Bundesweites Journal für - Wohn-Pflege-Gemeinschaften im Fokus WG Selbstorganisation stärken, aber wie?
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Bundesweites für Journal Wohn-Pflege-Gemeinschaften Ausgabe Nr. 6 Oktober 2017 im Fokus WG Selbstorganisation stärken, aber wie? 1 1 2 2 3 6 4 3 5 6 7 4 7 8 8 5 9 10 11 9 11 10
2 Impressum Herausgeber: und Hamburger Koordinationsstelle für KIWA - Koordinationsstelle für innovative Wohn-Pflege-Gemeinschaften Wohn- und Pflegeformen im Alter STATTBAU HAMBURG im Ministerium für Soziales, Gesundheit, Stadtentwicklungsgesellschaft mbH Jugend, Familie und Senioren Sternstraße 106, 20357 Hamburg des Landes Schleswig-Holstein Telefon.: 040 - 43294223 Adolf-Westphal-Str. 4, 24143 Kiel E-Mail: koordinationsstelle@stattbau-hamburg.de Telefon: 0431/ 988 54 63 Website: www.stattbau-hamburg.de E-Mail: kiwa-team@gmx.de Website: www.kiwa-sh.de Verantwortlich: Ulrike Petersen und Mascha Stubenvoll Hamburg, Oktober 2017 Das bundesweite Journal für Hinweis: Wohn-Pflege-Gemeinschaften Möchten Sie diese Online-Informationen in erscheint in gedruckter Form Zukunft nicht mehr erhalten oder den Versand und als Online-Information. an eine Person/Institution empfehlen, senden Die aktuelle Ausgabe liegt Sie uns bitte eine Nachricht an: in den Koordinationsstellen aus. koordinationsstelle@stattbau-hamburg.de Ausgabe 2017 (Nr. 6) Versandverfahren Bei Interesse können Sie dieses Journal in Für den Inhalt ihrer Texte Druckform erhalten. sind grundsätzlich die Autorinnen Bitte senden Sie für eine Broschüre einen mit und Autoren verantwortlich. 1,45 € frankierten und adressierten DIN A4 Umschlag an: STATTBAU HAMBURG Stadtentwicklungsgesellschaft mbH Sternstraße 106 20357 Hamburg Die Website WG-Qualität.de bietet eine Plattform für eine Qualitätsdiskussion rund um ambulant betreuten Wohngemeinschaften nicht nur für Menschen mit Demenz. Ausserdem finden Sie spezifische Infomationen zu Wohn-Pflege-Gemeinschaften für die einzelnen Bundeslän- der auf sogenannten Länderseiten. Diese Seiten können Sie abrufen unter www.wg-qualitaet/laender/.
Inhalt 3 Vorwort 4 4_Konkret Neues aus Projekten 1_Leitartikel Weiterbildung zur Stärkung von Angehörigen Selbstbestimmung, Selbstorganisation, - Fortbildungsprogramm fertiggestellt 31 Selbstverantwortung - Überlegungen zum 5 Britta Hecht Begriffsfeld aus philosophischer Sicht Daniel Bremer Stärkung der WG Selbstorganisation durch ein gemeinsames Jahresprojekt 32 Der Diskurs zu Selbstbestimmung in Demenz- Jens Krieg Wohngemeinschaften - eine Chance für den Das Schönste was meiner Mutter passieren Blick auf die Versorgung alter Menschen in 8 konnte - 10 Jahre Wohngemeinschaft Villa unserer Gesellschaft? Mathildenhöhe, Erfahrungsbericht (von 33 Andrea von der Heydt Angehörigen) über die Selbstverwaltung 2_Kontext Mascha Stubenvoll Konzepte, Impulse und Entwicklungen WohnPatenschaften für Menschen mit Auf Augenhöhe: nur ein Traum? Demenz in Wohngemeinschaften im Kreis Über die Stärkung der Angehörigen in Rendsburg-Eckernförde. Projektskizze und 37 Wohn-Pflege-Gemeinschaften 10 erste Erfahrungen Klaus Bostelmann Liesel Mörsch Das Kölner Modell - Perspektiven WG Selbstorganisation ohne Angehörige? und Unterstützungsstrukturen für Ein Pilotprojekt für Menschen mit Demenz Wohngemeinschaften mit Auftraggeber- 13 geht in Hamburg neue Wege 39 gemeinschaft Beate Christians, Carsten Niedermeyer, Daniela Monika Schneider Kegeler und Bastian Brünninghaus Wohngemeinschaft zu verkaufen - Bericht Infobox DOSIS - Wohngemeinschaften eines Angehörigen über den Umgang mit der smart(er) organisieren 41 Kündigung des Pflegedienstes 16 Jutta Burgholte-Niemitz und Tanja Dubas Norbert Rochna 5_Wissenswertes Pflegedienstwechsel - eine weitreichende Entscheidung, die gut überlegt sein will Wissenschaftliche Studie „Finanzierungs- 17 Anne Helmer strukturen ambulant betreuter Wohn- gemeinschaften in NRW“ 43 Vertrauen ist die Basis: Selbstorganisation Aurelia Vietzen und Anne Wiegers von ambulant betreuten Wohngemeinschaften aus Sicht der Leistungsanbieter 20 Berliner Arbeitskreis ambulant betreute Britta Hecht Pflege-Wohngemeinscahften - AK-WGn 45 Andrea von der Heydt Qualitätssicherung in ambulant betreuten Wohngemeinschaften - Transparenzoffensive Neue Fachstelle für selbstverwaltete Demenz- des SWA e.V. 23 Wohngemeinschaften in Hessen 46 Andrea von der Heydt Tanja Dubas 3_Exkursion Das Landesbüro innovative Wohnformen NRW 47 Wohnalternativen im Alter - Wohn-Pflege- Anne Wiegers Projekte in anderen Ländern Lina Handrek, Eileen Heinemeyer und 25 6_Literatur 48 Sandra Pautsch Archiv 49 Von Pionieren, Projekten und Potenzialen - Gemeinschaftliche Wohnformen weiter Die letzte Seite 50 denken 27 Josef Bura und Ulrike Petersen
4 Vorwort Liebe Lerin und lieber Ler! die Selbstorganisation stärken – darum soll es Dazu eine Haltung, welche Interessen sie be- in dieser Ausgabe insbesondere gehen. Stellt wusst vertreten wollen. Die Erfahrung zeigt, die Selbstorganisation doch eine der funda- dass dies ohne Unterstützung, wenigstens in mentalen Grundlagen für das Gelingen in und der Aufbauzeit, kaum aus eigener Kraft und von ambulant betreuten Wohngruppen für Kompetenz zu erreichen und zu meistern ist. Menschen mit Demenz dar. Hinzu kommt, dass die Begleitung und Pflege Der Begriff „Selbst“ impliziert, dass sich die im häuslichen Bereich meistens schon sehr Nutzer/Mieter bzw. deren Angehörige oder ressourcenintensiv ist. auch engagierte rechtliche Betreuer in der Es besteht somit dringender Bedarf an Schu- Lage sind, sich „in eigener Sache“ zu enga- lungsangeboten und professioneller Begleitung gieren und diese auch gegenüber dem/der für künftige und aktuell agierende WG-Ange- Betreuungs- und Pflegedienstleister sowie dem hörige. Als „frischgebackene“ Fachstelle für Vermieter und ggfs. anderen Beteiligten zu selbstverwaltete ambulant betreute Wohnge- vertreten. meinschaften in Hessen kontaktieren uns wie sicherlich überall zunehmend Angehörige, die Im besten Fall – und das ist das Ziel – sind die sich für diese Wohn- und Versorgungsform in- Angehörigen und Mietervertreter in der Lage, teressieren. Eines unserer Ziele besteht darin, sämtliche entscheidungsrelevanten Vorgänge den Aufbau mithilfe eines interaktiven Online- und Abläufe zu verstehen, zu überblicken und Leitfadens zu erleichtern. Dennoch werden zu handhaben. Angefangen von der Haushalts- persönliche Ansprachen, Informationsvermitt- kasse, der Sprecherfunktion, Verhandlungen lungen bis hin zu Coachings im weitesten Sinn mit Dienstleistern, der Planung von Feiern, immer unerlässlich sein. Ausflügen, Einkäufen, Fuß- und Haarpflege, Physiotherapie und vieles mehr. Die Förderung und Stärkung von Selbstor- ganisation, Selbstverwaltung und schließlich Aber wie können Zu- und Angehörige in die Selbstverantwortung gehört somit fortwährend besagte „Lage“ versetzt werden, bzw. was auf den Themen- und Verhandlungstisch. wird gebraucht und welche Vorrausetzungen sind grundsätzlich nötig, die eigenen Anliegen Viel Freude beim Lesen und eine inspirierende selbstbewusst und verbraucherstark zu for- Lektüre wünschen Ihnen mulieren und zu vertreten? Dazu sind neben entsprechenden Fähigkeiten und Handlungs- sicherheit hinsichtlich der Alltagsabläufe auch das Wissen um rechtliche Voraussetzungen Jutta Burgholte-Niemitz und Möglichkeiten erforderlich. und Tanja Dubas
