habe – mag an den schon häufiger vorhergesagten                      Systems werden jedoch Kippschalter („tipping points“, vgl.
                                                                                       „Zusammenbruch des Kapitalismus“ erinnern. Darauf wird                      Rockström et al. 2009) aktiviert, die gravierende Verände-
                                                                                       in der Regel mit dem Verweis reagiert, der Kapitalismus                     rungen unvermeidlich machen. Diese werden ein Resultat
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                                                                                       habe im Verlauf des 20. Jahrhunderts doch unter Beweis                      der kumulativen Wirkungen sein, die sich aus dem Wider-
                                                                                       gestellt, dass er zur Selbsterneuerung fähig sei – warum also               stand arbeitender (aber nicht unbedingt lohnabhängiger)
                                                                                       sollte dies im 21. Jahrhundert anders sein? Ein „grüner                     Klassen, der unwiderruflichen Veränderung von ökologi-
                                                                                       Kapitalismus“ könnte doch „pfleglicher“ mit der sogenann-                   schen Systemen und dem Wirken von Marktprozessen er-
                                                                                       ten „Umwelt“ verfahren, ohne damit Eigentums- oder Herr-                    geben.
                                                                                       schaftsverhältnisse infrage zu stellen. Dagegen wird im Fol-
                                                                                       genden argumentiert, dass der Kapitalismus als ein
                                                                                       sozio-ökologisches Weltsystem (vgl. Moore 2012), das alle
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                                                                                       Natur seinem Bewegungsgesetz unterwirft, heute an abso-
                                                                                       lute Grenzen stößt. An den „planetarischen Grenzen“ von                     2. Das „Wachstumswunder“ im
                                                                                       biophysischen Systemen erweist sich die spezifische Eigen-                     Kapitalozän
                                                                                       art des Kapitalismus, nämlich seine Missachtung der bio-
                                                                                       physischen wie der sozialen Schranken – die in früheren                     Mit dem Kapitalismus ist seit dem „langen 16. Jahrhundert“
© WSI Mitteilungen 2014

                                                                                       Phasen seiner Entwicklung die revolutionäre Kraft „schöp-                   (in der Zeit von 1492 bis 1648) ein soziales und ökologisches
                                                                                       ferischer Zerstörung“ begründet hat –, als ein selbstdest-                  System entstanden, das die menschliche wie die außer-
                                                                                       ruktiver Mechanismus und als praktisch unüberwindbares                      menschliche Natur einer Zweck-Mittel-Rationalität unter-
                                                                                       Hindernis für eine neue Phase der Akkumulation.                             wirft. Alles wird zum Material ökonomischer Verwertung
                                                                                           Ob nach dem Erreichen des „Höhepunktes“ des Kapita-                     gemacht; das schließt auch den Körper und die Psyche der
                                                                                       lismus als ein weltökologisches System die abfallende Kurve                 Menschen mit ein. Doch nicht nur die biologischen Grund-
                                                                                       flach gehalten werden kann oder es in einer steilen Kurve                   lagen des Lebens, sondern auch die geologischen und

                                                                                                                       https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505                                                        505
                                                                                                                Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15.
                                                                                                         Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
AUFSÄTZE

           klimatischen Grundbedingungen des Planeten Erde werden                     mit dem ebenfalls knapp werdenden Wasser konnten die
           heute nachhaltig von den Aktivitäten der Menschen beein-                   Nahrungsmittelpreise seit den 1970er Jahren bis zu Beginn
           flusst. Daher sprechen die Erdwissenschaftler von einer                    der 2000er Jahre auf ein historisches Tiefstniveau fallen.
           neuen geologischen Epoche, vom „Anthropozän“ (Crutzen                          Wirtschaftswachstum ist nur der volkswirtschaftlich
           2002). Ein „Menschenzeitalter“ hat die mehr als 12.000                     sichtbare Ausdruck eines Systems, in dem Geld als Kapital
           Jahre währende Epoche des „Holozäns“ abgelöst, also die-                   fungiert und durch einen permanenten Investitionskreislauf
           jenige Phase in der Erdgeschichte, die durch eine bemer-                   vermehrt, also akkumuliert oder verwertet werden soll. Dies
           kenswerte langfristige Stabilität bei der Temperaturentwickl-              geschieht mit Hilfe der sozialen und ökonomischen Treiber
           ung und hinsichtlich der Ablagerung von Emissionen in                      Profitprinzip, Zinseszins und Renditezwang. Weil Geld als
           der Atmosphäre gekennzeichnet war. Es hatte sich ein klei-                 Kredit immer einen Überschuss in Form von Zinsen und
           nes „Temperaturfenster“ geöffnet, in dem menschliche Ent-                  Renditen erwirtschaften muss, kann die Maßlosigkeit, eine
           wicklung auf dem Planeten möglich wurde. Doch innerhalb                    ins Unendliche strebende Bewegung, als die Wesenslogik
           der letzten drei Jahrhunderte sind sowohl der Meeresspiegel                des Kapitalismus verstanden werden. Unter den Bedingun-
           als auch die globale Durchschnittstemperatur sowie die Zahl                gen verallgemeinerter kapitalistischer Konkurrenz müssen
           der Menschen auf dem Planeten in zuvor unvorstellbarem                     allerdings auch die Aufwendungen für diese Verwertungs-
           Umfang gestiegen; zugleich ist die Festlandsoberfläche ge-                 prozesse (Rohstoffe und Energie zumal) permanent erhöht
           schrumpft und unzählige Arten sind ausgestorben. Dieser                    werden – und das treibt die Kosten des vorgeschossenen
           erdgeschichtliche Wandel ist wesentlich auf Wirkungen des                  Kapitals in die Höhe. Vor allem aber müssen sich immer
           mittlerweile weltumspannenden ökonomischen Systems                         neue Anlagemöglichkeiten finden lassen, in denen die von
           des Kapitalismus zurückzuführen. Daher sollte die neue                     den Kapitaleignern gewünschte Rendite realisiert werden
           Erdepoche des von Geologen so bezeichneten Anthropozäns                    kann. Gelingt dies nicht, reichen auch eine Verbilligung des
           korrekter als „Kapitalozän“ (Altvater 2014) bezeichnet wer-                Maschineneinsatzes, technischer Fortschritt und eine An-
           den.                                                                       hebung der Gewinne, die sich aus der Ausbeutung der Ar-
                                                                                      beitskraft ziehen lassen, nicht aus, um die Wachstumsdy-
           2.1 Wachsender Energie- und Rohstoffverbrauch                              namik auf einem fortwährend hohen Niveau zu halten.

