Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat

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Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
2/3–2017

           Bundestagswahl 2017

           www.lpb-bw.de
Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
Heft 2/3-2017, 67. Jahrgang                                                                                              Thema im Folgeheft:
»Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale
                                                                                                                                 Frankreich
für politische Bildung Baden-Württemberg
herausgegeben.

Direktor der Landeszentrale
Lothar Frick

Redaktion
Prof. Siegfried Frech, siegfried.frech@lpb.bwl.de
                                                    Inhaltsverzeichnis
Redaktionsassistenz
Barbara Bollinger,
barbara.bollinger@lpb.bwl.de                        Karl-Rudolf Korte
                                                    Die Bundestagswahl 2013 – Stabile Ambivalenz und ein halber Macht-
Anschrift der Redaktion
Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart
                                                    wechsel .......................................................................................... 92
Telefon: 07 11/16 40 99-44                          Frank Decker
Fax: 07 11/16 40 99-77
                                                    Aktuelle Entwicklungen in der Parteienlandschaft ............................. 98
Herstellung
Schwabenverlag Media
                                                    Eckhard Jesse
der Schwabenverlag AG                               Die deutsche Koalitionsdemokratie ............................................. .....107
Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit
                                                    Klaus Detterbeck
Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74
                                                    Parteien und ihre Aufgaben in der Demokratie ..................................116
Gestaltung Titel
VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart                    Axel Murswieck
                                                    Vier Jahre Schwarz-Rot: eine Bilanz ................................................122
Gestaltung Innenteil
Schwabenverlag Media                                Andrea Römmele
der Schwabenverlag AG                               Konkurrenten um die Kanzlerschaft .................................................132
Vertrieb                                            Jo Berlien
Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm                 Stadt, Land, Bund: Herr T. kandidiert –
Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm
Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24       und will endlich Minister werden ................................................. .....141
www.suedvg.de                                       Frank Brettschneider
Druck                                               Wahlkampf: Funktionen, Instrumente und Fake News .........................146
Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm
Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm
                                                    Dieter Roth
                                                    Wahlforschung und ihre Instrumente .......................................... .....154
Preis der Einzelnummer 3,33 EUR.
Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung.               Uwe Andersen
Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit        Bundestagswahlen: 1949 bis 2013 .............................................. .....162
dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte
Kundennummer an.                                    Buchbesprechungen .........................................................................180
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Auflage dieses Heftes: 15.000 Exemplare

Redaktionsschluss: 25.03.2017

ISSN 0007-3121

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                                                              www.buergerimstaat.de
Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
Am 24. September 2017 findet die 19. Bundestagswahl statt. Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten konkurrieren im
Vorfeld der Bundestagswahl um den Einzug in den Deutschen Bundestag.                                    picture alliance/dpa

                                                                                                                               89
Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
Bundestagswahl 2017
     Die Wahl zum 19. Bundestag findet am 24. September               mungswerte verzeichnen. Die FPD erholte sich während-
     2017 statt. Diese Wahl ist die politische Grundentschei-         dessen mühsam und geht mit leichtem Rückenwind in den
     dung, mit der die Wählerinnen und Wähler für die vierjäh-        Wahlkampf. Mit dem parlamentarischen Einzug der AfD in
     rige Legislaturperiode die politische Machtverteilung auf        den Bundestag dürfte sich das Parteiensystem insgesamt
     Bundesebene bestimmen. Die Bundestagswahl 2017 wird              nach rechts verschieben.
     aus mehreren Gründen spannend: Wie werden Angela                 Deutschland ist eine Koalitionsdemokratie. Deshalb ist
     Merkel (CDU) und Martin Schulz (SPD) abschneiden? Wer            nicht nur der Ausgang der Wahlen wichtig, sondern auch
     von den beiden wird das Rennen machen? Wer wird mit              die jeweilige Koalitionsaussage der Parteien. Bei den Bun-
     welcher Partei bzw. mit welchen Parteien koalieren und die       destagswahlen legen sich die Parteien in der Regel vor der
     Regierung bilden? Sollten die AfD und die wieder erstarkte       Wahl auf einen Partner fest. Nach der Bundestagswahl
     FDP im 19. Bundestag vertreten sein, wird die Koalitionsbil-     2013 gaben SPD und Grüne allerdings eine prinzipielle
     dung unter den Bedingungen eines Sechsparteiensystems            Bündnisoffenheit bekannt. Bei den Landtagswahlen be-
     wohl schwierig werden.                                           stimmte nicht die jeweilige bundespolitische Konstellation
     Die sinkende Wahlbeteiligung der Bürgerinnen und Bür-            die Bildung der Koalitionen. Die in den Ländern gebildeten
     ger, die hohen Schwankungen im Wahlverhalten sowie               Koalitionen seit der Bundestagswahl 2013, die von Eckhard
     der Umstand, dass sich das bundesdeutsche Parteiensys-           Jesse analysiert werden, sind höchst unterschiedlich zu-
     tem im Jahr 2017 durch schwächer gewordene Volkspar-             sammengesetzt, bedingt nicht zuletzt durch das Aufkom-
     teien auszeichnet, lassen den Wahlausgang nur schwer             men der weder koalitionswilligen noch koalitionsfähigen
     vorhersagen.                                                     AfD. Wenngleich der Ausgang von Landtagswahlen und
     Wenn Wahlen einer Bilanz gleichkommen, in der die „Leis-         die Bildung der Koalitionen in den Ländern keineswegs
     tungen“ der Bundesregierung bewertet werden, stellt sich         eine Blaupause für den Bund sein muss, kann eine schwarz-
     die Frage, was seit der letzten Bundestagswahl im „politi-       grüne Koalition (Hessen) ebenso ein Signal für den Bund
     schen Gedächtnis“ haften blieb. Im Rückblick lässt sich die      sein wie ein rot-rot-grünes Bündnis (Berlin) oder eine
     Bundestagswahl am 22. September 2013 mit „Merkel plus            schwarz-gelbe Konstellation (wie jüngst in Nordrhein-
     X“ treffend beschreiben. Die Bundestagswahl 2013 war             Westfalen). Vor der Bundestagswahl 2017 schließt die SPD
     eine ausgeprägte Persönlichkeitswahl, die Angela Merkel          erstmals ein Bündnis mit der Partei Die Linke nicht katego-
     aufgrund hoher Zustimmungswerte überzeugend gewann.              risch aus. Und die Grünen halten eine Koalition nicht nur
     Indem jeweils ein Koalitionspartner aus der vorhergehen-         mit der Union für möglich (wie bereits 2013), sondern ver-
     den Regierung einen Teil der neuen Regierung stellte, kam        werfen auch nicht generell ein schwarz-grün-gelbes Bünd-
     es – so Karl-Rudolf Korte – zu einem „halben Machtwech-          nis (zum ersten Mal). Selbst die Liberalen sind von ihrer
     sel“. Das Parteiensystem blieb 2013 durchaus stabil. Abge-       langjährigen Fixierung auf die Union abgerückt.
     sehen vom desaströsen Wahlergebnis der FDP legten die            Parteien sind selten beliebt, für die Willensbildung in re-
     Volksparteien zu, neue Parteien hingegen hatten keine            präsentativen Demokratien aber unverzichtbar. Klaus Det-
     Chance. Das Wahlergebnis erlaubt mehrere Schlüsse: Die           terbeck geht der Frage nach, warum Parteien häufig einen
     Wählerinnen und Wähler honorierten den konsensorien-             schlechten Ruf haben. Angemessen beurteilen kann man
     tierten, präsidentiell-überparteilichen und lagerübergrei-       dies nur, wenn man die Aufgaben und Funktionen betrach-
     fenden Regierungsstil der Kanzlerin, die sich als Krisenlot-     tet, die Parteien in einer Demokratie eigentlich zukommen.
     sin ihre Meriten verdient hatte. Ihr hartnäckiges sowie er-      Parteien erfüllen mehrere Aufgaben, ob es sich nun um die
     folgreiches Krisenmanagement im Euroraum war ein                 Repräsentation gesellschaftlicher Interessen, die Bildung
     weiteres Plus. Mit ihrem Politikstil, pflichtbewusst der Sache   von Regierung und Opposition oder um die parlamentari-
     und dem Amt zu dienen und sich selbst nicht wichtig zu           sche Arbeit handelt. Bei der Betrachtung, wie gut oder
     nehmen, konnte sie bei den Wählerinnen und Wählern               schlecht Parteien diese Aufgaben erfüllen, finden sich An-
     punkten.                                                         haltspunkte für die Parteien- und Politikverdrossenheit.
     Die Bundestagswahl 2017 wird aus mehreren Gründen                Gleichwohl sind Parteien zentrale Akteure moderner, re-
     spannend: Wie werden die Konkurrenten um die Kanzler-            präsentativer Demokratien. Daraus lassen sich Forderun-
     schaft abschneiden? Da sich der Wahlausgang nur schwer           gen an die Parteien selbst ableiten, sich bestimmten Auf-
     vorhersagen lässt, wird die Koalitionsbildung voraussicht-       gaben wieder verstärkt zuzuwenden. Dies erfordert umge-
     lich ein schwieriges Unterfangen. Sollte die AfD im 19. Bun-     kehrt aber auch, dass Bürgerinnen und Bürger verstehen,
     destag vertreten sein, sind mehrere Koalitionsmodelle            wie Parteien mit vielfältigen und oft widersprüchlichen In-
     denkbar. Frank Decker skizziert vor diesem Hintergrund die       teressen und Erwartungen, die das politische Handeln er-
     aktuellen Entwicklungen in der Parteienlandschaft, die vor       schweren, konfrontiert werden.
     allem durch die rechtspopulistische AfD einen bedeutsa-          Nachdem die längste Regierungsbildung in der Ge-
     men Einschnitt erfahren hat. War die politische Stimmung         schichte der Bundesrepublik Ende 2013 abgeschlossen
     in der Bundesrepublik bis Mitte 2015 „eingefroren“, än-          war, gab es mit Blick auf einen neuen programmatischen
     derte sich dies ab August 2015 schlagartig. Durch den            Aufbruch kaum Erwartungen. Der Regierungsbeginn der
     plötzlichen Zuzug von Flüchtlingen verloren die Regie-           schwarz-roten Koalition verlief wenig ambitioniert. Nicht
     rungsparteien merklich an Zustimmung. Hingegen schnell-          zuletzt aufgrund sozio-ökonomischer Rahmendaten war
     ten die Zustimmungswerte der AfD unvermittelt nach oben,         die Zwischenbilanz der ersten beiden Regierungsjahre
     so dass wohl mit einer mittelfristigen Etablierung der           durchaus positiv. Seit September 2015 dominierten aller-
     rechtspopulistischen Partei zu rechnen ist. Grüne und Linke      dings unvorhergesehene, sich überlagernde Krisen das
     konnten im Zeitraum von 2013 bis 2017 konstante Zustim-          Regierungshandeln. Vor allem die Flüchtlingspolitik ist bis

