Bundesweites Journal für - Wohn-Pflege-Gemeinschaften im Fokus WG Selbstorganisation stärken, aber wie?

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Bundesweites Journal für - Wohn-Pflege-Gemeinschaften im Fokus WG Selbstorganisation stärken, aber wie?
Bundesweites           für  Journal
Wohn-Pflege-Gemeinschaften
                                     Ausgabe Nr. 6 Oktober 2017

im Fokus
WG Selbstorganisation stärken, aber wie?

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Bundesweites Journal für - Wohn-Pflege-Gemeinschaften im Fokus WG Selbstorganisation stärken, aber wie?
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Herausgeber:                                           und

    Hamburger Koordinationsstelle für                    KIWA - Koordinationsstelle für innovative
    Wohn-Pflege-Gemeinschaften                            Wohn- und Pflegeformen im Alter
    STATTBAU HAMBURG                                     im Ministerium für Soziales, Gesundheit,
    Stadtentwicklungsgesellschaft mbH                    Jugend, Familie und Senioren
    Sternstraße 106, 20357 Hamburg                       des Landes Schleswig-Holstein
    Telefon.: 040 - 43294223                             Adolf-Westphal-Str. 4, 24143 Kiel
    E-Mail: koordinationsstelle@stattbau-hamburg.de      Telefon: 0431/ 988 54 63
    Website: www.stattbau-hamburg.de                     E-Mail: kiwa-team@gmx.de
                                                         Website: www.kiwa-sh.de

Verantwortlich:
    Ulrike Petersen und Mascha Stubenvoll
    Hamburg, Oktober 2017

Das bundesweite Journal für                            Hinweis:
Wohn-Pflege-Gemeinschaften                              Möchten Sie diese Online-Informationen in
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in den Koordinationsstellen aus.                       koordinationsstelle@stattbau-hamburg.de

Ausgabe 2017 (Nr. 6)                                   Versandverfahren
                                                       Bei Interesse können Sie dieses Journal in
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sind grundsätzlich die Autorinnen                      Bitte senden Sie für eine Broschüre einen mit
und Autoren verantwortlich.                            1,45 € frankierten und adressierten DIN A4
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                                                              STATTBAU HAMBURG
                                                              Stadtentwicklungsgesellschaft mbH
                                                              Sternstraße 106
                                                              20357 Hamburg

Die Website WG-Qualität.de bietet eine Plattform für eine Qualitätsdiskussion rund um ambulant betreuten
Wohngemeinschaften nicht nur für Menschen mit Demenz.
Ausserdem finden Sie spezifische Infomationen zu Wohn-Pflege-Gemeinschaften für die einzelnen Bundeslän-
der auf sogenannten Länderseiten. Diese Seiten können Sie abrufen unter www.wg-qualitaet/laender/.
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Inhalt                                                                                                  3

Vorwort                                      4    4_Konkret
                                                     Neues aus Projekten
1_Leitartikel
                                                  Weiterbildung zur Stärkung von Angehörigen
Selbstbestimmung, Selbstorganisation,
                                                  - Fortbildungsprogramm fertiggestellt      31
Selbstverantwortung - Überlegungen zum
                                             5
                                                  Britta Hecht
Begriffsfeld aus philosophischer Sicht
Daniel Bremer                                     Stärkung der WG Selbstorganisation durch
                                                  ein gemeinsames Jahresprojekt                    32
Der Diskurs zu Selbstbestimmung in Demenz-        Jens Krieg
Wohngemeinschaften - eine Chance für den
                                                  Das Schönste was meiner Mutter passieren
Blick auf die Versorgung alter Menschen in   8    konnte - 10 Jahre Wohngemeinschaft Villa
unserer Gesellschaft?
                                                  Mathildenhöhe, Erfahrungsbericht (von            33
Andrea von der Heydt
                                                  Angehörigen) über die Selbstverwaltung
2_Kontext                                         Mascha Stubenvoll
  Konzepte, Impulse und Entwicklungen
                                                  WohnPatenschaften für Menschen mit
Auf Augenhöhe: nur ein Traum?                     Demenz in Wohngemeinschaften im Kreis
Über die Stärkung der Angehörigen in              Rendsburg-Eckernförde. Projektskizze und         37
Wohn-Pflege-Gemeinschaften                    10   erste Erfahrungen
Klaus Bostelmann                                  Liesel Mörsch
Das Kölner Modell - Perspektiven                  WG Selbstorganisation ohne Angehörige?
und Unterstützungsstrukturen für                  Ein Pilotprojekt für Menschen mit Demenz
Wohngemeinschaften mit Auftraggeber-         13   geht in Hamburg neue Wege                        39
gemeinschaft                                      Beate Christians, Carsten Niedermeyer, Daniela
Monika Schneider                                  Kegeler und Bastian Brünninghaus
Wohngemeinschaft zu verkaufen - Bericht           Infobox DOSIS - Wohngemeinschaften
eines Angehörigen über den Umgang mit der         smart(er) organisieren                           41
Kündigung des Pflegedienstes                  16   Jutta Burgholte-Niemitz und Tanja Dubas
Norbert Rochna
                                                  5_Wissenswertes
Pflegedienstwechsel - eine weitreichende
Entscheidung, die gut überlegt sein will          Wissenschaftliche Studie „Finanzierungs-
                                             17
Anne Helmer                                       strukturen ambulant betreuter Wohn-
                                                  gemeinschaften in NRW“                           43
Vertrauen ist die Basis: Selbstorganisation
                                                  Aurelia Vietzen und Anne Wiegers
von ambulant betreuten Wohngemeinschaften
aus Sicht der Leistungsanbieter             20    Berliner Arbeitskreis ambulant betreute
Britta Hecht                                      Pflege-Wohngemeinscahften - AK-WGn                45
                                                  Andrea von der Heydt
Qualitätssicherung in ambulant betreuten
Wohngemeinschaften - Transparenzoffensive         Neue Fachstelle für selbstverwaltete Demenz-
des SWA e.V.                                 23   Wohngemeinschaften in Hessen                     46
Andrea von der Heydt                              Tanja Dubas
3_Exkursion                                       Das Landesbüro innovative Wohnformen
                                                  NRW                                              47
Wohnalternativen im Alter - Wohn-Pflege-
                                                  Anne Wiegers
Projekte in anderen Ländern
Lina Handrek, Eileen Heinemeyer und          25   6_Literatur                                      48
Sandra Pautsch
                                                  Archiv                                           49
Von Pionieren, Projekten und Potenzialen -
Gemeinschaftliche Wohnformen weiter               Die letzte Seite                                 50
denken                                       27
Josef Bura und Ulrike Petersen
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4                                                                         Vorwort

    Liebe Lerin und
    lieber Ler!
    die Selbstorganisation stärken – darum soll es     Dazu eine Haltung, welche Interessen sie be-
    in dieser Ausgabe insbesondere gehen. Stellt       wusst vertreten wollen. Die Erfahrung zeigt,
    die Selbstorganisation doch eine der funda-        dass dies ohne Unterstützung, wenigstens in
    mentalen Grundlagen für das Gelingen in und        der Aufbauzeit, kaum aus eigener Kraft und
    von ambulant betreuten Wohngruppen für             Kompetenz zu erreichen und zu meistern ist.
    Menschen mit Demenz dar.                           Hinzu kommt, dass die Begleitung und Pflege
    Der Begriff „Selbst“ impliziert, dass sich die     im häuslichen Bereich meistens schon sehr
    Nutzer/Mieter bzw. deren Angehörige oder           ressourcenintensiv ist.
    auch engagierte rechtliche Betreuer in der
                                                       Es besteht somit dringender Bedarf an Schu-
    Lage sind, sich „in eigener Sache“ zu enga-
                                                       lungsangeboten und professioneller Begleitung
    gieren und diese auch gegenüber dem/der
                                                       für künftige und aktuell agierende WG-Ange-
    Betreuungs- und Pflegedienstleister sowie dem
                                                       hörige. Als „frischgebackene“ Fachstelle für
    Vermieter und ggfs. anderen Beteiligten zu
                                                       selbstverwaltete ambulant betreute Wohnge-
    vertreten.
                                                       meinschaften in Hessen kontaktieren uns wie
                                                       sicherlich überall zunehmend Angehörige, die
    Im besten Fall – und das ist das Ziel – sind die
                                                       sich für diese Wohn- und Versorgungsform in-
    Angehörigen und Mietervertreter in der Lage,
                                                       teressieren. Eines unserer Ziele besteht darin,
    sämtliche entscheidungsrelevanten Vorgänge
                                                       den Aufbau mithilfe eines interaktiven Online-
    und Abläufe zu verstehen, zu überblicken und
                                                       Leitfadens zu erleichtern. Dennoch werden
    zu handhaben. Angefangen von der Haushalts-
                                                       persönliche Ansprachen, Informationsvermitt-
    kasse, der Sprecherfunktion, Verhandlungen
                                                       lungen bis hin zu Coachings im weitesten Sinn
    mit Dienstleistern, der Planung von Feiern,
                                                       immer unerlässlich sein.
    Ausflügen, Einkäufen, Fuß- und Haarpflege,
    Physiotherapie und vieles mehr.
                                                       Die Förderung und Stärkung von Selbstor-
                                                       ganisation, Selbstverwaltung und schließlich
    Aber wie können Zu- und Angehörige in die
                                                       Selbstverantwortung gehört somit fortwährend
    besagte „Lage“ versetzt werden, bzw. was
                                                       auf den Themen- und Verhandlungstisch.
    wird gebraucht und welche Vorrausetzungen
    sind grundsätzlich nötig, die eigenen Anliegen
                                                       Viel Freude beim Lesen und eine inspirierende
    selbstbewusst und verbraucherstark zu for-
                                                       Lektüre wünschen Ihnen
    mulieren und zu vertreten? Dazu sind neben
    entsprechenden Fähigkeiten und Handlungs-
    sicherheit hinsichtlich der Alltagsabläufe auch
    das Wissen um rechtliche Voraussetzungen           Jutta Burgholte-Niemitz
    und Möglichkeiten erforderlich.                    und Tanja Dubas
Bundesweites Journal für - Wohn-Pflege-Gemeinschaften im Fokus WG Selbstorganisation stärken, aber wie?
Leitartikel                                                                                                 5

              Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Selbstverantwortung -
                Überlegungen zum Begriffsfeld aus philosophischer Sicht
                                             Daniel Bremer

Fragt man heute Menschen nach den Werten,            dass das, was erkennt, ein solides „Ich“ ist, wird
die ihnen besonders wichtig sind, so rangiert        dieser Befund mit dem Entstehen der ersten
neben Freiheit und Gesundheit die Autonomie weit     psychiatrischen Einrichtungen am Ende des 18.
vorne. „Autonomie“ bedeutet wörtlich „Selbstge-      Jahrhunderts zusehends schwieriger. Schwankt die
setzgebung“ (griechisch: autos = selbst, nomos =     psychische Stabilität, so versagt offenbar auch die
Gesetz). Auf den ersten Blick scheint die Ange-      sicher geglaubte Instanz eines unveränderlichen
legenheit klar und problemfrei daherzukommen:        Persönlichkeitskerns.
Geht es einem Menschen gut, so fragt er nicht
nach der Bedingung der Möglichkeit seiner Selbst-    Wenn Immanuel Kant den Begriff der Autonomie
bestimmung: Er oder sie organisiert sich den Tag     als sichere Grundlage der Vernunft eines jeden
selbst und geniesst die Lust an der Macht dieser     Menschen postuliert und damit gar Eingang in die
Handlungen. Schwieriger wird es, wenn Abhängig-      Formulierung der Menschenrechte erlangt, so geht
keiten ins Spiel kommen, die den Handlungsspiel-     auch er noch von einer stabilen Persönlichkeits-
raum einschränken: Wer zur Arbeit muss, fragt        basis aus, die allerhöchstens dann Unsinn treibt,
sich schnell nach dem Zeitpunkt des Freiseins.       wenn sie sich noch im Status des Unaufgeklärten
Wer, wie rund 60 Prozent der deutschen Arbeit-       befindet. Die Natur wird in the long run dafür sor-
nehmer seinen Beruf im Zustand „innerer Kündi-       gen, dass die Menschheit sich zu einer hochmora-
gung“ ausübt, erlebt die Pflichtausübung nur mehr     lischen, jederzeit keine Fehler machende Gesell-
als lästige Pflicht, als notwendiges Übel. Wessen     schaft entwickelt.
Gesundheitszustand sich trübt, der erfährt nicht     Autonomie ist nach Kant die Grundlage aller mo-
nur ökonomische, sondern vorab körperliche Ab-       ralischen Gesetze und Ausdruck der Freiheit des
hängigkeit und nicht selten damit verbunden auch     Menschen als eines Vernunftwesens. Das Prinzip
soziale Abhängigkeit. Besonders dann, wenn ein       der Autonomie des Willens ist der kategorische
Wechsel in eine Institution der Altenpflege an-       Imperativ, d.h. die Verpflichtung nicht anders
steht. Wann ist ein Mensch denn eigentlich frei      zu wählen als so, dass die Maximen der Wahl in
angesichts dieser Abhängigkeiten? Ja, wie kann       demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz
hier Freiheit als autonomes, selbstgesetzgebendes    mitbegriffen seien. (GMS). Das heisst, dass der
Handeln ausgeübt werden?                             Mensch seiner eigenen und dennoch allgemeinen
                                                     Gesetzgebung unterworfen ist und nur verpflichtet
Philosophen fragen nicht nur nach den Bedingun-      ist, seinem eigenen, aber „allgemein gesetzgeben-
gen, unter denen Freiheit und damit verbunden        den“ Willen gemäss zu handeln.
Autonomie möglich sein kann, sondern auch nach
der Möglichkeit und der Existenz eines „Selbst“,     Als Sinneswesen steht der Mensch unter Naturge-
das als feste Grundlage gegeben sein müsste, um      setzen (Heteronomie = Fremdbestimmtheit),
jederzeit freie Entscheidungen treffen zu können.    als „Noumenon“, Vernunftwesen, das zur „intelli-
Das klingt auf den ersten Blick wiederum banal.      giblen Welt“, zum „Reich der Zwecke“ sich rechnet,
Aber der morgendliche Blick in den Spiegel zeigt     steht er unter Gesetzen der Vernunft, durch die er
bereits, dass es schwierig wird mit der Bestim-      sich selbst in seinem Handeln bestimmt.
mung des jeweiligen „Ichs“, das durch mannigfal-
tige hygienische und ästhetische Handlungen in       Bei der Autonomie soll unbedingt so oder so ge-
einen Zustand umgewandelt wird, der öffentlich       handelt werden, ohne Rücksicht auf einen Zweck
zumutbar ist. Geht es jemandem schlecht, wird        oder auf eine Neigung, rein aus der Gesetzlichkeit
dies ein schwieriger Prozess.                        des Willens selber. Die Unabhängigkeit von allen
                                                     Objekten der Begierde ist Freiheit im negativen
Ging etwa Thomas von Aquin im Mittelalter davon      Sinn, die eigene Gesetzgebung der reinen
aus, dass, was auch immer ein Mensch in der Welt     praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Sinn.
erkennt, doch stets ganz sicher darüber sein kann,
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    A
    . utonomie verpflichtet zum Respekt vor ande-
    ren Menschen und zur Selbstachtung:
     „… Auf diesen Ursprung gründen sich nun
    manche Ausdrücke, welche den Werth der
    Gegenstände nach moralischen Ideen be-
    zeichnen. Das moralische Gesetz ist heilig
    (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig
    genug, aber die Menschheit in seiner Person
    muss ihm heilig sein. In der ganzen Schöp-
    fung kann alles, was man will, und worüber
    man etwas vermag, auch bloss als Mittel ge-
    braucht werden; nur der Mensch und mit ihm
    jedes vernünftige Geschöpf ist Zweck an ihm
    selbst. Er ist nämlich das Subject des morali-
    schen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge
    der Autonomie der Freiheit. Eben um dieser
    willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr
    eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Be-   Die wenigen Beispiele, die Kant erwähnt, sind
    dingung der Einstimmung mit der Autonomie des           längst als untauglich zurückgewiesen worden:
    vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich           Lügenverbot, Selbstmordverbot, die Pflicht zur
    keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach ei-       Kultivierung der eigenen Vermögen und das Ge-
    nem Gesetze, welches aus dem Willen des leiden-         bot der Hilfe werden tagtäglich lokal und global
    den Subjectes selbst entspringen könnte, möglich        tausendfach verletzt. Als regulative Leitidee kann
    ist; also dieses niemals bloss als Mittel, sondern      die Behauptung zur Autonomie zwar durchaus auf-
    zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen.“               rechterhalten werden.
    (Kritik der praktischen Vernunft (1788), Kapitel 3.
    Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen prak-        Dass sie sich umgekehrt leicht und wirkungsvoll
    tischen Vernunft. Akad. Ausgabe (1905ff), S. V:87       vermarkten lässt, führt in vielen Lebensbereichen
    (= KPV); GMS= Grundlegung zur Metaphysik der            aber zur Vorstellung, es läge tatsächlich ein eigen-
    Sitten)                                                 tümlicher Persönlichkeitskern eines autonom agie-
                                                            renden Selbst vor, das freie Entscheidungen fällen
    Das klingt zunächst als grosskalibriger, logisch ein-   könne.
    leuchtender Entwurf eines Menschenbildes. Blickt        Das von viel zu hohen Ansprüchen ausgehende
    man genauer hin, so fragt sich, ob es erstens sol-      optimistische und idealistische Menschenbild Kants
    che hochgradig vernünftigen und stabilen, jeder-        muss aber relativiert werden, nicht erst, aber si-
    zeit optimal moralische Entscheidungen treffende        cher auch und gerade im Alter.
    Personen überhaupt gibt. Nur schon die Schwan-
    kungen der Tagesform oder die biografische Ent-          Ein realistisches Menschenbild, das auch und gera-
    wicklung vom Kind zum alten Menschen sprechen           de die Abhängigkeiten des Menschen in seinen Le-
    doch eine ganz andere Sprache, was die Möglich-         bensphasen berücksichtigt und die Würde nicht an
    keiten einer korrekten Umsetzung angeht. Kommt          eine absolute und angeborene Autonomie knüpft,
    dazu, dass der Anspruch, moralisch jederzeit wi-        liefert der Philosoph Helmuth Plessner. In einem
    derspruchsfreie Entscheidungen treffen zu können        Aufsatz von 1948 liefert er die Grundlage für eine
    schon an der Frage scheitert, woran sich denn gut       prozessuale Sichtweise von Selbstbestimmung,
    gemeinte Moral des Einzelnen messen lassen soll.        welche die täglichen Schwankungen zwischen
                                                            Selbstsicherheit und Selbstverlust als typisches
                                                                                                                   FOTO: ULRIKE PETERSEN