           Im Verlauf dieser letzten drei Jahrhunderte ist es tatsächlich             2.2 Zunahme sozialer Verwerfungen
           gelungen, die Erde – wie es die jüdisch-christliche Botschaft
           gebietet – „dem Menschen untertan zu machen“, sie nach                     Werden die Wachstumsraten gehoben, so wie dies insbe-
           menschlichen Vorstellungen und Wünschen zu formen und                      sondere während der letzten Jahrzehnte in nahezu allen
           umzugestalten. Im Verlauf der von Europa ausgehenden                       Regionen des Globus der Fall war, bedingt dies einen hö-
           kapitalistischen Welteroberung wurden die ökonomischen                     heren Energie- und Materialeinsatz, doch dank arbeitsspa-
           Wachstumsraten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts be-                      render technologischer Innovationen nicht unbedingt einen
           ständig gehoben, real und pro Kopf im Durchschnitt um                      Mehrbedarf an Arbeitskräften. Für entwickelte Industrie-
           etwa 2,2 % pro Jahr (Maddison 2001; vgl. auch Pikkety                      länder ist bekannt, dass spürbare Wirkungen am Arbeits-
           2014). Das hat in den vergangenen zweieinhalb Jahrhun-                     markt eigentlich erst ab einer jährlichen Wachstumsrate des
           derten zu einer Verdoppelung des monetären Pro-Kopf-                       Bruttoinlandsprodukts von mehr als 2,3 % zu erwarten sind
           Einkommens von einer Generation zur nächsten geführt.                      – es sei denn, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kön-
           Ermöglicht wurde dieses „Wachstums-Wunder“ durch den                       nen, wie dies heute nicht nur in den Ländern des globalen
           Rückgriff auf fossile Energieträger und deren hohen EROI                   Südens, sondern teilweise auch in Deutschland oder in den
           (energy return on energy invested): die hohe „Energieren-                  USA der Fall ist, durch den Abbau sozialer Schutzmecha-
           dite“ auf die eingesetzte Energie. Denn nur mit Hilfe billiger             nismen dazu gezwungen werden, selbst zu Hungerlöhnen
           Energie (zunächst Kohle, dann Erdöl und Erdgas) gelang                     zu schuften. Blind gegenüber allen gesellschaftlichen und
           es, an die Rohstoffe zu kommen, die Voraussetzung sind für                 ökologischen Folgen seiner beständig wachsenden Verwer-
           Industrialisierung und Urbanisierung, an Metalle und nicht-                tungstätigkeit geht es in dem sinnlosen Prozess der Selbst-
           energetische Mineralien (Bardi 2013), darunter so scheinbar                verwertung des Kapitals ja schließlich darum, durch mög-
           unerschöpfliche wie der Sand, der heute wie viele andere                   lichst rationell organisierte Warenproduktion möglichst
           Stoffe seinen „Peak“, also das Höchstproduktionsplateau,                   hohe Profite zu realisieren – und dieses Ziel gebietet allemal,
           bereits überschritten hat. Billige fossile Energieträger waren             den Anteil der Lohnarbeit am Produktionsprozess schritt-
           nicht zuletzt eine wesentliche Voraussetzung für die Pro-                  weise zu verringern.
           duktivitätssteigerungen, die sich in der Zeit nach dem Zwei-                   So verwundert es nicht, dass mit dem wirtschaftlichen
           ten Weltkrieg unter dem Label der „Grünen Revolution“ in                   Wachstum zugleich die globale Arbeitslosigkeit, die infor-
           der Landwirtschaft abgespielt haben. Nur durch den Einsatz                 melle Ökonomie und die soziale Ungleichheit angewachsen
           von energieintensiven Maschinen, von ölbasierten Pflan-                    sind. Besonders rasant verlief diese Entwicklung seit den
           zenschutz- und Düngemitteln wie dem wasserlöslichen                        1990er Jahren, als in der zweiten Phase der neoliberalen
           Phosphat sowie durch den verschwenderischen Umgang                         Globalisierung eine Öffnung der Volkswirtschaften zum

506                                       https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505
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WSI MITTEILUNGEN 7/2014

