Challenging the stadium - Prof. Dr. Hans-Jürgen Schulke
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Text Routledge Challenging the stadium Hans-Jürgen Schulke (Bremen/Hamburg) Vorspiel Schauspiel, Gesang, Zirkus, Kämpfe von Athleten, Pferden oder Gladiatoren haben schon im Altertum ihr Publikum gefunden. Spielerisches Erzählen von Geschichten, Mitteilen von Neuartigem oder Ermitteln von Stärkeren hat früh seine Bühne und seine Tribüne, damit seine Architektur gefunden. Im Mittelmeerraum sind sie vielfältig und großformatig zu besichtigen als Arenen, Stadien oder Amphitheater. Noch heute fasziniert der Circus Maximus in Rom seine Besucher durch Funktionalität, Monumentalität und Geschlossenheit. Er lässt erahnen, welche Bande und welcher Bann zwischen Akteuren und Zuschauern gespannt, durch die räumlich-akustisch-visuellen Arrangements verdichtet wurde. Die Zuschauer wurden unmittelbare Zeugen eines bis dahin unerhörten und unvorhersehbaren Geschehens. Schon damals lassen sich zwei anthropologische Kristallisationspunkte identifizieren, die die eigenartige Atmosphäre in diesen Räumen hervorrufen. Es ist zum einen das Streben der Menschen, hier und jetzt etwas noch Unbekanntes zu erfahren – ihn zeichnet lebensbegleitend und lebenserhaltend eine unstillbare Neu-Gier aus. Er will mit eigenen Augen und Ohren erfahren, was geschehen wird – Begriffe wie Augenzeuge oder Hörigkeit bekräftigen diese Bedeutung. Zum anderen ist es die unendliche Sehn-Sucht nach umfassender Gemeinsamkeit, nach Übereinstimmung mit möglichst vielen anderen Menschen, die Massenpsychologen als „Gefühlsansteckung“ (Canetti) bezeichnen. Beide Momente – kognitiv wie emotional zu verorten – sind phylogenetisch wichtig für Zusammenhalt und Weiterentwicklung der Gattung Mensch. Es hat fast 2000 Jahre gedauert, bis in Europa wieder profane Monumentalbauten für Zuschauer errichtet wurden. In England entstanden zum Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Fußballstadien, nachdem zuvor schon auf einigen weitläufigen Pferderennplätzen Tribünen errichtet worden waren. Die Zeit dazwischen war geprägt durch Dome und Kathedralen als den rituellen Versammlungsplätzen, in denen Information und Emotion unter sakralen Orientierungen neu arrangiert wurde. Sie bildeten vielerorts immobile Innerlichkeit mit Leuchtturmcharakter, prägten weithin sichtbar das Stadtbild. Turnierplätze, Theater, Ballhäuser oder Tanzsäle erlangten nie deren Dimension, auch nicht feststehende Zirkusgebäude Ende des 19. Jahrhunderts. Erreicht wurden die Ausmaße der Dome bestenfalls in der Fläche durch öffentliche Plätze, wo Herrscherhochzeiten, Paraden, Märkte und Verbrennungen stattfanden. Insbesondere in italienischen Regionen gab es auch Körperübungen wie fußballähnliche Spiele oder Pferderennen. In Deutschland entstanden zu Beginn der Moderne dann zahlreiche öffentliche Turnplätze, auf denen – in einer ständischen Gesellschaft höchst ungewöhnlich – alle männlichen Jugendlichen Kraft, Koordination und kollektives Handeln gleichberechtigt üben konnten. Das durchaus unter Aufmerksamkeit elterlicher oder obrigkeitsstaatlicher Zuschauer, die ihre Neugier über Formen und Funktion, aber auch Risiken dieser befremdlichen Körperübungen stillen wollten. Sie schauten dem Treiben ebenerdig zu.
