Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
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Heft 2/3-2017, 67. Jahrgang Thema im Folgeheft: »Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale Frankreich für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Direktor der Landeszentrale Lothar Frick Redaktion Prof. Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de Inhaltsverzeichnis Redaktionsassistenz Barbara Bollinger, barbara.bollinger@lpb.bwl.de Karl-Rudolf Korte Die Bundestagswahl 2013 – Stabile Ambivalenz und ein halber Macht- Anschrift der Redaktion Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart wechsel .......................................................................................... 92 Telefon: 07 11/16 40 99-44 Frank Decker Fax: 07 11/16 40 99-77 Aktuelle Entwicklungen in der Parteienlandschaft ............................. 98 Herstellung Schwabenverlag Media Eckhard Jesse der Schwabenverlag AG Die deutsche Koalitionsdemokratie ............................................. .....107 Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Klaus Detterbeck Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74 Parteien und ihre Aufgaben in der Demokratie ..................................116 Gestaltung Titel VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart Axel Murswieck Vier Jahre Schwarz-Rot: eine Bilanz ................................................122 Gestaltung Innenteil Schwabenverlag Media Andrea Römmele der Schwabenverlag AG Konkurrenten um die Kanzlerschaft .................................................132 Vertrieb Jo Berlien Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm Stadt, Land, Bund: Herr T. kandidiert – Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24 und will endlich Minister werden ................................................. .....141 www.suedvg.de Frank Brettschneider Druck Wahlkampf: Funktionen, Instrumente und Fake News .........................146 Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Dieter Roth Wahlforschung und ihre Instrumente .......................................... .....154 Preis der Einzelnummer 3,33 EUR. Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung. Uwe Andersen Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit Bundestagswahlen: 1949 bis 2013 .............................................. .....162 dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Kundennummer an. Buchbesprechungen .........................................................................180 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek- tronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Titelfoto: picture alliance/dpa Auflage dieses Heftes: 15.000 Exemplare Redaktionsschluss: 25.03.2017 ISSN 0007-3121 Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.buergerimstaat.de
Am 24. September 2017 findet die 19. Bundestagswahl statt. Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten konkurrieren im Vorfeld der Bundestagswahl um den Einzug in den Deutschen Bundestag. picture alliance/dpa 89
Bundestagswahl 2017 Die Wahl zum 19. Bundestag findet am 24. September mungswerte verzeichnen. Die FPD erholte sich während- 2017 statt. Diese Wahl ist die politische Grundentschei- dessen mühsam und geht mit leichtem Rückenwind in den dung, mit der die Wählerinnen und Wähler für die vierjäh- Wahlkampf. Mit dem parlamentarischen Einzug der AfD in rige Legislaturperiode die politische Machtverteilung auf den Bundestag dürfte sich das Parteiensystem insgesamt Bundesebene bestimmen. Die Bundestagswahl 2017 wird nach rechts verschieben. aus mehreren Gründen spannend: Wie werden Angela Deutschland ist eine Koalitionsdemokratie. Deshalb ist Merkel (CDU) und Martin Schulz (SPD) abschneiden? Wer nicht nur der Ausgang der Wahlen wichtig, sondern auch von den beiden wird das Rennen machen? Wer wird mit die jeweilige Koalitionsaussage der Parteien. Bei den Bun- welcher Partei bzw. mit welchen Parteien koalieren und die destagswahlen legen sich die Parteien in der Regel vor der Regierung bilden? Sollten die AfD und die wieder erstarkte Wahl auf einen Partner fest. Nach der Bundestagswahl FDP im 19. Bundestag vertreten sein, wird die Koalitionsbil- 2013 gaben SPD und Grüne allerdings eine prinzipielle dung unter den Bedingungen eines Sechsparteiensystems Bündnisoffenheit bekannt. Bei den Landtagswahlen be- wohl schwierig werden. stimmte nicht die jeweilige bundespolitische Konstellation Die sinkende Wahlbeteiligung der Bürgerinnen und Bür- die Bildung der Koalitionen. Die in den Ländern gebildeten ger, die hohen Schwankungen im Wahlverhalten sowie Koalitionen seit der Bundestagswahl 2013, die von Eckhard der Umstand, dass sich das bundesdeutsche Parteiensys- Jesse analysiert werden, sind höchst unterschiedlich zu- tem im Jahr 2017 durch schwächer gewordene Volkspar- sammengesetzt, bedingt nicht zuletzt durch das Aufkom- teien auszeichnet, lassen den Wahlausgang nur schwer men der weder koalitionswilligen noch koalitionsfähigen vorhersagen. AfD. Wenngleich der Ausgang von Landtagswahlen und Wenn Wahlen einer Bilanz gleichkommen, in der die „Leis- die Bildung der Koalitionen in den Ländern keineswegs tungen“ der Bundesregierung bewertet werden, stellt sich eine Blaupause für den Bund sein muss, kann eine schwarz- die Frage, was seit der letzten Bundestagswahl im „politi- grüne Koalition (Hessen) ebenso ein Signal für den Bund schen Gedächtnis“ haften blieb. Im Rückblick lässt sich die sein wie ein rot-rot-grünes Bündnis (Berlin) oder eine Bundestagswahl am 22. September 2013 mit „Merkel plus schwarz-gelbe Konstellation (wie jüngst in Nordrhein- X“ treffend beschreiben. Die Bundestagswahl 2013 war Westfalen). Vor der Bundestagswahl 2017 schließt die SPD eine ausgeprägte Persönlichkeitswahl, die Angela Merkel erstmals ein Bündnis mit der Partei Die Linke nicht katego- aufgrund hoher Zustimmungswerte überzeugend gewann. risch aus. Und die Grünen halten eine Koalition nicht nur Indem jeweils ein Koalitionspartner aus der vorhergehen- mit der Union für möglich (wie bereits 2013), sondern ver- den Regierung einen Teil der neuen Regierung stellte, kam werfen auch nicht generell ein schwarz-grün-gelbes Bünd- es – so Karl-Rudolf Korte – zu einem „halben Machtwech- nis (zum ersten Mal). Selbst die Liberalen sind von ihrer sel“. Das Parteiensystem blieb 2013 durchaus