"Peak Capitalism"? Wachstumsgrenzen als Grenzen des Kapitalismus
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AUFSÄTZE WSI MITTEILUNGEN 7/2014 „Peak Capitalism“? Wachstumsgrenzen als Grenzen des Kapitalismus Die nachfolgenden Überlegungen erläutern eine These, die bei vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf Unverständnis, Widerspruch oder sogar entschiedene Abwehr stoßen wird. Verkürzt lautet sie: Der Kapitalismus befindet sich auf dem absteigenden Ast. Denn er steckt nicht nur in einer tief greifenden, strukturellen Krise seiner Akkumulationsdynamik, welche sich in einem säkularen Niedergang von Investitionen im Verhältnis zu den erzielten Gewinnen und daher in einer Verlangsamung des globalen Wirtschaftswachstums ausdrückt. Dies ist die Krise des Kapitalismus als sozioökonomisches System. In einer existenziellen Krise befindet sich der Kapitalismus im dritten Jahrhundert seiner Existenz aber vor allem als ein ökologisches Weltsystem – und für diese Krise gibt es, anders als für die zyklischen Akkumulationskrisen, keine systemimmanente Lösung. BIRGIT MAHNKOPF bergab geht – ob also eine Evolution (oder Transformation) 1. Einleitung des Systems noch möglich ist –, das können wir heute nicht wissen. Mit großer Sicherheit aber bricht ein sozioökono- Die These von einem „Peak Capitalism“ (Mahnkopf 2013) misches System nicht einfach zusammen. Mit der existen- – dass die kapitalistische Entwicklung also ihren Zenit er- ziellen Krise des Kapitalismus als eines weltökologischen reicht habe – mag an den schon häufiger vorhergesagten Systems werden jedoch Kippschalter („tipping points“, vgl. „Zusammenbruch des Kapitalismus“ erinnern. Darauf wird Rockström et al. 2009) aktiviert, die gravierende Verände- in der Regel mit dem Verweis reagiert, der Kapitalismus rungen unvermeidlich machen. Diese werden ein Resultat Diese Datei und ihr Inhalt sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Verwertung (gewerbliche Vervielfältigung, Aufnahme in elektronische Datenbanken, Veröffent- habe im Verlauf des 20. Jahrhunderts doch unter Beweis der kumulativen Wirkungen sein, die sich aus dem Wider- gestellt, dass er zur Selbsterneuerung fähig sei – warum also stand arbeitender (aber nicht unbedingt lohnabhängiger) sollte dies im 21. Jahrhundert anders sein? Ein „grüner Klassen, der unwiderruflichen Veränderung von ökologi- Kapitalismus“ könnte doch „pfleglicher“ mit der sogenann- schen Systemen und dem Wirken von Marktprozessen er- ten „Umwelt“ verfahren, ohne damit Eigentums- oder Herr- geben. schaftsverhältnisse infrage zu stellen. Dagegen wird im Fol- genden argumentiert, dass der Kapitalismus als ein sozio-ökologisches Weltsystem (vgl. Moore 2012), das alle lichung online oder offline) sind nicht gestattet. Natur seinem Bewegungsgesetz unterwirft, heute an abso- lute Grenzen stößt. An den „planetarischen Grenzen“ von 2. Das „Wachstumswunder“ im biophysischen Systemen erweist sich die spezifische Eigen- Kapitalozän art des Kapitalismus, nämlich seine Missachtung der bio- physischen wie der sozialen Schranken – die in früheren Mit dem Kapitalismus ist seit dem „langen 16. Jahrhundert“ © WSI Mitteilungen 2014 Phasen seiner Entwicklung die revolutionäre Kraft „schöp- (in der Zeit von 1492 bis 1648) ein soziales und ökologisches ferischer Zerstörung“ begründet hat –, als ein selbstdest- System entstanden, das die menschliche wie die außer- ruktiver Mechanismus und als praktisch unüberwindbares menschliche Natur einer Zweck-Mittel-Rationalität unter- Hindernis für eine neue Phase der Akkumulation. wirft. Alles wird zum Material ökonomischer Verwertung Ob nach dem Erreichen des „Höhepunktes“ des Kapita- gemacht; das schließt auch den Körper und die Psyche der lismus als ein weltökologisches System die abfallende Kurve Menschen mit ein. Doch nicht nur die biologischen Grund- flach gehalten werden kann oder es in einer steilen Kurve lagen des Lebens, sondern auch die geologischen und https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505 505 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
AUFSÄTZE klimatischen Grundbedingungen des Planeten Erde werden mit dem ebenfalls knapp werdenden Wasser konnten die heute nachhaltig von den Aktivitäten der Menschen beein- Nahrungsmittelpreise seit den 1970er Jahren bis zu Beginn flusst. Daher sprechen die Erdwissenschaftler von einer der 2000er Jahre auf ein historisches Tiefstniveau fallen. neuen geologischen Epoche, vom „Anthropozän“ (Crutzen Wirtschaftswachstum ist nur der volkswirtschaftlich 2002). Ein „Menschenzeitalter“ hat die mehr als 12.000 sichtbare Ausdruck eines Systems, in dem Geld als Kapital Jahre währende Epoche des „Holozäns“ abgelöst, also die- fungiert und durch einen permanenten Investitionskreislauf jenige Phase in der Erdgeschichte, die durch eine bemer- vermehrt, also akkumuliert oder verwertet werden soll. Dies kenswerte langfristige Stabilität bei der Temperaturentwickl- geschieht mit Hilfe der sozialen und ökonomischen Treiber ung und hinsichtlich der Ablagerung von Emissionen in Profitprinzip, Zinseszins und Renditezwang. Weil Geld als der Atmosphäre gekennzeichnet war. Es hatte sich ein klei- Kredit immer einen Überschuss in Form von Zinsen und nes „Temperaturfenster“ geöffnet, in dem menschliche Ent- Renditen erwirtschaften muss, kann die Maßlosigkeit, eine wicklung auf dem Planeten möglich wurde. Doch innerhalb ins Unendliche strebende Bewegung, als die Wesenslogik der letzten drei Jahrhunderte sind sowohl der Meeresspiegel des Kapitalismus verstanden werden. Unter den Bedingun- als auch die globale Durchschnittstemperatur sowie die Zahl gen verallgemeinerter kapitalistischer Konkurrenz müssen der Menschen auf dem Planeten in zuvor unvorstellbarem allerdings auch die Aufwendungen für diese Verwertungs- Umfang