                                                            Wesensmerkmal festmacht und zeigt, dass es zum
                                                            Menschen gehört, sich täglich neu inszenieren zu
                                                            müssen, weil sich das, was man als Selbst ausge-
                                                            macht und stabilisiert zu haben glaubt, regelmäs-
                                                            sig oder spätestens über Nacht wieder verflüchtig.
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Leitartikel                                                                                                             7

 Diese, wie ich sie nenne, skeptische Form von           Als kurzes Fazit lässt sich sagen: „Autonomie“ ist
 Würde verleiht dem Menschen auch eine Würdi-            ein mehrdeutiger Begriff, der je nach Auffassung
 gung seiner Gebrechlichkeit, seiner zeitweiligen        des Menschen ganz anders erscheinen kann. Wo
 Unbestimmtheit und seinen Verwirrungen. Doch            der eine idealistisch von einem souveränen Selbst
 hören wir Plessner selbst:                              träumt (das er wohl nur dann tut, wenn es ihm
                                                         gerade gut geht und er sich frei bewegen kann),
  „Aber diese Würde hat ihre Wurzel nicht allein in
                                                         sieht der andere den Menschen als abhängiges
 der Ebenbildlichkeit zu Gott, sondern ebenso sehr
                                                         und zeitweise gar nicht selbstbewusstes Wesen an,
 in dem mit der Abständigkeit zu sich gegebenen
                                                         das täglich um Autonomie ringt und eine solche für
 Abstand zu ihm. Würde besitzt allein gebroche-
                                                         gewisse Phasen stabilisieren kann, diese aber auch
 ne Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht
                                                         wieder verliert.
 gespannte zerbrechliche Lebensform. Ihre Über-
                                                         Die Selbstorganisation alter Menschen kann im Be-
 legenheit über das blosse Leben, die in ihren
                                                         reich der Pflege gestärkt werden, wenn betreuen-
 geistigen Äusserungen vernehmbar wird, erkauft
                                                         de Personen ihre Menschenbilder hinterfragen und
 sie mit Hemmung und Unterlegenheit im blossen
                                                         erkennen, dass ein Menschenbild ohne Einbezug
 Leben.
                                                         seiner Abhängigkeiten unvollständig ist und revi-
 Er ist gebrochene Ursprünglichkeit, die nicht über
                                                         diert werden muss. Ein tragfähiges Beispiel hierfür
 sich selbst verfügt. Er fällt nicht mit dem zusam-
                                                         liefert Helmuth Plessner, dessen Lektüre sich auch
 men, was er ist: dieser Körper, dieses Tempera-
                                                         und gerade heute wieder lohnt.
 ment, diese Begabung, dieser Charakter, insofern
 als er sie, sich von ihnen distanzierend, als dieses
 ihm gegebene Sein erkennt. Sie sind ihm zugefal-
                                                         Fußnote
 len und ihrer Zufälligkeit bleibt er sich bewusst, ob   1
                                                             Zuerst in Die Stufen des Organischen und der Mensch
 er nun ihrer Herr wird oder nicht. Das, was er hat,
                                                             (1928), in der vorliegenden Ausgabe Bd. IV; weiterhin in
 hat er zu sein – oder nicht zu sein.
                                                             Macht und menschliche Natur (1931), in der vorliegenden
 In diesem Sich-selber-präsent-Sein liegt der Bruch,
                                                             Ausgabe Bd. V; und in Lachen und Weinen (1941),
 die ‚Stelle’ möglichen Sich-von-sich-Unterschei-
                                                             in diesem Band S. 202-387.
 dens, die dem Menschen im Zwang zur Wahl und
 als Macht des Könnens seine besondere Weise
 des Daseins, die wir die exzentrische genannt                            Daniel Bremer
 haben1, anweist.“                                                        ETH Zürich
 (Plessner, Helmuth, 1948: Zur Anthropologie des                          E-Mail: d.bremer@active.ch
 Schauspielers. In: ders. Gesammelte Schriften.                           Website: www.ethik-pflegen.ch
 Band VII, S. 399-418. Frankfurt a.M. 2003,
 S. 416f.)

 Dieses Menschenbild lässt die Frage nach der
 Möglichkeit der Selbstorganisation in einem an-
 deren Licht erscheinen, als uns das Autarkie
 verheissende kapitalistische Werbe-Ich verheisst.
 Es bezieht die Abhängigkeiten und die Sorge um
 den Anderen in dessen Schwächephasen nicht
 als Verlust, sondern als immer schon zum Men-
 schen gehörigen Ausdruck von Würde mit ein.
 Und: Autonomie in Form von Selbstverantwortung,
 Selbstorganisation, Selbstbestimmung ist nun ein
 oszillierender Prozess, den keine Qualitätsprü-
 fungskommission (medizinische Skalentests wie
 der GCS, Prüfinstanzen wie der MDK etc.) einfach
 so „feststellen“ kann, denn eine Momentaufnahme
 sagt hier gar nichts aus.
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              Der Diskurs zu Selbstbestimmung in Demenz-Wohngemeinschaften -
                  eine Chance für den Blick auf die Versorgung alter Menschen
                                    in unserer Gesellschaft?
                                               Andrea von der Heydt