Sportliche Exerzitien sind ein weiteres Kind moderner Leibesübungen, das zunächst in England die aufstiegsorientierten bürgerlichen Jugendlichen in ihren Schulen ergreift. Getreu der kapitalistischen Ethik der freien Konkurrenz und seiner politischen Mentalität eines „We are the Conquerors“ streiten diese Jugendlichen bei Athletics, Boxen, Cricket, Hockey, Golf, Badminton, Baseball, Soccer, Rugby, Rudern und Schwimmen um die besten Plätze in internen Rangskalen. In der Orientierung am vermessenen „record“ wird die Höchstleistung ubiquitär, überschreitet ihre lokale Haftung. In seiner Kombination von Adoleszenz, Auslese und Askese wird der Sport zu der wichtigsten Sozialisationsinstanz des aufstrebenden Bürgertums, das Training der körperlichen Fitness zum modernen lifestyle . Der Sportsman betritt die Bühne alltäglicher Selbstinszenierung und beherrscht sie bis heute, während der Gentleman als sein alter ego in der Erinnerung verblasst. Sport bedarf zunächst keiner besonderen Räume. Flüsse, Wiesen, schnell abgesteckte Parkflächen reichen aus, um Kreativität, Selbstorganisation und Leidenschaft ausleben zu lassen. Zumal die pädagogische Administration die Verletzungsrisiken besorgt, der puritanische Klerus die ungehemmte Spiellust der jungen Sportler skeptisch beäugt. Die Sportler sind sich zunächst selbst genug, erwarten keine Zuschauer, selbst Schiedsrichter werden nicht benötigt – Streitfälle klären die Captains für ihre Teams. Als Amateure aus Überzeugung – genauer zur sozialen Abgrenzung gegen beruflich Verdingte und demzufolge alltäglich Geübte wie footmen, horsemen und boatmen – wollen sie auch kein Eintrittsgeld für ihre sportlichen Kämpfe. Es mag aus heutiger Sicht überraschen: Die Anfänge des Sports kennen kaum Zuschauer, demzufolge auch keine Tribünen und Stadien. Bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen war die Teilnehmerzahl bei einzelnen Disziplinen größer als die der Zuschauer. Und noch 2004 in St. Louis gab es auf schnell hergerichteten Flächen Medaillen im Tauziehen und Tonnenweitspringen für zufällig anwesende Seeleute unterschiedlicher Nationalität zu gewinnen. Auch deren philantropische Vorläufer Ende des 18. Jahrhunderts, die unter Kenntnis altertümlicher Architektur von Stadien und Colosseum die Olympischen Spiele wiederbeleben wollten, begnügten sich mit einigen Traversen um eine tieferliegende Rundbahn. Gleichwohl zieht der Sport heute wie kein anderes Thema die Menschen in Arenen, Stadien und vor dem Fernsehschirm in seinen Bann, ist mit Abstand der wirtschaftlich bedeutendste Inhalt der Unterhaltungsindustrie. Selbstverständlich nimmt er sich seinen Raum und gestaltet ihn nach seinen Bedürfnissen und Regeln aus. Zuschauermotive beim Sport Zur Konstituierung und Verbreitung der Zuschauerschaft im Sport bedarf es verschiedener Anstöße. Zunächst muss diese unbekannte, oft noch unverständliche Form der Leibesübungen erst für eine größere Gruppe von Menschen zur Gewohnheit werden. Die durch eigenes sportliches Tun wachsende Zahl von Kennern und Experten wird sukzessiv wie chronologisch zu potentiellen Zuschauern. Ein weiterer, vermutlich der entscheidende Impuls ergibt sich aus dem Wetten auf sportliche Kämpfe. Mit ihnen erhält das unbekümmerte jugendliche Kräftemessen wirtschaftlichen Ernstcharakter, entwickelt neue Regeln und die Philosophie der Fairness. Der nach Cromwells Revolution quasi beschäftigungslose englische Landadel sucht Zerstreuung (lat. disportare !) und den Thrill im der Langeweile verschriebenen Alltag. Körperliche Vergleiche, auf deren Ausgang vorab gewettet wird, bieten das. Später kommen Industriearbeiter hinzu, die über (zu