gestiegen; zugleich ist die Festlandsoberfläche ge- prozesse (Rohstoffe und Energie zumal) permanent erhöht schrumpft und unzählige Arten sind ausgestorben. Dieser werden – und das treibt die Kosten des vorgeschossenen erdgeschichtliche Wandel ist wesentlich auf Wirkungen des Kapitals in die Höhe. Vor allem aber müssen sich immer mittlerweile weltumspannenden ökonomischen Systems neue Anlagemöglichkeiten finden lassen, in denen die von des Kapitalismus zurückzuführen. Daher sollte die neue den Kapitaleignern gewünschte Rendite realisiert werden Erdepoche des von Geologen so bezeichneten Anthropozäns kann. Gelingt dies nicht, reichen auch eine Verbilligung des korrekter als „Kapitalozän“ (Altvater 2014) bezeichnet wer- Maschineneinsatzes, technischer Fortschritt und eine An- den. hebung der Gewinne, die sich aus der Ausbeutung der Ar- beitskraft ziehen lassen, nicht aus, um die Wachstumsdy- 2.1 Wachsender Energie- und Rohstoffverbrauch namik auf einem fortwährend hohen Niveau zu halten. Im Verlauf dieser letzten drei Jahrhunderte ist es tatsächlich 2.2 Zunahme sozialer Verwerfungen gelungen, die Erde – wie es die jüdisch-christliche Botschaft gebietet – „dem Menschen untertan zu machen“, sie nach Werden die Wachstumsraten gehoben, so wie dies insbe- menschlichen Vorstellungen und Wünschen zu formen und sondere während der letzten Jahrzehnte in nahezu allen umzugestalten. Im Verlauf der von Europa ausgehenden Regionen des Globus der Fall war, bedingt dies einen hö- kapitalistischen Welteroberung wurden die ökonomischen heren Energie- und Materialeinsatz, doch dank arbeitsspa- Wachstumsraten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts be- render technologischer Innovationen nicht unbedingt einen ständig gehoben, real und pro Kopf im Durchschnitt um Mehrbedarf an Arbeitskräften. Für entwickelte Industrie- etwa 2,2 % pro Jahr (Maddison 2001; vgl. auch Pikkety länder ist bekannt, dass spürbare Wirkungen am Arbeits- 2014). Das hat in den vergangenen zweieinhalb Jahrhun- markt eigentlich erst ab einer jährlichen Wachstumsrate des derten zu einer Verdoppelung des monetären Pro-Kopf- Bruttoinlandsprodukts von mehr als 2,3 % zu erwarten sind Einkommens von einer Generation zur nächsten geführt. – es sei denn, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kön- Ermöglicht wurde dieses „Wachstums-Wunder“ durch den nen, wie dies heute nicht nur in den Ländern des globalen Rückgriff auf fossile Energieträger und deren hohen EROI Südens, sondern teilweise auch in Deutschland oder in den (energy return on energy invested): die hohe „Energieren- USA der Fall ist, durch den Abbau sozialer Schutzmecha- dite“ auf die eingesetzte Energie. Denn nur mit Hilfe billiger nismen dazu gezwungen werden, selbst zu Hungerlöhnen Energie (zunächst Kohle, dann Erdöl und Erdgas) gelang zu schuften. Blind gegenüber allen gesellschaftlichen und es, an die Rohstoffe zu kommen, die Voraussetzung sind für ökologischen Folgen seiner beständig wachsenden Verwer- Industrialisierung und Urbanisierung, an Metalle und nicht- tungstätigkeit geht es in dem sinnlosen Prozess der Selbst- energetische Mineralien (Bardi 2013), darunter so scheinbar verwertung des Kapitals ja schließlich darum, durch mög- unerschöpfliche wie der Sand, der heute wie viele andere lichst rationell organisierte Warenproduktion möglichst Stoffe seinen „Peak“, also das Höchstproduktionsplateau, hohe Profite zu realisieren – und dieses Ziel gebietet allemal, bereits überschritten hat. Billige fossile Energieträger waren den Anteil der Lohnarbeit am Produktionsprozess schritt- nicht zuletzt eine wesentliche Voraussetzung für die Pro- weise zu verringern. duktivitätssteigerungen, die sich in der Zeit nach dem Zwei- So verwundert es nicht, dass mit dem wirtschaftlichen ten Weltkrieg unter dem Label der „Grünen Revolution“ in Wachstum zugleich die globale Arbeitslosigkeit, die infor- der Landwirtschaft abgespielt haben. Nur durch den Einsatz melle Ökonomie und die soziale Ungleichheit angewachsen von energieintensiven Maschinen, von ölbasierten Pflan- sind. Besonders rasant verlief diese Entwicklung seit den zenschutz- und Düngemitteln wie dem wasserlöslichen 1990er Jahren, als in der zweiten Phase der neoliberalen Phosphat sowie durch den verschwenderischen Umgang Globalisierung eine Öffnung der Volkswirtschaften zum 506 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15. 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WSI MITTEILUNGEN 7/2014 Weltmarkt mit besonderer Radikalität betrieben wurde. lich wird? Wie ließen sich die kapitalistische Produktions- Zwischen 1990 und 2010 ist die Einkommensungleichheit und Lebensweise und die darauf aufbauenden politischen der Haushalte sowohl in den Ländern mit niedrigem, mit Systeme stabilisieren, wenn das Wachstum zum Erliegen mittlerem wie mit hohem Volkseinkommen deutlich gestie- käme, etwa deswegen, weil nur billige Energieträger (mit gen (vgl. UNDP 2014, S. 80). In der Regel wird auf der Plus- einem hohen EROI) hohe Renditen, hohe Investitionen und seite gesteigerten ökonomischen Wachstums verbucht, dass daher hohe Wachstumsraten ermöglichen? viele Menschen heute besser ernährt sind und eine bessere Gesundheitsversorgung erhalten, daher auch länger leben als früher, dass der Bildungszugang sich deutlich verbessert hat und soziale Sicherungssysteme auch armen und sehr armen Bevölkerungsschichten zugänglich sind. Doch liegt 3. Konturen der säkularen der Zusammenhang zwischen ökonomischem Wachstum „großen Krise“ des Kapitalismus und diesen zweifellos zentralen Indikatoren gesellschaftli- chen Fortschritts keineswegs auf der Hand. Wäre dies der Vieles spricht dafür, dass wir es gegenwärtig weder mit einer Fall, müssten die Fortschritte bei Bildung, Gesundheit und normalen, zyklischen, noch