Leitartikel 5 Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Selbstverantwortung - Überlegungen zum Begriffsfeld aus philosophischer Sicht Daniel Bremer Fragt man heute Menschen nach den Werten, dass das, was erkennt, ein solides „Ich“ ist, wird die ihnen besonders wichtig sind, so rangiert dieser Befund mit dem Entstehen der ersten neben Freiheit und Gesundheit die Autonomie weit psychiatrischen Einrichtungen am Ende des 18. vorne. „Autonomie“ bedeutet wörtlich „Selbstge- Jahrhunderts zusehends schwieriger. Schwankt die setzgebung“ (griechisch: autos = selbst, nomos = psychische Stabilität, so versagt offenbar auch die Gesetz). Auf den ersten Blick scheint die Ange- sicher geglaubte Instanz eines unveränderlichen legenheit klar und problemfrei daherzukommen: Persönlichkeitskerns. Geht es einem Menschen gut, so fragt er nicht nach der Bedingung der Möglichkeit seiner Selbst- Wenn Immanuel Kant den Begriff der Autonomie bestimmung: Er oder sie organisiert sich den Tag als sichere Grundlage der Vernunft eines jeden selbst und geniesst die Lust an der Macht dieser Menschen postuliert und damit gar Eingang in die Handlungen. Schwieriger wird es, wenn Abhängig- Formulierung der Menschenrechte erlangt, so geht keiten ins Spiel kommen, die den Handlungsspiel- auch er noch von einer stabilen Persönlichkeits- raum einschränken: Wer zur Arbeit muss, fragt basis aus, die allerhöchstens dann Unsinn treibt, sich schnell nach dem Zeitpunkt des Freiseins. wenn sie sich noch im Status des Unaufgeklärten Wer, wie rund 60 Prozent der deutschen Arbeit- befindet. Die Natur wird in the long run dafür sor- nehmer seinen Beruf im Zustand „innerer Kündi- gen, dass die Menschheit sich zu einer hochmora- gung“ ausübt, erlebt die Pflichtausübung nur mehr lischen, jederzeit keine Fehler machende Gesell- als lästige Pflicht, als notwendiges Übel. Wessen schaft entwickelt. Gesundheitszustand sich trübt, der erfährt nicht Autonomie ist nach Kant die Grundlage aller mo- nur ökonomische, sondern vorab körperliche Ab- ralischen Gesetze und Ausdruck der Freiheit des hängigkeit und nicht selten damit verbunden auch Menschen als eines Vernunftwesens. Das Prinzip soziale Abhängigkeit. Besonders dann, wenn ein der Autonomie des Willens ist der kategorische Wechsel in eine Institution der Altenpflege an- Imperativ, d.h. die Verpflichtung nicht anders steht. Wann ist ein Mensch denn eigentlich frei zu wählen als so, dass die Maximen der Wahl in angesichts dieser Abhängigkeiten? Ja, wie kann demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz hier Freiheit als autonomes, selbstgesetzgebendes mitbegriffen seien. (GMS). Das heisst, dass der Handeln ausgeübt werden? Mensch seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen ist und nur verpflichtet Philosophen fragen nicht nur nach den Bedingun- ist, seinem eigenen, aber „allgemein gesetzgeben- gen, unter denen Freiheit und damit verbunden den“ Willen gemäss zu handeln. Autonomie möglich sein kann, sondern auch nach der Möglichkeit und der Existenz eines „Selbst“, Als Sinneswesen steht der Mensch unter Naturge- das als feste Grundlage gegeben sein müsste, um setzen (Heteronomie = Fremdbestimmtheit), jederzeit freie Entscheidungen treffen zu können. als „Noumenon“, Vernunftwesen, das zur „intelli- Das klingt auf den ersten Blick wiederum banal. giblen Welt“, zum „Reich der Zwecke“ sich rechnet, Aber der morgendliche Blick in den Spiegel zeigt steht er unter Gesetzen der Vernunft, durch die er bereits, dass es schwierig wird mit der Bestim- sich selbst in seinem Handeln bestimmt. mung des jeweiligen „Ichs“, das durch mannigfal- tige hygienische und ästhetische Handlungen in Bei der Autonomie soll unbedingt so oder so ge- einen Zustand umgewandelt wird, der öffentlich handelt werden, ohne Rücksicht auf einen Zweck zumutbar ist. Geht es jemandem schlecht, wird oder auf eine Neigung, rein aus der Gesetzlichkeit dies ein schwieriger Prozess. des Willens selber. Die Unabhängigkeit von allen Objekten der Begierde ist Freiheit im negativen Ging etwa Thomas von Aquin im Mittelalter davon Sinn, die eigene Gesetzgebung der reinen aus, dass, was auch immer ein Mensch in der Welt praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Sinn. erkennt, doch stets ganz sicher darüber sein kann,
6 Leitartikel A . utonomie verpflichtet zum Respekt vor ande- ren Menschen und zur Selbstachtung: „… Auf diesen Ursprung gründen sich nun manche Ausdrücke, welche den Werth der Gegenstände nach moralischen Ideen be- zeichnen. Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muss ihm heilig sein. In der ganzen Schöp- fung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloss als Mittel ge- braucht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf ist Zweck an ihm selbst. Er ist nämlich das Subject des morali- schen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie der Freiheit. Eben um dieser willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Be- Die wenigen Beispiele, die Kant erwähnt, sind dingung der Einstimmung mit der Autonomie des längst als untauglich zurückgewiesen worden: vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich Lügenverbot, Selbstmordverbot, die Pflicht zur keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach ei- Kultivierung der eigenen Vermögen und das Ge- nem Gesetze, welches aus dem Willen des leiden- bot der Hilfe werden tagtäglich lokal und global den Subjectes selbst entspringen könnte, möglich tausendfach verletzt. Als regulative Leitidee kann ist; also dieses niemals bloss als Mittel, sondern die Behauptung zur Autonomie zwar durchaus auf- zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen.“ rechterhalten werden. (Kritik der praktischen Vernunft (1788), Kapitel 3. Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen prak- Dass sie sich umgekehrt leicht und wirkungsvoll tischen Vernunft. Akad. Ausgabe (1905ff), S. V:87 vermarkten lässt, führt in vielen Lebensbereichen (= KPV); GMS= Grundlegung zur Metaphysik der aber zur Vorstellung, es läge tatsächlich ein eigen- Sitten) tümlicher Persönlichkeitskern eines autonom agie- renden Selbst vor, das freie Entscheidungen fällen Das klingt zunächst als grosskalibriger, logisch ein- könne. leuchtender Entwurf eines Menschenbildes. Blickt Das von viel zu hohen Ansprüchen ausgehende man genauer hin, so fragt sich, ob es erstens sol- optimistische und idealistische Menschenbild Kants che hochgradig vernünftigen und stabilen, jeder- muss aber relativiert werden, nicht erst, aber si- zeit optimal moralische Entscheidungen treffende cher auch und gerade im Alter. Personen überhaupt gibt. Nur schon die Schwan- kungen der Tagesform oder die biografische Ent- Ein realistisches Menschenbild, das auch und gera- wicklung vom Kind zum alten Menschen sprechen de die Abhängigkeiten des Menschen in seinen Le- doch eine ganz andere Sprache, was die Möglich- bensphasen berücksichtigt und die Würde nicht an keiten einer korrekten Umsetzung angeht. Kommt eine absolute und angeborene Autonomie knüpft, dazu, dass der Anspruch, moralisch jederzeit wi- liefert der Philosoph Helmuth Plessner. In einem derspruchsfreie Entscheidungen treffen zu können Aufsatz von 1948 liefert er die Grundlage für eine schon an der Frage scheitert, woran sich denn gut prozessuale Sichtweise von Selbstbestimmung, gemeinte Moral des Einzelnen messen lassen soll. welche die täglichen Schwankungen zwischen Selbstsicherheit und Selbstverlust als typisches FOTO: ULRIKE PETERSEN Wesensmerkmal festmacht und zeigt, dass es zum Menschen gehört, sich täglich neu inszenieren zu müssen, weil sich das, was man als Selbst ausge- macht und stabilisiert zu haben glaubt, regelmäs- sig oder spätestens über Nacht wieder verflüchtig.