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Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
heute ein ungelöstes innen- und außenpolitisches Problem.      von Stammwählern ist die optimale Passung zwischen The-
In der Gesamtschau ergibt sich Ende Mai 2017, so das Ur-       menmanagement, Kandidatenimage und Wahlkampftak-
teil von Axel Murswieck, mit Bezug auf die Zielsetzungen,      tik ein zentraler Bestandteil der Planungsphase. Die Um-
Leistungen und politischen Problemlösungen eine ge-            setzungsphase meint die eigentliche Wahlkampagne, die
mischte und widersprüchliche Bilanz. Dennoch gelten der        aus traditionellen Wahlkampfinstrumenten (Wahlplaka-
Führungsstil und die Führungsfähigkeit von Angela Merkel       ten, Straßenwahlkampf, Medienarbeit) sowie aus Online-
als angemessen. Mögliche Vetospieler hatten auf die Re-        Instrumenten (Soziale Medien und Soziale Netzwerke) be-
gierungstätigkeit der vergangenen vier Jahre keinen gra-       steht und vor der Wahl hochtourig um die Wählergunst
vierenden Einfluss. Der Führungsanspruch der Kanzlerin         buhlt. Eine Besonderheit der jüngsten Zeit sind Fake News,
wurde nicht zuletzt durch personalpolitische Entscheidun-      die seit dem US-Präsidentschaftswahlkampf auch hierzu-
gen und das Bundeskanzleramt gewährleistet.                    lande immer mehr Verbreitung finden. Vor allem rechtspo-
Politische Botschaften werden seit jeher mit einem „Ge-        pulistische Kreise bringen aus wahltaktischen Gründen
sicht“, d. h. mit einer konkreten Person verknüpft. Bei Wah-   nicht selten Fake News in Umlauf, um Ängste und Unsicher-
len rücken die Spitzenkandidaten deshalb vermehrt ins          heiten zu schüren.
Rampenlicht. Die Debatte um die Personalisierung von           Wahlforschung erscheint vielen als ein Buch mit sieben
Wahlkämpfen ist seit geraumer Zeit ein Gegenstand der          Siegeln. Was hat es mit den oft zitierten und neuerdings
politikwissenschaftlichen Forschung. Andrea Römmele er-        immer öfter angezweifelten Daten der Wahlforschung auf
örtert am aktuellen Beispiel des Bundestagswahlkampfes         sich? Wer sind die Nachfrager und Nutznießer? Wie ver-
2017 zwischen der amtierenden Bundeskanzlerin Angela           antwortungsvoll gehen sie mit den Daten und Ergebnissen
Merkel und Martin Schulz, dem Spitzenkandidaten der            um? Wahlforschung ist zunächst eine akademische Diszip-
SPD, zentrale Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen          lin, der es darum geht, mit nachvollziehbaren Verfahren
(Wahl-)Forschung. Eingangs wird der Begriff der Persona-       den Vorgang der Wahlentscheidung sorgfältig zu analy-
lisierung mittels dreier Dimensionen präzisiert. Daran an-     sieren. Seriöse Wahlforscher arbeiten theoriegeleitet und
schließend werden die beiden Spitzenkandidaten der             wenden Instrumente und Methoden der empirischen Sozi-
Bundestagswahl 2017 genauer analysiert: Wo liegen ihre         alforschung an. Die Resultate der Wahlforschung werden
Stärken und Schwächen? Welche Themen favorisieren und          durch die Medien einem breiten Publikum zugänglich ge-
präsentieren sie? Und schließlich geht es um die Frage,        macht, dabei jedoch popularisiert und häufig als „politi-
welche Rolle Kandidaten in den unterschiedlichen Model-        sche Stimmungsdaten“ für Prognosezwecke benutzt. Die
len der Wahlentscheidung spielen und wie es um die Ge-         Fragestellungen der Wahlforscher hingegen sind retros-
wichtung von Parteiidentifikation, Themen und Personen         pektiv. Sie wollen eine Antwort auf die Frage geben: Wer
beim Wahlentscheid bestellt ist.                               hat wen gewählt und warum? Vor dem Hintergrund dieser
Der Journalist Jo Berlien skizziert den steinigen Weg zum      Fragestellungen erläutert Dieter Roth Intentionen, Theorien,
Ministeramt, indem er den Werdegang eines Berufspoliti-        Instrumente und Methoden der Wahlforschung, benennt
kers – im Text schlicht „Herr T.“ genannt – exemplarisch       aber auch Probleme der vorschnellen und fehlerhaften In-
analysiert. Dass Herr T. dem 19. Deutschen Bundestag an-       terpretation von Daten.
gehören wird, gilt als ausgemacht. Herr T. war Gemeinde-       Betrachtet man die Bundestagswahlen von 1949 bis 2013,
rats- und Kreistagsmitglied, jüngster Oberbürgermeister        zeigen sich über die Zeit hinweg Konstanten und Verän-
Deutschlands und Landtagsabgeordneter; er ist Europa-          derungen. Die einzelnen Bundestagswahlen haben die
abgeordneter und Ausschussvorsitzender in Brüssel, Lan-        politische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland
desvorsitzender seiner Partei und mittlerweile 50 Jahre alt.   sowohl geprägt als auch gespiegelt. Uwe Andersen gibt
Dass er noch nicht MdB ist, wirkt wie ein Versehen. Ist es     einen zeitgeschichtlichen Überblick über die Bundestags-
natürlich nicht im internen Konkurrenzwettbewerb. Herr T.      wahlen von 1949 bis 2013. Er skizziert die einzelnen Bun-
wurde 2004 nicht Minister im Land. 2009 bekam er auf der       destagswahlen, bettet sie in den jeweiligen zeitgeschicht-
Liste zur Europawahl einen wenig attraktiven achten Platz      lichen Kontext ein und benennt die gesellschaftlich bzw.
zugewiesen – als einer von Zwölfen rutschte er nach Brüs-      politisch prägenden Kräfte. Ein besonderes Augenmerk
sel. Und gehörte somit nicht dem engeren Kreis der so un-      wird dabei auf die sogenannten Schlüsselwahlen (1949,
glücklich agierenden wie ungeliebten Berliner Führungs-        1969, 1990) gerichtet. Die Charakterisierung der einzelnen
riege an. Unbelastet wirft er sich erneut in den Kampf. Als    Bundestagswahlen berücksichtigt das politische Umfeld,
Mann der Mitte gibt er sich nach rechts wie links offen.       die wahlrechtlichen Rahmenbedingungen, die wichtigsten
Diesmal soll es klappen mit dem Ministeramt.                   Aspekte des Wahlergebnisses sowie die Auswirkungen,
In Wahlkämpfen wird nichts dem Zufall überlassen. Zeitge-      insbesondere die Regierungsbildung. Abschließend wer-
mäßes und systematisches Wahlkampfmanagement setzt             den einige langfristige Tendenzen (Wahlbeteiligung und
sich aus mehreren Einzelschritten (Analyse, Planung, Um-       Wahlverhalten, die Veränderung der Parteienlandschaft,
setzung und Evaluation) zusammen. Frank Brettschneider er-     die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag sowie Konstan-
örtert entlang dieser Phasen die unterschiedlichen Facet-      ten und Veränderungen in der Regierungsbildung) aufge-
ten der politischen Kommunikation, die Bestandteile eines      zeigt.
jeden Wahlkampfes sind. In der Analysephase werden von         Allen Autorinnen und Autoren, die wesentlich zum Entste-
professionellen Wahlkampfstäben Einstellungen und The-         hen des Heftes beigetragen haben, sei an dieser Stelle
menpräferenzen verschiedener Wählergruppen eruiert.            gedankt. Dank gebührt auch dem Schwabenverlag für die
Angesichts einer fragmentierten Wählerschaft, abneh-           stets gute und effiziente Zusammenarbeit.
mender Parteiidentifikation und einem sinkenden Anteil                                                       Siegfried Frech