mit einer auf wenige Länder Ernährung in den Ländern mit besonders hohen Wachs- begrenzten Krise zu tun haben. Wir erleben zum einen eine tumsraten (und mit einem höheren Einkommensniveau) tiefe realökonomische Krise, die Ungleichgewichte im Au- auch entsprechend stark ausgefallen sein; doch davon kann ßenhandel zum Ausdruck bringt, welche sich unter den Be- nicht die Rede sein (vgl. UNDP 2014, S. 128ff.). Ökonomi- dingungen globalen Wettbewerbs bestenfalls von einer Re- sches Wachstum ist keineswegs der entscheidende Treiber gion in andere verschieben, nicht aber grundsätzlich einebnen für Verbesserungen bei Bildung, Gesundheit und Ernäh- lassen. Diese Krise ist zum anderen eine Krise des Geldes rungssituation; wichtiger sind die Verteilung der Einkom- und der Finanzen und zugleich eine epochale Krise der Ar- men, Qualität und Quantität öffentlicher Ausgaben, doch beit. Aus der von David Ricardo so bezeichneten „Über- auch Mitsprachemöglichkeiten und Korruptionskontrolle schussbevölkerung“, die unter den Bedingungen eines großen bei der Bereitstellung von öffentlichen Diensten (vgl. Ace- Sektors von Subsistenzlandwirtschaft – der „freigesetzte“ moglu/Robinson 2012; Dreze/Sen 2013). Arbeitskräfte immer wieder aufgenommen und versorgt hat Dennoch kreist die öffentliche Debatte heute nicht um – eine wichtige ökonomische Funktion als „Reservearmee die Frage, wie sich die Verteilung von Ressourcen und von des Kapitals“ in Prozessen der Industrialisierung übernahm, Lebenschancen auf dem Planeten Erde gerechter organisie- ist längst eine „überflüssige Menschheit“ (Davis 2007) ge- ren ließe. Selbst diejenigen Ökonomen, die öffentlich ihre worden. Wer zu diesem Teil der Menschheit gehört, muss in Befürchtung äußern, dass wir uns in einer „großen Rezes- der Regel zwar hart arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu sion“ (Paul Krugman) oder sogar inmitten einer „säkularen sichern, doch geschieht dies in wachsendem Maße in der Stagnation“ (Laurence Summers) befinden, bewegt vor allem informellen Ökonomie, d. h. unter Bedingungen, in denen die Frage, wie die Wachstumskräfte des Kapitalismus wie- „ordentliche“, also formell geregelte (und erst recht sozial derbelebt werden könnten. Hinsichtlich der Instrumente geschützte) Arbeitsverhältnisse die Ausnahme und nicht die zur Ankurbelung des stotternden Wachstumsmotors gibt Regel sind. Anders als in seiner historischen Vergangenheit es zwischen neoklassisch orientierten, neoliberalen und erwies sich der Kapitalismus nach seinem Sieg über das kon- keynesianisch argumentierenden Ökonomen erhebliche kurrierende System des „realen Sozialismus“ als vollkommen Unterschiede; doch teilen alle diese Ökonomen letztlich die unfähig, den Zustrom von vielen Millionen neuen Lohnar- Grundüberzeugung, dass das globale kapitalistische Wirt- beitern aus der ehemals vom Weltmarkt abgeschirmten schaftssystem zwar vorübergehend quantitativ schrumpfen „Zweiten Welt“ zu absorbieren; als unfähig erwies er sich könne (ebenso wie es sich zuvor ausgedehnt hat), dass es auch, die durch seine eigene Dynamik produzierten „Über- aber nach überwundener Krise in seiner Qualität unverän- flüssigen“ aus der „Dritten“ (und später auch aus der „Ersten“) dert bleibe. Stets geschieht dies unter der Annahme eines Welt in wertschaffende Produktionsprozesse zu integrieren. zyklischen Musters ökonomischer Entwicklung, welches Vor allem aber ist die gegenwärtige Krise eine ökologische. von Prosperität über eine Krise zurück zur Prosperität führt. Zu deren Facetten zählen nicht nur die für viele Menschen Fragen, die die Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus als bereits drastisch erfahrbaren Folgen des Klimawandels und eines sozial-ökologischen Weltsystems betreffen, werden die mit ihnen einhergehende Krise in der Versorgung mit indes schlichtweg ausgeblendet: Was geschieht mit dem sauberem Wasser. Dazu gehört auch die – mangels Wissens Produktions- und Konsumsystem des Kapitalismus, wenn und/oder Interesse – weit weniger beachtete Krise der Biodi- elementare Voraussetzungen desselben zusehends unter- versität. Nicht zuletzt ist die globale Krise des Kapitalismus höhlt werden – insbesondere wenn die Aneignung und auch eine Energie- und Rohstoffkrise. Deren spezifische Dy- nachfolgende Plünderung von leicht zugänglichen und rei- namik resultiert aus drei eng miteinander verknüpften Trei- chen Vorräten an mineralischen und agrarischen Rohstof- bern: erstens den Verschiebungen in den internationalen fen sowie die Verfügbarkeit von sauberem Wasser schwierig, Machtkonstellationen, welche dazu führen, dass die Ressour- ja für wachsende Teile der Weltbevölkerung nahezu unmög- cenansprüche der frühindustrialisierten Kernländer des https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505 507 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
AUFSÄTZE Kapitalismus heute auf einen wachsenden „Ressourcennati- unzählige materielle und immaterielle Institutionen einge- onalismus“ rohstoffreicher Länder (in der Regel aus dem glo- schrieben, die selbst gesetzten Regeln folgen: Es werden Ge- balen Süden) und auf die Begehrlichkeiten aufstrebender setze erlassen, Programme formuliert und bindende Verein- neuer Industrieländer stoßen; zweitens dem vermutlich noch barungen geschlossen, die wie durch einen Zauber vor der bis zur Jahrtausendmitte anhaltenden Bevölkerungswachstum Einsicht schützen sollen, dass die nach den Verwüstungen des in den Ländern des Südens und den sehr hohen Ressourcen- Zweiten Weltkriegs auf der Grundlage spottbilligen Öls rea- ansprüchen der (schrumpfenden) Bevölkerungen in den alten lisierten hohen Wachstumsraten endgültig vorbei sind. Industrieländern; sowie drittens den zunehmenden Migrati- onsbewegungen, die eine Folge sowohl der epochalen Krise der Arbeit wie der Klima- und Wasserkrise sind, doch glei- chermaßen durch die zunehmend gewalttätig ausgetragenen Konflikte um den Zugang zu Rohstoffen angetrieben werden. 