Leitartikel 7 Diese, wie ich sie nenne, skeptische Form von Als kurzes Fazit lässt sich sagen: „Autonomie“ ist Würde verleiht dem Menschen auch eine Würdi- ein mehrdeutiger Begriff, der je nach Auffassung gung seiner Gebrechlichkeit, seiner zeitweiligen des Menschen ganz anders erscheinen kann. Wo Unbestimmtheit und seinen Verwirrungen. Doch der eine idealistisch von einem souveränen Selbst hören wir Plessner selbst: träumt (das er wohl nur dann tut, wenn es ihm gerade gut geht und er sich frei bewegen kann), „Aber diese Würde hat ihre Wurzel nicht allein in sieht der andere den Menschen als abhängiges der Ebenbildlichkeit zu Gott, sondern ebenso sehr und zeitweise gar nicht selbstbewusstes Wesen an, in dem mit der Abständigkeit zu sich gegebenen das täglich um Autonomie ringt und eine solche für Abstand zu ihm. Würde besitzt allein gebroche- gewisse Phasen stabilisieren kann, diese aber auch ne Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht wieder verliert. gespannte zerbrechliche Lebensform. Ihre Über- Die Selbstorganisation alter Menschen kann im Be- legenheit über das blosse Leben, die in ihren reich der Pflege gestärkt werden, wenn betreuen- geistigen Äusserungen vernehmbar wird, erkauft de Personen ihre Menschenbilder hinterfragen und sie mit Hemmung und Unterlegenheit im blossen erkennen, dass ein Menschenbild ohne Einbezug Leben. seiner Abhängigkeiten unvollständig ist und revi- Er ist gebrochene Ursprünglichkeit, die nicht über diert werden muss. Ein tragfähiges Beispiel hierfür sich selbst verfügt. Er fällt nicht mit dem zusam- liefert Helmuth Plessner, dessen Lektüre sich auch men, was er ist: dieser Körper, dieses Tempera- und gerade heute wieder lohnt. ment, diese Begabung, dieser Charakter, insofern als er sie, sich von ihnen distanzierend, als dieses ihm gegebene Sein erkennt. Sie sind ihm zugefal- Fußnote len und ihrer Zufälligkeit bleibt er sich bewusst, ob 1 Zuerst in Die Stufen des Organischen und der Mensch er nun ihrer Herr wird oder nicht. Das, was er hat, (1928), in der vorliegenden Ausgabe Bd. IV; weiterhin in hat er zu sein – oder nicht zu sein. Macht und menschliche Natur (1931), in der vorliegenden In diesem Sich-selber-präsent-Sein liegt der Bruch, Ausgabe Bd. V; und in Lachen und Weinen (1941), die ‚Stelle’ möglichen Sich-von-sich-Unterschei- in diesem Band S. 202-387. dens, die dem Menschen im Zwang zur Wahl und als Macht des Könnens seine besondere Weise des Daseins, die wir die exzentrische genannt Daniel Bremer haben1, anweist.“ ETH Zürich (Plessner, Helmuth, 1948: Zur Anthropologie des E-Mail: d.bremer@active.ch Schauspielers. In: ders. Gesammelte Schriften. Website: www.ethik-pflegen.ch Band VII, S. 399-418. Frankfurt a.M. 2003, S. 416f.) Dieses Menschenbild lässt die Frage nach der Möglichkeit der Selbstorganisation in einem an- deren Licht erscheinen, als uns das Autarkie verheissende kapitalistische Werbe-Ich verheisst. Es bezieht die Abhängigkeiten und die Sorge um den Anderen in dessen Schwächephasen nicht als Verlust, sondern als immer schon zum Men- schen gehörigen Ausdruck von Würde mit ein. Und: Autonomie in Form von Selbstverantwortung, Selbstorganisation, Selbstbestimmung ist nun ein oszillierender Prozess, den keine Qualitätsprü- fungskommission (medizinische Skalentests wie der GCS, Prüfinstanzen wie der MDK etc.) einfach so „feststellen“ kann, denn eine Momentaufnahme sagt hier gar nichts aus.