                                                                                                                               91
Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
DIE BUNDESTAGSWAHL 2013 IM RÜCKBLICK

     Die Bundestagswahl 2013 – Stabile
     Ambivalenz und ein halber Machtwechsel
     Karl-Rudolf Korte

                                                                      Typus eines „halben“ Machtwechsels ist der Favorit in
     Im Rückblick lässt sich die Bundestagswahl am 22. Sep-           Deutschland (Korte 2013a).
     tember 2013 mit „ Merkel plus X“ wohl treffend beschrei-
     ben. Die Bundestagswahl 2013 war eine ausgeprägte
     Persönlichkeitswahl, die Angela Merkel aufgrund extrem           Wahlkampf und Wahlergebnis
     hoher Zustimmungswerte überzeugend gewann. Indem
     jeweils ein Koalitionspartner aus der vorhergehenden             Unerwartet legten die Volksparteien in der Wählergunst
     Regierung einen Teil der neuen Regierung stellte, kam es         zu. Sie profitierten erstmals seit 2002 wieder von Stimmen-
     – so Karl-Rudolf Korte – zu einem „halben Machtwech-             zuwächsen. Dass die Stimmengewinne der einen nicht zu
     sel“. Das Parteiensystem blieb 2013 durchaus stabil. Ab-         Lasten der anderen Volkspartei gingen, sondern beide
     gesehen vom desaströsen Wahlergebnis der FDP legten              zeitgleich zulegten, trat zuletzt bei der Bundestagswahl
     die Volksparteien zu, neue Parteien hingegen hatten              1965 ein (Bundeswahlleiter 2013: 10). Angela Merkel
     keine Chance. Das Wahlergebnis erlaubt nun mehrere               siegte 2013 in historischen Ausmaßen. Zeitweilig schien
     Schlüsse: Die Wählerinnen und Wähler honorierten den             am Wahlabend sogar eine absolute Mehrheit möglich,
     konsensorientierten, präsidentiell-überparteilichen und          wie es bislang lediglich Konrad Adenauer 1957 gelang.
     lagerübergreifenden Regierungsstil der Kanzlerin, die            Nur Adenauer und Helmut Kohl schafften es zudem, nach
     sich als Krisenlotsin ihre Meriten verdient hatte. Ihr           einer Bundestagswahl zum dritten Mal wiedergewählt zu
     hartnäckiges und erfolgreiches Krisenmanagement im               werden. Merkel ist die erste Kanzlerin, die drei Legislatur-
     Euroraum war ein weiteres Plus. Neben der ökonomi-               perioden in Folge mit jeweils anderen Koalitionspartnern
     schen Kompetenz ist es der Union gelungen, Fortschritt,          eine Regierung bilden konnte: Schwarz-Rot, Schwarz-
     Modernisierung und Konservatismus bei gleichzeitigem             Gelb, Schwarz-Rot. Doch die Große Koalition von 2005 ist
     Erhalt des Wohlstandsniveaus zu repräsentieren. Die              mit der von 2013 nur formal vergleichbar. Damals trennten
     Popularität der Kanzlerin lässt sich nicht nur durch die         Union und SPD nur knapp 440.000 Stimmen. Diesmal war
     Meinungsführerschaft bei „weichen“ Themen erklären.              der Abstand mit beinahe sieben Millionen Stimmen deut-
     Mit ihrem Politikstil, pflichtbewusst der Sache und dem          lich größer und die Koalition erwartbar, denn erstmals in
     Amt zu dienen und sich selbst nicht wichtig zu nehmen,           der Geschichte der Wahlumfragen wünschten sich die
     konnte sie bei den Wählerinnen und Wählern erneut                Wählerinnen und Wähler mehrheitlich die Große Koali-
     punkten.                                                         tion (Jung/Schroth/Wolf 2015).
                                                                      Es zogen überraschend wenige Parteien in den Bundestag
                                                                      ein: Union, SPD, Linke, Grüne. Die Großen sind diesmal
                                                                      größer geworden, aber in einer asymmetrischen Vertei-
     Die Bundestagswahl 2013 unter den Bedingungen                    lung, denn der Abstand zwischen Union und SPD entspricht
     stabiler Ambivalenz                                              dem traditionellen Verständnis von Koalitionspartner-
                                                                      schaften: kleine Parteien (in diesem Fall die SPD) verhelfen
     „Merkel plus X“ – so stellte sich für die meisten Wählerin-      großen Volksparteien zur notwendigen Mehrheit. Nach
     nen und Wähler die Wahloption für die Bundestagswahl             der Großen Koalition 2009 schrumpften die Großen er-
     am 22. September 2013 dar.1 Über viele Monate hinweg             wartungsgemäß und die Kleinen feierten Superlative.
     zeichnete sich für keines der beiden traditionellen Lager        Das außerparlamentarische Parteiensystem zeigte sich
     von Union und FDP auf der einen sowie SPD und Bündnis            asymmetrisch aufgeladen und bunt (Decker 2015; Nieder-
     90/Die Grünen auf der anderen Seite eine eigene Mehr-            mayer 2015; Korte 2015b): Das sogenannte bürgerliche
     heit ab. Die extrem hohen und stabilen lagerübergreifen-         Lager vertreten die Unionsparteien und die Liberalen.
     den Zustimmungswerte für die Kanzlerin machten die               Auch die Alternative für Deutschland (AfD) versuchte sich
     Bundestagswahl dieses Mal zu einer ausgeprägten Perso-           hier zu verorten. Alle anderen Parteien sind deutlich kleiner
     nenwahl: Angela Merkel (CDU) fungierte als Orien tie-            und eher links von der Mitte positioniert. Diese linke Grup-
     rungs autorität in Zeiten relativer Zufriedenheit. Ihr Heraus-   pierung hat rechnerisch die Mehrheit im Bundestag. Das
     forderer Peer Steinbrück (SPD) konnte dieser Grundstim-          Parteiensystem erwies sich gleichzeitig vital, robust, be-
     mung nur wenig entgegensetzen.                                   lastbar: Neue Parteien hatten sichtbar eine Chance. Zwar
     Die Kanzlerin triumphierte im Parteienwettbewerb: Die            konnten die Piraten nicht ihre Erfolge bei den Landtags-
     hohe Zufriedenheit mit ihrer Leistung stand im Kontrast zu       wahlen für den Bundestag umsetzen. Doch der neu ge-
     einer ausgeprägten Unzufriedenheit mit der FDP. Offenbar         gründeten AfD gelang es beinahe, sich zu parlamentari-
     lag nur ein partieller Wechselwunsch vor. So kam es zum          sieren. Alte Parteien gehen scheinbar unter, wenn sie keine
     dosierten Machtwechsel, bei dem kontinuitätsverbürgend           gesellschaftlichen Grundkonflikte mehr ausreichend ab-
     jeweils ein Koalitionspartner aus der vorhergehenden Re-         bilden, wie es sich bei der FDP aus Wählersicht offensicht-
     gierung auch einen Teil der neuen Regierung stellt. Dieser       lich darstellte.