    Seit noch gar nicht allzu langer Zeit liegen die       So fordert u.a. auch der Deutsche Ethikrat,
    Themen Demenz1 und ambulant betreute Wohn-             die „…jeweils noch vorhandene Selbstständigkeit
    gemeinschaften politisch und gesellschaftlich im       und Selbstbestimmung zu bewahren und zu för-
    Trend. Und das ist gut so: Menschen mit Demenz         dern.“3
    sind nicht einfach nur „völlig verblödet“, wie von
                                                           Die Motive für das Leben in einer sog. ambulant
    Alzheimer betroffene Menschen 1906 noch be-
                                                           betreuten Demenz-WG sind daher leicht nachvoll-
    schrieben wurden, sondern leiden an einer mul-
                                                           ziehbar: „…der Erhalt der vertrauten Umgebung:
    tifaktoriellen Krankheit. Die Krankheit kann zwar
                                                           Das Konzept der Demenz-WG bietet die Chance,
    (noch) nicht geheilt werden, man kann aber lernen
                                                           dass Demenzkranke länger selbstbestimmt leben.
    mit ihr umzugehen und betroffenen Menschen ein
                                                           Angehörige werden entlastet, können zugleich
    würdiges Leben ermöglichen.
                                                           aber Einfluss ausüben und Verantwortung über-
    Die Alzheimer-Krankheit ist seit mehr als 100 Jah-     nehmen… Für die Bewohnerinnen und Bewohner
    ren bekannt und doch gibt es in Deutschland mit        kann die Wohngemeinschaft im Laufe der Zeit zu
    der ´Alzheimer Forschung Initiative e.V.´ erst seit    einer vertrauten Umgebung werden. Die Gruppe
    1995 den ersten privaten Verein, der Alzheimer-        ist überschaubar und es kommen stets die glei-
    Forschung fördert.                                     chen Pflegekräfte und Helfer ins Haus. Außerdem
                                                           können sich die Angehörigen der demenzkranken
    Im Jahr 2009 gibt Alzheimer’s Disease Internati-
                                                           Menschen rege am WG-Leben beteiligen. …“ 4
    onal (ADI), der Dachverband der Alzheimer-Ge-
    sellschaften weltweit, den ersten „Welt-Alzhei-        Grundsätzlich steigt die Lebenserwartung in den
    merbericht“ heraus. Er zeichnet ein düsteres Bild:     westlichen Gesellschaften seit Jahren kontinuier-
    Wurden bis 2010 35,6 Millionen Demenzkranke            lich an. Gleichzeitig altert damit eine Generation,
    prognostiziert, verdoppelt sich die Zahl laut Hoch-    die, bedingt durch den medizinischen Fortschritt
    rechnungen alle 20 Jahre – bis 2050 auf 115,4          und die Aufklärung sowie die Mittel und Motivation
    Millionen. Der Anstieg ist nicht nur dem demogra-      der Älteren, nicht nur später pflege- oder betreu-
    fischen Wandel geschuldet, sondern auch der er-         ungsbedürftig werden wird (besonders betroffen
    höhten Aufmerksamkeit.2                                werden Menschen ab 80 Jahren sein). Diese Ge-
                                                           neration konnte größtenteils auch ein Leben frei
    Ebenfalls noch sehr jung sind neben der Forschung
                                                           von Kriegen und äußeren Zwängen selbstbestimmt
    in Deutschland gerontopsychiatrische Ansätze, die
                                                           leben.
    das Augenmerk auf den adäquaten und menschen-
    würdigen Umgang mit dieser Krankheit legen: Lan-       Viele Studien sind sich einig, dass das Wohnen im
    ge Jahre wurden Menschen mit Demenz je nach            Alter eine zentrale Rolle spielt und Untersuchungen
    kulturellem Umfeld und je nach sozialem Status in      zeigen eindeutig, dass der alternde Mensch so lan-
    den bestehenden Strukturen mehr oder weniger           ge wie möglich in seiner häuslichen und vertrauten
    gut mitversorgt: als „kuriose Alte“ in herkömmli-      Umgebung bleiben möchte.5
    chen Familienstrukturen oder als verrückte Patien-
                                                           Das heißt, nicht nur für den an Demenz erkrankten
    ten in stationären Einrichtungen. Die spezifischen
                                                           Mensch (der zugegeben ein besonders hohes Maß
    (und teilweise extrem herausfordernden) Begleit-
                                                           an Vertrautheit benötigt, um sich möglichst selb-
    erscheinungen der unterschiedlichen Formen von
                                                           ständig zurecht zu finden) gilt: „Mit zunehmendem
    Demenz sind auch heute noch Grundlage für die
                                                           Alter und damit eventuell einhergehenden gesund-
    Gabe von (teilweise nicht notwendigen) Psycho-
                                                           heitlichen Einschränkungen, wird mehr Zeit in den
    pharmaka. Gerontopsychiatrische Konzepte wie
                                                           eigenen vier Wänden oder in unmittelbarer Nähe
    z.B. multiperspektivische Fallarbeit oder person-
                                                           verbracht. Das Wohnen hat für ältere Menschen
    zentrierte Betreuungsansätze sind aber inzwischen
                                                           daher große Bedeutung für die Lebensqualität und
    bekannt und setzen sich zunehmend durch.
                                                           Teilhabe am sozialen Leben.
Bundesweites Journal für - Wohn-Pflege-Gemeinschaften im Fokus WG Selbstorganisation stärken, aber wie?
Leitartikel                                                                                                                              9

Viele Senioren leben in ihren eigenen vier Wän-               alternden Menschen näherkommt. Aber noch bleibt
den.“6 Damit einhergehend spielt die „Bewahrung               viel zu tun: es müssen deutlich mehr Ressourcen
der Selbständigkeit, der Selbstversorgung und Er-             zur adäquaten Begleitung alt und pflegebedürftig
höhung der Lebensqualität im Alter eine immer grö-            werdender Menschen bereitgestellt werden: Wir
ßere Rolle.“7 Die Attraktivität von kleineren Wohn-           brauchen angemessenen Wohnraum, ausreichend
formen (Wohngruppen oder Wohngemeinschaften)                  und qualifiziertes (gerontologisch geschultes) Per-
liegt auf der Hand: sie versprechen das Flair eigener         sonal und angepasste Infrastrukturen, um nur Eini-
Häuslichkeit, eventuell sogar in einer lange bekann-          ges zu nennen. Das Ziel muss lauten: Hin zu mehr
ten Umgebung mit vertrauten Menschen, eine aktive             multifunktionalen, persönlichen und personalisierten
Einbindung (je nach Fähigkeiten und Ressourcen)               Wohn- und Versorgungsformen9 - nur so viel Pflege
in alltägliche Abläufe, gute Betreuung und Pflege              wie notwendig10 -, soziale Teilhabe und möglichst in-
sowie, last but not least, größtmögliche individuelle         dividuelle Begleitung im Alltag und bei persönlichen
und selbstbestimmte Lebensweise.                              Belangen. Ein Anspruch, der seit 2014 auch in den
                                                              acht Artikeln der Charta der Rechte für hilfe- und
Der Anspruch auf eine angemessene Versorgung bei
                                                              pflegebedürftige Menschen11 verankert ist.
altersbedingten Krankheiten schlägt sich inzwischen
in den Pflegeansprüchen nieder: Mit Inkrafttreten
des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes am 1. Janu-           Fußnoten
ar 2016 wurden die Grundlagen für einen neuen            1
                                                             Demenz wird hier vereinfacht für alle Formen, einschl. Alzheimer verwendet
                                                         2
Pflegebedürftigkeitsbegriff gestellt, der seit dem 1.         s. URL: https://www.dasgehirn.info/krankheiten/morbus-alzheimer/alzhei
                                                             mer-eine-krankheit-macht-geschichte, Stand 28.07.2017
Januar 2017 gilt. Dabei werden erstmals körperli-
                                                         3
                                                             Deutscher Ethikrat: Demenz und Selbstbestimmung – Stellungnahme.
che, kognitive und psychische Beeinträchtigungen
                                                              Berlin 2012
berücksichtigt. Zusätzlich werden in sozialpolitischen   4
                                                             Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Wegweiser
Diskussionen über angemessene Versorgungsfor-
                                                              Demenz: Url: http://www.wegweiser-demenz.de/informationen/betreuung-und-
men debattiert und in vielen regionalen Program-             pflege/pflegeheim/ambulant-betreute-wohngemeinschaften-fuer-menschen-mit-
men Fördergelder für alternative Wohnformen im               demenz.html, Stand: 28.07.2017
Alter bereitgestellt.                                    5
                                                             DPF AG: Wohnen im Alter - Anspruch und Realität in einer alternden Gesell
                                                              schaft. Berlin 2013. URL: http://www.dpf-investment.de/de/downloads/studien.
„Wie die Gesellschaft, so wandeln sich auch die in
                                                             html, Stand: 22.07.2016.
ihnen bestehenden Institutionen. Dies trifft somit       6
                                                             Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.):
auch auf die Heime zu. Sie haben sich von den Spi-
                                                             Chancen erkennen und nutzen. Alternde Gesellschaften im internationalen
tälern und Stiften des Mittelalters in wechselvollen
                                                             Vergleich. Gutachten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Berlin,
Schritten zu den gegenwärtigen Service-Einrichtun-           2017. S. V URL: https://www.bmfsfj.de/blob/78964/e8ccc6bd13bdf1cbad217b64f
gen verändert. Damit verbunden sind Veränderun-              38b41f0/chancen-erkennen-alternde-gesellschaft-internationaler-vergleich-data.
gen, welche die gesellschaftliche Einstellung zu den         pdf, Stand: 28.07.2017
alten Menschen als Gesamtheit durchlaufen haben.“8       7
                                                             Fischer, Bernd (Hrsg.): Alter und Altern. Historische und heutige Perspek-
                                                             tiven des Alters und Alterns, S. 137 URL: http://www.wissiomed.de/
Manche pflegebedürftigen Menschen benötigen si-
                                                             mediapool/99/991570/data/Alter_und_Altern_60_Plus.pdf, Stand 28.07.2017
cher weiterhin spezielle medizinische Technik und        8
                                                             Heinzelmann, Martin: Das Altenheim – immer noch eine „Totale Institution“?
es ist sicher ressourcenorientierter, bestimmte Hilfs-
                                                             Eine Untersuchung des Binnenlebens zweier Altenheime. Dissertation,
maßnahmen weiterhin zu bündeln. Aber es spricht              Göttingen 2004
meines Erachtens nichts dagegen, stationäre Ein-         9
                                                             s.a. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.):
richtungen künftig als kleinere Wohneinheiten mit            Chancen erkennen und nutzen. Alternde Gesellschaften im internationalen
garantiertem Einzelzimmer zu denken. Zugespitzt              Vergleich. Gutachten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung.
und zugegeben ein wenig polemisch gibt es keinen             Berlin, 2017
vernünftigen Grund, Menschen mitten in der Nacht         10
                                                              z.B. www.pwc.com/structure: Das Gesundheitssystem geht an den
zu wecken, um sie pflegerisch zu versorgen und mir            Bedürfnissen alter Menschen vorbei. Artikel 12/2015
fällt kein versorgungsrelevanter Aspekt ein, warum       11
                                                              Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen (2014).