4. Die Beudeutung natürlichen Hinzu kommt die absehbare Verschärfung einer heute Reichtums für die kapitalistische in vielen Weltregionen bereits offensichtlichen Krise von Akkumulationsdynamik Nahrungsmittelproduktion und -verteilung. Ausgelöst wird diese durch das Anwachsen und die Verstädterung der Welt- bevölkerung, die sinkenden Ertragsraten vieler Anbauflächen Unsere meist auf den globalen Norden konzentrierte Pers- für Grundnahrungsmittel und das „land grabbing“ finanz- pektive lässt vergessen, dass es sowohl in der Geschichte des starker Investoren, das die bäuerliche Wirtschaft in vielen „modernen Westens“ wie in einer Vielzahl nicht-westlicher Teilen der Welt zur Kapitulation treibt. Keineswegs hilfreich Kulturen Vorstellungen von Arbeit, Innovation, Wissen und ist es in diesen Zeiten der säkularen Krise, dass vielerorts, von einem gelingenden, „guten Leben“ gegeben hat und auch nicht allein in der Europäischen Union, das Vertrauen in die heute noch gibt, welche sich grundlegend von dem „wirt- Demokratie schwindet und der „Mafia-Kapitalismus“ zu ei- schaftlich gelebten Leben“ des modernen Kapitalismus un- nem weitverbreiteten Phänomen geworden ist. terscheiden. Nur im Kapitalismus wird die biophysikalische Die ökonomischen, ökologischen, sozialen und politi- Welt als eine Menge von verfügbaren Rohstoffen für Zwecke schen Dimensionen dieser Jahrhundertkrise sind also aufs der profitablen Ausbeutung behandelt, nur hier kann alles zu engste miteinander verknüpft. Im Einzelnen fällt es daher einer Ressource der Kapitalakkumulation werden: fruchtba- schwer, auszumachen, was etwa soziale oder ökologische Ur- rer Boden, mineralische Stoffe, das „Lebensgut“ Wasser, die sachen und was ökonomische, soziale oder ökologische Folgen menschliche Arbeitskraft und schließlich selbst die Subjek- sind. Die Ausgangslage für eine zeitgemäße und der Komple- tivität des Individuums. Die Betrachtungsweise der Welt als xität des historischen Geschehens angemessene Krisenanaly- einer Ansammlung ausbeutbarer Rohstoffe bedingt aber not- se ist daher nicht sonderlich günstig. Zwar signalisieren wendigerweise, dass auch Menschen als ein Rohstoff behan- Gleichzeitigkeit und Interdependenz der angesprochenen delt werden. Mit diesen wird „pfleglich“ umgegangen, solan- Krisendimension eine epochale Krise des Kapitalismus als ge sie sich für den kapitalistischen Verwertungsprozess als globales sozioökologisches System, welche leicht in eine Kri- nützlich erweisen. Ist dies jedoch nicht (mehr) der Fall, kön- se der menschlichen Zivilisation einmünden könnte. Dennoch nen auch Menschen zu „Müll“ werden, zu überflüssigem sieht die übergroße Mehrzahl der Ökonomen nach wie vor Ballast, der Sozialsysteme „belastet“; oder sie werden dort, keinen Anlass, sich mit den Auswirkungen wirtschaftlichen wo deren Netze viel zu löchrig sind, als dass sie Halt vor dem Handelns auf die menschliche und außermenschliche Natur Absturz gewährleisten könnten, in die „Senken“ der Slums zu beschäftigen. Bis heute weigert sich die Disziplin zur Kennt- dieses Planeten „entsorgt“ (vgl. Davis 2007). nis zu nehmen, dass alle ökonomischen Transaktionen zu- In der Geschichte kapitalistischer Weltbeherrschung ist es gleich unumkehrbare Transformationsprozesse von Energie- allerdings bislang noch stets gelungen, die „Unordnung“ und und Stoffströmen darstellen. Doch auch viele Ansätze das Chaos, welche mit der Degradation und Zerstörung der kritischer Gesellschaftstheorie und emanzipatorischer politi- menschlichen wie der außermenschlichen Natur einhergehen, scher Praxis beschäftigen sich, wenn überhaupt, oft nur am zu externalisieren, d. h. auf schwächere Marktteilnehmer, auf Rande mit den ökologischen Voraussetzungen ökonomischer entlegene Territorien, in die Ozeane oder in die Atmosphäre Transaktionen und sozialer Interaktionen und ihren Folgen zu verlagern. Doch können wir uns das Wirken der wie eine für biophysische Systeme. Das mag damit zusammenhängen, „Weltvernichtungsmaschine“ (Konicz 2012) funktionierenden dass dem hegemonialen Paradigma des Wachstums, dem die kapitalistischen Akkumulationsdynamik tatsächlich als einen Ökonomie als Disziplin verpflichtet ist, in der Gesellschafts- unendlichen Prozess vorstellen? Oder muss nicht auf dem theorie ein ebenso wirkungsmächtiges Paradigma entspricht begrenzten Terrain des Planeten mit absoluten Grenzen ge- – nämlich das der gesellschaftlichen Stabilität. Dieses aber ist rechnet werden, die sich aus den Gesetzen der Thermodyna- seinerseits, zumal in modernen, demokratisch verfassten Ge- mik und aus jenen der Evolution ergeben? sellschaften, eng an den Fetisch ökonomischen Wachstums Tatsächlich basierte die Akkumulationsdynamik des his- gekoppelt. Das ideologische Konstrukt Wachstum ist längst torischen Kapitalismus seit seiner Entstehung auf der Aneig- zu einer gesellschaftlichen Norm geworden. Es hat sich in nung und nachfolgenden Plünderung von „Gratisleistungen 508 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