92
Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
Während die Sozialdemokraten trotz leichter Stimmenzu-                                    DIE BUNDESTAGSWAHL 2013 –
wächse das zweitschlechteste Bundestagswahlergebnis                  STABILE AMBIVALENZ UND EIN HALBER MACHTWECHSEL
ihrer Geschichte hinnehmen mussten, feierte die Union ih-
ren Kantersieg. Die ehemals mittelgroßen Parteien haben
hingegen an Stimmen verloren. Desaströs war das Wahl-          gliedern, die in der Regel nur sehr schwer zu integrieren
ergebnis vor allem für die FDP: Mit ihren 4,8 Prozent ver-     sind. Auch der Erfolg von sogenannten „Defizit-Parteien“
fehlte sie den Einzug in den Bundestag um nur 90.000 Stim-     wie der AfD, welche die sichtbare Lücke im Themenhaus-
men. Die Liberalen waren nach der Wahl erstmals nicht im       halt der anderen Parteien ausgleichen (Nestler/Rohgalf
Parlament vertreten – ein existenzieller Schock für die Par-   2014), zeugt von der Vitalität des deutschen Parteiensys-
tei. An der Sperrklausel scheiterte ebenfalls die AfD, die     tems, das dennoch nach wie vor mittezentriert und durch
mit ihrer Anti-Euro-Programmatik allerdings auf Anhieb 4,7     moderaten Pluralismus geprägt ist. Ergänzt durch eine
Prozent der Wählerstimmen erhielt.                             wachsende Volatilität am Wählermarkt bleiben insofern
Niemals zuvor konnte eine Partei in nur sechsmonatiger         Chancen für Neugründungen – aber gleichsam auch für
Gründungsgeschichte fast den Einzug in den Deutschen           kurzfristige Auf- und Abstiege der etablierten Parteien.
Bundestag schaffen. Die Besonderheit der AfD lag somit im
Tempo der Parteiwerdung, die bis zum Stichtag der Anmel-       In der Gesamtschau des Wahlergebnisses vom 22. Sep-
dung für die Bundestagswahl in allen Bundesländern ge-         tember 2013 stechen die folgenden Besonderheiten deut-
lang. Vielleicht war aber auch genau diese spezifische Dy-     lich hervor (Korte 2015a; Hilmer/Merz 2014; Jesse 2014):
namisierung eine Erklärung für das Wahlergebnis, denn          l Merkel siegte 2013 in historischen Ausmaßen. Zeitweilig
für Parteineugründungen ist der Zeitkorridor zwischen Auf-        schien am Wahlabend sogar eine absolute Mehrheit für
merksamkeit und Verfall immer schmal. Am Beginn domi-             die Unionsparteien möglich, wie es bislang lediglich
niert die Aufmerksamkeit der Medien überproportional. Im          Konrad Adenauer 1957 gelang.
Zeitverlauf ziehen solche Neugründungen aber auch sehr         l Wie Merkel schafften es nur Adenauer und Kohl, nach
viele Mitglieder an, die aus Unzufriedenheit mit anderen          einer Bundestagswahl mindestens dreimal gewählt zu
Parteien die Mitgliedschaft wechseln. Magnetisch ent-             werden.
steht ein Sog in Richtung von protestorientierten Neumit-

  2,5

   2

  1,5

   1

  0,5                                                                            Regierung
    0                                                                            CDU/CSU
  27.11.2009          27.11.2010           27.11.2011   27.11.2012
 -0,5                                                                            FDP

   -1
                                                                                              Abbildung 1:
 -1,5
                                                                                              Zufriedenheit mit der
   -2                                                                                         Bundesre gierung und
                                                                                              den einzelnen Koalitions-
 -2,5
                                                                                              partnern (-5 bis +5)
Quelle: Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer.

    100
        90
        80
        70
        60
        50
        40                                                                       Merkel
        30                                                                       Steinbrück
        20
        10
         0

                                                                                              Abbildung 2: Bundeskanz-
                                                                                              ler-Präferenz (in Prozent)
Quelle: Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer.

                                                                                                                           93
Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
Karl-Rudolf Korte
                     l Erstmals seit 2002 profitierten die Volksparteien wieder        Das Politisch-Romantische am Wahlergebnis
                         von Stimmenzuwächsen. Dass die Stimmengewinne der
                         einen Volkspartei nicht zu Lasten der anderen Volkspar-       Die Bundesrepublik Deutschland ist eine verhandelnde
                         tei gingen, sondern beide zeitgleich zulegten, trat zu-       Wettbewerbsdemokratie (Korte/Fröhlich 2009: 75–81),
                         letzt bei der Bundestagswahl 1965 ein.                        die sich politisch-kulturell als Schlichtungs- und Konsens-
                     l   Während Union und SPD in der 2005 gebildeten zwei-            demokratie präsentiert. Wahlen werden entsprechend im-
                         ten Großen Koalition nur knapp 440.000 Stimmen trenn-         mer in der politischen Mitte gewonnen. Konfliktscheu und
                         ten, war der Abstand dieses Mal mit knapp sieben Milli-       parteienkritisch zeigen sich viele Deutsche. Umgekehrt fa-
                         onen Stimmen deutlich größer.                                 vorisieren sie Überparteilichkeit. Machtworte sind in der
                     l   Nach der Wahl sind lediglich vier Fraktionen im Deut-         Bevölkerung ebenso populär wie präsidentielle Harmonie.
                         schen Bundestag vertreten: CDU/CSU, SPD, Linke und            Diese politisch-kulturelle Spielart von politischer Romantik
                         Bündnis 90/Die Grünen.                                        und Innerlichkeit hat eine große Tradition in Deutschland.
                     l   Mit 4,8 Prozent verfehlte die FDP den Einzug in den Bun-      Sie findet sich auch als ein Erklärungsmuster für das Wahl-
                         destag um nur 90.000 Stimmen. Die FDP ist erstmals            ergebnis.
                         nicht im Parlament vertreten.                                 Da steht zunächst die Kanzlerin mit ihrem Regierungsstil ei-
                     l   An der Sperrklausel scheiterte ebenfalls die Anfang           ner Kanzlerpräsidentin im Interessenfokus (Korte 2010;
                         2013 gegründete AfD, die jedoch auf Anhieb 4,7 Prozent        Korte/Switek 2013): Sie agierte wie bereits in ihrer ersten
                         der Wählerstimmen erhielt.                                    Amtszeit als Kanzlerin meist präsidentiell-überparteilich, or-
                     l   Knapp sieben Millionen Wählerstimmen (15,7 Prozent)           ganisiert lagerübergreifende (Fast-)Allparteienmehrheiten
                         fielen der Fünfprozenthürde zum Opfer; so viele wie bei       im Bundestag, erscheint in Finanzfragen als Krisenlotsin und
                         keiner Wahl zuvor.                                            zeigt sich extrem pragmatisch in der Aneignung von Lö-
                     l   Immer mehr Wählerinnen und Wähler nutzen die Brief-           sungsideen aus dem parteipolitisch gegnerischen Lager.
                         wahl. Ihr Anteil stieg von 21,4 Prozent (2009) auf 24,3       Zum Politisch-Romantischen am Ergebnis gehört letztlich
                         Prozent (2013).                                               auch der immerwährende Wunsch nach einer Großen Ko-
                     l   Die Zahl der Wechselwähler stieg leicht an. Während           alition als dem Abbild eines heiligen Grals in der Mitte der
                         ihr Anteil bei der Bundestagswahl 2009 noch bei 31 Pro-       Gesellschaft. Das ist extremer Ausdruck einer Konsensge-
                         zent lag, gab diesmal ein Drittel der Wählerinnen und         sellschaft, die das Überparteiliche höher bewertet als den
                         Wähler einer anderen Partei die Zweitstimme als bei der       Interessenkonflikt. Letztlich steckt auch in den hohen Zu-
                         vorherigen Bundestagswahl.                                    stimmungswerten für die AfD ein Stück Romantik. Denn
                     l   Seit 1998 ist die Wahlbeteiligung erstmals gestiegen.         diese Partei galt bei der Bundestagswahl 2013 als reine
                         Mit 71,5 Prozent war sie zwar etwas höher als 2009            Professorenpartei. Der Wunsch nach einer Expertokratie,
                         (70,8 Prozent), aber immer noch deutlich geringer als bei     die ausschließlich wissensbasiert – und eben nicht partei-
                         vorherigen Wahlen zum Deutschen Bundestag.                    politisch – entscheidet, hat romantische Züge.
                                                                                       Der Wahlkampf in Deutschland hat die Grundmelodie der
                                                                                       Schlichtungsdemokratie übernommen, was aber auch mit
                                                                                       einem gewachsenen Grad an Medienverdrossenheit der