Weltmarkt mit besonderer Radikalität betrieben wurde.              lich wird? Wie ließen sich die kapitalistische Produktions-
Zwischen 1990 und 2010 ist die Einkommensungleichheit              und Lebensweise und die darauf aufbauenden politischen
der Haushalte sowohl in den Ländern mit niedrigem, mit             Systeme stabilisieren, wenn das Wachstum zum Erliegen
mittlerem wie mit hohem Volkseinkommen deutlich gestie-            käme, etwa deswegen, weil nur billige Energieträger (mit
gen (vgl. UNDP 2014, S. 80). In der Regel wird auf der Plus-       einem hohen EROI) hohe Renditen, hohe Investitionen und
seite gesteigerten ökonomischen Wachstums verbucht, dass           daher hohe Wachstumsraten ermöglichen?
viele Menschen heute besser ernährt sind und eine bessere
Gesundheitsversorgung erhalten, daher auch länger leben
als früher, dass der Bildungszugang sich deutlich verbessert
hat und soziale Sicherungssysteme auch armen und sehr
armen Bevölkerungsschichten zugänglich sind. Doch liegt            3. Konturen der säkularen
der Zusammenhang zwischen ökonomischem Wachstum                       „großen Krise“ des Kapitalismus
und diesen zweifellos zentralen Indikatoren gesellschaftli-
chen Fortschritts keineswegs auf der Hand. Wäre dies der           Vieles spricht dafür, dass wir es gegenwärtig weder mit einer
Fall, müssten die Fortschritte bei Bildung, Gesundheit und         normalen, zyklischen, noch mit einer auf wenige Länder
Ernährung in den Ländern mit besonders hohen Wachs-                begrenzten Krise zu tun haben. Wir erleben zum einen eine
tumsraten (und mit einem höheren Einkommensniveau)                 tiefe realökonomische Krise, die Ungleichgewichte im Au-
auch entsprechend stark ausgefallen sein; doch davon kann          ßenhandel zum Ausdruck bringt, welche sich unter den Be-
nicht die Rede sein (vgl. UNDP 2014, S. 128ff.). Ökonomi-          dingungen globalen Wettbewerbs bestenfalls von einer Re-
sches Wachstum ist keineswegs der entscheidende Treiber            gion in andere verschieben, nicht aber grundsätzlich einebnen
für Verbesserungen bei Bildung, Gesundheit und Ernäh-              lassen. Diese Krise ist zum anderen eine Krise des Geldes
rungssituation; wichtiger sind die Verteilung der Einkom-          und der Finanzen und zugleich eine epochale Krise der Ar-
men, Qualität und Quantität öffentlicher Ausgaben, doch            beit. Aus der von David Ricardo so bezeichneten „Über-
auch Mitsprachemöglichkeiten und Korruptionskontrolle              schussbevölkerung“, die unter den Bedingungen eines großen
bei der Bereitstellung von öffentlichen Diensten (vgl. Ace-        Sektors von Subsistenzlandwirtschaft – der „freigesetzte“
moglu/Robinson 2012; Dreze/Sen 2013).                              Arbeitskräfte immer wieder aufgenommen und versorgt hat
     Dennoch kreist die öffentliche Debatte heute nicht um         – eine wichtige ökonomische Funktion als „Reservearmee
die Frage, wie sich die Verteilung von Ressourcen und von          des Kapitals“ in Prozessen der Industrialisierung übernahm,
Lebenschancen auf dem Planeten Erde gerechter organisie-           ist längst eine „überflüssige Menschheit“ (Davis 2007) ge-
ren ließe. Selbst diejenigen Ökonomen, die öffentlich ihre         worden. Wer zu diesem Teil der Menschheit gehört, muss in
Befürchtung äußern, dass wir uns in einer „großen Rezes-           der Regel zwar hart arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu
sion“ (Paul Krugman) oder sogar inmitten einer „säkularen          sichern, doch geschieht dies in wachsendem Maße in der
Stagnation“ (Laurence Summers) befinden, bewegt vor allem          informellen Ökonomie, d. h. unter Bedingungen, in denen
die Frage, wie die Wachstumskräfte des Kapitalismus wie-           „ordentliche“, also formell geregelte (und erst recht sozial
derbelebt werden könnten. Hinsichtlich der Instrumente             geschützte) Arbeitsverhältnisse die Ausnahme und nicht die
zur Ankurbelung des stotternden Wachstumsmotors gibt               Regel sind. Anders als in seiner historischen Vergangenheit
es zwischen neoklassisch orientierten, neoliberalen und            erwies sich der Kapitalismus nach seinem Sieg über das kon-
keynesianisch argumentierenden Ökonomen erhebliche                 kurrierende System des „realen Sozialismus“ als vollkommen
Unterschiede; doch teilen alle diese Ökonomen letztlich die        unfähig, den Zustrom von vielen Millionen neuen Lohnar-
Grundüberzeugung, dass das globale kapitalistische Wirt-           beitern aus der ehemals vom Weltmarkt abgeschirmten
schaftssystem zwar vorübergehend quantitativ schrumpfen            „Zweiten Welt“ zu absorbieren; als unfähig erwies er sich
könne (ebenso wie es sich zuvor ausgedehnt hat), dass es           auch, die durch seine eigene Dynamik produzierten „Über-
aber nach überwundener Krise in seiner Qualität unverän-           flüssigen“ aus der „Dritten“ (und später auch aus der „Ersten“)
dert bleibe. Stets geschieht dies unter der Annahme eines          Welt in wertschaffende Produktionsprozesse zu integrieren.
zyklischen Musters ökonomischer Entwicklung, welches                    Vor allem aber ist die gegenwärtige Krise eine ökologische.
von Prosperität über eine Krise zurück zur Prosperität führt.      Zu deren Facetten zählen nicht nur die für viele Menschen
     Fragen, die die Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus als        bereits drastisch erfahrbaren Folgen des Klimawandels und
eines sozial-ökologischen Weltsystems betreffen, werden            die mit ihnen einhergehende Krise in der Versorgung mit
indes schlichtweg ausgeblendet: Was geschieht mit dem              sauberem Wasser. Dazu gehört auch die – mangels Wissens
Produktions- und Konsumsystem des Kapitalismus, wenn               und/oder Interesse – weit weniger beachtete Krise der Biodi-
elementare Voraussetzungen desselben zusehends unter-              versität. Nicht zuletzt ist die globale Krise des Kapitalismus
höhlt werden – insbesondere wenn die Aneignung und                 auch eine Energie- und Rohstoffkrise. Deren spezifische Dy-
nachfolgende Plünderung von leicht zugänglichen und rei-           namik resultiert aus drei eng miteinander verknüpften Trei-
chen Vorräten an mineralischen und agrarischen Rohstof-            bern: erstens den Verschiebungen in den internationalen
fen sowie die Verfügbarkeit von sauberem Wasser schwierig,         Machtkonstellationen, welche dazu führen, dass die Ressour-
ja für wachsende Teile der Weltbevölkerung nahezu unmög-           cenansprüche der frühindustrialisierten Kernländer des

                                                                https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505                                             507
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AUFSÄTZE