stabil. Abge- langjährigen Fixierung auf die Union abgerückt. sehen vom desaströsen Wahlergebnis der FDP legten die Parteien sind selten beliebt, für die Willensbildung in re- Volksparteien zu, neue Parteien hingegen hatten keine präsentativen Demokratien aber unverzichtbar. Klaus Det- Chance. Das Wahlergebnis erlaubt mehrere Schlüsse: Die terbeck geht der Frage nach, warum Parteien häufig einen Wählerinnen und Wähler honorierten den konsensorien- schlechten Ruf haben. Angemessen beurteilen kann man tierten, präsidentiell-überparteilichen und lagerübergrei- dies nur, wenn man die Aufgaben und Funktionen betrach- fenden Regierungsstil der Kanzlerin, die sich als Krisenlot- tet, die Parteien in einer Demokratie eigentlich zukommen. sin ihre Meriten verdient hatte. Ihr hartnäckiges sowie er- Parteien erfüllen mehrere Aufgaben, ob es sich nun um die folgreiches Krisenmanagement im Euroraum war ein Repräsentation gesellschaftlicher Interessen, die Bildung weiteres Plus. Mit ihrem Politikstil, pflichtbewusst der Sache von Regierung und Opposition oder um die parlamentari- und dem Amt zu dienen und sich selbst nicht wichtig zu sche Arbeit handelt. Bei der Betrachtung, wie gut oder nehmen, konnte sie bei den Wählerinnen und Wählern schlecht Parteien diese Aufgaben erfüllen, finden sich An- punkten. haltspunkte für die Parteien- und Politikverdrossenheit. Die Bundestagswahl 2017 wird aus mehreren Gründen Gleichwohl sind Parteien zentrale Akteure moderner, re- spannend: Wie werden die Konkurrenten um die Kanzler- präsentativer Demokratien. Daraus lassen sich Forderun- schaft abschneiden? Da sich der Wahlausgang nur schwer gen an die Parteien selbst ableiten, sich bestimmten Auf- vorhersagen lässt, wird die Koalitionsbildung voraussicht- gaben wieder verstärkt zuzuwenden. Dies erfordert umge- lich ein schwieriges Unterfangen. Sollte die AfD im 19. Bun- kehrt aber auch, dass Bürgerinnen und Bürger verstehen, destag vertreten sein, sind mehrere Koalitionsmodelle wie Parteien mit vielfältigen und oft widersprüchlichen In- denkbar. Frank Decker skizziert vor diesem Hintergrund die teressen und Erwartungen, die das politische Handeln er- aktuellen Entwicklungen in der Parteienlandschaft, die vor schweren, konfrontiert werden. allem durch die rechtspopulistische AfD einen bedeutsa- Nachdem die längste Regierungsbildung in der Ge- men Einschnitt erfahren hat. War die politische Stimmung schichte der Bundesrepublik Ende 2013 abgeschlossen in der Bundesrepublik bis Mitte 2015 „eingefroren“, än- war, gab es mit Blick auf einen neuen programmatischen derte sich dies ab August 2015 schlagartig. Durch den Aufbruch kaum Erwartungen. Der Regierungsbeginn der plötzlichen Zuzug von Flüchtlingen verloren die Regie- schwarz-roten Koalition verlief wenig ambitioniert. Nicht rungsparteien merklich an Zustimmung. Hingegen schnell- zuletzt aufgrund sozio-ökonomischer Rahmendaten war ten die Zustimmungswerte der AfD unvermittelt nach oben, die Zwischenbilanz der ersten beiden Regierungsjahre so dass wohl mit einer mittelfristigen Etablierung der durchaus positiv. Seit September 2015 dominierten aller- rechtspopulistischen Partei zu rechnen ist. Grüne und Linke dings unvorhergesehene, sich überlagernde Krisen das konnten im Zeitraum von 2013 bis 2017 konstante Zustim- Regierungshandeln. Vor allem die Flüchtlingspolitik ist bis 90
heute ein ungelöstes innen- und außenpolitisches Problem. von Stammwählern ist die optimale Passung zwischen The- In der Gesamtschau ergibt sich Ende Mai 2017, so das Ur- menmanagement, Kandidatenimage und Wahlkampftak- teil von Axel Murswieck, mit Bezug auf die Zielsetzungen, tik ein zentraler Bestandteil der Planungsphase. Die Um- Leistungen und politischen Problemlösungen eine ge- setzungsphase meint die eigentliche Wahlkampagne, die mischte und widersprüchliche Bilanz. Dennoch gelten der aus traditionellen Wahlkampfinstrumenten (Wahlplaka- Führungsstil und die Führungsfähigkeit von Angela Merkel ten, Straßenwahlkampf, Medienarbeit) sowie aus Online- als angemessen. Mögliche Vetospieler hatten auf die Re- Instrumenten (Soziale Medien und Soziale Netzwerke) be- gierungstätigkeit der vergangenen vier Jahre keinen gra- steht und vor der Wahl hochtourig um die Wählergunst vierenden Einfluss. Der Führungsanspruch der Kanzlerin buhlt. Eine Besonderheit der jüngsten Zeit sind Fake News, wurde nicht zuletzt durch personalpolitische Entscheidun- die seit dem US-Präsidentschaftswahlkampf auch hierzu- gen und das Bundeskanzleramt gewährleistet. lande immer mehr Verbreitung finden. Vor allem rechtspo- Politische Botschaften werden seit jeher mit einem „Ge- pulistische Kreise bringen aus wahltaktischen Gründen sicht“, d. h. mit einer konkreten Person verknüpft. Bei Wah- nicht selten Fake News in Umlauf, um Ängste und Unsicher- len rücken die Spitzenkandidaten deshalb vermehrt ins heiten zu schüren. Rampenlicht. Die Debatte um die Personalisierung von Wahlforschung erscheint vielen als ein Buch mit sieben Wahlkämpfen ist seit geraumer Zeit ein Gegenstand der Siegeln. Was hat es mit den oft zitierten und neuerdings politikwissenschaftlichen Forschung. Andrea Römmele er- immer öfter angezweifelten Daten der Wahlforschung auf örtert am aktuellen Beispiel des Bundestagswahlkampfes sich? Wer sind die Nachfrager und Nutznießer? Wie ver- 2017 zwischen der amtierenden Bundeskanzlerin Angela antwortungsvoll gehen sie mit den Daten und Ergebnissen Merkel und Martin Schulz, dem Spitzenkandidaten der um? Wahlforschung ist zunächst eine akademische Diszip- SPD, zentrale Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen lin, der es darum geht, mit nachvollziehbaren Verfahren (Wahl-)Forschung. Eingangs wird der Begriff der Persona- den Vorgang der Wahlentscheidung sorgfältig zu analy- lisierung mittels dreier Dimensionen präzisiert. Daran an- sieren. Seriöse Wahlforscher arbeiten theoriegeleitet und schließend werden die beiden Spitzenkandidaten der wenden Instrumente und Methoden der empirischen Sozi- Bundestagswahl 2017 genauer analysiert: Wo liegen ihre alforschung an. Die Resultate der Wahlforschung werden Stärken und Schwächen? Welche Themen favorisieren und durch die Medien einem breiten Publikum zugänglich ge- präsentieren sie? Und schließlich geht es um die Frage, macht, dabei jedoch popularisiert und häufig als „politi- welche Rolle Kandidaten in den unterschiedlichen Model- sche Stimmungsdaten“ für Prognosezwecke benutzt. Die len der Wahlentscheidung spielen und wie es um die Ge- Fragestellungen der Wahlforscher hingegen sind retros- wichtung von Parteiidentifikation, Themen und Personen pektiv. Sie wollen eine Antwort auf die Frage geben: Wer beim Wahlentscheid bestellt ist. hat wen gewählt und warum? Vor dem Hintergrund dieser Der Journalist Jo Berlien skizziert den steinigen Weg zum Fragestellungen erläutert Dieter Roth Intentionen, Theorien, Ministeramt, indem er den Werdegang eines Berufspoliti- Instrumente und Methoden der Wahlforschung, benennt kers – im Text schlicht „Herr T.