                     Tabelle 1: Wahlentscheidung in sozialen Gruppen
                     (Wahltagsbefragung 2013, Zweitstimmen in Prozent)
                                                                   CDU/
                                                                                     SPD         FDP          LINKE        GRÜNE           AfD
                                                                   CSU
                     Gesamt                                         41,5         25,7             4,8           8,6           8,4           4,7
                     ALTER
                     18–29 Jahre                                     34              24            5            10             8             6
                     30–44 Jahre                                     41              22            5            10             8             5
                     45–59 Jahre                                     39              27            5            10             9             5
                     60 Jahre und älter                              49              29            5             4             8             4
                     BILDUNG
                     Hauptschule                                     46              30            3             7             4             3
                     Mittlere Reife                                  43              25            4            10             6             6
                     Abitur                                          39              24            5            8             12             5
                     Hochschule                                      37              23            7            9             15             5
                     BERUFSGRUPPE
                     Arbeiter                                        38              30           3             12             5             5
                     Angestellte                                     41              27           5             8             10             5
                     Beamte                                          43              25           6              5            12             5
                     Selbstständige                                  48              15           10             7            10             6
                     Landwirte                                       74               7           6              4             4             1
                     Quelle: Forschungsgruppe Wahlen.

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Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
Bürger zusammenhängt. Die Depolarisierung (Schoofs/                                        DIE BUNDESTAGSWAHL 2013 –
Treibel 2014) korrespondierte mit einer Empörungsver-                 STABILE AMBIVALENZ UND EIN HALBER MACHTWECHSEL
weigerung der Deutschen. Journalisten ereiferten sich über
Trivialitäten und erreichten damit nur noch sich selbst.
Selbstrefenziell verlief der mediale Wahlkampf gerade            fähigen Mobilisierungserfolgen führen soll (Lotz 2013).
auch deshalb, weil journalistisches Schwarmverhalten un-         Letztlich wurde das Resilienzmanagement der Kanzlerin
ter digitalen Bedingungen tendenziell deutlich zugenom-          honoriert bzw. ihr die Aura dazu unterstellt: Gleichgültig
men hat (Pörksen 2013). Die politische Öffentlichkeit war        welcher Krisenabstieg drohen könnte, mit Merkel geht es
selten so gespalten wie diesmal: Die Medien beschäftigten        im Aufwärtstrend irgendwie immer weiter – so die Wähler-
sich mit dem Versuch, Skandale zu beflügeln. Das Publikum        einschätzung.
strömte zu den Veranstaltungen und diskutierte interessiert
entlang der vielen Unterschiede zwischen den Parteien.
Ein Klima der Zufriedenheit hat immer den Nachteil, dass         Das Europäische am Wahlergebnis
politische Kontroversen eher gedämpft diskutiert werden.
Berufsempörung hatte aber nichts mit Empörung des Publi-         Europa hat die Wahl entschieden: Da sich keine der etab-
kums zu tun. Es stimmt, dass kein Thema der Parteien wirk-       lierten Parteien um eine ernsthafte, an Gestaltungszielen
lich lautstarke, emotionale oder intellektuelle Debatten         ausgerichtete Europapolitik im Wahlkampf gekümmert hat,
provoziert hat. Aber das ist nicht identisch mit unterstellter   stiegen die Chancen der eurokritischen AfD an (Kaeding
Langeweile. Vielmehr ist eine mit sich selbst zufriedene         2013). Solange die Parteien der Mitte im traditionellen alt-
Schlichtungsdemokratie pragmatisch aufgelegt. Der häu-           bundesrepublikanischen Europadenken befangen sind,
fige Konsens spiegelt sich dann auch oft in intellektueller      öffnen sich Themenspielräume für andere Parteien, die
Trägheit wider. Das ist der Preis der Zufriedenheit, das ist     nicht grundsätzlich europafeindlich sind, aber weniger be-
deutsche Biedermeierlichkeit (Gujer 2013).                       fangen im Hinblick auf Defizite der europäischen Integra-
Doch Unterschiede zwischen den Parteien und Lagern wa-           tion argumentieren. Die ausgehöhlte institutionelle Archi-
ren in zahlreichen markanten Punkten durchaus vorhanden          tektur, das Demokratiedefizit, die zunehmende exekutive
(Bender u. a. 2015; Wagschal/König 2015). Steuergerech-          Entscheidungsfindung – all das hätten die etablierten Par-
tigkeit war ein solches Thema, ebenso die Erhöhung des           teien thematisieren können, nicht nur Europa als Eurokrise.
Spitzensteuersatzes und der Erbschaftssteuer oder die Ein-       Die Stimmen für die AfD – ob nun im Parlament vertreten
führung einer Vermögensabgabe. Hier gab es entlang der           oder nicht – fehlten dem schwarz-gelben Regierungslager.
Lagergrenzen klare Fronten: pro Oppositions-, contra Re-         Ein anderer Europabezug war ebenso ausschlaggebend:
gierungsparteien. Doch sogenannte Aufregerthemen blie-           Beim Euro haben die Allparteienentscheidungen des Bun-
ben in der Erregungsdemokratie Deutschland diesmal               destages gezeigt, dass in der Krise viele zusammenhal-
weitgehend wirkungslos (Köcher 2013).                            ten. 2 Warum sollen die Wählerinnen und Wähler dann
                                                                 nicht gleich eine Große Koalition wählen? Europa hat auch
                                                                 mit dem Wahlklima zu tun: Wählen in Zeiten der Zufrieden-
Das Richtungspolitische am Wahlergebnis                          heit war diesmal für die meisten Bundesbürgerinnen und
                                                                 Bundesbürger angesagt – gerade im Vergleich mit vielen
Das Wahlergebnis legt die Dominanz wohlfahrtsstaatli-            anderen krisengeschüttelten Mitgliedsländern der EU.
cher und weniger gerechtigkeitsorientierter Zielbilder           Zahlreiche Regierungen waren seit der Lehman-Krise 2008
nahe. Wohlfahrtsstaatliche Themen im Sinne eines „Weiter         in Europa abgewählt worden – wegen der Banken-, Ver-
so!“ haben die Wahl entschieden. Die meisten Bürger wa-          schuldungs-, Eurokrise. Merkel wurde hingegen wegen ih-
ren 2013 in ihrer persönlichen und allgemeinen Einschät-         res Krisenmanagements im Euroraum gewählt. Und zu gu-
zung deutlich zufriedener und zukunftsoptimistischer als         ter Letzt: Deutschland ist sichtbar die Zentralmacht Euro-
2009 (Jung/Schroth/Wolf 2015). Mit Merkel als Garantin           pas, von der geldpolitisch alles abhängt. Merkel dominierte
dieses Wohlfahrtsniveaus sollten auch die kommenden              allein schon durch ihre langjährige Präsenz auf der Eu-
vier Jahre zumindest für eine sichernde Stabilisierung auf       ropa-Bühne, die ihr einen unschätzbar wichtigen Erfah-
diesem hohen Niveau sorgen. Wechselstimmung war des-             rungsvorsprung sicherte.
halb nicht messbar. Gerechtigkeits- und Bürgerrechtsthe-
men haben in so einem Klima sehr geringe Mobilisierungs-
chancen.                                                         Das Konservativ-Fortschrittliche am Wahlergebnis
Merkel galt für viele als diejenige, die als sichere Anwältin
der Steuergelder international auftrat: „Wir geben nichts!“      Es gehört zum Kernbestand der Wahlforschung, dass in
– so lautete das Credo. Viele verbanden damit richtungs-         Deutschland die Schnittmengen aus drei Bereichen zum
politisch auch keine Steuererhöhungen oder Haushalts-            Wahlerfolg führen: ökonomische Effizienz, soziale Ge-
konsolidierung. Vielmehr wurde das Primat der Sicherheit         rechtigkeit und kulturelle Modernisierung (Giddens 1999).
gewählt: tiefe Sehnsucht nach Sicherheit (objektive Sicher-      Wer in allen drei Bereichen über Problemlösungskompe-
heitslage und subjektives Sicherheitsgefühl), Absicherung        tenz und personelle Sichtbarkeit verfügt, steigt in der Wäh-
des sozialen Status und gesellschaftliche Selbstvergewis-        lergunst. Die Union lag nach Ansicht der Wähler mit Aus-
serung in moralischen Urteilen. Häufig orientiert sich diese     nahme des Bereichs „soziale Gerechtigkeit“ überall weit
Sicherheitssehnsucht nicht am Geld, sondern eher an be-          vor der SPD (Jung/Schroth/Wolf 2015). Die von Merkel be-
stimmten Gefühlen: Es geht um Anschluss und Austausch            triebene sanfte Öffnung der CDU vor allem in gesell-
mit anderen Menschen, eine soziale Identität und verläss-        schafts- und familienpolitischen Themen brachte der Union
liche Zukunftsplanung. Wohlfahrtssteigerungen müssen             auch die Meinungsführerschaft bei „weichen“ Themen
mit solchen Gefühlen einhergehen, wenn es zu mehrheits-          (Reinecke 2013).