WSI MITTEILUNGEN 7/2014 der Natur“. Mit diesem Begriff hat Karl Marx elementare Vo- schichte des Kapitalismus bislang immer durch geografische raussetzungen des Kapitalismus bezeichnet, die dieser nicht Expansion und eine schnelle Inwertsetzung von neuem selbst hervorbringen musste: kostengünstige und ertragreiche Land und neuer menschlicher Arbeitskraft, sowohl inner- Energieträger, nicht-energetische Mineralien, agrarische Roh- halb wie außerhalb Europas, gelöst. Daher wanderte die stoffe und billige Arbeitskräfte, die noch nicht in den kapita- „frontier“ (Grenze) der Zuckerproduktion im 16. und 17. listischen Verwertungszusammenhang einbezogen waren Jahrhundert von Madeira nach Brasilien und später auf die (vgl. Marx 1970, S. 630). Das Vorhandensein und die kosten- Karibischen Inseln; die „frontier“ des Silberbergbaus ver- günstige Aneignung „natürlichen Reichtums“ ist also ebenso lagerte sich aus dem erschöpften Erzgebirge nach Peru. Im eine Grundvoraussetzung der kapitalistischen Akkumulati- 16. und 17. Jahrhundert verhalf die Eroberung der „fron- onsdynamik – und des von Adam Smith gepriesenen, aus der tiers“ für Nordseefisch, norwegisches Holz, brasilianischen Arbeitsteilung erwachsenden „Wohlstands der Nationen“ – Zucker, peruanisches Silber und polnisches Getreide den wie die Verfügbarkeit von „Abfallräumen“ für die von Men- Amsterdamer Kaufleuten dazu, zum Organisator und Ka- schen nicht mehr verwendbaren Stoffe. pitalgeber des transatlantischen und innereuropäischen Die Expansion von Warenproduktion und Warenaus- Schiffsverkehrs zu werden (Moore 2010b), im 19. bzw. 20. tausch zunächst in Europa und in der sogenannten „Neuen Jahrhundert bildete die Eroberung der „frontiers“ für Baum- Welt“ der beiden Amerikas, später auch in anderen Welt- wolle und Erdöl eine wichtige Grundlage für den Aufstieg regionen, war freilich immer begleitet von ökologischen zunächst Englands, sodann der USA zur Weltmacht. Krisen, und oft gingen solche Krisen Hand in Hand mit der Zerstörung vorkapitalistischer Sozialsysteme. Allerdings waren die so erzeugten Umweltschäden lange Zeit entweder eher geringfügig, lokal begrenzt oder temporärer Natur. In der Regel haben lokale ökologische Krisen sogar wesentlich 5. Das Ende der billigen dazu beigetragen, dass die kapitalistische Dynamik eine Produktionsinputs neue Entwicklungsrichtung nehmen konnte. So führte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Verknappung Das Öl war und ist auch heute noch ein ganz besonderer von Holzkohle – einer Schlüsselenergie für die frühe Me- Stoff, geeignet für so viele industrielle und landwirtschaft- tallverarbeitung und die Glas- und Zuckerindustrie – zur liche Verwendungsmöglichkeiten wie kein anderer mine- Nutzung der „nicht-konventionellen“ Energiequelle Stein- ralischer Rohstoff. In den 1930er Jahren, als die Förderung kohle, zunächst in England, dann in anderen europäischen der damals noch dicht unter der Erdoberfläche komprimier- Ländern und schließlich weltweit (vgl. Moore 2010a). Der ten Ölreserven erstmals über 200 Mio. Tonnen pro Jahr Energieertrag dieses fossilen Energieträgers aber war we- angestiegen war, lag der Energieertrag des einheimischen sentlich höher als derjenige von „konventioneller“ Holz- Öls in den USA noch bei 100 : 1, d. h. es wurde nur eine kohle; zusammen mit der Entwicklung von geeigneten Einheit Energie benötigt, um hundert Energieeinheiten Öl Technologien zur Transformation dieses Brennstoffs in zu fördern. Bei dem heute in Nordamerika geförderten „un- nützliche Arbeit konnte die neuartige Nutzung des Brenn- konventionellen“ Öl aus Teersanden oder dem Schiefergas, stoffs Kohle dann zur entscheidenden Voraussetzung für das mithilfe der umstrittenen Technologie des „Fracking“ die anschließende industrielle Revolution werden. Dieser gefördert wird, liegt dieser Wert aber lediglich bei 11 : 1 bis Akt menschlicher Emanzipation von den „Schranken der 18 : 1 (im Falle des Schiefergases) bzw. bei 1 : 1 (im Falle der Natur“ (Sombart 1987, S. 1126ff.) wurde freilich begleitet Teersande, vgl. Mórrigan 2010). Nur Energieträger mit ei- von harten sozialen Konflikten zwischen Landbevölkerung nem hohen Energieertrag ermöglichen aber hohe Zuwachs- und Obrigkeit. Denn im Interesse wichtiger Gewerbe der raten der Produktivität der Arbeit und daher auch hohe merkantilen Wirtschaft wie der Salinen und Metallhütten Wachstumsraten. Nach dem Erreichen von „Peak Oil“ und hatten die staatlichen Organe im Zuge der europaweit gras- „Peak Gas“, also dann, wenn das Produktionsplateau bei sierenden „Holznot“ damit begonnen, den Wald, der über konventionellem Öl und Gas überschritten wird, ist die Jahrhunderte den Brennholzbedarf von armen Gelegen- Erschöpfung dieser Energieträger unwiderruflich. Wann sie heitsnutzern gedeckt hatte und dem (genossenschaftlich eintritt, hängt davon ab, wie schnell und effektiv die Aus- organisierten) bäuerlichen Waldgewerbe zugänglich gewe- beutung erfolgt. Gleichzeitig steigt der Druck, neue Res- sen war, vollständig in einen staatlich kontrollierten Ort sourcen an „unkonventionellem“ Öl und Gas zu erschließen. exklusiver Holzproduktion zu verwandeln. Das Beispiel Ob diese aber tatsächlich auch gefördert werden, hängt von macht deutlich, wie eng kapitalistische Dynamik, ökologi- der Verfügbarkeit entsprechender Technologien ab, vom sche Krisen, soziale Konflikte und historische Projekte der kostengünstigen Zugang zu Energie und (im Falle des Fra- Herrschaftssicherung miteinander verwoben sind (vgl. Sie- cking) auch von Zugriffsmöglichkeiten auf sehr große Men- ferle 1982; Radkau 1983, 2008, S. 73ff.). gen von Wasser. Wenn indes die Belastungsgrenzen regionaler ökologi- Vor allem aber setzt dies einen hohen und in näherer scher Systeme erreicht oder überschritten waren, wurden Zukunft weiter steigenden Ölpreis voraus. Letztlich bestimmt Krisen der lokalen ökologischen Entwicklung in der Ge- dieser darüber, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist, eine https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505 509 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