8 Leitartikel Der Diskurs zu Selbstbestimmung in Demenz-Wohngemeinschaften - eine Chance für den Blick auf die Versorgung alter Menschen in unserer Gesellschaft? Andrea von der Heydt Seit noch gar nicht allzu langer Zeit liegen die So fordert u.a. auch der Deutsche Ethikrat, Themen Demenz1 und ambulant betreute Wohn- die „…jeweils noch vorhandene Selbstständigkeit gemeinschaften politisch und gesellschaftlich im und Selbstbestimmung zu bewahren und zu för- Trend. Und das ist gut so: Menschen mit Demenz dern.“3 sind nicht einfach nur „völlig verblödet“, wie von Die Motive für das Leben in einer sog. ambulant Alzheimer betroffene Menschen 1906 noch be- betreuten Demenz-WG sind daher leicht nachvoll- schrieben wurden, sondern leiden an einer mul- ziehbar: „…der Erhalt der vertrauten Umgebung: tifaktoriellen Krankheit. Die Krankheit kann zwar Das Konzept der Demenz-WG bietet die Chance, (noch) nicht geheilt werden, man kann aber lernen dass Demenzkranke länger selbstbestimmt leben. mit ihr umzugehen und betroffenen Menschen ein Angehörige werden entlastet, können zugleich würdiges Leben ermöglichen. aber Einfluss ausüben und Verantwortung über- Die Alzheimer-Krankheit ist seit mehr als 100 Jah- nehmen… Für die Bewohnerinnen und Bewohner ren bekannt und doch gibt es in Deutschland mit kann die Wohngemeinschaft im Laufe der Zeit zu der ´Alzheimer Forschung Initiative e.V.´ erst seit einer vertrauten Umgebung werden. Die Gruppe 1995 den ersten privaten Verein, der Alzheimer- ist überschaubar und es kommen stets die glei- Forschung fördert. chen Pflegekräfte und Helfer ins Haus. Außerdem können sich die Angehörigen der demenzkranken Im Jahr 2009 gibt Alzheimer’s Disease Internati- Menschen rege am WG-Leben beteiligen. …“ 4 onal (ADI), der Dachverband der Alzheimer-Ge- sellschaften weltweit, den ersten „Welt-Alzhei- Grundsätzlich steigt die Lebenserwartung in den merbericht“ heraus. Er zeichnet ein düsteres Bild: westlichen Gesellschaften seit Jahren kontinuier- Wurden bis 2010 35,6 Millionen Demenzkranke lich an. Gleichzeitig altert damit eine Generation, prognostiziert, verdoppelt sich die Zahl laut Hoch- die, bedingt durch den medizinischen Fortschritt rechnungen alle 20 Jahre – bis 2050 auf 115,4 und die Aufklärung sowie die Mittel und Motivation Millionen. Der Anstieg ist nicht nur dem demogra- der Älteren, nicht nur später pflege- oder betreu- fischen Wandel geschuldet, sondern auch der er- ungsbedürftig werden wird (besonders betroffen höhten Aufmerksamkeit.2 werden Menschen ab 80 Jahren sein). Diese Ge- neration konnte größtenteils auch ein Leben frei Ebenfalls noch sehr jung sind neben der Forschung von Kriegen und äußeren Zwängen selbstbestimmt in Deutschland gerontopsychiatrische Ansätze, die leben. das Augenmerk auf den adäquaten und menschen- würdigen Umgang mit dieser Krankheit legen: Lan- Viele Studien sind sich einig, dass das Wohnen im ge Jahre wurden Menschen mit Demenz je nach Alter eine zentrale Rolle spielt und Untersuchungen kulturellem Umfeld und je nach sozialem Status in zeigen eindeutig, dass der alternde Mensch so lan- den bestehenden Strukturen mehr oder weniger ge wie möglich in seiner häuslichen und vertrauten gut mitversorgt: als „kuriose Alte“ in herkömmli- Umgebung bleiben möchte.5 chen Familienstrukturen oder als verrückte Patien- Das heißt, nicht nur für den an Demenz erkrankten ten in stationären Einrichtungen. Die spezifischen Mensch (der zugegeben ein besonders hohes Maß (und teilweise extrem herausfordernden) Begleit- an Vertrautheit benötigt, um sich möglichst selb- erscheinungen der unterschiedlichen Formen von ständig zurecht zu finden) gilt: „Mit zunehmendem Demenz sind auch heute noch Grundlage für die Alter und damit eventuell einhergehenden gesund- Gabe von (teilweise nicht notwendigen) Psycho- heitlichen Einschränkungen, wird mehr Zeit in den pharmaka. Gerontopsychiatrische Konzepte wie eigenen vier Wänden oder in unmittelbarer Nähe z.B. multiperspektivische Fallarbeit oder person- verbracht. Das Wohnen hat für ältere Menschen zentrierte Betreuungsansätze sind aber inzwischen daher große Bedeutung für die Lebensqualität und bekannt und setzen sich zunehmend durch. Teilhabe am sozialen Leben.
Leitartikel 9 Viele Senioren leben in ihren eigenen vier Wän- alternden Menschen näherkommt. Aber noch bleibt den.“6 Damit einhergehend spielt die „Bewahrung viel zu tun: es müssen deutlich mehr Ressourcen der Selbständigkeit, der Selbstversorgung und Er- zur adäquaten Begleitung alt und pflegebedürftig höhung der Lebensqualität im Alter eine immer grö- werdender Menschen bereitgestellt werden: Wir ßere Rolle.“7 Die Attraktivität von kleineren Wohn- brauchen angemessenen Wohnraum, ausreichend formen (Wohngruppen oder Wohngemeinschaften) und qualifiziertes (gerontologisch geschultes) Per- liegt auf der Hand: sie versprechen das Flair eigener sonal und angepasste Infrastrukturen, um nur Eini- Häuslichkeit, eventuell sogar in einer lange bekann- ges zu nennen. Das Ziel muss lauten: Hin zu mehr ten Umgebung mit vertrauten Menschen, eine aktive multifunktionalen, persönlichen und personalisierten Einbindung (je nach Fähigkeiten und Ressourcen) Wohn- und Versorgungsformen9 - nur so viel Pflege in alltägliche Abläufe, gute Betreuung und Pflege wie notwendig10 -, soziale Teilhabe und möglichst in- sowie, last but not least, größtmögliche individuelle dividuelle Begleitung im Alltag und bei persönlichen und selbstbestimmte Lebensweise. Belangen. Ein Anspruch, der seit 2014 auch in den acht Artikeln der Charta der Rechte für hilfe- und Der Anspruch auf eine angemessene Versorgung bei pflegebedürftige Menschen11 verankert ist. altersbedingten Krankheiten schlägt sich inzwischen in den Pflegeansprüchen nieder: Mit Inkrafttreten des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes am 1. Janu- Fußnoten ar 2016 wurden die Grundlagen für einen neuen 1 Demenz wird hier vereinfacht für alle Formen, einschl. Alzheimer verwendet 2 Pflegebedürftigkeitsbegriff gestellt, der seit dem 1. s. URL: https://www.dasgehirn.info/krankheiten/morbus-alzheimer/alzhei mer-eine-krankheit-macht-geschichte, Stand 28.07.2017 Januar 2017 gilt. Dabei werden erstmals körperli- 3 Deutscher Ethikrat: Demenz und Selbstbestimmung – Stellungnahme. che, kognitive und psychische Beeinträchtigungen Berlin 2012 berücksichtigt. Zusätzlich werden in sozialpolitischen 4 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Wegweiser Diskussionen über angemessene Versorgungsfor- Demenz: Url: http://www.wegweiser-demenz.de/informationen/betreuung-und- men debattiert und in vielen regionalen Program- pflege/pflegeheim/ambulant-betreute-wohngemeinschaften-fuer-menschen-mit- men Fördergelder für alternative Wohnformen im demenz.html, Stand: 28.07.2017 Alter bereitgestellt. 5 DPF AG: Wohnen im Alter - Anspruch und Realität in einer alternden Gesell schaft. Berlin 2013. URL: http://www.dpf-investment.de/de/downloads/studien. „Wie die Gesellschaft, so wandeln sich auch die in html, Stand: 22.07.2016. ihnen bestehenden Institutionen. Dies trifft somit 6 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): auch auf die Heime zu. Sie haben sich von den Spi- Chancen erkennen und nutzen. Alternde Gesellschaften im internationalen tälern und Stiften des Mittelalters in wechselvollen Vergleich. Gutachten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Berlin, Schritten zu den gegenwärtigen Service-Einrichtun- 2017. S. V URL: https://www.bmfsfj.de/blob/78964/e8ccc6bd13bdf1cbad217b64f gen verändert. Damit verbunden sind Veränderun- 38b41f0/chancen-erkennen-alternde-gesellschaft-internationaler-vergleich-data. gen, welche die gesellschaftliche Einstellung zu den pdf, Stand: 28.07.2017 alten Menschen als Gesamtheit durchlaufen haben.