                                                                                                                                95
Bundestagswahl 2017 - Zeitschrift Bürger und Staat
Karl-Rudolf Korte

                             Arbeitsplätze                                                    40
                                                                         22

                                 Eurokrise                                               38
                                                                    20

                      soziale Gerechtigkeit                                   26                        CDU/CSU
                                                                                    35
                                                                                                        SPD

                                Wirtschaft                                                         47
                                                              17

                                   Zukunft                                                39
                                                                    20
                                                                                                                    Abbildung 3: Parteikom-
                                              0         10     20              30        40        50               petenzen bei der Bundes-
                                                                                                                    tagswahl 2013 (in Prozent)
                     Quelle: Forschungsgruppe Wahlen.

                     Ökonomische Effizienz wird der CDU/CSU bei Wahlum-              Wenn Gewissheitsschwund in der Politik das Risiko zum
                     fragen konstant zugesprochen. Durch die Koalition mit der       Regelfall macht, muss das Politikmanagement extrem prag-
                     FDP hatte die Union die Chance, auch im Bereich der sozi-       matisch, postheroisch, und eher emotionslos daherkom-
                     alen Gerechtigkeit in der Wahrnehmung der Wähler zuzu-          men. 3 Es beschreibt alltägliche Wirklichkeiten. Das ist die
                     legen. Das Konservativ-Fortschrittliche am Wahlergebnis         Stärke der Kanzlerin, die mit ihrer Sprache der Wirklich-
                     (Reinecke 2013) liegt in der Dominanz einer Partei, die of-     keitsbeschreibungen auch für viele Bürgerinnen und Bür-
                     fensichtlich lagerübergreifende Zustimmungswerte und            ger sehr gut verstehbar ist. Merkels Sprache und Regie-
                     damit Fortschritt und Konservatismus gleichermaßen mitei-       rungsstil erscheinen als Prototyp für das Regieren unter
                     nander verbindet. Ohne diese Anmutung der Union wäre            den Bedingungen globalisierter Governance (Zürn 2011;
                     auch nicht nachvollziehbar, wie es zu derart intensiven         Heinze 2013). Ruhige Stärke und forcierte Passivität cha-
                     Sondierungen zwischen Union und Grünen nach den                 rakterisieren die Rhythmen ihres Politikmanagements. Die-
                     Wahlen kam. In den bislang trennenden Lebensstilfragen          ses Politikmanagement befriedigt in vielerlei Hinsicht den
                     haben sich die beiden Parteien markant angenähert, ohne         Eindruck, dass die Bürgerinnen und Bürger beim problem-
                     dabei völlig übereinzustimmen.                                  lösenden Regieren direkt mitgenommen werden. Faktisch
                                                                                     können so jedoch immer nur Wirklichkeiten durch die Kanz-
                                                                                     lerin beschrieben werden, nie Möglichkeiten und Gestal-
                     Das Postheroische am Wahlergebnis                               tungsziele. Deliberation und Dezision prägen in wechsel-
                                                                                     seitiger Abhängigkeit unsere Demokratie.
                     Merkel verfügte bei dieser Bundestagswahl ganz offen-           Ein Regierungsstil, der mit Geschwindigkeitsgrenzen bei
                     sichtlich über einen „Popularitätspanzer“ (Güllner 2013):       den Entscheidungen kämpft und weitgehend auf argumen-
                     Da sie sich häufig in der Öffentlichkeit extrem rarmachte,      tative Gestaltung verzichtet, verändert die Qualität der
                     bestand auch (noch) nicht die Gefahr des Überdrusses.           Demokratie. Doch wie die Bundestagswahl 2013 zeigte,
                     Keine Kritik an ihrem Regierungsstil, an Führungsentschei-      honorieren die meisten Wählerinnen und Wähler genau
                     dungen als Parteivorsitzende oder abrupten Themenände-          diesen Politikstil, der auf immerwährendes Kümmern setzt.
                     rungen blieb negativ an ihr haften (Kellermann/Mikfeld          Die Kanzlerin schien mit ihrem Stil des Entscheidens eine
                     2014). Ihr Image war unverändert: Sie dient pflichtbewusst      adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Risiko-
                     der Sache und nimmt das Amt, aber nicht sich selbst wich-       kompetenz gefunden zu haben. Politik erschien als Ort der
                     tig. Sie erschien integer und geerdet, ihr Habitus nicht auf    Sensibilitätsschulung für das Eintreten unerwarteter Ereig-
                     Bedeutung aus. Ihr Bekenntnis orientierte sich daher eher       nisse.
                     an Kartoffelsuppen und Hausmannskost statt an der Mole-
                     kularküche (Korte 2009; Korte 2013b; Dausend 2013).
                     Postheroisch ging sie mit dem Gebaren der Macht um, eher        Ein halber Machtwechsel
                     als wandelndes Understatement. Inszenierte Macht unter-
                     lief sie systematisch durch Macht ohne Gesten. Ihre Macht       „Sorgenvolle Zufriedenheit“ und „entspannter Fatalismus“
                     war wenig sichtbar, aber angesichts des Wahlergebnisses         – in solchen Formulierungen kulminiert eine Form von stabi-
                     nochmals enorm gewachsen. Man hatte den Eindruck,               ler Ambivalenz, die für die Bundestagswahl 2013 prägend
                     dass sie am Wahlabend die absolute Mehrheit für die             war und zu einem halben Machtwechsel führte. Im Rück-
                     Union fürchtete und froh darüber war, dass dies nicht ein-      blick erscheint die Große Koalition insofern als verlässlich
                     trat. Ihren erklärungsarmen Pragmatismus goutierten die         erwartbare Konstellation. Die charakteristische Stabili-
                     meisten Wählerinnen und Wähler. Sie sollte moderieren           tätskultur, der ausgeprägte Sicherheitskonservatismus und
                     und Tagesentscheidungspolitik betreiben.                        das hohe Wohlfahrtsniveau in Deutschland deuten gleich-