Menschen kollektiv um acht Uhr frühstücken müs-              URL: https://www.pflege-charta.de/de/startseite.html, Stand: 22.07.2016.

sen, etc.
                                                                              Andrea von der Heydt
Die gute Nachricht ist, dass auf vielen Ebenen ein
Umdenken bereits erfolgt und den Wünschen des                                 Selbstbestimmtes Wohnen im Alter e.V.
                                                                              E-Mail: verein@swa-berlin.de
                                                                              Website: www.swa-berlin.de
Bundesweites Journal für - Wohn-Pflege-Gemeinschaften im Fokus WG Selbstorganisation stärken, aber wie?
10                                                                            Kontext
                                                                              Konzepte, Impulse, Entwicklungen

                             Auf Augenhöhe: nur ein Traum?
            Über die Stärkung der Angehörigen in Wohn-Pflege-Gemeinschaften
                                              Klaus Bostelmann

 Was ist das Besondere an Wohn-Pflege-Gemein-            Aber: ist diese Erwartung an die Angehörigen wirk-
 schaften? Das Besondere ist die Kooperation zwi-       lich realistisch? Entspricht sie der gängigen Praxis
 schen drei Partnern, die alle in neu definierten        in heutigen Wohn-Pflege-Gemeinschaften? Sind
 Rollen miteinander kooperieren:                        diese neuen Formen der Betreuung tatsächlich
                                                        mehr als „Pflegeeinrichtungen mit verminderter
     •   die Vermieter vermieten nicht nur Wohn-        Aufsicht“?
         raum, sondern sind zumindest in der Start-
                                                        Die Antwort auf diese Frage muss derzeit subjektiv
         phase auch als aktive Partner in der Gestal-
                                                        bleiben. Eine wissenschaftliche Untersuchung gibt
         tung dieses Modells gefragt;
                                                        es dazu bislang nicht. Sie wäre ja auch nicht eben
     •   die Pflegedienste sollen bislang einzeln        einfach: es wäre nämlich zu untersuchen, ob die
         erbrachte Leistungen bündeln, ohne den         Angehörigengemeinschaft tatsächlich nicht nur auf
         Betrieb einer Pflegeeinrichtung abzubilden,     Augenhöhe mit dem Pflegedienst kooperiert, even-
         in der sie autonom die Standards setzen        tuell auch in das Alltagsleben der WG eingebunden
     •   die Angehörigen, als Vertreter der Bewoh-      ist, sondern tatsächlich auch die entscheidenden
                                                        Impulse für die Gestaltung des Zusammenlebens
         nerinnen, sollen als treibende und gestal-
                                                        in der Wohngemeinschaft gibt.
         tende Kraft in der Wohn-Pflege-Gemein-
                                                        Die empirische Erkenntnislage über die Angehö-
         schaft aktiv werden.                           rigen ist nicht viel besser, zumindest in Bezug auf
                                                        die Situation in Hamburg: die einzigen derzeit
 In diesem Modell stehen die Angehörigen vor der        verfügbaren Daten entstammen einer im Jahre
 größten Herausforderung: waren sie in stationären      2011 durchgeführten Befragung. Danach liegt das
 Einrichtungen auf die Rolle eines gelegentlichen       Durchschnittsalter der Angehörigen bei 55 Jahren
 Besuchers beschränkt, sollen sie jetzt als „Gesamt-    und das Bildungsniveau ist relativ hoch (62,5 %
 auftraggeber“ über die Gestaltung des gemeinsa-        mit Abitur).
 men Wohnens entscheiden. Dabei geht es nicht
 darum, den Angehörigen im eigenen, womöglich           Auf Bundesebene sieht es nur wenig besser aus: in
 ökonomischen Interesse einen neuen Gestaltungs-        2015 wurde die Abschlussarbeit von Tina Sand mit
 spielraum zu verschaffen. Ziel ist die möglichst       dem Titel „Ambulant betreute Wohngemeinschaf-
 lange und möglichst weitgehende Erhaltung der          ten - Die Rolle der Angehörigen von Menschen mit
 Selbstbestimmung der BewohnerInnen.                    Demenz.“ veröffentlicht. Sie basierte auf der Be-
 Diese Zielsetzung scheint zunächst philosophisch       fragung von 30 Angehörigen in hessischen WPGs.
 oder politisch begründet, hat aber auch handfeste      Einige der Aussagen seien in Kürze referiert:
 Gründe: „Erhebungen bezeugen Wohngruppen-
 konzepten die größten Fortschritte und Vorteile
                                                           •     Nur in relativ wenigen Wohngemeinschaf-
 in Bezug auf das Wohlbefinden der Betroffenen.
                                                                 ten (WGs) wirken Angehörige regelmäßig
 Grundlage dafür ist die im Konzept von WGs kon-
 statierte Selbst- und Mitbestimmung sowie die                   an alltäglichen Versorgungsangeboten der
 Achtung der Individualität der Bewohner.“ (Sand,                WGs mit. Dabei scheint der Beteiligungs-
 2015) Wer aber könnte diese besser sicherstellen                grad der Angehörigen mit zunehmender
 als die Angehörigen als VertreterInnen der Bewoh-               Wohndauer abzunehmen.
 nerInnen? Sie sind die „Garanten für die Ausübung               (Aus subjektiver Erfahrung ist das nachvoll-
 der Selbstbestimmung“ (Schwendner, 2014).
                                                                 ziehbar: mit fortschreitender Demenz des
                                                                 Bewohners schwindet das Gefühl, noch et-
                                                                 was „miteinander machen“ zu können.
Kontext                                                                                                 11
                        Konzepte, Impulse, Entwicklungen

                                Die Studie nennt hier Beziehungsqualität             verständnis bezüglich ihrer führenden Rolle
                                zum Bewohner, Gesundheitszustand, aber               innerhalb des Verantwortungsverbundes
                                auch Rahmenbedingungen und WG-Füh-                   der WG.
                                rung als wichtige Faktoren).
                            •   Erkenntnisse darüber, wie Angehörige in ih-   Diesem Versuch einer objektiven Annäherung
                                                                              folgen nun einige rein subjektive, aus individueller
                                rer Rolle im Verantwortungsverbund unter-
                                                                              Hamburger Erfahrung gewonnene Einschätzungen:
                                stützt werden können, fehlen momentan.
                            •   Primäres Motiv für die Unterbringung in
                                                                                 •   Die Entscheidung für einen Pflegeplatz fällt
                                einer WG ist, dass der Angehörige „gut
                                                                                     meist in einer Notsituation und dann steht
                                aufgehoben ist“. Erst danach folgen aktive
                                                                                     der – im Vergleich zur traditionellen Pflege-
                                Begleitung des Angehörigen und eigener
                                                                                     einrichtung - gute Pflegeplatz im Vorder-
                                Entscheidungsspielraum hinsichtlich der
                                                                                     grund. Das ist legitim, aber im Sinne der
                                Versorgung.
                                                                                     gewollten Selbstorganisation auch nur ein

                                                                                     erster Schritt.
                            •   Probleme sehen Angehörige am häufigs-
                                                                                 •   Die Selbstorganisation im Sinne einer Ge-
                                ten in der nicht adäquaten Kommunikation
                                                                                     staltung der WG-Kultur durch die Angehöri-
                                – mit dem Pflegedienst aber auch mit den
                                                                                     gen wird dabei von Vielen eher als notwen-
                                anderen Angehörigen.
                                                                                     diges Übel, als Pflicht, gesehen, weniger als
                            •   Eine kritische Phase ist häufig der Über-
                                                                                     Chance. Verständlich, denn Selbstorganisa-
                                gang vom „Gründerteam“ der Angehörigen
                                                                                     tion bedeutet Zeit und oft auch Konfronta-
                                hin zu neu einsteigenden Angehörigen,
                                                                                     tion: mit anderen Angehörigen aber auch
                                wenn der Transfer der anfänglich prägen-
                                                                                     mit dem Pflegedienst, der – bei zumeist
FOTO: ULRIKE PETERSEN