AUFSÄTZE durch Bohrungen bestätigte (unkonventionelle) Ressource rechterhalten. Genau dies geschieht aber mit der fortschrei- in eine „nachgewiesene Reserve“ zu verwandeln und bei aus- tenden Integration immer neuer „Boom“-Regionen in den reichender Finanzierung mit der Förderung zu beginnen. Die Weltmarkt: Wenn es keine große „frontier“ mehr gibt, son- Befolgung einzelwirtschaftlicher Rationalität kann auch dazu dern nur Territorien, die bereits dem vom Weltmarkt aus- führen, dass die Quellen von „unkonventionellem“ Öl und gehenden Wettbewerb unterworfen sind, verlieren die vor- Gas mit Hilfe der neuesten Technologie (und selbstverständ- maligen Quellen leicht realisierbaren Profits ihren einstigen lich ohne Rücksicht auf irgendwelche Umweltbelange) be- Vorteil – eben den, nicht-kommodifiziertes, also dem Wert- sonders schnell geleert und die Energieträger zu niedrigen gesetz (noch) nicht unterworfenes „Neuland“ zu sein – und Preisen verkauft werden – so wie dies gegenwärtig im Zeichen es versiegt die Quelle leicht realisierbaren Profits. des (auf wenige Jahre projektierten) „Fracking-Gas-Hypes“ Auch im modernen Kapitalismus der Hightech-Ära in den USA geschieht (Rogers 2013). Wenn dann, wie im bleibt die Dynamik der Akkumulation abhängig von den Falle des US-amerikanischen Schiefergases und -öls, die güns- „Geschenken“ der bio-physikalischen Systeme – von der tig ausbeutbaren Vorkommen, die auf gerade einmal 5 bis kostengünstigen Verfügbarkeit von Sand, ohne den keine 10 % aller Ressourcen geschätzt werden (Hughes 2013), Stahl-Beton-Konstruktion möglich ist; von Phosphat, ohne schnell zu Ende gehen, kann nur ein hoher und steigender das die industrielle Landwirtschaft nicht auskommt; von Preis dafür sorgen, mit der extrem teuren Exploration und Seltenen Erden und anderen nur in geringer Konzentration im günstigsten Fall nachfolgender Förderung fortzufahren. in der Erdkruste vorkommenden Metallen, ohne die kein Der unaufhaltsame Anstieg der Energiekosten wird auf Windrad, kein Handy und auch keine Drohne funktionieren diesem Wege aber nicht gebremst. Daher geht die Interna- würde. Wenn zukünftig mit Hilfe der „blauen Biotechno- tionale Energie Agentur (IEA 2013) auch davon aus, dass logie“ auch der Grund der Meere zu einer Industrieland- der Preis für ein Barrel importierten Rohöls mittelfristig schaft umgestaltet werden sollte – und Rohstoffe aus der weiter steigen wird. Hohe Energiepreise aber gehen prinzi- Tiefsee genutzt würden, um Öl, Ersatzstoffe für die chemi- piell nicht mit hohem ökonomischen Wachstum zusammen; sche und die pharmazeutische Industrie, Nahrungsergän- sie befördern eher wirtschaftliche Rezessionen. Auch die zungsstoffe, Biochemikalien oder Biogas herzustellen –, so erneuerbaren Energieträger Sonne, Wind und Geothermik, wäre doch der „energy return on energy invested“ und da- die gegenwärtig noch nicht einmal 5 % des globalen Netto- mit auch der „capital return on capital invested“ absehbar energieverbrauchs ausmachen, können in absehbarer Zeit so gering, dass ein gewaltiger neuer Wachstumsschub davon keine billigen Energielieferanten sein, zumal dann nicht, nicht angestoßen werden könnte. wenn die mächtige „fossile Lobby“ ihren Ausbau bremst, um die in „braunen“ Industriezweigen getätigten Anlagen profitabel zu halten. Doch nur billige Produktionsinputs können die organische Zusammensetzung des Kapitals günstig beeinflussen und den von technologischen Innova- 6. Kapitalismus an den Wendepunkten tionen und Lohnsteigerungen ausgehenden Druck auf die der biophysischen Systeme Profite eindämmen. Daher waren die Profite in der Ge- schichte des Kapitalismus auch immer dann hoch und aus- Auf der Ressourcenseite muss nicht allein mit ökonomischer reichend für neue Investitionen, wenn natürlicher Reichtum Knappheit gerechnet werden, die sich in zunehmender im Überfluss zur Verfügung stand: große Wälder und leicht Preisvolatilität und unkalkulierbaren Marktentwicklungen zugängliche Kohleflöze in Europa, ergiebige Silber- und ausdrückt. Vielmehr sind physische Grenzen absehbar, die Kupferadern in Lateinamerika, riesige Ölfelder dicht unter sich aus der schwindenden Verfügbarkeit von technisch der Erdkruste in den USA, am Kaspischen Meer oder auf leicht erschließbaren und daher kostengünstigen Ressour- der arabischen Halbinsel, dicke Schichten von Naturdünger cen ergeben. Unter diesen Bedingungen aber kann die im an der Pazifikküste, weite fruchtbare Flächen für den Ge- Kapitalismus als dynamisches Prinzip gepriesene Knappheit treideanbau im Mittleren Westen der USA. schnell in elementaren physischen Mangel an essenziellen Daraus folgt nun aber keineswegs, dass für die Stabilität Gütern umschlagen – in einen Mangel an Energie, Nah- des Kapitalismus als sozioökonomisches System die abso- rungsmitteln oder Wasser für die unter Bedingungen stei- lute, physische Erschöpfung von biophysischen Systemen gender Rohstoffpreise nicht (mehr) zahlungsfähigen Markt- ausschlaggebend wäre; die Missachtung von biophysischen teilnehmer. Dieses Szenario gewinnt an Schärfe, wenn Grenzen gehört ja zu den Wesensmerkmalen des Kapitals. geopolitische Dimensionen der Knappheit hinzukommen, Kritisch aber wird es, wenn Böden, Wälder, Ozeane und ausgelöst etwa durch Exportrestriktionen unter den Bedin- Minen einerseits, menschliche Arbeitskraft andererseits nur gungen eines wachsenden „Rohstoffnationalismus“ oder als unter Einsatz von mehr Energie und mehr Technologie und Folgen der zunehmend schwieriger werdenden Kontrolle daher von mehr Kapital ausgebeutet werden können. Denn sogenannter „Konfliktregionen“. dies begrenzt das Wachstum, die Vermehrung des Kapitals Daher ist bereits von der „input“-Seite kapitalistischer um seiner selbst willen. Und dann lassen sich die monopo- Produktion und Konsumption her zu bezweifeln, dass die- listischen Privilegien bestimmter Standorte nicht mehr auf- ses System in seiner modernen Form als ein globalisiertes 5 10 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