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zeitig auf lange Serien mittezentrierter Regierungen hin,                                                    DIE BUNDESTAGSWAHL 2013 –
wenngleich sich die Mitte manchmal auch umsortiert, wie                                 STABILE AMBIVALENZ UND EIN HALBER MACHTWECHSEL
sich nach der Bundestagswahl 2013 vor allem mit Blick auf
die Flüchtlingsdebatte gezeigt hat (Bieber u. a. 2017).
                                                                                Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.) (2016): Politik in unsicheren Zeiten. Kriege, Krisen
                                                                                   und neue Antagonismen. Baden-Baden.
                                                                                Korte, Karl-Rudolf/Fröhlich, Manuel (2009): Politik und Regieren in
LITER ATUR                                                                         Deutschland. Strukturen, Prozesse, Entscheidungen. 3. Auflage, Pader-
                                                                                   born u. a.
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Korte, Karl-Rudolf (2010): Präsidentielles Zaudern. Der Regierungsstil von
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   tian/Seemann, Wenke (Hrsg.): Die Große Koalition. Regierung – Politik
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Korte, Karl-Rudolf (2013a): Machtwechsel in der Kanzlerdemokratie. Auf-
   stieg und Fall von Regierungen. In: Korte, Karl-Rudolf/Grunden, Timo
   (Hrsg.): Handbuch Regierungsforschung. Wiesbaden, S. 411–421.
Korte, Karl-Rudolf (2013b): Ruhige Stärke, forcierte Passivität. Das Politik-
   management der Bundeskanzlerin in der Kritik der Beobachter. In:
   Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.06.2013.
Korte, Karl-Rudolf (2015a): Die Bundestagswahl 2013 – ein halber Macht-
   wechsel: Problemstellungen der Wahl-, Parteien- Kommunikations- und
   Regierungsforschung. In: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Die Bundestags-
   wahl 2013. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regie-
   rungsforschung. Wiesbaden, S. 9–31.                                              Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft
Korte, Karl-Rudolf (2015b): Dynamik und Konstanz. Das deutsche Partei-              an der Universität Duisburg-Essen im Fachgebiet „Politisches Sys-
   ensystem nach der Bundestagswahl 2013. In: Münch, Ursula/Oberreu-                tem der Bundesrepublik Deutschland und moderne Staatstheori-
   ter, Heinrich (Hrsg.): Die neue Offenheit. Wahlverhalten und Regie-
   rungsoptionen im Kontext der Bundestagswahl 2013. Frankfurt am                   en“. Seit 2006 ist er Direktor der NRW School of Governance.
   Main, S. 327–346.                                                                Karl-Rudolf Korte ist außerdem Dekan der Fakultät für Gesell-
Korte, Karl-Rudolf (2015c): Emotionen und Politik. Begründungen, Konzep-            schaftswissenschaften und Geschäftsführender Herausgeber der
   tionen und Praxisfelder einer politikwissenschaftlichen Emotionsfor-
   schung. In: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Emotionen und Politik. Baden-            Zeitschrift für Politikwissenschaft.
   Baden, S. 9–24.

                                                                                                                                                                         97
BUNDESTAGSWAHL 2017: PARTEIEN, PROGNOSEN UND SZENARIEN

     Aktuelle Entwicklungen in der
     Parteienlandschaft
     Frank Decker

                                                                   teien ihre Koalitionspräferenzen vor der Wahl deutlich
     Die Bundestagswahl 2017 wird aus mehreren Gründen             machten. Unter den Bedingungen eines Fünf- oder Sechs-
     spannend: Wie werden Angela Merkel und Martin Schulz          parteiensystems tun sie besser daran, solche Festlegungen
     abschneiden? Wer stellt die nächste Regierung? Da ver-        zu vermeiden – so wünschenswert diese aus der Sicht der
     mutlich mehr als vier Fraktionen im Bundestag vertreten       Wählerinnen und Wähler sein mögen. Auch 2013 war es
     sein werden, könnte sich die Koalitionsbildung schwierig      keineswegs sicher, dass es erneut zu einer Großen Koali-
     gestalten. Frank Decker skizziert vor diesem Hintergrund      tion kommen würde. Die Bildung einer schwarz-grünen Ko-
     die aktuellen Entwicklungen in der Parteienlandschaft,        alition scheiterte damals an den Grünen, die – auch we-
     die vor allem durch die rechtspopulistische AfD einen         gen ihres schwachen Wahlergebnisses – letztlich nicht be-
     bedeutsamen Einschnitt erfahren hat. War die politische       reit waren, das Bündnis mit der Union zu wagen.
     Stimmung in der Bundesrepublik bis Mitte 2015 „einge-         Was die Wahl zu einer außergewöhnlichen, ja dramati-
     froren“, änderte sich dies ab August 2015 schlagartig.        schen macht, sind drittens die Umstände, unter denen sie
     Durch den plötzlichen Zuzug von Flüchtlingen verloren         stattfindet. Eine neue Ära der Unsicherheit und Instabilität
     die Regierungsparteien merklich an Zustimmung. Hinge-         scheint in Europa und der westlichen Welt angebrochen zu
     gen schnellten die Zustimmungswerte der AfD unvermit-         sein, die bisherige Gewissheiten in Frage stellt. Dass
     telt nach oben, so dass wohl mit einer mittelfristigen Eta-   rechtspopulistische Parteien in Kernländern der Europäi-
     blierung der rechtspopulistischen Partei zu rechnen ist.      schen Union (EU) wie Frankreich, Österreich oder den Nie-
     Grüne und Linke konnten im Zeitraum von 2013 bis 2017         derlanden in die Nähe der Mehrheitsfähigkeit gelangen,
     konstante Zustimmungswerte verzeichnen. Die FDP er-           hätte man vor zwei oder drei Jahren ebenso wenig für
     holte sich währenddessen mühsam und geht mit leichtem         möglich gehalten wie einen Sieg des „Unpolitikers“ Do-
     Rückenwind in den Wahlkampf. Mit dem parlamentari-            nald Trump bei der US-amerikanischen Präsidentschafts-
     schen Einzug der AfD in den Bundestag dürfte sich das         wahl oder den von populistischen EU-Gegnern befeuerten
     Parteiensystem insgesamt nach rechts verschieben.             Brexit in Großbritannien. Unterstützt von einem strukturel-
                                                                   len Wandel der Öffentlichkeit und der Medien, fordern