“ genannt – exemplarisch aber auch Probleme der vorschnellen und fehlerhaften In- analysiert. Dass Herr T. dem 19. Deutschen Bundestag an- terpretation von Daten. gehören wird, gilt als ausgemacht. Herr T. war Gemeinde- Betrachtet man die Bundestagswahlen von 1949 bis 2013, rats- und Kreistagsmitglied, jüngster Oberbürgermeister zeigen sich über die Zeit hinweg Konstanten und Verän- Deutschlands und Landtagsabgeordneter; er ist Europa- derungen. Die einzelnen Bundestagswahlen haben die abgeordneter und Ausschussvorsitzender in Brüssel, Lan- politische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland desvorsitzender seiner Partei und mittlerweile 50 Jahre alt. sowohl geprägt als auch gespiegelt. Uwe Andersen gibt Dass er noch nicht MdB ist, wirkt wie ein Versehen. Ist es einen zeitgeschichtlichen Überblick über die Bundestags- natürlich nicht im internen Konkurrenzwettbewerb. Herr T. wahlen von 1949 bis 2013. Er skizziert die einzelnen Bun- wurde 2004 nicht Minister im Land. 2009 bekam er auf der destagswahlen, bettet sie in den jeweiligen zeitgeschicht- Liste zur Europawahl einen wenig attraktiven achten Platz lichen Kontext ein und benennt die gesellschaftlich bzw. zugewiesen – als einer von Zwölfen rutschte er nach Brüs- politisch prägenden Kräfte. Ein besonderes Augenmerk sel. Und gehörte somit nicht dem engeren Kreis der so un- wird dabei auf die sogenannten Schlüsselwahlen (1949, glücklich agierenden wie ungeliebten Berliner Führungs- 1969, 1990) gerichtet. Die Charakterisierung der einzelnen riege an. Unbelastet wirft er sich erneut in den Kampf. Als Bundestagswahlen berücksichtigt das politische Umfeld, Mann der Mitte gibt er sich nach rechts wie links offen. die wahlrechtlichen Rahmenbedingungen, die wichtigsten Diesmal soll es klappen mit dem Ministeramt. Aspekte des Wahlergebnisses sowie die Auswirkungen, In Wahlkämpfen wird nichts dem Zufall überlassen. Zeitge- insbesondere die Regierungsbildung. Abschließend wer- mäßes und systematisches Wahlkampfmanagement setzt den einige langfristige Tendenzen (Wahlbeteiligung und sich aus mehreren Einzelschritten (Analyse, Planung, Um- Wahlverhalten, die Veränderung der Parteienlandschaft, setzung und Evaluation) zusammen. Frank Brettschneider er- die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag sowie Konstan- örtert entlang dieser Phasen die unterschiedlichen Facet- ten und Veränderungen in der Regierungsbildung) aufge- ten der politischen Kommunikation, die Bestandteile eines zeigt. jeden Wahlkampfes sind. In der Analysephase werden von Allen Autorinnen und Autoren, die wesentlich zum Entste- professionellen Wahlkampfstäben Einstellungen und The- hen des Heftes beigetragen haben, sei an dieser Stelle menpräferenzen verschiedener Wählergruppen eruiert. gedankt. Dank gebührt auch dem Schwabenverlag für die Angesichts einer fragmentierten Wählerschaft, abneh- stets gute und effiziente Zusammenarbeit. mender Parteiidentifikation und einem sinkenden Anteil Siegfried Frech 91
DIE BUNDESTAGSWAHL 2013 IM RÜCKBLICK Die Bundestagswahl 2013 – Stabile Ambivalenz und ein halber Machtwechsel Karl-Rudolf Korte Typus eines „halben“ Machtwechsels ist der Favorit in Im Rückblick lässt sich die Bundestagswahl am 22. Sep- Deutschland (Korte 2013a). tember 2013 mit „ Merkel plus X“ wohl treffend beschrei- ben. Die Bundestagswahl 2013 war eine ausgeprägte Persönlichkeitswahl, die Angela Merkel aufgrund extrem Wahlkampf und Wahlergebnis hoher Zustimmungswerte überzeugend gewann. Indem jeweils ein Koalitionspartner aus der vorhergehenden Unerwartet legten die Volksparteien in der Wählergunst Regierung einen Teil der neuen Regierung stellte, kam es zu. Sie profitierten erstmals seit 2002 wieder von Stimmen- – so Karl-Rudolf Korte – zu einem „halben Machtwech- zuwächsen. Dass die Stimmengewinne der einen nicht zu sel“. Das Parteiensystem blieb 2013 durchaus stabil. Ab- Lasten der anderen Volkspartei gingen, sondern beide gesehen vom desaströsen Wahlergebnis der FDP legten zeitgleich zulegten, trat zuletzt bei der Bundestagswahl die Volksparteien zu, neue Parteien hingegen hatten 1965 ein (Bundeswahlleiter 2013: 10). Angela Merkel keine Chance. Das Wahlergebnis erlaubt nun mehrere siegte 2013 in historischen Ausmaßen. Zeitweilig schien Schlüsse: Die Wählerinnen und Wähler honorierten den am Wahlabend sogar eine absolute Mehrheit möglich, konsensorientierten, präsidentiell-überparteilichen und wie es bislang lediglich Konrad Adenauer 1957 gelang. lagerübergreifenden Regierungsstil der Kanzlerin, die Nur Adenauer und Helmut Kohl schafften es zudem, nach sich als Krisenlotsin ihre Meriten verdient hatte. Ihr einer Bundestagswahl zum dritten Mal wiedergewählt zu hartnäckiges und erfolgreiches Krisenmanagement im werden. Merkel ist die erste Kanzlerin, die drei Legislatur- Euroraum war ein weiteres Plus. Neben der ökonomi- perioden in Folge mit jeweils anderen Koalitionspartnern schen Kompetenz ist es der Union gelungen, Fortschritt, eine Regierung bilden konnte: Schwarz-Rot, Schwarz- Modernisierung und Konservatismus bei gleichzeitigem Gelb, Schwarz-Rot. Doch die Große Koalition von 2005 ist Erhalt des Wohlstandsniveaus zu repräsentieren. Die mit der von 2013 nur formal vergleichbar. Damals trennten Popularität der Kanzlerin lässt sich nicht nur durch die Union und SPD nur knapp 440.000 Stimmen. Diesmal war Meinungsführerschaft bei „weichen“ Themen erklären. der Abstand mit beinahe sieben Millionen Stimmen deut- Mit ihrem Politikstil, pflichtbewusst der Sache und dem lich größer und die Koalition erwartbar, denn erstmals in Amt zu dienen und sich selbst nicht wichtig zu nehmen, der Geschichte der Wahlumfragen wünschten sich die konnte sie bei den Wählerinnen und Wählern erneut Wählerinnen und Wähler mehrheitlich die Große Koali- punkten. tion (Jung/Schroth/Wolf 2015). Es zogen überraschend wenige Parteien in den Bundestag ein: Union, SPD, Linke, Grüne. Die Großen sind diesmal größer geworden, aber in einer asymmetrischen Vertei- Die Bundestagswahl 2013 unter den Bedingungen lung, denn der Abstand zwischen Union und SPD entspricht stabiler Ambivalenz dem traditionellen Verständnis von Koalitionspartner- schaften: kleine Parteien (in diesem Fall die SPD) verhelfen „Merkel plus X“ – so stellte sich für die meisten Wählerin- großen Volksparteien zur notwendigen Mehrheit. Nach nen und Wähler die Wahloption für die Bundestagswahl der Großen Koalition 2009 schrumpften die Großen er- am 22. September 2013 dar.1 Über viele Monate hinweg wartungsgemäß und die Kleinen feierten Superlative. zeichnete sich für keines der beiden traditionellen Lager Das außerparlamentarische Parteiensystem zeigte sich von Union und FDP auf der einen sowie SPD und Bündnis asymmetrisch aufgeladen und bunt (Decker 2015; Nieder- 90/Die Grünen auf der anderen Seite eine eigene Mehr- mayer 2015; Korte 2015b): Das sogenannte bürgerliche heit ab. Die extrem hohen und stabilen lagerübergreifen- Lager vertreten die Unionsparteien und die Liberalen. den Zustimmungswerte für die Kanzlerin machten die Auch die Alternative für Deutschland (AfD) versuchte sich Bundestagswahl dieses Mal zu einer ausgeprägten Perso- hier zu verorten. Alle anderen Parteien sind deutlich kleiner nenwahl: Angela Merkel (CDU) fungierte als Orien tie- und eher links von der Mitte positioniert. Diese linke Grup- rungs autorität in Zeiten relativer Zufriedenheit. Ihr Heraus- pierung hat rechnerisch die Mehrheit im Bundestag. Das forderer Peer Steinbrück (SPD) konnte dieser Grundstim- Parteiensystem erwies sich gleichzeitig vital, robust, be- mung nur wenig entgegensetzen. lastbar: Neue Parteien hatten sichtbar eine Chance. Zwar Die Kanzlerin triumphierte im Parteienwettbewerb: Die konnten die Piraten nicht ihre Erfolge bei den Landtags- hohe Zufriedenheit mit ihrer Leistung stand im Kontrast zu wahlen für den Bundestag umsetzen. Doch der neu ge- einer ausgeprägten Unzufriedenheit mit der FDP. Offenbar gründeten AfD gelang es beinahe, sich zu parlamentari- lag nur ein partieller Wechselwunsch vor. So kam es zum sieren. Alte Parteien gehen scheinbar unter, wenn sie keine dosierten Machtwechsel, bei dem kontinuitätsverbürgend gesellschaftlichen Grundkonflikte mehr ausreichend ab- jeweils ein Koalitionspartner aus der vorhergehenden Re- bilden, wie es sich bei der FDP aus Wählersicht offensicht- gierung auch einen Teil der neuen Regierung stellt. Dieser lich darstellte. 92
Während die Sozialdemokraten trotz leichter Stimmenzu- DIE BUNDESTAGSWAHL 2013 – wächse das zweitschlechteste Bundestagswahlergebnis STABILE AMBIVALENZ UND EIN HALBER MACHTWECHSEL ihrer Geschichte hinnehmen mussten, feierte die Union ih- ren Kantersieg. Die ehemals mittelgroßen Parteien haben hingegen an Stimmen verloren. Desaströs war das Wahl- gliedern, die in der Regel nur sehr schwer zu integrieren ergebnis vor allem für die FDP: Mit ihren 4,8 Prozent ver- sind. Auch der Erfolg von sogenannten „Defizit-Parteien“ fehlte sie den Einzug in den Bundestag um nur 90.000 Stim- wie der AfD, welche die sichtbare Lücke im Themenhaus- men. Die Liberalen waren nach der Wahl erstmals nicht im halt der anderen Parteien ausgleichen (Nestler/Rohgalf Parlament vertreten – ein existenzieller Schock für die Par- 2014), zeugt von der Vitalität des deutschen Parteiensys- tei. An der Sperrklausel scheiterte ebenfalls die AfD, die tems, das dennoch nach wie vor mittezentriert und durch mit ihrer Anti-Euro-Programmatik allerdings auf Anhieb 4,7 moderaten Pluralismus geprägt ist. Ergänzt durch eine Prozent der Wählerstimmen erhielt. wachsende Volatilität am Wählermarkt bleiben insofern Niemals zuvor konnte eine Partei in nur sechsmonatiger Chancen für Neugründungen – aber gleichsam auch für Gründungsgeschichte fast den Einzug in den Deutschen kurzfristige Auf- und Abstiege der etablierten Parteien. Bundestag schaffen. Die Besonderheit der AfD lag somit im Tempo der Parteiwerdung, die bis zum Stichtag der Anmel- In der Gesamtschau des Wahlergebnisses vom 22. Sep- dung für die Bundestagswahl in allen Bundesländern ge- tember 2013 stechen die folgenden Besonderheiten deut- lang. Vielleicht war aber auch genau diese spezifische Dy- lich hervor (Korte 2015a; Hilmer/Merz 2014; Jesse 2014): namisierung eine Erklärung für das Wahlergebnis, denn l Merkel siegte 2013 in historischen Ausmaßen. Zeitweilig für Parteineugründungen ist der Zeitkorridor zwischen Auf- schien am Wahlabend sogar eine absolute Mehrheit für merksamkeit und Verfall immer schmal. Am Beginn domi- die Unionsparteien möglich, wie es bislang lediglich niert die Aufmerksamkeit der Medien überproportional. Im Konrad Adenauer 1957 gelang. Zeitverlauf ziehen solche Neugründungen aber auch sehr l Wie Merkel schafften es nur Adenauer und Kohl, nach viele Mitglieder an, die aus Unzufriedenheit mit anderen einer Bundestagswahl mindestens dreimal gewählt zu Parteien die Mitgliedschaft wechseln. Magnetisch ent- werden. steht ein Sog in Richtung von protestorientierten Neumit- 2,5 2 1,5 1 0,5 Regierung 0 CDU/CSU 27.11.2009 27.11.2010 27.11.2011 27.11.2012 -0,5 FDP -1 Abbildung 1: -1,5 Zufriedenheit mit der -2 Bundesre gierung und den einzelnen Koalitions- -2,5 partnern (-5 bis +5) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer. 100 90 80 70 60 50 40 Merkel 30 Steinbrück 20 10 0 Abbildung 2: Bundeskanz- ler-Präferenz (in Prozent) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer. 93