           Kapitalismus heute auf einen wachsenden „Ressourcennati-                    unzählige materielle und immaterielle Institutionen einge-
           onalismus“ rohstoffreicher Länder (in der Regel aus dem glo-                schrieben, die selbst gesetzten Regeln folgen: Es werden Ge-
           balen Süden) und auf die Begehrlichkeiten aufstrebender                     setze erlassen, Programme formuliert und bindende Verein-
           neuer Industrieländer stoßen; zweitens dem vermutlich noch                  barungen geschlossen, die wie durch einen Zauber vor der
           bis zur Jahrtausendmitte anhaltenden Bevölkerungswachstum                   Einsicht schützen sollen, dass die nach den Verwüstungen des
           in den Ländern des Südens und den sehr hohen Ressourcen-                    Zweiten Weltkriegs auf der Grundlage spottbilligen Öls rea-
           ansprüchen der (schrumpfenden) Bevölkerungen in den alten                   lisierten hohen Wachstumsraten endgültig vorbei sind.
           Industrieländern; sowie drittens den zunehmenden Migrati-
           onsbewegungen, die eine Folge sowohl der epochalen Krise
           der Arbeit wie der Klima- und Wasserkrise sind, doch glei-
           chermaßen durch die zunehmend gewalttätig ausgetragenen
           Konflikte um den Zugang zu Rohstoffen angetrieben werden.                   4. Die Beudeutung natürlichen
                Hinzu kommt die absehbare Verschärfung einer heute                        Reichtums für die kapitalistische
           in vielen Weltregionen bereits offensichtlichen Krise von
                                                                                          Akkumulationsdynamik
           Nahrungsmittelproduktion und -verteilung. Ausgelöst wird
           diese durch das Anwachsen und die Verstädterung der Welt-
           bevölkerung, die sinkenden Ertragsraten vieler Anbauflächen                 Unsere meist auf den globalen Norden konzentrierte Pers-
           für Grundnahrungsmittel und das „land grabbing“ finanz-                     pektive lässt vergessen, dass es sowohl in der Geschichte des
           starker Investoren, das die bäuerliche Wirtschaft in vielen                 „modernen Westens“ wie in einer Vielzahl nicht-westlicher
           Teilen der Welt zur Kapitulation treibt. Keineswegs hilfreich               Kulturen Vorstellungen von Arbeit, Innovation, Wissen und
           ist es in diesen Zeiten der säkularen Krise, dass vielerorts,               von einem gelingenden, „guten Leben“ gegeben hat und auch
           nicht allein in der Europäischen Union, das Vertrauen in die                heute noch gibt, welche sich grundlegend von dem „wirt-
           Demokratie schwindet und der „Mafia-Kapitalismus“ zu ei-                    schaftlich gelebten Leben“ des modernen Kapitalismus un-
           nem weitverbreiteten Phänomen geworden ist.                                 terscheiden. Nur im Kapitalismus wird die biophysikalische
                Die ökonomischen, ökologischen, sozialen und politi-                   Welt als eine Menge von verfügbaren Rohstoffen für Zwecke
           schen Dimensionen dieser Jahrhundertkrise sind also aufs                    der profitablen Ausbeutung behandelt, nur hier kann alles zu
           engste miteinander verknüpft. Im Einzelnen fällt es daher                   einer Ressource der Kapitalakkumulation werden: fruchtba-
           schwer, auszumachen, was etwa soziale oder ökologische Ur-                  rer Boden, mineralische Stoffe, das „Lebensgut“ Wasser, die
           sachen und was ökonomische, soziale oder ökologische Folgen                 menschliche Arbeitskraft und schließlich selbst die Subjek-
           sind. Die Ausgangslage für eine zeitgemäße und der Komple-                  tivität des Individuums. Die Betrachtungsweise der Welt als
           xität des historischen Geschehens angemessene Krisenanaly-                  einer Ansammlung ausbeutbarer Rohstoffe bedingt aber not-
           se ist daher nicht sonderlich günstig. Zwar signalisieren                   wendigerweise, dass auch Menschen als ein Rohstoff behan-
           Gleichzeitigkeit und Interdependenz der angesprochenen                      delt werden. Mit diesen wird „pfleglich“ umgegangen, solan-
           Krisendimension eine epochale Krise des Kapitalismus als                    ge sie sich für den kapitalistischen Verwertungsprozess als
           globales sozioökologisches System, welche leicht in eine Kri-               nützlich erweisen. Ist dies jedoch nicht (mehr) der Fall, kön-
           se der menschlichen Zivilisation einmünden könnte. Dennoch                  nen auch Menschen zu „Müll“ werden, zu überflüssigem
           sieht die übergroße Mehrzahl der Ökonomen nach wie vor                      Ballast, der Sozialsysteme „belastet“; oder sie werden dort,
           keinen Anlass, sich mit den Auswirkungen wirtschaftlichen                   wo deren Netze viel zu löchrig sind, als dass sie Halt vor dem
           Handelns auf die menschliche und außermenschliche Natur                     Absturz gewährleisten könnten, in die „Senken“ der Slums
           zu beschäftigen. Bis heute weigert sich die Disziplin zur Kennt-            dieses Planeten „entsorgt“ (vgl. Davis 2007).
           nis zu nehmen, dass alle ökonomischen Transaktionen zu-                          In der Geschichte kapitalistischer Weltbeherrschung ist es
           gleich unumkehrbare Transformationsprozesse von Energie-                    allerdings bislang noch stets gelungen, die „Unordnung“ und
           und Stoffströmen darstellen. Doch auch viele Ansätze                        das Chaos, welche mit der Degradation und Zerstörung der
           kritischer Gesellschaftstheorie und emanzipatorischer politi-               menschlichen wie der außermenschlichen Natur einhergehen,
           scher Praxis beschäftigen sich, wenn überhaupt, oft nur am                  zu externalisieren, d. h. auf schwächere Marktteilnehmer, auf
           Rande mit den ökologischen Voraussetzungen ökonomischer                     entlegene Territorien, in die Ozeane oder in die Atmosphäre
           Transaktionen und sozialer Interaktionen und ihren Folgen                   zu verlagern. Doch können wir uns das Wirken der wie eine
           für biophysische Systeme. Das mag damit zusammenhängen,                     „Weltvernichtungsmaschine“ (Konicz 2012) funktionierenden
           dass dem hegemonialen Paradigma des Wachstums, dem die                      kapitalistischen Akkumulationsdynamik tatsächlich als einen
           Ökonomie als Disziplin verpflichtet ist, in der Gesellschafts-              unendlichen Prozess vorstellen? Oder muss nicht auf dem
           theorie ein ebenso wirkungsmächtiges Paradigma entspricht                   begrenzten Terrain des Planeten mit absoluten Grenzen ge-
           – nämlich das der gesellschaftlichen Stabilität. Dieses aber ist            rechnet werden, die sich aus den Gesetzen der Thermodyna-
           seinerseits, zumal in modernen, demokratisch verfassten Ge-                 mik und aus jenen der Evolution ergeben?
           sellschaften, eng an den Fetisch ökonomischen Wachstums                          Tatsächlich basierte die Akkumulationsdynamik des his-
           gekoppelt. Das ideologische Konstrukt Wachstum ist längst                   torischen Kapitalismus seit seiner Entstehung auf der Aneig-
           zu einer gesellschaftlichen Norm geworden. Es hat sich in                   nung und nachfolgenden Plünderung von „Gratisleistungen