wenig) bares Geld verfügen und beim Sportwetten verzweifelt auf plötzlichen Reichtum hoffen. Adel wie Proletariat treffen sich als Zocker beim Totalisator (daher „Toto“) auf dem Pferderennplatz, dann beim Boxen oder Fußball. Noch ohne die Möglichkeit elektronischer Datenübermittlung wollen sie Augenzeuge ihres ersehnten Triumphs werden. Sie sind nicht mehr blasierte Betrachter schweißtreibender Körperaktivitäten oder verständnislose Kommentatoren luxuriöser Verschwendung leibhaftiger Energie, sondern verfolgen mit wachsender Neugier wie Nervosität den Verbleib ihres Geldes. Wissensdurst und Leidenschaft gehen im Wettkampfsport eine neuartige Symbiose ein. Zwangsläufig entsteht damit eine neue Sportarchitektur, denn nicht nur immer größere Zuschauermengen sind unterzubringen, sondern sie alle wollen sofort und vollständig das Ergebnis ihrer Wette erfahren – plötzlicher Reichtum oder finanzieller Verlust, höchster Triumph oder tiefste Depression. Tribünen entstehen am Zielstrich und entlang der Zielgeraden, dann Stadien mit immer höheren Rängen, schließlich witterungsunabhängige Arenen. Zugleich sind die Voraussetzungen für eine formale Chancengleichheit der Athleten sicher zu stellen. Im Altertum unbekannte Maßnahmen wie exakt vermessene Laufbahnen, standardisierte Wettkampfflächen, normierte Tore und Sportgeräte, einheitliche Strafräume, Seitenwechsel zum Ausgleich widriger Witterung, unterschiedliche Gewichtsklassen werden nun Selbstverständnis. Der Stadionbau hängt auch mit dem Bedeutungszuwachs der Ballspiele, hier zunächst des Fußballspiels zusammen. Die erste Sportart waren keineswegs der heute weltweit populäre Fußball, sondern Reiten, Rudern, Laufen (Running), Boxen. Ballspiele folgten später, zunächst Baseball und Cricket mit ihren hart gefüllten Flugobjekten, dann Rugby mit einer unegalen Form des Balles („Pille“). Tennis und Fußball (in Deutschland bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts gleichwertig mit dem aus dem Turnen stammenden Handball) bedurften technischer Innovationen, bevor sie ihren Siegeszug antreten konnten. Traten noch Ausgang des Mittelalters ungezählte junge Leute auf einer Straße zwischen den Toren (sic!) der Stadt gegen eine unvorhersehbar taumelnde Schweinsblase und versuchten diese unter kollektivem Gelächter durch das gegnerische Tor zu bugsieren, so eröffnet sich mit der Erfindung des Vulkanisierens und des Ventils die Möglichkeit zu einheitlichen Ballgrößen mit stabilen Flugeigenschaften. Nunmehr kann die Technik der Ballbehandlung systematisch geübt werden, werden taktische Varianten nicht mehr vom Zufall karikiert. Hilfreich sind hier gepflegte, gut drainierte Rasenflächen – aus der Willkür der Natur wird auch hier ein Teil Sportarchitektur. Sie hat neben planen und trockenen Flächen auch einen Tribünenbau zu bedenken, der vor Wind schützend den Flug des Balles nicht nennenswert beeinträchtigt. Noch heute kann man vielerorts multifunktionale Kampfbahnen besichtigen, die neben dem Fußballfeld eine Laufbahn aufweisen; vor einigen Jahrzehnten wurde dort neben Fußball auch Feldhandball gespielt, Radrennen gefahren, Turnfeste zelebriert oder Musikstücke von Spielmannszügen intoniert. Die Spezies Fußballarenen hat sich erst in den letzten 10 Jahren durchgesetzt. Einen weiteren Impuls setzt die Identifikation der Zuschauer mit den sportlichen Akteuren, die Projektion der eigenen Person oder Gattung auf die sportliche Höchstleistung bewegungstalentierter Zeitgenossen. War es zunächst die Schulklasse, die in den englischen Internaten nach Überwindung einiger Ängste und pädagogischer Widerstände die „eigene“ Mannschaft anfeuerte, war es im Zuge der rasch voranschreitenden Urbanisierung der gerade gegründete Sportclub als Repräsentant des Wohnorts bzw. Stadtteils, der gesellschaftlichen