Karl-Rudolf Korte l Erstmals seit 2002 profitierten die Volksparteien wieder Das Politisch-Romantische am Wahlergebnis von Stimmenzuwächsen. Dass die Stimmengewinne der einen Volkspartei nicht zu Lasten der anderen Volkspar- Die Bundesrepublik Deutschland ist eine verhandelnde tei gingen, sondern beide zeitgleich zulegten, trat zu- Wettbewerbsdemokratie (Korte/Fröhlich 2009: 75–81), letzt bei der Bundestagswahl 1965 ein. die sich politisch-kulturell als Schlichtungs- und Konsens- l Während Union und SPD in der 2005 gebildeten zwei- demokratie präsentiert. Wahlen werden entsprechend im- ten Großen Koalition nur knapp 440.000 Stimmen trenn- mer in der politischen Mitte gewonnen. Konfliktscheu und ten, war der Abstand dieses Mal mit knapp sieben Milli- parteienkritisch zeigen sich viele Deutsche. Umgekehrt fa- onen Stimmen deutlich größer. vorisieren sie Überparteilichkeit. Machtworte sind in der l Nach der Wahl sind lediglich vier Fraktionen im Deut- Bevölkerung ebenso populär wie präsidentielle Harmonie. schen Bundestag vertreten: CDU/CSU, SPD, Linke und Diese politisch-kulturelle Spielart von politischer Romantik Bündnis 90/Die Grünen. und Innerlichkeit hat eine große Tradition in Deutschland. l Mit 4,8 Prozent verfehlte die FDP den Einzug in den Bun- Sie findet sich auch als ein Erklärungsmuster für das Wahl- destag um nur 90.000 Stimmen. Die FDP ist erstmals ergebnis. nicht im Parlament vertreten. Da steht zunächst die Kanzlerin mit ihrem Regierungsstil ei- l An der Sperrklausel scheiterte ebenfalls die Anfang ner Kanzlerpräsidentin im Interessenfokus (Korte 2010; 2013 gegründete AfD, die jedoch auf Anhieb 4,7 Prozent Korte/Switek 2013): Sie agierte wie bereits in ihrer ersten der Wählerstimmen erhielt. Amtszeit als Kanzlerin meist präsidentiell-überparteilich, or- l Knapp sieben Millionen Wählerstimmen (15,7 Prozent) ganisiert lagerübergreifende (Fast-)Allparteienmehrheiten fielen der Fünfprozenthürde zum Opfer; so viele wie bei im Bundestag, erscheint in Finanzfragen als Krisenlotsin und keiner Wahl zuvor. zeigt sich extrem pragmatisch in der Aneignung von Lö- l Immer mehr Wählerinnen und Wähler nutzen die Brief- sungsideen aus dem parteipolitisch gegnerischen Lager. wahl. Ihr Anteil stieg von 21,4 Prozent (2009) auf 24,3 Zum Politisch-Romantischen am Ergebnis gehört letztlich Prozent (2013). auch der immerwährende Wunsch nach einer Großen Ko- l Die Zahl der Wechselwähler stieg leicht an. Während alition als dem Abbild eines heiligen Grals in der Mitte der ihr Anteil bei der Bundestagswahl 2009 noch bei 31 Pro- Gesellschaft. Das ist extremer Ausdruck einer Konsensge- zent lag, gab diesmal ein Drittel der Wählerinnen und sellschaft, die das Überparteiliche höher bewertet als den Wähler einer anderen Partei die Zweitstimme als bei der Interessenkonflikt. Letztlich steckt auch in den hohen Zu- vorherigen Bundestagswahl. stimmungswerten für die AfD ein Stück Romantik. Denn l Seit 1998 ist die Wahlbeteiligung erstmals gestiegen. diese Partei galt bei der Bundestagswahl 2013 als reine Mit 71,5 Prozent war sie zwar etwas höher als 2009 Professorenpartei. Der Wunsch nach einer Expertokratie, (70,8 Prozent), aber immer noch deutlich geringer als bei die ausschließlich wissensbasiert – und eben nicht partei- vorherigen Wahlen zum Deutschen Bundestag. politisch – entscheidet, hat romantische Züge. Der Wahlkampf in Deutschland hat die Grundmelodie der Schlichtungsdemokratie übernommen, was aber auch mit einem gewachsenen Grad an Medienverdrossenheit der Tabelle 1: Wahlentscheidung in sozialen Gruppen (Wahltagsbefragung 2013, Zweitstimmen in Prozent) CDU/ SPD FDP LINKE GRÜNE AfD CSU Gesamt 41,5 25,7 4,8 8,6 8,4 4,7 ALTER 18–29 Jahre 34 24 5 10 8 6 30–44 Jahre 41 22 5 10 8 5 45–59 Jahre 39 27 5 10 9 5 60 Jahre und älter 49 29 5 4 8 4 BILDUNG Hauptschule 46 30 3 7 4 3 Mittlere Reife 43 25 4 10 6 6 Abitur 39 24 5 8 12 5 Hochschule 37 23 7 9 15 5 BERUFSGRUPPE Arbeiter 38 30 3 12 5 5 Angestellte 41 27 5 8 10 5 Beamte 43 25 6 5 12 5 Selbstständige 48 15 10 7 10 6 Landwirte 74 7 6 4 4 1 Quelle: Forschungsgruppe Wahlen. 94
Bürger zusammenhängt. Die Depolarisierung (Schoofs/ DIE BUNDESTAGSWAHL 2013 – Treibel 2014) korrespondierte mit einer Empörungsver- STABILE AMBIVALENZ UND EIN HALBER MACHTWECHSEL weigerung der Deutschen. Journalisten ereiferten sich über Trivialitäten und erreichten damit nur noch sich selbst. Selbstrefenziell verlief der mediale Wahlkampf gerade fähigen Mobilisierungserfolgen führen soll (Lotz 2013). auch deshalb, weil journalistisches Schwarmverhalten un- Letztlich wurde das Resilienzmanagement der Kanzlerin ter digitalen Bedingungen tendenziell deutlich zugenom- honoriert bzw. ihr die Aura dazu unterstellt: Gleichgültig men hat (Pörksen 2013). Die politische Öffentlichkeit war welcher Krisenabstieg drohen könnte, mit Merkel geht es selten so gespalten wie diesmal: Die Medien beschäftigten im Aufwärtstrend irgendwie immer weiter – so die Wähler- sich mit dem Versuch, Skandale zu beflügeln. Das Publikum einschätzung. strömte zu den Veranstaltungen und diskutierte interessiert entlang der vielen Unterschiede zwischen den Parteien. Ein Klima der Zufriedenheit hat immer den Nachteil, dass Das Europäische am Wahlergebnis politische Kontroversen eher gedämpft diskutiert werden. Berufsempörung hatte aber nichts mit Empörung des Publi- Europa hat die Wahl entschieden: Da sich keine der etab- kums zu tun. Es stimmt, dass kein Thema der Parteien wirk- lierten Parteien um eine ernsthafte, an Gestaltungszielen lich lautstarke, emotionale oder intellektuelle Debatten ausgerichtete Europapolitik im Wahlkampf gekümmert hat, provoziert hat. Aber das ist nicht identisch mit unterstellter stiegen die Chancen der eurokritischen AfD an (Kaeding Langeweile. Vielmehr ist eine mit sich selbst zufriedene 2013). Solange die Parteien der Mitte im traditionellen alt- Schlichtungsdemokratie pragmatisch aufgelegt. Der häu- bundesrepublikanischen Europadenken befangen sind, fige Konsens spiegelt sich dann auch oft in intellektueller öffnen sich Themenspielräume für andere Parteien, die Trägheit wider. Das ist der Preis der Zufriedenheit, das ist nicht grundsätzlich europafeindlich sind, aber weniger be- deutsche Biedermeierlichkeit (Gujer 2013). fangen im Hinblick auf Defizite der europäischen Integra- Doch Unterschiede zwischen den Parteien und Lagern wa- tion argumentieren. Die ausgehöhlte institutionelle Archi- ren in zahlreichen markanten Punkten durchaus vorhanden tektur, das Demokratiedefizit, die zunehmende exekutive (Bender u. a. 2015; Wagschal/König 2015). Steuergerech- Entscheidungsfindung – all das hätten die etablierten Par- tigkeit war ein solches Thema, ebenso die Erhöhung des teien thematisieren können, nicht nur Europa als Eurokrise. Spitzensteuersatzes und der Erbschaftssteuer oder die Ein- Die Stimmen für die AfD – ob nun im Parlament vertreten führung einer Vermögensabgabe. Hier gab es entlang der oder nicht – fehlten dem schwarz-gelben Regierungslager. Lagergrenzen klare Fronten: pro Oppositions-, contra Re- Ein anderer Europabezug war ebenso ausschlaggebend: gierungsparteien. Doch sogenannte Aufregerthemen blie- Beim Euro haben die Allparteienentscheidungen des Bun- ben in der Erregungsdemokratie Deutschland diesmal destages gezeigt, dass in der Krise viele zusammenhal- weitgehend wirkungslos (Köcher 2013). ten. 2 Warum sollen die Wählerinnen und Wähler dann nicht gleich eine Große Koalition wählen? Europa hat auch mit dem Wahlklima zu tun: Wählen in Zeiten der Zufrieden- Das Richtungspolitische am Wahlergebnis heit war diesmal für die meisten Bundesbürgerinnen und Bundesbürger angesagt – gerade im Vergleich mit vielen Das Wahlergebnis legt die Dominanz wohlfahrtsstaatli- anderen krisengeschüttelten Mitgliedsländern der EU. cher und weniger gerechtigkeitsorientierter Zielbilder Zahlreiche Regierungen waren seit der Lehman-Krise 2008 nahe. Wohlfahrtsstaatliche Themen im Sinne eines „Weiter in Europa abgewählt worden – wegen der Banken-, Ver- so!