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der Natur“. Mit diesem Begriff hat Karl Marx elementare Vo-          schichte des Kapitalismus bislang immer durch geografische
raussetzungen des Kapitalismus bezeichnet, die dieser nicht          Expansion und eine schnelle Inwertsetzung von neuem
selbst hervorbringen musste: kostengünstige und ertragreiche         Land und neuer menschlicher Arbeitskraft, sowohl inner-
Energieträger, nicht-energetische Mineralien, agrarische Roh-        halb wie außerhalb Europas, gelöst. Daher wanderte die
stoffe und billige Arbeitskräfte, die noch nicht in den kapita-      „frontier“ (Grenze) der Zuckerproduktion im 16. und 17.
listischen Verwertungszusammenhang einbezogen waren                  Jahrhundert von Madeira nach Brasilien und später auf die
(vgl. Marx 1970, S. 630). Das Vorhandensein und die kosten-          Karibischen Inseln; die „frontier“ des Silberbergbaus ver-
günstige Aneignung „natürlichen Reichtums“ ist also ebenso           lagerte sich aus dem erschöpften Erzgebirge nach Peru. Im
eine Grundvoraussetzung der kapitalistischen Akkumulati-             16. und 17. Jahrhundert verhalf die Eroberung der „fron-
onsdynamik – und des von Adam Smith gepriesenen, aus der             tiers“ für Nordseefisch, norwegisches Holz, brasilianischen
Arbeitsteilung erwachsenden „Wohlstands der Nationen“ –              Zucker, peruanisches Silber und polnisches Getreide den
wie die Verfügbarkeit von „Abfallräumen“ für die von Men-            Amsterdamer Kaufleuten dazu, zum Organisator und Ka-
schen nicht mehr verwendbaren Stoffe.                                pitalgeber des transatlantischen und innereuropäischen
     Die Expansion von Warenproduktion und Warenaus-                 Schiffsverkehrs zu werden (Moore 2010b), im 19. bzw. 20.
tausch zunächst in Europa und in der sogenannten „Neuen              Jahrhundert bildete die Eroberung der „frontiers“ für Baum-
Welt“ der beiden Amerikas, später auch in anderen Welt-              wolle und Erdöl eine wichtige Grundlage für den Aufstieg
regionen, war freilich immer begleitet von ökologischen              zunächst Englands, sodann der USA zur Weltmacht.
Krisen, und oft gingen solche Krisen Hand in Hand mit der
Zerstörung vorkapitalistischer Sozialsysteme. Allerdings
waren die so erzeugten Umweltschäden lange Zeit entweder
eher geringfügig, lokal begrenzt oder temporärer Natur. In
der Regel haben lokale ökologische Krisen sogar wesentlich           5. Das Ende der billigen
dazu beigetragen, dass die kapitalistische Dynamik eine                 Produktionsinputs
neue Entwicklungsrichtung nehmen konnte. So führte in
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Verknappung             Das Öl war und ist auch heute noch ein ganz besonderer
von Holzkohle – einer Schlüsselenergie für die frühe Me-             Stoff, geeignet für so viele industrielle und landwirtschaft-
tallverarbeitung und die Glas- und Zuckerindustrie – zur             liche Verwendungsmöglichkeiten wie kein anderer mine-
Nutzung der „nicht-konventionellen“ Energiequelle Stein-             ralischer Rohstoff. In den 1930er Jahren, als die Förderung
kohle, zunächst in England, dann in anderen europäischen             der damals noch dicht unter der Erdoberfläche komprimier-
Ländern und schließlich weltweit (vgl. Moore 2010a). Der             ten Ölreserven erstmals über 200 Mio. Tonnen pro Jahr
Energieertrag dieses fossilen Energieträgers aber war we-            angestiegen war, lag der Energieertrag des einheimischen
sentlich höher als derjenige von „konventioneller“ Holz-             Öls in den USA noch bei 100 : 1, d. h. es wurde nur eine
kohle; zusammen mit der Entwicklung von geeigneten                   Einheit Energie benötigt, um hundert Energieeinheiten Öl
Technologien zur Transformation dieses Brennstoffs in                zu fördern. Bei dem heute in Nordamerika geförderten „un-
nützliche Arbeit konnte die neuartige Nutzung des Brenn-             konventionellen“ Öl aus Teersanden oder dem Schiefergas,
stoffs Kohle dann zur entscheidenden Voraussetzung für               das mithilfe der umstrittenen Technologie des „Fracking“
die anschließende industrielle Revolution werden. Dieser             gefördert wird, liegt dieser Wert aber lediglich bei 11 : 1 bis
Akt menschlicher Emanzipation von den „Schranken der                 18 : 1 (im Falle des Schiefergases) bzw. bei 1 : 1 (im Falle der
Natur“ (Sombart 1987, S. 1126ff.) wurde freilich begleitet           Teersande, vgl. Mórrigan 2010). Nur Energieträger mit ei-
von harten sozialen Konflikten zwischen Landbevölkerung              nem hohen Energieertrag ermöglichen aber hohe Zuwachs-
und Obrigkeit. Denn im Interesse wichtiger Gewerbe der               raten der Produktivität der Arbeit und daher auch hohe
merkantilen Wirtschaft wie der Salinen und Metallhütten              Wachstumsraten. Nach dem Erreichen von „Peak Oil“ und
hatten die staatlichen Organe im Zuge der europaweit gras-           „Peak Gas“, also dann, wenn das Produktionsplateau bei
sierenden „Holznot“ damit begonnen, den Wald, der über               konventionellem Öl und Gas überschritten wird, ist die
Jahrhunderte den Brennholzbedarf von armen Gelegen-                  Erschöpfung dieser Energieträger unwiderruflich. Wann sie
heitsnutzern gedeckt hatte und dem (genossenschaftlich               eintritt, hängt davon ab, wie schnell und effektiv die Aus-
organisierten) bäuerlichen Waldgewerbe zugänglich gewe-              beutung erfolgt. Gleichzeitig steigt der Druck, neue Res-
sen war, vollständig in einen staatlich kontrollierten Ort           sourcen an „unkonventionellem“ Öl und Gas zu erschließen.
exklusiver Holzproduktion zu verwandeln. Das Beispiel                Ob diese aber tatsächlich auch gefördert werden, hängt von
macht deutlich, wie eng kapitalistische Dynamik, ökologi-            der Verfügbarkeit entsprechender Technologien ab, vom
sche Krisen, soziale Konflikte und historische Projekte der          kostengünstigen Zugang zu Energie und (im Falle des Fra-
Herrschaftssicherung miteinander verwoben sind (vgl. Sie-            cking) auch von Zugriffsmöglichkeiten auf sehr große Men-
ferle 1982; Radkau 1983, 2008, S. 73ff.).                            gen von Wasser.
     Wenn indes die Belastungsgrenzen regionaler ökologi-                Vor allem aber setzt dies einen hohen und in näherer
scher Systeme erreicht oder überschritten waren, wurden              Zukunft weiter steigenden Ölpreis voraus. Letztlich bestimmt
Krisen der lokalen ökologischen Entwicklung in der Ge-               dieser darüber, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist, eine