Klasse (bürgerlicher Verein versus Arbeiterverein !) oder der Religion. Im Zuge der Nationalstaatenentwicklung war es schließlich die eigene Nationalmannschaft, mit deren Farben, Fahne und Hymne sich ein ganzes Volk (mehr oder weniger) identifizierte. Mit der Medaillenwertung bei den Olympischen Spielen erfährt dieser Identifizierungsprozess eine politische Wertung. In dieser Linie entstehen Demonstrations- und Monumentalbauten der Sportarchitektur, die den funktionellen Nutzen einer Sportstätte für die Athleten und den Zuschauer weit überschreiten. In ihnen wird der Sport zumindest gelegentlich Ort politisch- staatlicher Selbstinszenierung. Dynamik und Grenzen des Stadions Stadien sind heute die populärsten, oft markantesten und nicht selten auch teuersten Bauwerke einer Region. Sie vereinigen das Bestreben, höchste sportliche Leistungen zu ermöglichen, deren Resultate exakt wie zweifelsfrei zu vermessen, das Geschehen für alle Beteiligten wie auch Fernsehzuschauer sofort erkennbar werden zu lassen, die leidenschaftliche Anteilnahme an Sieg und Niederlage zu fokussieren, den Zuschauern größtmöglichen Komfort zu bieten, seine Unversehrtheit zu gewährleisten, politisches Prestige für die Clubs oder die Mächtigen im Lande auszustrahlen, den Organisatoren schnellen wirtschaftlichen Gewinn zu sichern. Nicht wenige Anforderungen, die den Charakter der Stadien ständig verändern und die Architekten in neue Dimensionen vorstoßen lassen. Aktuell sind dies große Videocubes in der Mitte über dem Spielfeld und LED-Walls, die doppelte Einblicke für die Zuschauer ermöglichen sowie immer umfangreicher werdende VIP-Bereiche, die ein deutlich abgestuftes System von Zuschauergruppen beinhalten. Stadien sind in erster Linie für das Zuschauen eingerichtete Immobilien. Zuschauer legen Wert auf Komfort, sind dabei keineswegs passive Konsumenten. Mit ihrem Ticketkauf, ihrer akustischen Unterstützung für die Mannschaft, ihrer Identifizierung mit dem Verein sind sie konstitutiver Teil eines komplexen Interaktionssystems. Gleichwohl ändert sich auch ihre Rolle, ihre Struktur und Einfluss. Die neue Generation von Stadien – mit der WM 2006 entstanden - legt deutlicher als jemals zuvor die Wege zum und im Stadion fest, organisiert den elektronisch gesteuerten Zutritt, weist feste Sektoren und Sitze zu, fordert über Lautsprecher und Fanbeauftragte Verhaltensrituale. Polizeiliche Aufmerksamkeit vor und im Stadion, Video-Überwachung, Security in den Aufenthaltsbereichen lassen nichts unbeachtet – der Zuschauer ist im Stadion seinerseits Anschauungsobjekt, temporärer Bewohner eines Hochsicherheitstrakts. Aus dieser Entwicklung der Stadionarchitektur ergibt sich ein Widerspruch, der nicht überall und vielleicht auch immer weniger auszubalancieren ist: Im Kern geht es darum, den Zuschauern einerseits sonst nirgends öffentlich gestattete Räume für emotionale Exzesse zu ermöglichen und die Expressionen zu intensivieren, andererseits die emotionale Dynamik nicht überborden zu lassen, also die Emotionen in eben diesen Räumen zu ordnen und zu kanalisieren. Lautstarkes Gegröle, alkoholische Exzesse, handfeste Gewaltbereitschaft sind für Teile der Zuschauer eher abstoßend, bei Clubverantwortlichen imageschädigend für ihr Produkt, für die Ordnungskräfte Anlass zum Einschreiten, um Leib und Leben friedlicher Zuschauer zu retten. Und doch sind sie konstitutiver Teil der Gesamtinszenierung. Seit den 50er Jahren, in der elektronischen Unterhaltungsgesellschaft immer schneller wachsend, hat sich eine neue Zuschauerschaft außerhalb der Stadien herauskristallisiert, die Fernsehzuschauer. Das Fernsehen, anfänglich noch als Konkurrent für den Stadionbesuch befürchtet, hat enorm zur Popularität des Sports und insbesondere des Fußballspiels