“ haben die Wahl entschieden. Die meisten Bürger wa- schuldungs-, Eurokrise. Merkel wurde hingegen wegen ih- ren 2013 in ihrer persönlichen und allgemeinen Einschät- res Krisenmanagements im Euroraum gewählt. Und zu gu- zung deutlich zufriedener und zukunftsoptimistischer als ter Letzt: Deutschland ist sichtbar die Zentralmacht Euro- 2009 (Jung/Schroth/Wolf 2015). Mit Merkel als Garantin pas, von der geldpolitisch alles abhängt. Merkel dominierte dieses Wohlfahrtsniveaus sollten auch die kommenden allein schon durch ihre langjährige Präsenz auf der Eu- vier Jahre zumindest für eine sichernde Stabilisierung auf ropa-Bühne, die ihr einen unschätzbar wichtigen Erfah- diesem hohen Niveau sorgen. Wechselstimmung war des- rungsvorsprung sicherte. halb nicht messbar. Gerechtigkeits- und Bürgerrechtsthe- men haben in so einem Klima sehr geringe Mobilisierungs- chancen. Das Konservativ-Fortschrittliche am Wahlergebnis Merkel galt für viele als diejenige, die als sichere Anwältin der Steuergelder international auftrat: „Wir geben nichts!“ Es gehört zum Kernbestand der Wahlforschung, dass in – so lautete das Credo. Viele verbanden damit richtungs- Deutschland die Schnittmengen aus drei Bereichen zum politisch auch keine Steuererhöhungen oder Haushalts- Wahlerfolg führen: ökonomische Effizienz, soziale Ge- konsolidierung. Vielmehr wurde das Primat der Sicherheit rechtigkeit und kulturelle Modernisierung (Giddens 1999). gewählt: tiefe Sehnsucht nach Sicherheit (objektive Sicher- Wer in allen drei Bereichen über Problemlösungskompe- heitslage und subjektives Sicherheitsgefühl), Absicherung tenz und personelle Sichtbarkeit verfügt, steigt in der Wäh- des sozialen Status und gesellschaftliche Selbstvergewis- lergunst. Die Union lag nach Ansicht der Wähler mit Aus- serung in moralischen Urteilen. Häufig orientiert sich diese nahme des Bereichs „soziale Gerechtigkeit“ überall weit Sicherheitssehnsucht nicht am Geld, sondern eher an be- vor der SPD (Jung/Schroth/Wolf 2015). Die von Merkel be- stimmten Gefühlen: Es geht um Anschluss und Austausch triebene sanfte Öffnung der CDU vor allem in gesell- mit anderen Menschen, eine soziale Identität und verläss- schafts- und familienpolitischen Themen brachte der Union liche Zukunftsplanung. Wohlfahrtssteigerungen müssen auch die Meinungsführerschaft bei „weichen“ Themen mit solchen Gefühlen einhergehen, wenn es zu mehrheits- (Reinecke 2013). 95
Karl-Rudolf Korte Arbeitsplätze 40 22 Eurokrise 38 20 soziale Gerechtigkeit 26 CDU/CSU 35 SPD Wirtschaft 47 17 Zukunft 39 20 Abbildung 3: Parteikom- 0 10 20 30 40 50 petenzen bei der Bundes- tagswahl 2013 (in Prozent) Quelle: Forschungsgruppe Wahlen. Ökonomische Effizienz wird der CDU/CSU bei Wahlum- Wenn Gewissheitsschwund in der Politik das Risiko zum fragen konstant zugesprochen. Durch die Koalition mit der Regelfall macht, muss das Politikmanagement extrem prag- FDP hatte die Union die Chance, auch im Bereich der sozi- matisch, postheroisch, und eher emotionslos daherkom- alen Gerechtigkeit in der Wahrnehmung der Wähler zuzu- men. 3 Es beschreibt alltägliche Wirklichkeiten. Das ist die legen. Das Konservativ-Fortschrittliche am Wahlergebnis Stärke der Kanzlerin, die mit ihrer Sprache der Wirklich- (Reinecke 2013) liegt in der Dominanz einer Partei, die of- keitsbeschreibungen auch für viele Bürgerinnen und Bür- fensichtlich lagerübergreifende Zustimmungswerte und ger sehr gut verstehbar ist. Merkels Sprache und Regie- damit Fortschritt und Konservatismus gleichermaßen mitei- rungsstil erscheinen als Prototyp für das Regieren unter nander verbindet. Ohne diese Anmutung der Union wäre den Bedingungen globalisierter Governance (Zürn 2011; auch nicht nachvollziehbar, wie es zu derart intensiven Heinze 2013). Ruhige Stärke und forcierte Passivität cha- Sondierungen zwischen Union und Grünen nach den rakterisieren die Rhythmen ihres Politikmanagements. Die- Wahlen kam. In den bislang trennenden Lebensstilfragen ses Politikmanagement befriedigt in vielerlei Hinsicht den haben sich die beiden Parteien markant angenähert, ohne Eindruck, dass die Bürgerinnen und Bürger beim problem- dabei völlig übereinzustimmen. lösenden Regieren direkt mitgenommen werden. Faktisch können so jedoch immer nur Wirklichkeiten durch die Kanz- lerin beschrieben werden, nie Möglichkeiten und Gestal- Das Postheroische am Wahlergebnis tungsziele. Deliberation und Dezision prägen in wechsel- seitiger Abhängigkeit unsere Demokratie. Merkel verfügte bei dieser Bundestagswahl ganz offen- Ein Regierungsstil, der mit Geschwindigkeitsgrenzen bei sichtlich über einen „Popularitätspanzer“ (Güllner 2013): den Entscheidungen kämpft und weitgehend auf argumen- Da sie sich häufig in der Öffentlichkeit extrem rarmachte, tative Gestaltung verzichtet, verändert die Qualität der bestand auch (noch) nicht die Gefahr des Überdrusses. Demokratie. Doch wie die Bundestagswahl 2013 zeigte, Keine Kritik an ihrem Regierungsstil, an Führungsentschei- honorieren die meisten Wählerinnen und Wähler genau dungen als Parteivorsitzende oder abrupten Themenände- diesen Politikstil, der auf immerwährendes Kümmern setzt. rungen blieb negativ an ihr haften (Kellermann/Mikfeld Die Kanzlerin schien mit ihrem Stil des Entscheidens eine 2014). Ihr Image war unverändert: Sie dient pflichtbewusst adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Risiko- der Sache und nimmt das Amt, aber nicht sich selbst wich- kompetenz gefunden zu haben. Politik erschien als Ort der tig. Sie erschien integer und geerdet, ihr Habitus nicht auf Sensibilitätsschulung für das Eintreten unerwarteter