                                                                  https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505                                             509
                                                           Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15.
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AUFSÄTZE

           durch Bohrungen bestätigte (unkonventionelle) Ressource                    rechterhalten. Genau dies geschieht aber mit der fortschrei-
           in eine „nachgewiesene Reserve“ zu verwandeln und bei aus-                 tenden Integration immer neuer „Boom“-Regionen in den
           reichender Finanzierung mit der Förderung zu beginnen. Die                 Weltmarkt: Wenn es keine große „frontier“ mehr gibt, son-
           Befolgung einzelwirtschaftlicher Rationalität kann auch dazu               dern nur Territorien, die bereits dem vom Weltmarkt aus-
           führen, dass die Quellen von „unkonventionellem“ Öl und                    gehenden Wettbewerb unterworfen sind, verlieren die vor-
           Gas mit Hilfe der neuesten Technologie (und selbstverständ-                maligen Quellen leicht realisierbaren Profits ihren einstigen
           lich ohne Rücksicht auf irgendwelche Umweltbelange) be-                    Vorteil – eben den, nicht-kommodifiziertes, also dem Wert-
           sonders schnell geleert und die Energieträger zu niedrigen                 gesetz (noch) nicht unterworfenes „Neuland“ zu sein – und
           Preisen verkauft werden – so wie dies gegenwärtig im Zeichen               es versiegt die Quelle leicht realisierbaren Profits.
           des (auf wenige Jahre projektierten) „Fracking-Gas-Hypes“                      Auch im modernen Kapitalismus der Hightech-Ära
           in den USA geschieht (Rogers 2013). Wenn dann, wie im                      bleibt die Dynamik der Akkumulation abhängig von den
           Falle des US-amerikanischen Schiefergases und -öls, die güns-              „Geschenken“ der bio-physikalischen Systeme – von der
           tig ausbeutbaren Vorkommen, die auf gerade einmal 5 bis                    kostengünstigen Verfügbarkeit von Sand, ohne den keine
           10 % aller Ressourcen geschätzt werden (Hughes 2013),                      Stahl-Beton-Konstruktion möglich ist; von Phosphat, ohne
           schnell zu Ende gehen, kann nur ein hoher und steigender                   das die industrielle Landwirtschaft nicht auskommt; von
           Preis dafür sorgen, mit der extrem teuren Exploration und                  Seltenen Erden und anderen nur in geringer Konzentration
           im günstigsten Fall nachfolgender Förderung fortzufahren.                  in der Erdkruste vorkommenden Metallen, ohne die kein
                Der unaufhaltsame Anstieg der Energiekosten wird auf                  Windrad, kein Handy und auch keine Drohne funktionieren
           diesem Wege aber nicht gebremst. Daher geht die Interna-                   würde. Wenn zukünftig mit Hilfe der „blauen Biotechno-
           tionale Energie Agentur (IEA 2013) auch davon aus, dass                    logie“ auch der Grund der Meere zu einer Industrieland-
           der Preis für ein Barrel importierten Rohöls mittelfristig                 schaft umgestaltet werden sollte – und Rohstoffe aus der
           weiter steigen wird. Hohe Energiepreise aber gehen prinzi-                 Tiefsee genutzt würden, um Öl, Ersatzstoffe für die chemi-
           piell nicht mit hohem ökonomischen Wachstum zusammen;                      sche und die pharmazeutische Industrie, Nahrungsergän-
           sie befördern eher wirtschaftliche Rezessionen. Auch die                   zungsstoffe, Biochemikalien oder Biogas herzustellen –, so
           erneuerbaren Energieträger Sonne, Wind und Geothermik,                     wäre doch der „energy return on energy invested“ und da-
           die gegenwärtig noch nicht einmal 5 % des globalen Netto-                  mit auch der „capital return on capital invested“ absehbar
           energieverbrauchs ausmachen, können in absehbarer Zeit                     so gering, dass ein gewaltiger neuer Wachstumsschub davon
           keine billigen Energielieferanten sein, zumal dann nicht,                  nicht angestoßen werden könnte.
           wenn die mächtige „fossile Lobby“ ihren Ausbau bremst,
           um die in „braunen“ Industriezweigen getätigten Anlagen
           profitabel zu halten. Doch nur billige Produktionsinputs
           können die organische Zusammensetzung des Kapitals
           günstig beeinflussen und den von technologischen Innova-                   6. Kapitalismus an den Wendepunkten
           tionen und Lohnsteigerungen ausgehenden Druck auf die                         der biophysischen Systeme
           Profite eindämmen. Daher waren die Profite in der Ge-
           schichte des Kapitalismus auch immer dann hoch und aus-                    Auf der Ressourcenseite muss nicht allein mit ökonomischer
           reichend für neue Investitionen, wenn natürlicher Reichtum                 Knappheit gerechnet werden, die sich in zunehmender
           im Überfluss zur Verfügung stand: große Wälder und leicht                  Preisvolatilität und unkalkulierbaren Marktentwicklungen
           zugängliche Kohleflöze in Europa, ergiebige Silber- und                    ausdrückt. Vielmehr sind physische Grenzen absehbar, die
           Kupferadern in Lateinamerika, riesige Ölfelder dicht unter                 sich aus der schwindenden Verfügbarkeit von technisch
           der Erdkruste in den USA, am Kaspischen Meer oder auf                      leicht erschließbaren und daher kostengünstigen Ressour-
           der arabischen Halbinsel, dicke Schichten von Naturdünger                  cen ergeben. Unter diesen Bedingungen aber kann die im
           an der Pazifikküste, weite fruchtbare Flächen für den Ge-                  Kapitalismus als dynamisches Prinzip gepriesene Knappheit
           treideanbau im Mittleren Westen der USA.                                   schnell in elementaren physischen Mangel an essenziellen
                Daraus folgt nun aber keineswegs, dass für die Stabilität             Gütern umschlagen – in einen Mangel an Energie, Nah-
           des Kapitalismus als sozioökonomisches System die abso-                    rungsmitteln oder Wasser für die unter Bedingungen stei-
           lute, physische Erschöpfung von biophysischen Systemen                     gender Rohstoffpreise nicht (mehr) zahlungsfähigen Markt-
           ausschlaggebend wäre; die Missachtung von biophysischen                    teilnehmer. Dieses Szenario gewinnt an Schärfe, wenn
           Grenzen gehört ja zu den Wesensmerkmalen des Kapitals.                     geopolitische Dimensionen der Knappheit hinzukommen,
           Kritisch aber wird es, wenn Böden, Wälder, Ozeane und                      ausgelöst etwa durch Exportrestriktionen unter den Bedin-
           Minen einerseits, menschliche Arbeitskraft andererseits nur                gungen eines wachsenden „Rohstoffnationalismus“ oder als
           unter Einsatz von mehr Energie und mehr Technologie und                    Folgen der zunehmend schwieriger werdenden Kontrolle
           daher von mehr Kapital ausgebeutet werden können. Denn                     sogenannter „Konfliktregionen“.
           dies begrenzt das Wachstum, die Vermehrung des Kapitals                        Daher ist bereits von der „input“-Seite kapitalistischer
           um seiner selbst willen. Und dann lassen sich die monopo-                  Produktion und Konsumption her zu bezweifeln, dass die-
           listischen Privilegien bestimmter Standorte nicht mehr auf-                ses System in seiner modernen Form als ein globalisiertes