beigetragen. Durch dieses Medium ist eine weltweite Popularität und millionenfache Expertenschaft entstanden, die wiederum die Bereitschaft zum Stadionbesuch fördert. Auch Fernsehzuschauer sind Augenzeugen in Echtzeit, allerdings nicht mehr unmittelbar. Ihre Wahrnehmung ist vermittelt, sie wirkt nicht direkt auf die Akteure auf und am Spielfeld zurück. Wenn sie allein oder im intimen Kreis vor dem häuslichen Bildschirm ein Spielfeld verfolgen, bleibt die Gefühlsansteckung aus der Masse aus. Andererseits wird ihre Neugier besser bedient als im Stadion: Großbildausschnitte von Spielszenen, Wiederholungen, unterschiedliche Kameraeinstellungen, Geschwindigkeits- und Entfernungsmesser, Kommentare von Experten liefern Zusatzinformationen, über die der Zuschauer im Stadion nicht verfügt. Und nicht verfügen soll, weil bspw. ein spielentscheidender Fehler des Schiedsrichters, auf einer Videowall unzweifelhaft dokumentiert, zigtausende Stadionzuschauer ihre geübte und räumlich geordnete emotionale Contenance verlieren lassen kann. Genau besehen wird allerdings die neugierweckende wie –stillende Fernsehübertragung schon heute mit in das Stadion hineingetragen. Per handy-TV kann jeder Zuschauer im Stadion nach Wahl das gesamte Spiel oder spezifische Spieler, wichtige Situationen und Konstellationen verfolgen. Auf der großen Videowall können zumindest erzielte Tore noch einmal nachvollzogen werden, in den immer ausgedehnteren Logenlandschaften kann die parallel laufende Übertragung eines Privatsenders betrachtet werden. Zumindest ansatzweise nimmt der Fernsehzuschauer mit seinem Wissensdurst schon heute Einfluss auf das Geschehen im Stadion. Heute wird die Verknüpfung von Neugier und Gemeinschaftserlebnis in der schüsselartig gestalteten Arena brüchig. Einerseits sind ihr rein zahlenmäßig mit vielleicht 60 000 Plätzen Grenzen gesetzt (die Ticketnachfrage bei großen Spielen ist weit höher, das Interesse am Fußball steigt und wird von den Fußballverbänden gesteigert), andererseits wird das Gemeinschaftserlebnis zunehmend segmentiert und klassifiziert, schließlich wird der Wissensdurst über das tatsächliche Geschehen auf dem Rasen nicht nach den mittlerweile gegebenen elektronischen Übertragungsmöglichkeiten gestillt. Die gesellschaftlich gewachsene Aufmerksamkeit für den großen Fußball, das eher noch neugierig-distanzierte Interesse vieler Menschen an diesem merkwürdig-faszinierenden Spiel findet im Stadion keinen alle überzeugenden und bezahlbaren Platz. Public Viewing als neue Qualität des Zuschauens im Sport Die Geschichte des Sports, insbesondere des Fußballsports und seines Zuschauens zeigt verschiedene Impulse, die nicht selten technischer Natur sind. Vulkanisierte Bälle, drainierte Plätze, überdachte Tribünen, Übertragungen im Fernsehen mit vielfältigen Zusatzinformationen, elektronische Spielwetten, headsets bei Schiedsrichtern, Kunstrasen u.v.m. beeinflussen Spielweise und Zuschauerverhalten. Eine weitere technische Neuerung hat Anfang des neuen Jahrtausend eine ganz unerwartete Erweiterung des Zuschauerverhaltens zunächst beim Fußball ausgelöst: Die Entstehung der LED-Walls, bis heute oft irrtümlich als Großbildleinwände bezeichnet. Sie können auf eine Fläche von bis zu 200 qm Sehfläche zusammengeschaltet werden. Rund 300 000 Menschen haben vor allerdings deutlich kleineren Videowalls gemeinsam auf öffentlichen Plätzen wichtige Spiele während der FIFA-WM 2002 in Japan und Korea angesehen. Es war die