“8 7 Fischer, Bernd (Hrsg.): Alter und Altern. Historische und heutige Perspek- tiven des Alters und Alterns, S. 137 URL: http://www.wissiomed.de/ Manche pflegebedürftigen Menschen benötigen si- mediapool/99/991570/data/Alter_und_Altern_60_Plus.pdf, Stand 28.07.2017 cher weiterhin spezielle medizinische Technik und 8 Heinzelmann, Martin: Das Altenheim – immer noch eine „Totale Institution“? es ist sicher ressourcenorientierter, bestimmte Hilfs- Eine Untersuchung des Binnenlebens zweier Altenheime. Dissertation, maßnahmen weiterhin zu bündeln. Aber es spricht Göttingen 2004 meines Erachtens nichts dagegen, stationäre Ein- 9 s.a. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): richtungen künftig als kleinere Wohneinheiten mit Chancen erkennen und nutzen. Alternde Gesellschaften im internationalen garantiertem Einzelzimmer zu denken. Zugespitzt Vergleich. Gutachten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. und zugegeben ein wenig polemisch gibt es keinen Berlin, 2017 vernünftigen Grund, Menschen mitten in der Nacht 10 z.B. www.pwc.com/structure: Das Gesundheitssystem geht an den zu wecken, um sie pflegerisch zu versorgen und mir Bedürfnissen alter Menschen vorbei. Artikel 12/2015 fällt kein versorgungsrelevanter Aspekt ein, warum 11 Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen (2014). Menschen kollektiv um acht Uhr frühstücken müs- URL: https://www.pflege-charta.de/de/startseite.html, Stand: 22.07.2016. sen, etc. Andrea von der Heydt Die gute Nachricht ist, dass auf vielen Ebenen ein Umdenken bereits erfolgt und den Wünschen des Selbstbestimmtes Wohnen im Alter e.V. E-Mail: verein@swa-berlin.de Website: www.swa-berlin.de
10 Kontext Konzepte, Impulse, Entwicklungen Auf Augenhöhe: nur ein Traum? Über die Stärkung der Angehörigen in Wohn-Pflege-Gemeinschaften Klaus Bostelmann Was ist das Besondere an Wohn-Pflege-Gemein- Aber: ist diese Erwartung an die Angehörigen wirk- schaften? Das Besondere ist die Kooperation zwi- lich realistisch? Entspricht sie der gängigen Praxis schen drei Partnern, die alle in neu definierten in heutigen Wohn-Pflege-Gemeinschaften? Sind Rollen miteinander kooperieren: diese neuen Formen der Betreuung tatsächlich mehr als „Pflegeeinrichtungen mit verminderter • die Vermieter vermieten nicht nur Wohn- Aufsicht“? raum, sondern sind zumindest in der Start- Die Antwort auf diese Frage muss derzeit subjektiv phase auch als aktive Partner in der Gestal- bleiben. Eine wissenschaftliche Untersuchung gibt tung dieses Modells gefragt; es dazu bislang nicht. Sie wäre ja auch nicht eben • die Pflegedienste sollen bislang einzeln einfach: es wäre nämlich zu untersuchen, ob die erbrachte Leistungen bündeln, ohne den Angehörigengemeinschaft tatsächlich nicht nur auf Betrieb einer Pflegeeinrichtung abzubilden, Augenhöhe mit dem Pflegedienst kooperiert, even- in der sie autonom die Standards setzen tuell auch in das Alltagsleben der WG eingebunden • die Angehörigen, als Vertreter der Bewoh- ist, sondern tatsächlich auch die entscheidenden Impulse für die Gestaltung des Zusammenlebens nerinnen, sollen als treibende und gestal- in der Wohngemeinschaft gibt. tende Kraft in der Wohn-Pflege-Gemein- Die empirische Erkenntnislage über die Angehö- schaft aktiv werden. rigen ist nicht viel besser, zumindest in Bezug auf die Situation in Hamburg: die einzigen derzeit In diesem Modell stehen die Angehörigen vor der verfügbaren Daten entstammen einer im Jahre größten Herausforderung: waren sie in stationären 2011 durchgeführten Befragung. Danach liegt das Einrichtungen auf die Rolle eines gelegentlichen Durchschnittsalter der Angehörigen bei 55 Jahren Besuchers beschränkt, sollen sie jetzt als „Gesamt- und das Bildungsniveau ist relativ hoch (62,5 % auftraggeber“ über die Gestaltung des gemeinsa- mit Abitur). men Wohnens entscheiden. Dabei geht es nicht darum, den Angehörigen im eigenen, womöglich Auf Bundesebene sieht es nur wenig besser aus: in ökonomischen Interesse einen neuen Gestaltungs- 2015 wurde die Abschlussarbeit von Tina Sand mit spielraum zu verschaffen. Ziel ist die möglichst dem Titel „Ambulant betreute Wohngemeinschaf- lange und möglichst weitgehende Erhaltung der ten - Die Rolle der Angehörigen von Menschen mit Selbstbestimmung der BewohnerInnen. Demenz.“ veröffentlicht. Sie basierte auf der Be- Diese Zielsetzung scheint zunächst philosophisch fragung von 30 Angehörigen in hessischen WPGs. oder politisch begründet, hat aber auch handfeste Einige der Aussagen seien in Kürze referiert: Gründe: „Erhebungen bezeugen Wohngruppen- konzepten die größten Fortschritte und Vorteile • Nur in relativ wenigen Wohngemeinschaf- in Bezug auf das Wohlbefinden der Betroffenen. ten (WGs) wirken Angehörige regelmäßig Grundlage dafür ist die im Konzept von WGs kon- statierte Selbst- und Mitbestimmung sowie die an alltäglichen Versorgungsangeboten der Achtung der Individualität der Bewohner.“ (Sand, WGs mit. Dabei scheint der Beteiligungs- 2015) Wer aber könnte diese besser sicherstellen grad der Angehörigen mit zunehmender als die Angehörigen als VertreterInnen der Bewoh- Wohndauer abzunehmen. nerInnen? Sie sind die „Garanten für die Ausübung (Aus subjektiver Erfahrung ist das nachvoll- der Selbstbestimmung“ (Schwendner, 2014). ziehbar: mit fortschreitender Demenz des Bewohners schwindet das Gefühl, noch et- was „miteinander machen“ zu können.
Kontext 11 Konzepte, Impulse, Entwicklungen Die Studie nennt hier Beziehungsqualität verständnis bezüglich ihrer führenden Rolle zum Bewohner, Gesundheitszustand, aber innerhalb des Verantwortungsverbundes auch Rahmenbedingungen und WG-Füh- der WG. rung als wichtige Faktoren). • Erkenntnisse darüber, wie Angehörige in ih- Diesem Versuch einer objektiven Annäherung folgen nun einige rein subjektive, aus individueller rer Rolle im Verantwortungsverbund unter- Hamburger Erfahrung gewonnene Einschätzungen: stützt werden können, fehlen momentan. • Primäres Motiv für die Unterbringung in • Die Entscheidung für einen Pflegeplatz fällt einer WG ist, dass der Angehörige „gut meist in einer Notsituation und dann steht aufgehoben ist“. Erst danach folgen aktive der – im Vergleich zur traditionellen Pflege- Begleitung des Angehörigen und eigener einrichtung - gute Pflegeplatz im Vorder- Entscheidungsspielraum hinsichtlich der grund. Das ist legitim, aber im Sinne der Versorgung. gewollten Selbstorganisation auch nur ein erster Schritt. • Probleme sehen Angehörige am häufigs- • Die Selbstorganisation im Sinne einer Ge- ten in der nicht adäquaten Kommunikation staltung der WG-Kultur durch die Angehöri- – mit dem Pflegedienst aber auch mit den gen wird dabei von Vielen eher als notwen- anderen Angehörigen. diges Übel, als Pflicht, gesehen, weniger als • Eine kritische Phase ist häufig der Über- Chance. Verständlich, denn Selbstorganisa- gang vom „Gründerteam“ der Angehörigen tion bedeutet Zeit und oft auch Konfronta- hin zu neu einsteigenden Angehörigen, tion: mit anderen Angehörigen aber auch wenn der Transfer der anfänglich prägen- mit dem Pflegedienst, der – bei zumeist FOTO: ULRIKE PETERSEN den Zielsetzung nicht ausreichend gelingt herausragendem Engagement auf der Ebe- und neue Angehörige nicht ausreichend ne der Mitarbeiter/innen – insgesamt einer integriert werden. durch „stationäre“ Pflege und ökonomische • Angehörige entwickeln – insbesondere als Zwänge geprägten Logik folgt. „Nachrücker“ - kein ausgeprägtes Selbst-