WSI MITTEILUNGEN 7/2014 Produktionssystem auch zukünftig zu einer ins Unendliche schreiten einer Erderwärmung von mehr als zwei Grad Cel- strebenden Bewegung fähig ist. Denn der Kapitalismus ist sius gegenüber dem vorindustriellen Niveau wird eine Kas- auf die stets wachsende Aneignung einerseits von „Gratis- kade katastrophischer Veränderungen auslösen: extreme leistungen der Natur“, andererseits des abstrakten Reich- Hitze, die über einigen Landflächen zu durchschnittlichen tums in der Form des Geldes angewiesen. Heute zeichnen Temperaturerhöhungen von 4° bis 10°C führen wird; eine sich aber nicht allein auf der Ressourcenseite absolute Gren- substanzielle Verschärfung der Wasserknappheit in vielen zen der Natur ab, die nur im Konflikt und unter Einsatz von Weltregionen (darunter die gesamte Mittelmeerregion) und Gewaltmitteln zum Schutz partikularer Interessen über- häufige Überflutungen in anderen Regionen, mit dramati- schritten werden können; die Mechanismen des Marktes schen Folgen für die Nahrungsmittelproduktion; einen An- werden nicht hinreichen, um für einige Wenige den exklu- stieg des Meeresspiegels um einen halben bis einen Meter, dierenden Zugang zu unentbehrlichen Stoffen und Ener- von dem vor allem hunderte Millionen Menschen in den gieträgern zu sichern. Gravierender und unvermeidlicher dicht besiedelten Städten des globalen Südens betroffen sein als die sich anbahnenden Konflikte um Rohstoffe aller Art werden; eine zunehmende Wucht von Wirbelstürmen, die sind die Grenzen, die sich auf der Schadstoffseite der kapi- etwa den nordamerikanischen Kontinent treffen wird. Auch talistischen „Weltvernichtungsmaschine“, bei der Überfül- die Folgen des Überschreitens von planetarischen Grenzen lung der natürlichen „Senken“ (v. a. für klimaschädliche bei den biologischen Ressourcen und der Übersäuerung der Gase), abzeichnen. Weltmeere – beides scheint kaum noch vermeidbar – wird Der biophysische Blick auf die Ökonomie lehrt zum einen, mit ähnlich einschneidenden Folgen verbunden sein. dass wir nicht Etwas aus Nichts machen können – und daher mit den endlichen Ressourcen zurechtkommen müssen, die in der Erdkruste stecken; und dass wir die erneuerbaren Res- sourcen Land, Wasser und komplexe Biosysteme nur soweit vernutzen können, wie diese sich selbst zu reproduzieren ver- 7. Schlussfolgerungen mögen. Zum anderen lehrt ein solcher Blick, dass unsere Form des Wirtschaftens, der Mobilität, des Wohnens, Konsumierens Ökonomisches Wachstum bedeutet auf jeweils gegebenem und Kommunizierens jede Menge „Abfallprodukte“ erzeugt, technischem Niveau stets wachsenden Ressourcenver- die nicht einfach verschwinden; sie lagern sich als klimaschäd- brauch und wachsende Schadstoffemissionen – auch wenn liche Gase in der Erdatmosphäre oder in den Weltmeeren ab seit Jahren das Lied von der „Entkopplung“ der Ressour- und drohen die planetarischen Grenzen unserer biologischen cen- und der Schadstoffströme vom ökonomischen Wachs- und physikalischen Systeme zu überschreiten. tum gesungen wird (vgl. kritisch Mahnkopf 2012). Unter Wenn indes „Kippschalter“ dieser Systeme aktiviert wer- den Bedingungen kapitalistischer Wettbewerbsdynamik den, kann der Kollaps komplexer Ökosysteme sehr rasch und Profitmaximierung kann es gar nicht anders sein, als eintreten – und er wäre irreversibel. Das Abschmelzen des dass Einsparungen bei Energie- und Rohstoffverbrauch, Grönlandeises und des westarktischen Eisschildes ist einer die sich durch technische Fortschritte erzielen lassen, um- dieser „tipping points“, denn in ihrer Folge wird der Meeres- gehend in vermehrte Produktion umgesetzt werden, selbst spiegel langfristig um mehrere Meter ansteigen; ebenso wie wenn diese zu gewaltigen Überkapazitäten von allem und das Umkippen der thermohalinen Zirkulation im Nordat- jedem führt – von Autos, Informationselektronik und na- lantik die Durchschnittstemperatur in Europa deutlich sen- hezu sämtlichen langlebigen Konsumgütern. Daher ver- ken und zum Austrocknen des Amazonasregenwaldes führen wundert es nicht, dass trotz erheblicher Effizienzsteige- würde. Das wird der Planet verkraften, doch sind die Folgen rungen, die während der letzten Jahrzehnte bei der für die menschliche Spezies unabsehbar: „Eine Aktivierung Verwendung von Energie und Stoffen erzielt worden sind, eines jeden dieser Kippschalter könnte das Habitat, in dem sowohl Ressourcenverbrauch wie Emissionen weiter an- die Menschheit seit dem Holozän lebt, schwer schädigen oder steigen. Eine Dekarbonisierung der Weltwirtschaft um gar zerstören“ (Edenhofer 2012, S. 272). Wie zwei jüngst ver- annähernd 85 % in den Industrie- und ca. 50 % in den öffentlichte US-amerikanische Studien dokumentieren, Entwicklungsländern – wie in dem Vierten Bericht des scheint der „point of no return“ für das Schmelzen des mäch- Intergouvernemental Panel on Climate Change (IPCC) tigen westantarktischen Eisschildes inzwischen überschritten aus dem Jahr 2007 für nötig erachtet, um die globale Er- zu sein (vgl. The Observer vom 17. Mai 2014 und New York wärmung bei 2° bis 2,4°C gegenüber dem vorindustriellen Times vom 30. Mai 2014), und auch der Regenwald des Ama- Niveau stabilisieren zu können, – ist mit den Mitteln des zonas-Gebiets nähert sich – trotz in den letzten Jahren redu- technischen Fortschritts, mit freiwilligem Konsumverzicht zierter Abholzungsraten – in erschreckendem Tempo jenem und einigen Veränderungen der politischen Regulation Punkt, der das System zum Kippen bringen und eine groß- schlichtweg nicht machbar. flächige „Savannisierung“ einleiten könnte. Selbst wenn es auf der Rohstoffseite des Kapitalismus An solchen erdgeschichtlichen Wendepunkten wird sich weder ökonomische noch physische oder geopolitische das kapitalistische „business as usual“ nicht aufrechterhalten Knappheit gäbe, die über kurz oder lang zu elementarem lassen. Allein das mittlerweile nahezu unabwendbare Über- Mangel für wachsende Teile der Weltbevölkerung füh- https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505 5 11 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