     Die Wahl verspricht spannend zu werden

     Am 24. September 2017 wird der Deutsche Bundestag zum
     19. Mal gewählt. Die Wahl verspricht aus mindestens drei
     Gründen eine der spannendsten in der Geschichte der
     Bundesrepublik zu werden. Erstens könnte sich das Rennen
     um die Kanzlerschaft offener gestalten als 2009 und 2013,
     als die Union mit 12 bzw. 16 Prozentpunkten Vorsprung klar
     vor der SPD lag und diese somit über keine reale Macht-
     perspektive verfügte. Auch wenn das Umfragehoch der
     SPD nach der Bestellung von Martin Schulz zum Kanzler-
     kandidaten und neuen Parteivorsitzenden im Januar 2017        Auch wenn das Umfragehoch
     bis zur Jahresmitte wieder abschmolz und die Sozialdemo-      der SPD inzwischen abge-
     kraten in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen          schmolzen ist und die Sozialde-
     herbe Wahlniederlagen hinnehmen mussten, scheint der          mokraten in Schleswig-Holstein
     frühere Präsident des Europäischen Parlaments ein             und Nordrhein-Westfalen
     aussichtsreicherer Herausforderer von Bundeskanzlerin         herbe Wahlniederlagen hin-
     Merkel zu sein als Sigmar Gabriel (der zugunsten von          nehmen mussten, scheint Mar-
     Schulz auf Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur verzich-       tin Schulz, der frühere Präsi-
     tete) und Peer Steinbrück (der 2013 chancenlos geblieben      dent des Europäischen Parla-
     war). Für Merkel ist es nach elfeinhalb Jahren Amtszeit be-   ments, ein aussichtsreicherer
     reits die vierte Kandidatur.                                  Herausforderer von Bundes-
     Zweitens wissen wir nicht, welcher Koalition Merkel oder      kanzlerin Merkel zu sein als
     Schulz vorstehen werden. In einer Koalitionsdemokratie        Sigmar Gabriel (der auf die
     muss nicht automatisch die stärkste Partei oder Fraktion      Kanzlerkandidatur verzichtete)
     den Regierungschef stellen. Welche Parteien nach der          und Peer Steinbrück (der 2013
     Wahl zusammengehen, ließ sich in der Bundesrepublik zu        chancenlos geblieben war).
     früheren Zeiten immer verlässlich eingrenzen, weil die Par-                 picture alliance/dpa

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diese Kräfte das politische und gesellschaftliche Establish-                                    AKTUELLE ENTWICKLUNGEN
ment in einer bis dato nicht gekannten Weise heraus. Auf                                      IN DER PARTEIENLANDSCHAFT
die Globalisierung antworten sie mit Forderungen nach
einer „Schließung“ unserer offenen Gesellschaften und
Rückkehr zur vertrauten Nationalstaatlichkeit.                 tion durchgesetzten sozialpolitischen Maßnahmen kaum
Auch in der Bundesrepublik ist der Rechtspopulismus in-        zusätzliche Wählerunterstützung einbrachten, ruhen ihre
zwischen angekommen. Die Etablierung der erst 2013 ge-         Hoffnungen jetzt auf Martin Schulz, der das Thema soziale
gründeten Alternative für Deutschland (AfD) stellt eine ein-   Gerechtigkeit bei seinem Amtsantritt zum Leitmotiv der
schneidende Zäsur in der Parteiensystementwicklung dar.        Wahlkampagne erklärt hat.
Was die SPD in ihrer Regierungszeit in den 1970er und
2000er Jahren zweimal erfahren musste – dass innerhalb
des eigenen Lagers neue Konkurrenten entstehen – wie-          Vom Zweieinhalb- zum Sechsparteiensystem
derholt sich jetzt bei der Union. Nach ihrem Achtungser-
folg bei der Bundestagswahl 2013, als sie nur knapp an         Bis zur Formierung der gesamtdeutschen Linkspartei war
der Fünfprozenthürde scheiterte, ist es der AfD bei sämtli-    das Standardformat der Regierung in der Bundesrepublik
chen Landtagswahlen gelungen, in die Parlamente einzu-         die sogenannte „kleine Koalition“. Bevor die Grünen ent-
ziehen. Die im September 2015 einsetzende Flüchtlings-         standen, hatte die FDP als einzige kleine Partei im Wettbe-
krise bescherte ihr auch in den westlichen Bundesländern       werb zwischen Union und SPD eine Scharnierfunktion
zweistellige Ergebnisse, in den ostdeutschen Ländern           übernommen und den Regierungswechsel dadurch zwei-
Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern lag sie so-          mal ermöglicht (1969 und 1982). Die Etablierung der Grü-
gar bei über 20 Prozent. Obwohl die Zustimmungswerte           nen als vierte Kraft sollte ihr diese Schlüsselrolle ab Mitte
mit Beginn des Wahljahres nachgelassen haben, sehen            der 1980er Jahre entwinden. Da sich die Grünen koaliti-
die Umfragen die AfD sicher im kommenden Bundestag.            onspolitisch ausschließlich in Richtung SPD orientierten,
Selbst ohne eine starke AfD ist davon auszugehen, dass         verblieben die Liberalen von nun an im Gegenzug ge-
die Themen Flüchtlinge und Innere Sicherheit in der Wahl-      nauso treu an der Seite der Union. Es entstanden also zwei
auseinandersetzung eine wichtige Rolle spielen. Auch die       fest gefügte Lager, die sich als klar unterscheidbare Alter-
Außen- und Europapolitik könnte größere Bedeutung ge-          nativen gegenübertraten. Auf diese Weise konnte 1998
winnen als bei früheren Wahlen und die in den Wahlkämp-        zum ersten Male ein kompletter Regierungswechsel aus-
fen normalerweise dominierenden sozial- und steuerpoliti-      schließlich von Wählerhand herbeigeführt werden (De-
schen Themen in den Hintergrund treten lassen. Dies wäre       cker 2013a).
vor allem für die Sozialdemokraten ungünstig, die sich ge-     Das Hinzutreten der PDS hatte für das dualistische Modell
rade auf diesen Gebieten als Alternative zur Union profi-      ambivalente Folgen. Auf der einen Seite fügten sich die
lieren wollen. Nachdem die SPD zu Beginn der Legislatur-       Postkommunisten als dezidiert linke Partei in die Bipolarität
periode registrieren musste, dass die von ihr in der Koali-    des Systems ein. Auf der anderen Seite bildeten sie mit SPD
                                                               und Grünen zusammen nur elektoral ein gemeinsames La-
                                                               ger, da beide Parteien eine koalitionspolitische Zusam-
                                                               menarbeit mit den SED-Nachfolgern ausschlossen. Das
                                                               Parteiensystem war jetzt also auch innerhalb des linken La-
                                                               gers zwischen Rot-Grün und der PDS/Linkspartei segmen-
                                                               tiert. 1994, 1998 und 2002 hatte das noch keine Rückwir-
                                                               kungen auf die Regierungsbildung, da die Postkommunis-
                                                               ten zu schwach blieben, um das Zustandekommen einer
                                                               „kleinen Koalition“ zu vereiteln. Erst ihr Erfolg als gesamt-
                                                               deutsche Partei führte dazu, dass es bei der vorgezogenen
                                                               Bundestagswahl 2005 für keines der beiden Lager (SPD/
                                                               Grüne und Union/FDP) mehr zur Mehrheit reichte.
                                                               Die von manchen Politikwissenschaftlern gehegte Erwar-
                                                               tung, mit der daraufhin angebahnten Großen Koalition
                                                               werde eine neue konsensorientierte Ära des Parlamenta-
                                                               rismus anbrechen, sollte sich nicht bewahrheiten. Bedingt
                                                               durch die Rivalität der beiden Volksparteien, stand das im
                                                               Unterschied zu 1966 unfreiwillig geschlossene Bündnis
                                                               von Beginn an unter einem schlechten Stern. Es nährte im
                                                               Wählerpublikum die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu kla-
                                                               ren Machtverhältnissen, die durch den Sieg von Union und
                                                               FDP bei der Bundestagswahl 2009 prompt befriedigt
                                                               wurde. Deren Ausgang machte deutlich, dass Mehrheiten
                                                               für eine kleine Zweierkoalition im deutschen Parteiensys-
                                                               tem weiterhin möglich waren – allerdings nur im bürgerli-
                                                               chen Lager. Dies war auch vier Jahre später nicht anders.
                                                               Zu den Ironien der Bundestagswahl 2013 gehört, dass
                                                               Union und FDP mit einem bequemen Vorsprung durchs Ziel
                                                               gegangen wären, wenn beide Seiten in der Woche vor der
                                                               Wahl nicht die Nerven verloren hätten. Ihr Desaster bei

                                                                                                                               99
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