12 Kontext Konzepte, Impulse, Entwicklungen • Ein zur Gründungsphase vielleicht einmal dann ist eine Stärkung der Angehörigen im Modell erstelltes „Konzept“ der WG tritt in den der WPG dringend notwendig. Hintergrund und wird an neu einsteigende Handlungsoptionen gibt es einige Angehörige kaum vermittelt. ● ein behördlich geführtes Register der Ange- • Der Blick über den Tellerrand der eigenen hörigensprecher würde die Voraussetzung WG wird den aktiven Angehörigen nicht für eine Unterstützung und Vernetzung der leicht gemacht: selbst wenn ihre WG durch WPGs ermöglichen, glückliche Fügung Kontakt – dies ist mögli- ● eine umfassendere Forschungsarbeit zu cherweise spezifisch für Hamburg - zur Angehörigen in WPGs könnte womöglich Koordinationsstelle hat, trifft sie dort nur wichtige Erkenntnisse liefern, auf einen Teil der bestehenden WGs. Die ● eine verbindliche Einführung neuer Integration in das dortige Netzwerk ist Angehöriger in ihre neue Rolle in Gestalt nämlich eine Option, die - über längere entsprechender Seminare würde zu einem Zeiträume betrachtet - nur von einem Teil deutlichen Kompetenzgewinn führen. der WGs genutzt wird. ● Angehörige könnten durch Coaching auf • Was vollends fehlt ist eine eigenständige Kosten der Behörde unterstützt werden. Lobbyorganisation der Angehörigen. Die ● Angehörige könnten ihre Zusammenarbeit Rahmenbedingungen für die WPG werden und ihre Kompetenzerweiterung selbst in den zuständigen Behörden entwickelt organisieren, z.B. durch und folgen letztlich politischen Leitlinien. • einen Verein auf Landesebene Politische Gestaltung basiert auf Meinun- • eine Abteilung in einer bestehenden gen der Akteure. Ein Pflegemodell, das den Organisation wie „Wir pflegen e.V.“ Interessen der Bewohner/innen und ihrer Angehörigen dient, sollte von ihnen auch politisch unterstützt werden können und Die obigen Ausführungen mögen kritisch erschei- nicht nur vom Engagement der Fachbehör- nen. Zu bedenken ist aber, dass das Modell der den abhängig sein. selbstorganisierten WPG erst relativ jung ist. Es wäre doch ein Wunder, wenn es heute schon in All das mag pessimistisch anmuten, doch wir kön- jeder Hinsicht optimal liefe. Ob es sich lohnt, aus nen es auch als Impuls für einen weiteren Schritt den bisherigen Erfahrungen zu lernen, kann Jede/r nach vorne ansehen: für sich vielleicht anhand der Frage klären: möchte ich, dass dieses Modell noch erfolgreich besteht, Wenn wenn ich selbst eines Tages Bedarf haben könnte? • Vermieter, Pflegedienst und Angehörige nicht nur in der Gründungsphase einer Literatur WPG als Partner auf Augenhöhe wirken sol- • Sand, T.; Ambulant betreute Wohngemeinschaften; 2014 len, • Schwendner, C.; Bürgerschaftliches Engagement in • wenn vermieden werden soll, dass die na- ambulant betreuten Wohngemeinschaften; 2014 turgemäß hohe Fluktuation bei den Ange- hörigen schrittweise zu einer Dominanz der professionellen Pflegedienste führt, ● wenn also die Steuerungsfunktion des Klaus Bostelmann Pflegedienstes nicht sukzessive zunehmen 2013 bis 2016 Angehöriger einer WPG, und die WPG de facto zu einer stationären Kassenwart und Angehörigensprecher Pflegeeinrichtung mit verminderter Aufsicht E-Mail: Klaus@bostelmann.de werden soll
Kontext 13 Konzepte, Impulse, Entwicklungen Das Kölner Modell - Perspektiven und Unterstützungsstrukturen für Wohngemeinschaften mit Auftraggebergemeinschaft Monika Schneider In den Wohngemeinschaften für Menschen mit gemeinsam beschlossenen Investitionen nicht Demenz, die nach dem Kölner Modell organisiert leistet. sind, haben sich die Bewohner zu Auftraggeberge- Ein wichtiger Grund für ein Ausscheiden aus der meinschaften (GBR) zusammengeschlossen. Weil Gemeinschaft kann auch die Verletzung der Verein- sie selbst meist nicht mehr in der Lage sind, ihre barung zur Beauftragung eines Pflegedienstes sein. Interessen wirksam zu vertreten, werden sie durch Mit dem Generalmietvertrag übernimmt die Ge- ihre bevollmächtigten Angehörigen oder gesetzli- meinschaft auch das gesamtschuldnerische Risiko chen Betreuer unterstützt. für die Wohnungsmiete. Die meisten Wohnungsun- ternehmen mindern das Risiko der Gruppe, indem In vielen Wohngemeinschaften wird mit Auftrag- sie befristet einen belegungsbezogenen Mietpreis gebergemeinschaften der Mieter gearbeitet. Die einräumen und nur für die bewohnten Bereiche Gemeinschaften verständigen sich einvernehmlich der Wohnung Miete erheben. So kann das Risiko auf einen ambulanten Dienst, der die Pflege und der Gruppen, das vor allem in der Zeit des Erstbe- eine „Rund um die Uhr“-Betreuung sicherstellt. Die zugs besteht, gemindert werden. Vereinzelt helfen Gemeinschaft entscheidet über die wesentlichen die Unternehmen auch dann weiter, wenn es in Aspekte der Finanzen, der Haushaltsführung und Ausnahmefällen über einen längeren Zeitraum macht Vorgaben für den Alltag in der Wohnge- nicht gelingt, ein Zimmer erneut zu belegen. meinschaft. Das Konzept gilt als effektive Organi- sationsform, mit der Bewohner und ihre Angehöri- Ein weiterer Bestandteil des Modells ist ein exter- gen ihre Interessen wirksam vertreten können. Die ner Beistand, der die Gruppe bei der Ausübung der gemeinschaftliche Beauftragung eines Pflegediens- Selbstverantwortung und der Organisation der Ge- tes ermöglicht durch die Zusammenlegung indivi- meinschaft unterstützt. So berät der Beistand fach- dueller Leistungsansprüche Synergieeffekte, die lich, moderiert die regelmäßigen Versammlungen eine gute Betreuungssituation bezahlbar machen. der Gruppe und führt im Auftrag der Gemeinschaft verwaltende und organisatorische Tätigkeiten Bei den Wohngemeinschaften, die nach dem aus. Diese Leistungen, werden individuell mit der Kölner Modell organisiert sind, liegt ein weiteres Gruppe vereinbart und können im Laufe der Zeit Merkmal vor: Die Bewohner schließen keine Ein- variieren. zelmietverträge mit dem Vermieter ab, sie mieten die Wohnung gemeinschaftlich an. Vertragspartner Der Beistand wird von den Gemeinschaften als des Vermieters ist die Auftraggebergemeinschaft. wichtiges Angebot gesehen, dass ihnen hilft, die Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft ist mit ei- Vielzahl der Aufgaben, die in einer selbstverant- nem Anteil am Mietvertrag verbunden und beinhal- worteten Wohnform auf sie zukommen zu fassen tet das Nutzungsrecht an einem privaten Zimmer und zu bewältigen. Die ´Wohnkonzepte Schneider und den Gemeinschaftsräumen. So ist sicherge- gemeinnützige GmbH´ bietet die Leistungen der stellt, dass die Gemeinschaft der Mieter allein Beistandschaft seit mittlerweile 10 Jahren unter- über die Verteilung des Wohnraums entscheidet schiedlichen Gemeinschaften in der Region an. und alleinverantwortlich neue Mitglieder in die Wohnung aufnehmen kann. Diese Vereinbarung Bei der WG-Gründung bietet der Beistand Be- ermöglicht auch, sich von Mitgliedern zu trennen, ratung und Hilfestellung bei der Aufstellung der wenn es zu unüberbrückbaren Konflikten innerhalb Angehörigen als Gemeinschaft, im Laufe der Zeit der Gemeinschaft kommt. Dies kann zum Beispiel unterstützt er in Krisen und bei Konflikten. Beim der Fall sein, wenn ein Mitglied seinen finanziellen Wechsel von Bewohnern und Angehörigen sorgt er Verpflichtungen nicht nachkommt und z.B. seine dafür, dass kein Wissen verloren geht, die Rollen- Miete, den Anteil an der Haushaltskasse oder an und Aufgabenteilung erhalten bleibt oder fortge- schrieben werden kann.