Ereig- Bedeutung aus. Ihr Bekenntnis orientierte sich daher eher nisse. an Kartoffelsuppen und Hausmannskost statt an der Mole- kularküche (Korte 2009; Korte 2013b; Dausend 2013). Postheroisch ging sie mit dem Gebaren der Macht um, eher Ein halber Machtwechsel als wandelndes Understatement. Inszenierte Macht unter- lief sie systematisch durch Macht ohne Gesten. Ihre Macht „Sorgenvolle Zufriedenheit“ und „entspannter Fatalismus“ war wenig sichtbar, aber angesichts des Wahlergebnisses – in solchen Formulierungen kulminiert eine Form von stabi- nochmals enorm gewachsen. Man hatte den Eindruck, ler Ambivalenz, die für die Bundestagswahl 2013 prägend dass sie am Wahlabend die absolute Mehrheit für die war und zu einem halben Machtwechsel führte. Im Rück- Union fürchtete und froh darüber war, dass dies nicht ein- blick erscheint die Große Koalition insofern als verlässlich trat. Ihren erklärungsarmen Pragmatismus goutierten die erwartbare Konstellation. Die charakteristische Stabili- meisten Wählerinnen und Wähler. Sie sollte moderieren tätskultur, der ausgeprägte Sicherheitskonservatismus und und Tagesentscheidungspolitik betreiben. das hohe Wohlfahrtsniveau in Deutschland deuten gleich- 96
zeitig auf lange Serien mittezentrierter Regierungen hin, DIE BUNDESTAGSWAHL 2013 – wenngleich sich die Mitte manchmal auch umsortiert, wie STABILE AMBIVALENZ UND EIN HALBER MACHTWECHSEL sich nach der Bundestagswahl 2013 vor allem mit Blick auf die Flüchtlingsdebatte gezeigt hat (Bieber u. a. 2017). Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.) (2016): Politik in unsicheren Zeiten. Kriege, Krisen und neue Antagonismen. Baden-Baden. Korte, Karl-Rudolf/Fröhlich, Manuel (2009): Politik und Regieren in LITER ATUR Deutschland. Strukturen, Prozesse, Entscheidungen. 3. Auflage, Pader- born u. a. Bender, Steffen/Bianchi, Matthias/Hohl, Karina/Jüschke, Andreas/ Korte, Karl-Rudolf/Switek, Niko (2013): Regierungsbilanz: Politikwechsel Schoofs, Jan/Steitz, Susanne (2015): Die ideologisch-programmati- und Krisenentscheidungen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 48– schen Positionen der Parteien bei der Bundestagswahl 2013: Eine Ana- 49/2013, S. 3–9. lyse mit dem Duisburger-Wahl-Index (DWI). 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In: Münch, Ursula/Oberreu- tem der Bundesrepublik Deutschland und moderne Staatstheori- ter, Heinrich (Hrsg.): Die neue Offenheit. Wahlverhalten und Regie- rungsoptionen im Kontext der Bundestagswahl 2013. Frankfurt am en“. Seit 2006 ist er Direktor der NRW School of Governance. Main, S. 327–346. Karl-Rudolf Korte ist außerdem Dekan der Fakultät für Gesell- Korte, Karl-Rudolf (2015c): Emotionen und Politik. Begründungen, Konzep- schaftswissenschaften und Geschäftsführender Herausgeber der tionen und Praxisfelder einer politikwissenschaftlichen Emotionsfor- schung. In: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Emotionen und Politik. Baden- Zeitschrift für Politikwissenschaft. Baden, S. 9–24. 97
BUNDESTAGSWAHL 2017: PARTEIEN, PROGNOSEN UND SZENARIEN Aktuelle Entwicklungen in der Parteienlandschaft Frank Decker teien ihre Koalitionspräferenzen vor der Wahl deutlich Die Bundestagswahl 2017 wird aus mehreren Gründen machten. Unter den Bedingungen eines Fünf- oder Sechs- spannend: Wie werden Angela Merkel und Martin Schulz parteiensystems tun sie besser daran, solche Festlegungen abschneiden? Wer stellt die nächste Regierung? Da ver- zu vermeiden – so wünschenswert diese aus der Sicht der mutlich mehr als vier Fraktionen im Bundestag vertreten Wählerinnen und Wähler sein mögen. Auch 2013 war es sein werden, könnte sich die Koalitionsbildung schwierig keineswegs sicher, dass es erneut zu einer Großen Koali- gestalten. Frank Decker skizziert vor diesem Hintergrund tion kommen würde. Die Bildung einer schwarz-grünen Ko- die aktuellen Entwicklungen in der Parteienlandschaft, alition scheiterte damals an den Grünen, die – auch we- die vor allem durch die rechtspopulistische AfD einen gen ihres schwachen Wahlergebnisses – letztlich nicht be- bedeutsamen Einschnitt erfahren hat. War die politische reit waren, das Bündnis mit der Union zu wagen. Stimmung in der Bundesrepublik bis Mitte 2015 „einge- Was die Wahl zu einer außergewöhnlichen, ja dramati- froren“, änderte sich dies ab August 2015 schlagartig. schen macht, sind drittens die Umstände, unter denen sie Durch den plötzlichen Zuzug von Flüchtlingen verloren stattfindet. Eine neue Ära der Unsicherheit und Instabilität die Regierungsparteien merklich an Zustimmung. Hinge- scheint in Europa und der westlichen Welt angebrochen zu gen schnellten die Zustimmungswerte der AfD unvermit- sein, die bisherige Gewissheiten in Frage stellt. Dass telt nach oben, so dass wohl mit einer mittelfristigen Eta- rechtspopulistische Parteien in Kernländern der Europäi- blierung der rechtspopulistischen Partei zu rechnen ist. schen Union (EU) wie Frankreich, Österreich oder den Nie- Grüne und Linke konnten im Zeitraum von 2013 bis 2017 derlanden in die Nähe der Mehrheitsfähigkeit gelangen, konstante Zustimmungswerte verzeichnen. Die FDP er- hätte man vor zwei oder drei Jahren ebenso wenig für holte sich währenddessen mühsam und geht mit leichtem möglich gehalten wie einen Sieg des „Unpolitikers“ Do- Rückenwind in den Wahlkampf. Mit dem parlamentari- nald Trump bei der US-amerikanischen Präsidentschafts- schen Einzug der AfD in den Bundestag dürfte sich das wahl oder den von populistischen EU-Gegnern befeuerten Parteiensystem insgesamt nach rechts verschieben. Brexit in Großbritannien. Unterstützt von einem strukturel- len Wandel der Öffentlichkeit und der Medien, fordern Die Wahl verspricht spannend zu werden Am 24. September 2017 wird der Deutsche Bundestag zum 19. Mal gewählt. Die Wahl verspricht aus mindestens drei Gründen eine der spannendsten in der Geschichte der Bundesrepublik zu werden. Erstens könnte sich das Rennen um die Kanzlerschaft offener gestalten als 2009 und 2013, als die Union mit 12 bzw. 16 Prozentpunkten Vorsprung klar vor der SPD lag und diese somit über keine reale Macht- perspektive verfügte. Auch wenn das Umfragehoch der SPD nach der Bestellung von Martin Schulz zum Kanzler- kandidaten und neuen Parteivorsitzenden im Januar 2017 Auch wenn das Umfragehoch bis zur Jahresmitte wieder abschmolz und die Sozialdemo- der SPD inzwischen abge- kraten in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen schmolzen ist und die Sozialde- herbe Wahlniederlagen hinnehmen mussten, scheint der mokraten in Schleswig-Holstein frühere Präsident des Europäischen Parlaments ein und Nordrhein-Westfalen aussichtsreicherer Herausforderer von Bundeskanzlerin herbe Wahlniederlagen hin- Merkel zu sein als Sigmar Gabriel (der zugunsten von nehmen mussten, scheint Mar- Schulz auf Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur verzich- tin Schulz, der frühere Präsi- tete) und Peer Steinbrück (der 2013 chancenlos geblieben dent des Europäischen Parla- war). Für Merkel ist es nach elfeinhalb Jahren Amtszeit be- ments, ein aussichtsreicherer reits die vierte Kandidatur. Herausforderer von Bundes- Zweitens wissen wir nicht, welcher Koalition Merkel oder kanzlerin Merkel zu sein als Schulz vorstehen werden. In einer Koalitionsdemokratie Sigmar Gabriel (der auf die muss nicht automatisch die stärkste Partei oder Fraktion Kanzlerkandidatur verzichtete) den Regierungschef stellen. Welche Parteien nach der und Peer Steinbrück (der 2013 Wahl zusammengehen, ließ sich in der Bundesrepublik zu chancenlos geblieben war). früheren Zeiten immer verlässlich eingrenzen, weil die Par- picture alliance/dpa 98
diese Kräfte das politische und gesellschaftliche Establish- AKTUELLE ENTWICKLUNGEN ment in einer bis dato nicht gekannten Weise heraus. Auf IN DER PARTEIENLANDSCHAFT die Globalisierung antworten sie mit Forderungen nach einer „Schließung“ unserer offenen Gesellschaften und Rückkehr zur vertrauten Nationalstaatlichkeit. tion durchgesetzten sozialpolitischen Maßnahmen kaum Auch in der Bundesrepublik ist der Rechtspopulismus in- zusätzliche Wählerunterstützung einbrachten, ruhen ihre zwischen angekommen. Die Etablierung der erst 2013 ge- Hoffnungen jetzt auf Martin Schulz, der das Thema soziale gründeten Alternative für Deutschland (AfD) stellt eine ein- Gerechtigkeit bei seinem Amtsantritt zum Leitmotiv der schneidende Zäsur in der Parteiensystementwicklung dar. Wahlkampagne erklärt hat. Was die SPD in ihrer Regierungszeit in den 1970er und 2000er Jahren zweimal erfahren musste – dass innerhalb des eigenen Lagers neue Konkurrenten entstehen – wie- Vom Zweieinhalb- zum Sechsparteiensystem derholt sich jetzt bei der Union. Nach ihrem Achtungser- folg bei der Bundestagswahl 2013, als sie nur knapp an Bis zur Formierung der gesamtdeutschen Linkspartei war der Fünfprozenthürde scheiterte, ist es der AfD bei sämtli- das Standardformat der Regierung in der Bundesrepublik chen Landtagswahlen gelungen, in die Parlamente einzu- die sogenannte „kleine Koalition“. Bevor die Grünen ent- ziehen. Die im September 2015 einsetzende Flüchtlings- standen, hatte die FDP als einzige kleine Partei im Wettbe- krise bescherte ihr auch in den westlichen Bundesländern werb zwischen Union und SPD eine Scharnierfunktion zweistellige Ergebnisse, in den ostdeutschen Ländern übernommen und den Regierungswechsel dadurch zwei- Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern lag sie so- mal ermöglicht (1969 und 1982). Die Etablierung der Grü- gar bei über 20 Prozent. Obwohl die Zustimmungswerte nen als vierte Kraft sollte ihr diese Schlüsselrolle ab Mitte mit Beginn des Wahljahres nachgelassen haben, sehen der 1980er Jahre entwinden. Da sich die Grünen koaliti- die Umfragen die AfD sicher im kommenden Bundestag. onspolitisch ausschließlich in Richtung SPD orientierten, Selbst ohne eine starke AfD ist davon auszugehen, dass verblieben die Liberalen von nun an im Gegenzug ge- die Themen Flüchtlinge und Innere Sicherheit in der Wahl- nauso treu an der Seite der Union. Es entstanden also zwei auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielen. Auch die fest gefügte Lager, die sich als klar unterscheidbare Alter- Außen- und Europapolitik könnte größere Bedeutung ge- nativen gegenübertraten. Auf diese Weise konnte 1998 winnen als bei früheren Wahlen und die in den Wahlkämp- zum ersten Male ein kompletter Regierungswechsel aus- fen normalerweise dominierenden sozial- und steuerpoliti- schließlich von Wählerhand herbeigeführt werden (De- schen Themen in den Hintergrund treten lassen. Dies wäre cker 2013a). vor allem für die Sozialdemokraten ungünstig, die sich ge- Das Hinzutreten der PDS hatte für das dualistische Modell rade auf diesen Gebieten als Alternative zur Union profi- ambivalente Folgen. Auf der einen Seite fügten sich die lieren wollen. Nachdem die SPD zu Beginn der Legislatur- Postkommunisten als dezidiert linke Partei in die Bipolarität periode registrieren musste, dass die von ihr in der Koali- des Systems ein. Auf der anderen Seite bildeten sie mit SPD und Grünen zusammen nur elektoral ein gemeinsames La- ger, da beide Parteien eine koalitionspolitische Zusam- menarbeit mit den SED-Nachfolgern ausschlossen. Das Parteiensystem war jetzt also auch innerhalb des linken La- gers zwischen Rot-Grün und der PDS/Linkspartei segmen- tiert. 1994, 1998 und 2002 hatte das noch keine Rückwir- kungen auf die Regierungsbildung, da die Postkommunis- ten zu schwach blieben, um das Zustandekommen einer „kleinen Koalition“ zu vereiteln. Erst ihr Erfolg als gesamt- deutsche Partei führte dazu, dass es bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 für keines der beiden Lager (SPD/ Grüne und Union/FDP) mehr zur Mehrheit reichte. Die von manchen Politikwissenschaftlern gehegte Erwar- tung, mit der daraufhin angebahnten Großen Koalition werde eine neue konsensorientierte Ära des Parlamenta- rismus anbrechen, sollte sich nicht bewahrheiten. Bedingt durch die Rivalität der beiden Volksparteien, stand das im Unterschied zu 1966 unfreiwillig geschlossene Bündnis von Beginn an unter einem schlechten Stern. Es nährte im Wählerpublikum die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu kla- ren Machtverhältnissen, die durch den Sieg von Union und FDP bei der Bundestagswahl 2009 prompt befriedigt wurde. Deren Ausgang machte deutlich, dass Mehrheiten für eine kleine Zweierkoalition im deutschen Parteiensys- tem weiterhin möglich waren – allerdings nur im bürgerli- chen Lager. Dies war auch vier Jahre später nicht anders. Zu den Ironien der Bundestagswahl 2013 gehört, dass Union und FDP mit einem bequemen Vorsprung durchs Ziel gegangen wären, wenn beide Seiten in der Woche vor der Wahl nicht die Nerven verloren hätten. Ihr Desaster bei 99
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