AUFSÄTZE ren müsste, auf welchen schwerlich mit bloßer Schicksalsergebenheit re- Marx, K. (1970): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 23, Berlin agiert werden dürfte: Die absoluten Grenzen auf der Schadstoffseite des Moore, J. W. (2010a): “Amsterdam is standing on Norway”, part I: The alchemy of capital, empire and nature in the diaspora of silver, 1545 – 1648, in: Journal Systems lassen sich noch weniger ignorieren. Denn die Deponien für den of Agrarian Change 10 (1), S. 33 – 68 Abfall der nach Prinzipien kapitalistischer Steigerungslogik organisierten Moore, J. W. (2010b): “Amsterdam is standing on Norway”, part II: The global Prozesse der Stoff- und Energietransformation sind schlichtweg voll. Wer- North Atlantic in the ecological revolution of the long seventeenth century, in: den die bereits heute eingepreisten fossilen Energiereserven tatsächlich Journal of Agrarian Change 10 (2), S. 188 – 227 gefördert und verbrannt, ist ein Anstieg der Erdmitteltemperatur um 4° Moore, J. W. (2012): Crisis: Ecological or world-ecological?, in: Wiedemann, C./ Zehle, S. (Hrsg.): Depletion design: A glossary of network ecologies, S. 73 – 78 bis 5°C unvermeidlich. Mórrigan, T. (2010): Peak energy, climate change and the collapse of global Daher hängt letztlich alles davon ab, ob es innerhalb der kurzen Zeit- capitalism, University of California, Santa Barbara, http://energyskeptic. spanne von zwei bis drei Jahrzehnten gelingen wird, unsere sozialen und com/2012/tariel-morrigan-peak-energy-climate-change-and-the-collapse-of- ökonomischen Systeme so radikal umzubauen, dass der Ressourcenver- global-civilization/ brauch und die Schadstoffproduktion, die mit den spezifisch kapitalistischen Pikkety, T. (2014): Capital in the twenty-first century, Cambridge/Mass. Radkau, J. (1983): Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, Formen des Wirtschaftens, der Mobilität, des Wohnens, des Konsumierens in: Geschichte und Gesellschaft 9 (4), S. 513 – 543 und der Kommunikation verbunden sind, innerhalb der planetarischen Radkau, J. (2008): Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, Grenzen von biologischen und physikalischen Systemen bleiben. Gelingt Frankfurt a. M. dies nicht, dann erledigt sich die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus Rockström, J. et al. (2009): Planetary boundaries: Exploring the safe operating space for humanity, in: Ecology and Society 14 (2), http://www.ecologyandsociety. als eines weltökologischen Systems auf eine erdgeschichtlich radikale Wei- org/vol14/iss2/art32/ se. Denn es werden unter diesen Bedingungen nicht nur der Welthandel Rogers, D. (2013): Shale and Wall Street: Was the decline in natural gas prices und die Zerstreuung der Produktion über den ganzen Globus ein Ende orchestrated? Energy policy forum, http://energypolicyforum.org/portfolio/ finden. Es würde sich ein derart großes Katastrophenpotenzial aufbauen, was-the-decline-in-natural-gas-prices-orchestrated/ dass große Bereiche menschlicher Zivilisation schlichtweg kollabieren könn- Sieferle, R.-P. (1982): Der unterirdische Wald. Energiekrise und industrielle Revolution, München ten. Gemessen an dieser Perspektive erscheint eine sozialgeschichtlich ra- Sombart, W. (1987): Der moderne Kapitalismus, Endgültige Auflage, Paperback- dikale Wende als ein zwar schwieriges, gleichwohl aber überlebensnotwen- Reprint, 3 Bde., München diges Projekt. Eine Wende, die dafür sorgt, dass Öl, Gas und Kohle im United Nation Development Program (UNDP) (2014): Humanity divided: Boden bleiben und Desinvestment bei den fossilen Energieträgern wie auch Confronting inequality in developing countries, New York bei vielen anderen Rohstoffen politisch erzwungen wird – und folglich ökonomisches Wachstum sich wieder auf jenes homöostatische Gleichge- wicht einpendelt, das für Jahrtausende menschlicher Zivilisation auf dem Planeten charakteristisch war. AUTORIN BIRGIT MAHNKOPF, Dr. habil., ist Professorin für Europäische Gesellschaftspoli- tik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) und Mitglied des Institu- te for International Political Economy Berlin (IPE Berlin). Arbeitsschwerpunkte: LITER ATUR Ökonomische, soziale und politische Dimensionen der Globalisierung; Politi- sche Ökonomie der europäischen Integration; Arbeitssoziologie und Industri- Acemoglu, D./Robinson, J. A. (2012): Why nations fail: The origin of power and elle Beziehungen; Bildungs- und Gesellschaftspolitik. prosperity, New York Altvater, E. (2005): Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, Münster mahnkopf@hwr-berlin.de Altvater, E. (2014): Anthropozän. Steigerungsformen einer zerstörerischen Wirtschaftsweise, in: Emanzipation 3 (1), S. 71 – 88 Bardi, U. (2013): Der geplünderte Planet. Die Zukunft des Menschen im Zeitalter schwindender Ressourcen, München Crutzen, P. (2002): Geology of mankind. The anthropocene, in: Nature (415), S. 3 Davis, M. (2007): Planet der Slums, Berlin Dreze, J./Sen, A. (2013): An uncertain glory: India and its contradictions, Princeton Edenhofer, O. 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Folgen der sozial- ökologischen Krise für die Dynamik des historischen Kapitalismus: DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften, Working Paper 02/2013, Jena, http://www.kolleg-postwachstum.de/sozwgmedia/dokumente/ WorkingPaper/wp2_2013.pdf 512 https://doi.org/10.5771/0342-300X-2014-7-505 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 23.10.2021, 16:13:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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