14 Kontext Konzepte, Impulse, Entwicklungen Die Beratung der Gemeinschaften und die Reflekti- WG-Interessenten werden zum Konzept und den on der Gruppenprozesse, sowie die Unterstützung Aufgaben der Auftraggebergemeinschaft beraten. der Kommunikation in der Gruppe und mit den Darüber hinaus erhalten sie Beratung zur ihrer Dienstleistern in der Wohngemeinschaft, sind Kern persönlichen Situation, Hilfestellung bei der Ab- des Angebotes. Mit dem Blick von außen kann der wicklung der notwendigen Formalitäten und Bera- Beistand intervenieren, wenn das selbstbestimmte tung zur Finanzierung. Wohnen der Bewohner als gemeinschaftliches Ziel aus dem Blickfeld zu geraten droht oder die Kom- Mindestens sechs Monate vor Bezug der Wohnung munikation innerhalb der Gruppe oder zwischen wird mit der Gründung der Auftraggebergemein- den Vertragspartnern nicht mehr so gut gelingt. schaft begonnen. So verbleibt ausreichend Zeit Ein wichtiger Baustein ist auch die zentrale Erstbe- eine Gruppe zusammen zu stellen und die Aufga- ratung von Interessenten für diese Wohnform, die ben vor Bezug der Wohnung zu bearbeiten. Auch dann an die Wohngemeinschaften weitervermittelt bei der Auswahl eines ambulanten Pflegedienstes werden. wird Hilfestellung geleistet. So können schon im Der Beistand ist aber auch selbst Dienstleister, der Vorfeld durch ein Ausschreibungsverfahren geeig- durch die Gemeinschaft für einen festlegten Zeit- nete Anbieter ermittelt oder unabhängige Vorge- raum gewählt wird. In vielen Fällen beteiligt sich spräche mit Kostenträgern oder Aufsichtsbehörden auch das Wohnungsunternehmen an den Kosten, geführt werden. Die Auswahl wird jedoch von der da ein Teil der verwaltenden Tätigkeiten sonst in Angehörigengemeinschaft getroffen. den Bereich des Wohnungsunternehmens fallen würden. Im Regelfall wird vor Bezug der Wohnung die Ge- meinschaft gegründet, ein entsprechender Vertrag Das Modell wurde im Wesentlichen auf Initiative unterzeichnet, der Beistand und der Pflegedienst eines Wohnungsunternehmens hin entwickelt und beauftragt. umgesetzt. Handlungsleitend war der Wunsch, ein Konzept für eine Wohngemeinschaft zu entwickeln, Insbesondere die Gründungsphase ist identi- bei dem sich die Mieter von einem ambulanten tätsbildend für die Gruppe und das Konzept der Dienst wieder trennen können, ohne die Wohnung Selbstorganisation. Der Arbeitsaufwand für die verlassen zu müssen. Darüber hinaus sollte das Angehörigen in dieser Phase ist enorm. Es müssen Modell im Unternehmen kommunizierbar, repro- viele wichtige Entscheidungen getroffen werden, duzierbar und wirtschaftlich tragfähig sein. Der für der Pflegedienst ausgewählt, die Wohnung ein- das Unternehmen attraktive Gemeinschaftsmiet- gerichtet und neue Gruppenmitglieder integriert vertrag sowie die Analogie, des Modells zu einer werden. Gleichzeitig gibt es sowohl für die Einzel- Eigentümergemeinschaft, waren bei der Gewin- nen als auch für die Gesamtgruppe einen großen nung von Unterstützern für das Projekt hilfreich. Gestaltungsspielraum. Förderlich ist es für die Die Entwicklung und Umsetzung innovativer Wohn- Angehörigen auch, auf andere gleich oder ähnlich konzepte trägt zudem zu einem positiven Image Betroffene zu treffen, mit denen sie sich austau- des Wohnungsunternehmens bei. Dem gelunge- schen können. Die intensive Zusammenarbeit nen Beispiel sind in der Region bereits fünf weitere beim Aufbau gerade in der Anfangsphase stiftet Unternehmen gefolgt, die im eigenen Bestand der- eine tragfähige Beziehung zwischen den ersten artige Modelle realisiert haben. Angehörigen. Meist haben die Interessenten Er- fahrungen mit anderen Betreuungs- und Pflege- Wohnungsunternehmen, die ein solches Konzept angeboten gemacht, oder waren selbst intensiv in ihrem Bestand umsetzen möchten, übernehmen in die Pflege ihrer Angehörigen eingebunden. Das die Kosten und die Organisation für den Aufbau gemeinschaftliche Handeln und die Solidarität, die einer Auftraggebergemeinschaft. Hierfür bedienen in der Gruppe erlebt werden, sind für die meisten sie sich unabhängiger Beratung und kooperieren eine gänzlich neue Erfahrung. mit lokalen Beratungsangeboten wie Pflegestütz- punkten, Alzheimergesellschaften oder sonstigen Initiativen, um das Projekt bekannt zu machen.