                                den Zielsetzung nicht ausreichend gelingt
                                                                                     herausragendem Engagement auf der Ebe-
                                und neue Angehörige nicht ausreichend
                                                                                     ne der Mitarbeiter/innen – insgesamt einer
                                integriert werden.
                                                                                     durch „stationäre“ Pflege und ökonomische
                            •   Angehörige entwickeln – insbesondere als
                                                                                     Zwänge geprägten Logik folgt.
                                „Nachrücker“ - kein ausgeprägtes Selbst-
12                                                                             Kontext
                                                                               Konzepte, Impulse, Entwicklungen

     •   Ein zur Gründungsphase vielleicht einmal       dann ist eine Stärkung der Angehörigen im Modell
         erstelltes „Konzept“ der WG tritt in den       der WPG dringend notwendig.
         Hintergrund und wird an neu einsteigende
                                                        Handlungsoptionen gibt es einige
         Angehörige kaum vermittelt.
                                                           ● ein behördlich geführtes Register der Ange-
     •   Der Blick über den Tellerrand der eigenen
                                                              hörigensprecher würde die Voraussetzung
         WG wird den aktiven Angehörigen nicht
                                                              für eine Unterstützung und Vernetzung der
         leicht gemacht: selbst wenn ihre WG durch
                                                              WPGs ermöglichen,
         glückliche Fügung Kontakt – dies ist mögli-
                                                           ● eine umfassendere Forschungsarbeit zu
         cherweise spezifisch für Hamburg - zur
                                                              Angehörigen in WPGs könnte womöglich
         Koordinationsstelle hat, trifft sie dort nur
                                                              wichtige Erkenntnisse liefern,
         auf einen Teil der bestehenden WGs. Die
                                                           ● eine verbindliche Einführung neuer
         Integration in das dortige Netzwerk ist
                                                              Angehöriger in ihre neue Rolle in Gestalt
         nämlich eine Option, die - über längere
                                                              entsprechender Seminare würde zu einem
         Zeiträume betrachtet - nur von einem Teil
                                                              deutlichen Kompetenzgewinn führen.
         der WGs genutzt wird.
                                                           ● Angehörige könnten durch Coaching auf
     •   Was vollends fehlt ist eine eigenständige
                                                              Kosten der Behörde unterstützt werden.
         Lobbyorganisation der Angehörigen. Die
                                                           ● Angehörige könnten ihre Zusammenarbeit
         Rahmenbedingungen für die WPG werden
                                                              und ihre Kompetenzerweiterung selbst
         in den zuständigen Behörden entwickelt
                                                              organisieren, z.B. durch
         und folgen letztlich politischen Leitlinien.
                                                               • einen Verein auf Landesebene
         Politische Gestaltung basiert auf Meinun-
                                                               • eine Abteilung in einer bestehenden
         gen der Akteure. Ein Pflegemodell, das den
                                                                 Organisation wie „Wir pflegen e.V.“
         Interessen der Bewohner/innen und ihrer
         Angehörigen dient, sollte von ihnen auch
         politisch unterstützt werden können und        Die obigen Ausführungen mögen kritisch erschei-
         nicht nur vom Engagement der Fachbehör-        nen. Zu bedenken ist aber, dass das Modell der
         den abhängig sein.                             selbstorganisierten WPG erst relativ jung ist. Es
                                                        wäre doch ein Wunder, wenn es heute schon in
 All das mag pessimistisch anmuten, doch wir kön-       jeder Hinsicht optimal liefe. Ob es sich lohnt, aus
 nen es auch als Impuls für einen weiteren Schritt      den bisherigen Erfahrungen zu lernen, kann Jede/r
 nach vorne ansehen:                                    für sich vielleicht anhand der Frage klären: möchte
                                                        ich, dass dieses Modell noch erfolgreich besteht,
 Wenn                                                   wenn ich selbst eines Tages Bedarf haben könnte?
   • Vermieter, Pflegedienst und Angehörige
      nicht nur in der Gründungsphase einer
                                                        Literatur
      WPG als Partner auf Augenhöhe wirken sol-
                                                        • Sand, T.; Ambulant betreute Wohngemeinschaften; 2014
      len,                                              • Schwendner, C.; Bürgerschaftliches Engagement in
   • wenn vermieden werden soll, dass die na-             ambulant betreuten Wohngemeinschaften; 2014
      turgemäß hohe Fluktuation bei den Ange-
      hörigen schrittweise zu einer Dominanz der
      professionellen Pflegedienste führt,
   ● wenn also die Steuerungsfunktion des
                                                                     Klaus Bostelmann
      Pflegedienstes nicht sukzessive zunehmen
                                                                     2013 bis 2016 Angehöriger einer WPG,
      und die WPG de facto zu einer stationären                      Kassenwart und Angehörigensprecher
      Pflegeeinrichtung mit verminderter Aufsicht                     E-Mail: Klaus@bostelmann.de
      werden soll
Kontext                                                                                                 13
Konzepte, Impulse, Entwicklungen

                                 Das Kölner Modell -
          Perspektiven und Unterstützungsstrukturen für Wohngemeinschaften
                            mit Auftraggebergemeinschaft
                                             Monika Schneider

 In den Wohngemeinschaften für Menschen mit            gemeinsam beschlossenen Investitionen nicht
 Demenz, die nach dem Kölner Modell organisiert        leistet.
 sind, haben sich die Bewohner zu Auftraggeberge-      Ein wichtiger Grund für ein Ausscheiden aus der
 meinschaften (GBR) zusammengeschlossen. Weil          Gemeinschaft kann auch die Verletzung der Verein-
 sie selbst meist nicht mehr in der Lage sind, ihre    barung zur Beauftragung eines Pflegedienstes sein.
 Interessen wirksam zu vertreten, werden sie durch     Mit dem Generalmietvertrag übernimmt die Ge-
 ihre bevollmächtigten Angehörigen oder gesetzli-      meinschaft auch das gesamtschuldnerische Risiko
 chen Betreuer unterstützt.                            für die Wohnungsmiete. Die meisten Wohnungsun-
                                                       ternehmen mindern das Risiko der Gruppe, indem
 In vielen Wohngemeinschaften wird mit Auftrag-        sie befristet einen belegungsbezogenen Mietpreis
 gebergemeinschaften der Mieter gearbeitet. Die        einräumen und nur für die bewohnten Bereiche
 Gemeinschaften verständigen sich einvernehmlich       der Wohnung Miete erheben. So kann das Risiko
 auf einen ambulanten Dienst, der die Pflege und        der Gruppen, das vor allem in der Zeit des Erstbe-
 eine „Rund um die Uhr“-Betreuung sicherstellt. Die    zugs besteht, gemindert werden. Vereinzelt helfen
 Gemeinschaft entscheidet über die wesentlichen        die Unternehmen auch dann weiter, wenn es in
 Aspekte der Finanzen, der Haushaltsführung und        Ausnahmefällen über einen längeren Zeitraum
 macht Vorgaben für den Alltag in der Wohnge-          nicht gelingt, ein Zimmer erneut zu belegen.
 meinschaft. Das Konzept gilt als effektive Organi-
 sationsform, mit der Bewohner und ihre Angehöri-      Ein weiterer Bestandteil des Modells ist ein exter-
 gen ihre Interessen wirksam vertreten können. Die     ner Beistand, der die Gruppe bei der Ausübung der
 gemeinschaftliche Beauftragung eines Pflegediens-      Selbstverantwortung und der Organisation der Ge-
 tes ermöglicht durch die Zusammenlegung indivi-       meinschaft unterstützt. So berät der Beistand fach-
 dueller Leistungsansprüche Synergieeffekte, die       lich, moderiert die regelmäßigen Versammlungen
 eine gute Betreuungssituation bezahlbar machen.       der Gruppe und führt im Auftrag der Gemeinschaft
                                                       verwaltende und organisatorische Tätigkeiten
 Bei den Wohngemeinschaften, die nach dem              aus. Diese Leistungen, werden individuell mit der
 Kölner Modell organisiert sind, liegt ein weiteres    Gruppe vereinbart und können im Laufe der Zeit
 Merkmal vor: Die Bewohner schließen keine Ein-        variieren.
 zelmietverträge mit dem Vermieter ab, sie mieten
 die Wohnung gemeinschaftlich an. Vertragspartner      Der Beistand wird von den Gemeinschaften als
 des Vermieters ist die Auftraggebergemeinschaft.      wichtiges Angebot gesehen, dass ihnen hilft, die
 Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft ist mit ei-    Vielzahl der Aufgaben, die in einer selbstverant-
 nem Anteil am Mietvertrag verbunden und beinhal-      worteten Wohnform auf sie zukommen zu fassen
 tet das Nutzungsrecht an einem privaten Zimmer        und zu bewältigen. Die ´Wohnkonzepte Schneider
 und den Gemeinschaftsräumen. So ist sicherge-         gemeinnützige GmbH´ bietet die Leistungen der
 stellt, dass die Gemeinschaft der Mieter allein       Beistandschaft seit mittlerweile 10 Jahren unter-
 über die Verteilung des Wohnraums entscheidet         schiedlichen Gemeinschaften in der Region an.
 und alleinverantwortlich neue Mitglieder in die
 Wohnung aufnehmen kann. Diese Vereinbarung            Bei der WG-Gründung bietet der Beistand Be-
 ermöglicht auch, sich von Mitgliedern zu trennen,     ratung und Hilfestellung bei der Aufstellung der
 wenn es zu unüberbrückbaren Konflikten innerhalb       Angehörigen als Gemeinschaft, im Laufe der Zeit
 der Gemeinschaft kommt. Dies kann zum Beispiel        unterstützt er in Krisen und bei Konflikten. Beim
 der Fall sein, wenn ein Mitglied seinen finanziellen   Wechsel von Bewohnern und Angehörigen sorgt er
 Verpflichtungen nicht nachkommt und z.B. seine         dafür, dass kein Wissen verloren geht, die Rollen-
 Miete, den Anteil an der Haushaltskasse oder an       und Aufgabenteilung erhalten bleibt oder fortge-
                                                       schrieben werden kann.
14                                                                           Kontext
                                                                             Konzepte, Impulse, Entwicklungen