Geburtsstunde des Public Viewing (PV), das nichts mit der Präsentation auf großen Leinwänden gemein hat. Die technische Neuerung an diesen großflächigen Bildpräsentationen ist, dass sie nicht mehr – wie bei einer Kinoleinwand - reflektorisch von einer Fläche abstrahlen, sondern aus zigtausenden kleiner gasgefüllter Ioden bestehen, die mittels elektronischer Steuerung unterschiedliche Farbpixel herstellen können. Diese ergeben wie beim häuslichen Fernseher ein Gesamtbild mit so großer Strahlkraft, das gestochen scharfe Bilder auf große Entfernung und bei jeder Witterung erkennen lässt – zeitgleich, anders, umfassender und genauer als in der Immobilie Stadion. Die neue Technik ist mobil. Sie lässt sich – mittlerweile in wenigen Stunden – an jedem Ort auf- und abbauen, kann auf einem ebenen Platz aufgestellt werden wie im Halbrund einer Freilichtbühne, vor einem Berghang oder auf Pontons in einem Fluss vor der Uferböschung. Das Fußballspiel wird in einer flüchtigen Architektur inszeniert – am Tag danach erinnert nichts mehr an das leidenschaftliche Zuschauerverhalten während des dort übertragenen Spiels. Mit dieser neuen LED-Technik lassen sich die beiden wesentlichen Momente des Zuschauersports auf neue Weise verknüpfen: Neugier stillen und Gemeinschaftsgefühl leben. Die noch junge Geschichte des Public Viewings zeigt, dass dessen räumliche Gestaltung nicht allein antizipativ durch Fußballfunktionäre oder Eventmanager erfolgte, sondern auch immer maßgeblich durch die Zuschauer selbst voran getrieben wurde – durch ihre Spontaneität, Fröhlichkeit, Lust am Feiern. Der Durchbruch des Public Viewing bei der FIFA-WM 2006 Vor der Weltmeisterschaft 2006 standen die Organisatoren vor dem Problem, für die über dreißigmillionen Kartenwünsche sowie die erwarteten eine Million ausländischen Besucher (tatsächlich wurden es über 2 Millionen) angemessene Zuschauer- und Aufenthaltsmöglichkeiten zu schaffen. Aus den Erfahrungen von internationalen Turnfesten und Kirchentagen wurde das Konzept „Die WM auf dem Marktplatz“ entwickelt, bei dem über vier Wochen zentrale Anlaufstellen für alle Fans zur ungezwungenen Begegnung, Beköstigung, Informationsbeschaffung und Nutzung kultureller Angebote geschaffen wurde. Höhepunkte bildeten die Übertragungen der 64 Spiele auf großflächigen Videowalls für mindestens 50000 Besucher. In einem mehrjährigen komplizierten Prozess konnten Kosten, Logistik- und Sicherheitsfragen sowie Vermarktungs-, Übertragungs- und Veranstalterrechte geklärt werden. Bis zum Eröffnungstag der WM war offen, ob von den Fans das Angebot angenommen werden würde und das Festorganisatorisch beherrschbar blieb. Das Feldexperiment ist bekanntermaßen vollauf gelungen. Über 27millionen Menschen haben sich in Deutschland beim Public Viewing versammelt, ungezählte Zuschauer in Großstädten aller Welt kamen hinzu. Es besteht Übereinstimmung, dass das Public Viewing entscheidend zur fröhlichen Stimmung bei der Fußball-WM 2006 („Sommermärchen“) beigetragen hat. Die FIFA hat inzwischen beschlossen, die Fan-Feste zum festen Veranstaltungsteil bei künftigen Weltmeisterschaften zu machen. Aus soziologischer Sicht bieten sich zwei Zugänge zur Erklärung an: Die Organisationssoziologie zur Bestimmung der Erfolgsfaktoren für diese einzigartige Veranstaltung und die Kultursoziologie zur Deutung der „kollektiven Beseeltheit“ hunderttausender Menschen auf den öffentlichen Plätzen.