Kontext 15 Konzepte, Impulse, Entwicklungen Da die meisten Gruppen bei Erstbezug noch nicht Wann braucht es professionellen Blick des Pfle- vollständig sind, steht als nächste Herausforde- gedienstes und wann sind es die Angehörigen, rung die Suche und Auswahl geeigneter Mitbewoh- bei denen die Deutungshoheit zum Willen der ner an. Bewohner liegt. Mit welchen Methoden können Hat die Gruppe mehr Bewerber als freie Woh- die Fähigkeiten der Bewohner möglichst lange er- nungen muss entschieden werden, wie das Aus- halten werden? Welche Betreuungsangebote sind wahlverfahren zu gestalten ist, nach welchen geeignet für die Bewohner und wie viel Betreuung Kriterien ausgewählt wird und wie man zu einer soll es im Kontext der Wohngemeinschaft geben? Entscheidung kommt. Fehlt es an Bewerbern muss Wie kann gewährleistet werden, dass der Bewoh- überlegt werden, wie Interessenten angesprochen ner weiterhin selbstbestimmt wohnen kann, wenn werden können und ggf. mit dem Wohnungsunter- seine Fähigkeiten die eigenen Wünsche zu äußern nehmen und dem ambulanten Diensten darüber nachlassen? Wie umgehen mit den Grenzsituatio- verhandelt werden, wie mit den Einnahmeausfäl- nen, in denen Nahrung verweigert wird, eine star- len umzugehen ist. ke Hinlauftendenz oder andere herausfordernde Verhaltensweisen auftreten? Die Liste der Fragen Sind alle Zimmer vermietet und es kehrt Alltag ein, lässt sich noch unendlich erweitern. Es gibt keine verschieben sich die Aufgaben in die Begleitung Lösungen „von der Stange“ für ein würdiges Le- der Wohngemeinschaft, die Vertretung der Inter- ben und eine bedarfsgerechte Betreuung in einer essen der eigenen Angehörigen und die Entwick- Wohngemeinschaft. lung von Qualitätsanforderungen für die Alltagsge- staltung in Zusammenarbeit mit dem ambulanten Das Leitbild für die Wohngemeinschaften nach Dienst. dem Kölner Modell beinhaltet, dass die struktu- rellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, Spätestens mit Bezug der Wohnung übernimmt in diesen Prozess einzusteigen. Eine wichtige Vo- der ambulante Dienst eine entscheidende Rolle. raussetzung hierfür ist, dass mit diesem Modell Durch die ständige Präsenz der Mitarbeiter neh- den Bewohnern und ihren Angehörigen wichtige men sie wesentlich Einfluss auf die Alltagsgestal- Instrumente an die Hand gegeben werden um ihre tung. Nun kommt es darauf an, dass Angehörige Positionen wirksam zu vertreten. Die Hoheit über und ambulanter Dienst zu einem gemeinsam die Wohnung und die letztendliche Verantwortung getragenen Verständnis der Wohngemeinschaft für die Wohngemeinschaft ist ein Teil davon. Die finden. Dabei geht es nicht nur um die Konzepte, anderen wichtigen Faktoren sind die neutrale Un- nach denen Pflege- und Betreuungsleistungen terstützung durch den Beistand, dessen Ziel es erbracht werden, sondern auch darum, wie die ist, die Selbstverantwortung der Gemeinschaft zu Selbstbestimmung der Bewohner gesichert werden stärken und ambulante Dienste, die sich auf diese kann. Basis hierfür ist eine gute Kommunikation Herausforderung einlassen wollen. Das Modell bie- zwischen den beiden Gruppen. tet allen, die sich engagieren möchten ausreichend Raum. Dies ist für beide Seiten gleichsam ungewohnt. Die geteilte Verantwortung zwischen einem pro- fessionellem Dienst und den Angehörigen erfordert Monika Schneider ein neues Verständnis für die Prozesse bei Ver- Wohnkonzepte Schneider gemeinnützige GmbH tragspartnern. Damit das gelingt, ist ein intensiver E-Mail: schneider@wohnkonzepte-schneider.de Austausch auch über das grundlegende Verständ- Website: www.agentur-fuer-wohnkonzepte.de nis zur Betreuung in einer Wohngemeinschaft erforderlich. Gegenseitige Erwartungen müssen ausgesprochen werden, damit es nicht zu Miss- verständnissen und Frustration kommt und jeder seinen Platz im Betreuungssetting finden kann. Welche Aufgaben werden vom ambulanten Dienst übernommen, was fällt in den Aufgabenbereich der Angehörigen?
16 Kontext Konzepte, Impulse, Entwicklungen Wohngemeinschaft zu verkaufen - Bericht eines Angehörigen über den Umgang mit der Kündigung des Pflegedienstes Norbert Rochna „Demenz-WG zu verkaufen. Fünf Senioren suchen so schilderte es auch der Pflegedienst. So wurde eine neue liebevolle Betreuung.“ moniert, dass das Unternehmen im selben Haus resi- So oder so ähnlich hätte wohl unsere Zeitungsannon- dierte und die WG einen Heim-Charakter habe, weil ce gelautet. Kurz vor dem Jahreswechsel 2015/16 wir Angehörigen den Pflegedienst nicht selbst ausge- stand unsere Wohngemeinschaft kurz vor dem Aus. sucht hätten. Hatten wir auch nicht. Dabei hatte alles so gut anfangen: Nachdem meine Denn die WG ist Teil eines genossenschaftlichen Se- Eltern die wohl typischen Stationen durchlaufen hat- niorenwohnprojektes. Der Komplex besteht aus rund ten - von „So lange wie möglich ohne Hilfe leben“, 30 seniorengerechten Wohnungen, einem im Haus ambulanter Betreuung bis zur ambulanten Pflege und untergebrachten Pflegedienst mit einer Tagespflege später Tagespflege – kam das Angebot, dass mein und eben einer separaten Demenz-WG mit acht Zim- Vater in eine Demenz-WG einziehen kann. Das war mern. Diese Zimmer wurden an Mieter mit Wohnbe- nicht nur von seinem Zustand her mittlerweile unver- rechtigungsschein vergeben. Diese WG war von An- meidbar, sondern auch eine sehr praktische Lösung: beginn des Projektes ein zentraler Bestandteil. Dass Der Pflegedienst, der meinen Vater bislang versorgt der Pflegedienst im Haus diese WG organisieren und hatte, war Organisator – oder wie es für uns damals betreiben wollte, zeigt, dass Genossenschaft und aussah: Betreiber dieser WG. Pflegedienst anscheinend ebenso blauäugig das Vor- Das dies, wie sich später herausstellte, ein kapitaler haben angegangen sind, wie wir Angehörigen später. Denkfehler war, war uns damals nicht klar. Eine WG Von den acht Zimmern waren über Monate nur fünf ist so eine Art Altenheim, aber irgendwie anders. Mit belegt. Insgeheim hatten wir Angehörigen schon lan- der besonderen Organisationsform dieser Wohnform ge überlegt, wie sich das Projekt finanziert, denn wir hatten meine Mutter und ich uns nicht beschäftigt. wussten, dass die Zuzahlungen gedeckelt waren. Warum auch? Der Pflegedienst kümmerte sich ja um Der Knall kam dann ein paar Wochen vor Weihnach- alles. Wir wurden gut beraten und mein Vater immer ten: Der Pflegedienst kündigte den Betreuungsver- gut betreut. Meine Mutter und ich hatten schon ge- trag zum Jahreswechsel. Offiziell nicht aus finan- nug damit zu tun, die Antragsflut der Kranken- und ziellen Gründen, sondern wegen der nach wie vor Pflegekasse zu verstehen und zu bewältigen. verweigerten WG-Anerkennung durch die Kreisver- Die Angehörigen-Gruppe bestand aus einer zufällig waltung. Die Geschäftsführung befürchtete unter an- zusammengewürfelten Gruppe, die nur eines einte: derem negative Auswirkungen auf den restlichen Ge- Die Demenzkranken waren von der Tagespflege in die schäftsbetrieb mit häuslicher Pflege und Tagespflege. WG „weitergereicht“ worden. In den Sitzungen, die Der Pflegevertrag sollte vorerst weiterbestehen. eine Mitarbeiterin des Pflegedienstes leitete, wurden An diesem Punkt bekamen wir Angehörigen glaube organisatorische Fragen geklärt und langsam ver- ich zum ersten Mal eine Ahnung davon, was der sucht, bei laufendem WG-Betrieb einen kompletten Unterschied zwischen WG und Altenheim wirklich Hausstand aufzubauen. Die bei einer WG aber alles bedeutet. Wir lernten, dass es zwei verschiedene entscheidende Frage wurde nie richtig (er)klärt: Wer Arbeitsfelder gibt, die sich auch vertraglich genau ist hier eigentlich der Chef? trennen lassen: Betreuung und Pflege. Immerhin wurde nach Monaten ein Angehörigen- Sprecher gewählt, nämlich ich. Und wir sollten jetzt Menschen finden, die mit den Diesen Posten habe ich damals als organisatorischen Bewohnern kochen, basteln, Lieder singen, den Vermittler gesehen, ein bisschen nach dem Motto: Haushalt bewältigen, einfach für die Kranken da Der Pflegedienst entscheidet, wir zahlen. sind – und auch noch eine Nachtwache organisieren. Wir wussten es nicht besser. Schon eine kurze Überschlagsrechnung mit dem Taschenrechner machte klar, dass eine 24-Stunden- Was wir aber wussten ist, dass es bei der Anerken- Betreuung nicht zu finanzieren ist. nung als WG klemmte. Das Amt stellte sich quer, Und wir brauchten ja nicht nur eine Person, sondern aus unserer damaligen Sicht wegen Lappalien, tagsüber mindestens zwei.
Sie können auch lesen