 Die Beratung der Gemeinschaften und die Reflekti-       WG-Interessenten werden zum Konzept und den
 on der Gruppenprozesse, sowie die Unterstützung        Aufgaben der Auftraggebergemeinschaft beraten.
 der Kommunikation in der Gruppe und mit den            Darüber hinaus erhalten sie Beratung zur ihrer
 Dienstleistern in der Wohngemeinschaft, sind Kern      persönlichen Situation, Hilfestellung bei der Ab-
 des Angebotes. Mit dem Blick von außen kann der        wicklung der notwendigen Formalitäten und Bera-
 Beistand intervenieren, wenn das selbstbestimmte       tung zur Finanzierung.
 Wohnen der Bewohner als gemeinschaftliches Ziel
 aus dem Blickfeld zu geraten droht oder die Kom-       Mindestens sechs Monate vor Bezug der Wohnung
 munikation innerhalb der Gruppe oder zwischen          wird mit der Gründung der Auftraggebergemein-
 den Vertragspartnern nicht mehr so gut gelingt.        schaft begonnen. So verbleibt ausreichend Zeit
 Ein wichtiger Baustein ist auch die zentrale Erstbe-   eine Gruppe zusammen zu stellen und die Aufga-
 ratung von Interessenten für diese Wohnform, die       ben vor Bezug der Wohnung zu bearbeiten. Auch
 dann an die Wohngemeinschaften weitervermittelt        bei der Auswahl eines ambulanten Pflegedienstes
 werden.                                                wird Hilfestellung geleistet. So können schon im
 Der Beistand ist aber auch selbst Dienstleister, der   Vorfeld durch ein Ausschreibungsverfahren geeig-
 durch die Gemeinschaft für einen festlegten Zeit-      nete Anbieter ermittelt oder unabhängige Vorge-
 raum gewählt wird. In vielen Fällen beteiligt sich     spräche mit Kostenträgern oder Aufsichtsbehörden
 auch das Wohnungsunternehmen an den Kosten,            geführt werden. Die Auswahl wird jedoch von der
 da ein Teil der verwaltenden Tätigkeiten sonst in      Angehörigengemeinschaft getroffen.
 den Bereich des Wohnungsunternehmens fallen
 würden.                                                Im Regelfall wird vor Bezug der Wohnung die Ge-
                                                        meinschaft gegründet, ein entsprechender Vertrag
 Das Modell wurde im Wesentlichen auf Initiative        unterzeichnet, der Beistand und der Pflegedienst
 eines Wohnungsunternehmens hin entwickelt und          beauftragt.
 umgesetzt. Handlungsleitend war der Wunsch, ein
 Konzept für eine Wohngemeinschaft zu entwickeln,       Insbesondere die Gründungsphase ist identi-
 bei dem sich die Mieter von einem ambulanten           tätsbildend für die Gruppe und das Konzept der
 Dienst wieder trennen können, ohne die Wohnung         Selbstorganisation. Der Arbeitsaufwand für die
 verlassen zu müssen. Darüber hinaus sollte das         Angehörigen in dieser Phase ist enorm. Es müssen
 Modell im Unternehmen kommunizierbar, repro-           viele wichtige Entscheidungen getroffen werden,
 duzierbar und wirtschaftlich tragfähig sein. Der für   der Pflegedienst ausgewählt, die Wohnung ein-
 das Unternehmen attraktive Gemeinschaftsmiet-          gerichtet und neue Gruppenmitglieder integriert
 vertrag sowie die Analogie, des Modells zu einer       werden. Gleichzeitig gibt es sowohl für die Einzel-
 Eigentümergemeinschaft, waren bei der Gewin-           nen als auch für die Gesamtgruppe einen großen
 nung von Unterstützern für das Projekt hilfreich.      Gestaltungsspielraum. Förderlich ist es für die
 Die Entwicklung und Umsetzung innovativer Wohn-        Angehörigen auch, auf andere gleich oder ähnlich
 konzepte trägt zudem zu einem positiven Image          Betroffene zu treffen, mit denen sie sich austau-
 des Wohnungsunternehmens bei. Dem gelunge-             schen können. Die intensive Zusammenarbeit
 nen Beispiel sind in der Region bereits fünf weitere   beim Aufbau gerade in der Anfangsphase stiftet
 Unternehmen gefolgt, die im eigenen Bestand der-       eine tragfähige Beziehung zwischen den ersten
 artige Modelle realisiert haben.                       Angehörigen. Meist haben die Interessenten Er-
                                                        fahrungen mit anderen Betreuungs- und Pflege-
 Wohnungsunternehmen, die ein solches Konzept           angeboten gemacht, oder waren selbst intensiv
 in ihrem Bestand umsetzen möchten, übernehmen          in die Pflege ihrer Angehörigen eingebunden. Das
 die Kosten und die Organisation für den Aufbau         gemeinschaftliche Handeln und die Solidarität, die
 einer Auftraggebergemeinschaft. Hierfür bedienen       in der Gruppe erlebt werden, sind für die meisten
 sie sich unabhängiger Beratung und kooperieren         eine gänzlich neue Erfahrung.
 mit lokalen Beratungsangeboten wie Pflegestütz-
 punkten, Alzheimergesellschaften oder sonstigen
 Initiativen, um das Projekt bekannt zu machen.
Kontext                                                                                                  15
Konzepte, Impulse, Entwicklungen