Die hohen Besucherquoten bei den Fan-Festen, die weit mehr Unbequemlichkeit bedeutete als Fernsehen in den eigenen 4 Wänden (langes Stehen, weit entfernte sanitäre Einrichtungen, teure Getränke), werden auf 6 organisatorische Faktoren zurückgeführt: - zentrale Lage und leichte Erreichbarkeit der stadtarchitektonisch attraktiven Plätze (einschließlich WM-Ticket der Bahn, das den Transport zwischen den Städten erleichterte; es bildeten sich zwischen den Städten vagabundierende „WM- Nomaden“). - Kostenfreier und flexibler Zugang bzw. Möglichkeit zum Standortwechsel auf dem Platz (im Unterschied zum streng segmentierten „Hochsicherheitstrakt“ Stadion). Bei dem Erheben von höheren Eintrittspreisen ist das PV gescheitert. - Vielseitiges und attraktives Angebot an Info- und Verkaufsständen (Marktcharakter) - Gutes Wetter oder witterungsunabhängige Locations (überdachte Stadien, gr0sse Febrikhallen) - Erfolgreiches Abschneiden der eigenen Mannschaft in der Anfangsphase, nach erfolgreichem Start trägt die Partystimmung sich selbst - Permanent abwechselungsreiches Leben auf den Fan-Meilen insbesondere durch die hohe Zahl ausländischer Gäste, für die sich ganztägig der ideale Anlaufpunkt ergab Ein neuer Typus des Zuschauers: Fan und Flaneur Die pragmatisch-organisatorischen Gründe alleine sind noch nicht hinreichend, denn (was vielfach auch geschah) Kneipen und Kinos wären bequemere Plätze für ein Public Viewing. Die „kollektive Beseeltheit“ bei den Fan-Festen erklärt sie nicht. Hier sind kultursoziologische Deutungen gefragt: - Der Spitzensport und insbesondere das Fußballspiel mit seiner leichten Nachvollziehbarkeit und zugleich komplexen Kooperationen fasziniert durch seine authentische Spannung. Vor dem Spiel ist Verlauf und Ergebnis ungewiss. Leidenschaftliche Anteilnahme am sportlichen Geschehen ist die Folge. Die Bewältigung der immensen Spannungen gelingt umfassender in großen Menschenmengen (Gefühlsansteckung und Katharsis). - Die wachsende Neugier der Menschen auf das spannungsvolle Geschehen wird auf den Videowalls kostengünstiger und umfassender bedient als im Stadion; hier sieht man Vergrößerungen, Slow Motions, Wiederholungen und visuelle Hilfsmittel für räumliche Konstellationen wie Abseitsstellungen - Die Stadionarchitektur konzentriert die Spannung, reglementiert sie zugleich aber auch bis zu Sanktionsmitteln. Die „mobile Anarchie“ auf dem Fan-Fest, das Weiterschlendern zu einem anderen Standort, führt zu einer Vermischung Menschen unterschiedlicher Herkunft und Interessen. Das entspannt das im Stadion oft martialische Geschehen, was insbesondere Frauen das Verweilen erleichtert. Nicht selten entwickelte sich Fan-Feste auch zu augenzwinkernden Flirtmeilen. - Neue Stadien werden zumeist an der Peripherie gebaut. Public Viewing findet im Herzen der Stadt statt – eine Rückkehr an den Ort, an dem das