5 10                                      https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505
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WSI MITTEILUNGEN 7/2014

Produktionssystem auch zukünftig zu einer ins Unendliche             schreiten einer Erderwärmung von mehr als zwei Grad Cel-
strebenden Bewegung fähig ist. Denn der Kapitalismus ist             sius gegenüber dem vorindustriellen Niveau wird eine Kas-
auf die stets wachsende Aneignung einerseits von „Gratis-            kade katastrophischer Veränderungen auslösen: extreme
leistungen der Natur“, andererseits des abstrakten Reich-            Hitze, die über einigen Landflächen zu durchschnittlichen
tums in der Form des Geldes angewiesen. Heute zeichnen               Temperaturerhöhungen von 4° bis 10°C führen wird; eine
sich aber nicht allein auf der Ressourcenseite absolute Gren-        substanzielle Verschärfung der Wasserknappheit in vielen
zen der Natur ab, die nur im Konflikt und unter Einsatz von          Weltregionen (darunter die gesamte Mittelmeerregion) und
Gewaltmitteln zum Schutz partikularer Interessen über-               häufige Überflutungen in anderen Regionen, mit dramati-
schritten werden können; die Mechanismen des Marktes                 schen Folgen für die Nahrungsmittelproduktion; einen An-
werden nicht hinreichen, um für einige Wenige den exklu-             stieg des Meeresspiegels um einen halben bis einen Meter,
dierenden Zugang zu unentbehrlichen Stoffen und Ener-                von dem vor allem hunderte Millionen Menschen in den
gieträgern zu sichern. Gravierender und unvermeidlicher              dicht besiedelten Städten des globalen Südens betroffen sein
als die sich anbahnenden Konflikte um Rohstoffe aller Art            werden; eine zunehmende Wucht von Wirbelstürmen, die
sind die Grenzen, die sich auf der Schadstoffseite der kapi-         etwa den nordamerikanischen Kontinent treffen wird. Auch
talistischen „Weltvernichtungsmaschine“, bei der Überfül-            die Folgen des Überschreitens von planetarischen Grenzen
lung der natürlichen „Senken“ (v. a. für klimaschädliche             bei den biologischen Ressourcen und der Übersäuerung der
Gase), abzeichnen.                                                   Weltmeere – beides scheint kaum noch vermeidbar – wird
    Der biophysische Blick auf die Ökonomie lehrt zum einen,         mit ähnlich einschneidenden Folgen verbunden sein.
dass wir nicht Etwas aus Nichts machen können – und daher
mit den endlichen Ressourcen zurechtkommen müssen, die
in der Erdkruste stecken; und dass wir die erneuerbaren Res-
sourcen Land, Wasser und komplexe Biosysteme nur soweit
vernutzen können, wie diese sich selbst zu reproduzieren ver-        7. Schlussfolgerungen
mögen. Zum anderen lehrt ein solcher Blick, dass unsere Form
des Wirtschaftens, der Mobilität, des Wohnens, Konsumierens          Ökonomisches Wachstum bedeutet auf jeweils gegebenem
und Kommunizierens jede Menge „Abfallprodukte“ erzeugt,              technischem Niveau stets wachsenden Ressourcenver-
die nicht einfach verschwinden; sie lagern sich als klimaschäd-      brauch und wachsende Schadstoffemissionen – auch wenn
liche Gase in der Erdatmosphäre oder in den Weltmeeren ab            seit Jahren das Lied von der „Entkopplung“ der Ressour-
und drohen die planetarischen Grenzen unserer biologischen           cen- und der Schadstoffströme vom ökonomischen Wachs-
und physikalischen Systeme zu überschreiten.                         tum gesungen wird (vgl. kritisch Mahnkopf 2012). Unter
    Wenn indes „Kippschalter“ dieser Systeme aktiviert wer-          den Bedingungen kapitalistischer Wettbewerbsdynamik
den, kann der Kollaps komplexer Ökosysteme sehr rasch                und Profitmaximierung kann es gar nicht anders sein, als
eintreten – und er wäre irreversibel. Das Abschmelzen des            dass Einsparungen bei Energie- und Rohstoffverbrauch,
Grönlandeises und des westarktischen Eisschildes ist einer           die sich durch technische Fortschritte erzielen lassen, um-
dieser „tipping points“, denn in ihrer Folge wird der Meeres-        gehend in vermehrte Produktion umgesetzt werden, selbst
spiegel langfristig um mehrere Meter ansteigen; ebenso wie           wenn diese zu gewaltigen Überkapazitäten von allem und
das Umkippen der thermohalinen Zirkulation im Nordat-                jedem führt – von Autos, Informationselektronik und na-
lantik die Durchschnittstemperatur in Europa deutlich sen-           hezu sämtlichen langlebigen Konsumgütern. Daher ver-
ken und zum Austrocknen des Amazonasregenwaldes führen               wundert es nicht, dass trotz erheblicher Effizienzsteige-
würde. Das wird der Planet verkraften, doch sind die Folgen          rungen, die während der letzten Jahrzehnte bei der
für die menschliche Spezies unabsehbar: „Eine Aktivierung            Verwendung von Energie und Stoffen erzielt worden sind,
eines jeden dieser Kippschalter könnte das Habitat, in dem           sowohl Ressourcenverbrauch wie Emissionen weiter an-
die Menschheit seit dem Holozän lebt, schwer schädigen oder          steigen. Eine Dekarbonisierung der Weltwirtschaft um
gar zerstören“ (Edenhofer 2012, S. 272). Wie zwei jüngst ver-        annähernd 85 % in den Industrie- und ca. 50 % in den
öffentlichte US-amerikanische Studien dokumentieren,                 Entwicklungsländern – wie in dem Vierten Bericht des
scheint der „point of no return“ für das Schmelzen des mäch-         Intergouvernemental Panel on Climate Change (IPCC)
tigen westantarktischen Eisschildes inzwischen überschritten         aus dem Jahr 2007 für nötig erachtet, um die globale Er-
zu sein (vgl. The Observer vom 17. Mai 2014 und New York             wärmung bei 2° bis 2,4°C gegenüber dem vorindustriellen
Times vom 30. Mai 2014), und auch der Regenwald des Ama-             Niveau stabilisieren zu können, – ist mit den Mitteln des
zonas-Gebiets nähert sich – trotz in den letzten Jahren redu-        technischen Fortschritts, mit freiwilligem Konsumverzicht
zierter Abholzungsraten – in erschreckendem Tempo jenem              und einigen Veränderungen der politischen Regulation
Punkt, der das System zum Kippen bringen und eine groß-              schlichtweg nicht machbar.
flächige „Savannisierung“ einleiten könnte.                              Selbst wenn es auf der Rohstoffseite des Kapitalismus
    An solchen erdgeschichtlichen Wendepunkten wird sich             weder ökonomische noch physische oder geopolitische
das kapitalistische „business as usual“ nicht aufrechterhalten       Knappheit gäbe, die über kurz oder lang zu elementarem
lassen. Allein das mittlerweile nahezu unabwendbare Über-            Mangel für wachsende Teile der Weltbevölkerung füh-