 Da die meisten Gruppen bei Erstbezug noch nicht        Wann braucht es professionellen Blick des Pfle-
 vollständig sind, steht als nächste Herausforde-       gedienstes und wann sind es die Angehörigen,
 rung die Suche und Auswahl geeigneter Mitbewoh-        bei denen die Deutungshoheit zum Willen der
 ner an.                                                Bewohner liegt. Mit welchen Methoden können
 Hat die Gruppe mehr Bewerber als freie Woh-            die Fähigkeiten der Bewohner möglichst lange er-
 nungen muss entschieden werden, wie das Aus-           halten werden? Welche Betreuungsangebote sind
 wahlverfahren zu gestalten ist, nach welchen           geeignet für die Bewohner und wie viel Betreuung
 Kriterien ausgewählt wird und wie man zu einer         soll es im Kontext der Wohngemeinschaft geben?
 Entscheidung kommt. Fehlt es an Bewerbern muss         Wie kann gewährleistet werden, dass der Bewoh-
 überlegt werden, wie Interessenten angesprochen        ner weiterhin selbstbestimmt wohnen kann, wenn
 werden können und ggf. mit dem Wohnungsunter-          seine Fähigkeiten die eigenen Wünsche zu äußern
 nehmen und dem ambulanten Diensten darüber             nachlassen? Wie umgehen mit den Grenzsituatio-
 verhandelt werden, wie mit den Einnahmeausfäl-         nen, in denen Nahrung verweigert wird, eine star-
 len umzugehen ist.                                     ke Hinlauftendenz oder andere herausfordernde
                                                        Verhaltensweisen auftreten? Die Liste der Fragen
 Sind alle Zimmer vermietet und es kehrt Alltag ein,    lässt sich noch unendlich erweitern. Es gibt keine
 verschieben sich die Aufgaben in die Begleitung        Lösungen „von der Stange“ für ein würdiges Le-
 der Wohngemeinschaft, die Vertretung der Inter-        ben und eine bedarfsgerechte Betreuung in einer
 essen der eigenen Angehörigen und die Entwick-         Wohngemeinschaft.
 lung von Qualitätsanforderungen für die Alltagsge-
 staltung in Zusammenarbeit mit dem ambulanten          Das Leitbild für die Wohngemeinschaften nach
 Dienst.                                                dem Kölner Modell beinhaltet, dass die struktu-
                                                        rellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden,
 Spätestens mit Bezug der Wohnung übernimmt             in diesen Prozess einzusteigen. Eine wichtige Vo-
 der ambulante Dienst eine entscheidende Rolle.         raussetzung hierfür ist, dass mit diesem Modell
 Durch die ständige Präsenz der Mitarbeiter neh-        den Bewohnern und ihren Angehörigen wichtige
 men sie wesentlich Einfluss auf die Alltagsgestal-      Instrumente an die Hand gegeben werden um ihre
 tung. Nun kommt es darauf an, dass Angehörige          Positionen wirksam zu vertreten. Die Hoheit über
 und ambulanter Dienst zu einem gemeinsam               die Wohnung und die letztendliche Verantwortung
 getragenen Verständnis der Wohngemeinschaft            für die Wohngemeinschaft ist ein Teil davon. Die
 finden. Dabei geht es nicht nur um die Konzepte,        anderen wichtigen Faktoren sind die neutrale Un-
 nach denen Pflege- und Betreuungsleistungen             terstützung durch den Beistand, dessen Ziel es
 erbracht werden, sondern auch darum, wie die           ist, die Selbstverantwortung der Gemeinschaft zu
 Selbstbestimmung der Bewohner gesichert werden         stärken und ambulante Dienste, die sich auf diese
 kann. Basis hierfür ist eine gute Kommunikation        Herausforderung einlassen wollen. Das Modell bie-
 zwischen den beiden Gruppen.                           tet allen, die sich engagieren möchten ausreichend
                                                        Raum.
 Dies ist für beide Seiten gleichsam ungewohnt.
 Die geteilte Verantwortung zwischen einem pro-
 fessionellem Dienst und den Angehörigen erfordert              Monika Schneider
 ein neues Verständnis für die Prozesse bei Ver-                Wohnkonzepte Schneider gemeinnützige GmbH
 tragspartnern. Damit das gelingt, ist ein intensiver           E-Mail: schneider@wohnkonzepte-schneider.de
 Austausch auch über das grundlegende Verständ-                 Website: www.agentur-fuer-wohnkonzepte.de
 nis zur Betreuung in einer Wohngemeinschaft
 erforderlich. Gegenseitige Erwartungen müssen
 ausgesprochen werden, damit es nicht zu Miss-
 verständnissen und Frustration kommt und jeder
 seinen Platz im Betreuungssetting finden kann.
 Welche Aufgaben werden vom ambulanten Dienst
 übernommen, was fällt in den Aufgabenbereich
 der Angehörigen?
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                                                                               Konzepte, Impulse, Entwicklungen

                                 Wohngemeinschaft zu verkaufen -
                            Bericht eines Angehörigen über den Umgang
                               mit der Kündigung des Pflegedienstes
                                                Norbert Rochna

„Demenz-WG zu verkaufen. Fünf Senioren suchen             so schilderte es auch der Pflegedienst. So wurde
eine neue liebevolle Betreuung.“                          moniert, dass das Unternehmen im selben Haus resi-
 So oder so ähnlich hätte wohl unsere Zeitungsannon-      dierte und die WG einen Heim-Charakter habe, weil
 ce gelautet. Kurz vor dem Jahreswechsel 2015/16          wir Angehörigen den Pflegedienst nicht selbst ausge-
 stand unsere Wohngemeinschaft kurz vor dem Aus.          sucht hätten. Hatten wir auch nicht.
 Dabei hatte alles so gut anfangen: Nachdem meine         Denn die WG ist Teil eines genossenschaftlichen Se-
 Eltern die wohl typischen Stationen durchlaufen hat-     niorenwohnprojektes. Der Komplex besteht aus rund
 ten - von „So lange wie möglich ohne Hilfe leben“,       30 seniorengerechten Wohnungen, einem im Haus
 ambulanter Betreuung bis zur ambulanten Pflege und        untergebrachten Pflegedienst mit einer Tagespflege
 später Tagespflege – kam das Angebot, dass mein           und eben einer separaten Demenz-WG mit acht Zim-
Vater in eine Demenz-WG einziehen kann. Das war           mern. Diese Zimmer wurden an Mieter mit Wohnbe-
 nicht nur von seinem Zustand her mittlerweile unver-     rechtigungsschein vergeben. Diese WG war von An-
 meidbar, sondern auch eine sehr praktische Lösung:       beginn des Projektes ein zentraler Bestandteil. Dass
 Der Pflegedienst, der meinen Vater bislang versorgt       der Pflegedienst im Haus diese WG organisieren und
 hatte, war Organisator – oder wie es für uns damals      betreiben wollte, zeigt, dass Genossenschaft und
 aussah: Betreiber dieser WG.                             Pflegedienst anscheinend ebenso blauäugig das Vor-
 Das dies, wie sich später herausstellte, ein kapitaler   haben angegangen sind, wie wir Angehörigen später.
 Denkfehler war, war uns damals nicht klar. Eine WG       Von den acht Zimmern waren über Monate nur fünf
 ist so eine Art Altenheim, aber irgendwie anders. Mit    belegt. Insgeheim hatten wir Angehörigen schon lan-
 der besonderen Organisationsform dieser Wohnform         ge überlegt, wie sich das Projekt finanziert, denn wir
 hatten meine Mutter und ich uns nicht beschäftigt.       wussten, dass die Zuzahlungen gedeckelt waren.
 Warum auch? Der Pflegedienst kümmerte sich ja um          Der Knall kam dann ein paar Wochen vor Weihnach-
 alles. Wir wurden gut beraten und mein Vater immer       ten: Der Pflegedienst kündigte den Betreuungsver-
 gut betreut. Meine Mutter und ich hatten schon ge-       trag zum Jahreswechsel. Offiziell nicht aus finan-
 nug damit zu tun, die Antragsflut der Kranken- und        ziellen Gründen, sondern wegen der nach wie vor
 Pflegekasse zu verstehen und zu bewältigen.               verweigerten WG-Anerkennung durch die Kreisver-
 Die Angehörigen-Gruppe bestand aus einer zufällig        waltung. Die Geschäftsführung befürchtete unter an-
zusammengewürfelten Gruppe, die nur eines einte:          derem negative Auswirkungen auf den restlichen Ge-
 Die Demenzkranken waren von der Tagespflege in die        schäftsbetrieb mit häuslicher Pflege und Tagespflege.
 WG „weitergereicht“ worden. In den Sitzungen, die        Der Pflegevertrag sollte vorerst weiterbestehen.
 eine Mitarbeiterin des Pflegedienstes leitete, wurden     An diesem Punkt bekamen wir Angehörigen glaube
 organisatorische Fragen geklärt und langsam ver-         ich zum ersten Mal eine Ahnung davon, was der
 sucht, bei laufendem WG-Betrieb einen kompletten         Unterschied zwischen WG und Altenheim wirklich
 Hausstand aufzubauen. Die bei einer WG aber alles        bedeutet. Wir lernten, dass es zwei verschiedene
 entscheidende Frage wurde nie richtig (er)klärt: Wer     Arbeitsfelder gibt, die sich auch vertraglich genau
 ist hier eigentlich der Chef?                            trennen lassen: Betreuung und Pflege.
Immerhin wurde nach Monaten ein Angehörigen-
 Sprecher gewählt, nämlich ich.                           Und wir sollten jetzt Menschen finden, die mit den
 Diesen Posten habe ich damals als organisatorischen      Bewohnern kochen, basteln, Lieder singen, den
Vermittler gesehen, ein bisschen nach dem Motto:          Haushalt bewältigen, einfach für die Kranken da
 Der Pflegedienst entscheidet, wir zahlen.                 sind – und auch noch eine Nachtwache organisieren.
 Wir wussten es nicht besser.                             Schon eine kurze Überschlagsrechnung mit dem
                                                          Taschenrechner machte klar, dass eine 24-Stunden-
Was wir aber wussten ist, dass es bei der Anerken-        Betreuung nicht zu finanzieren ist.
nung als WG klemmte. Das Amt stellte sich quer,           Und wir brauchten ja nicht nur eine Person, sondern
aus unserer damaligen Sicht wegen Lappalien,              tagsüber mindestens zwei.
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