                                                                  https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505                                         5 11
                                                           Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15.
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AUFSÄTZE

ren müsste, auf welchen schwerlich mit bloßer Schicksalsergebenheit re-                      Marx, K. (1970): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 23, Berlin
agiert werden dürfte: Die absoluten Grenzen auf der Schadstoffseite des                      Moore, J. W. (2010a): “Amsterdam is standing on Norway”, part I: The alchemy
                                                                                             of capital, empire and nature in the diaspora of silver, 1545 – 1648, in: Journal
Systems lassen sich noch weniger ignorieren. Denn die Deponien für den
                                                                                             of Agrarian Change 10 (1), S. 33 – 68
Abfall der nach Prinzipien kapitalistischer Steigerungslogik organisierten                   Moore, J. W. (2010b): “Amsterdam is standing on Norway”, part II: The global
Prozesse der Stoff- und Energietransformation sind schlichtweg voll. Wer-                    North Atlantic in the ecological revolution of the long seventeenth century, in:
den die bereits heute eingepreisten fossilen Energiereserven tatsächlich                     Journal of Agrarian Change 10 (2), S. 188 – 227
gefördert und verbrannt, ist ein Anstieg der Erdmitteltemperatur um 4°                       Moore, J. W. (2012): Crisis: Ecological or world-ecological?, in: Wiedemann, C./
                                                                                             Zehle, S. (Hrsg.): Depletion design: A glossary of network ecologies, S. 73 – 78
bis 5°C unvermeidlich.
                                                                                             Mórrigan, T. (2010): Peak energy, climate change and the collapse of global
    Daher hängt letztlich alles davon ab, ob es innerhalb der kurzen Zeit-                   capitalism, University of California, Santa Barbara, http://energyskeptic.
spanne von zwei bis drei Jahrzehnten gelingen wird, unsere sozialen und                      com/2012/tariel-morrigan-peak-energy-climate-change-and-the-collapse-of-
ökonomischen Systeme so radikal umzubauen, dass der Ressourcenver-                           global-civilization/
brauch und die Schadstoffproduktion, die mit den spezifisch kapitalistischen                 Pikkety, T. (2014): Capital in the twenty-first century, Cambridge/Mass.
                                                                                             Radkau, J. (1983): Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert,
Formen des Wirtschaftens, der Mobilität, des Wohnens, des Konsumierens
                                                                                             in: Geschichte und Gesellschaft 9 (4), S. 513 – 543
und der Kommunikation verbunden sind, innerhalb der planetarischen                           Radkau, J. (2008): Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute,
Grenzen von biologischen und physikalischen Systemen bleiben. Gelingt                        Frankfurt a. M.
dies nicht, dann erledigt sich die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus                   Rockström, J. et al. (2009): Planetary boundaries: Exploring the safe operating
                                                                                             space for humanity, in: Ecology and Society 14 (2), http://www.ecologyandsociety.
als eines weltökologischen Systems auf eine erdgeschichtlich radikale Wei-
                                                                                             org/vol14/iss2/art32/
se. Denn es werden unter diesen Bedingungen nicht nur der Welthandel
                                                                                             Rogers, D. (2013): Shale and Wall Street: Was the decline in natural gas prices
und die Zerstreuung der Produktion über den ganzen Globus ein Ende                           orchestrated? Energy policy forum, http://energypolicyforum.org/portfolio/
finden. Es würde sich ein derart großes Katastrophenpotenzial aufbauen,                      was-the-decline-in-natural-gas-prices-orchestrated/
dass große Bereiche menschlicher Zivilisation schlichtweg kollabieren könn-                  Sieferle, R.-P. (1982): Der unterirdische Wald. Energiekrise und industrielle
                                                                                             Revolution, München
ten. Gemessen an dieser Perspektive erscheint eine sozialgeschichtlich ra-
                                                                                             Sombart, W. (1987): Der moderne Kapitalismus, Endgültige Auflage, Paperback-
dikale Wende als ein zwar schwieriges, gleichwohl aber überlebensnotwen-                     Reprint, 3 Bde., München
diges Projekt. Eine Wende, die dafür sorgt, dass Öl, Gas und Kohle im                        United Nation Development Program (UNDP) (2014): Humanity divided:
Boden bleiben und Desinvestment bei den fossilen Energieträgern wie auch                     Confronting inequality in developing countries, New York
bei vielen anderen Rohstoffen politisch erzwungen wird – und folglich
ökonomisches Wachstum sich wieder auf jenes homöostatische Gleichge-
wicht einpendelt, das für Jahrtausende menschlicher Zivilisation auf dem
Planeten charakteristisch war.                                                               AUTORIN

                                                                                             BIRGIT MAHNKOPF, Dr. habil., ist Professorin für Europäische Gesellschaftspoli-
                                                                                             tik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) und Mitglied des Institu-
                                                                                             te for International Political Economy Berlin (IPE Berlin). Arbeitsschwerpunkte:
LITER ATUR                                                                                   Ökonomische, soziale und politische Dimensionen der Globalisierung; Politi-
                                                                                             sche Ökonomie der europäischen Integration; Arbeitssoziologie und Industri-
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512                                                                  https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505
                                                              Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15.
                                                       Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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