Fußballspiel entstand: Auf der Straße zwischen den Stadttoren. - Das geregelte, von gleichberechtigten Konkurrenten geprägte Zusammentreffen bei hochkarätigen Sportevents produziert Hochspannung, die sich auf dem offenen Marktplatz sogleich in Amplituden heiterer Gelassenheit bei den Fans aus aller Welt auflöst. Bunte Bemalung, fröhliches Fahnenschwenken, neckische Lieder demonstrieren Identität mit der eigenen Mannschaft, jedoch keine chauvinistischen
Überlegenheitsgebärden. Das Schiller`sche Topos„Alle Menschen werden Brüder“ schwebte bei der Fußball-WM 2006 greifbar über dem auf öffentlichen Plätzen medialisierten Ereignis. Public Viewing bildet technisch, organisatorisch wie kulturell eine neue Qualität des Zuschauens beim Fußball. Sie wird deutlicher, wenn man den herkömmlichen Sportfan mit der in der Soziologie vor gut hundert Jahren erstmals diskutierten Figur des Flaneurs spiegelt. Zuschauen beim Public Viewing ist kulturelles Selbstbild von sportlich aufgeschlossenen, allen Neuem der Informationsgesellschaft gegenüber offenen, mit Lust zum Feiern versehenen Weltbürger, die emotionalisierende Ereignisse bewusst suchen und auswählen, sie leidenschaftlich miterleben und zugleich eine wohlinformierte Distanz dazu herstellen können, indem sie über das Gelände und das Geschehen flanieren, den selbst gesuchten Standpunkt jederzeit verlassen können Dieser kulturelle Typus von Zuschauer ist engagierter Sportsman und kritisch-genießerischer Unterhaltungskosument, changiert zwischen beiden Optionen. Noch mehr: Er ist beim Public Viewing leidenschaftlicher Fan und weltbürgerlicher Flaneur in Einem. In der Symbiose verliert die Leidenschaft des sportlichen Stadionfans ihre Verbissenheit, der Müßiggang des Flaneurs seine individualistische Blasiertheit. Die Erfolgsgeschichte des Public Viewing in Sport, Politik und Kultur Das Sommermärchen 2006 ist kein Unikat geblieben. Bei den Weltreiterspielen 2006 in Aachen hat es auf dem Marktplatz der Stadt ein Public Viewing gegeben. Das Ereignis ist insofern dichter in die Stadt hineingerückt, die Resonanz blieb noch überschaubar. Selbstverständlich konnte es bei weitem nicht den Erfolg haben wie die Fan-Feste wenige Wochen zuvor beim Fußball. Ähnliches gilt für die Hockey-WM kurz danach in Mönchen- Gladbach. Hier ist zu berücksichtigen, dass Hockey in Deutschland eher eine Nischensportart darstellt. Bei einigen erstklassigen Basketballklubs wird ein PV von bedeutsamen Auswärtsspielen in der eigenen Halle praktiziert, erreicht jedoch bislang kaum neue Zuschauergruppen. Interessant wird sein, wie weit es den Organisatoren der Leichtathletik- WM 2009 in Berlin gelingen wird, diese attraktive Sportart als Fan-Fest vor dem Brandenburger Tor zu positionieren. Am ehesten sind Fan-Feste beim Handball denkbar, da es inzwischen über 100 000 praktizierende Fans in den Bundesligavereinen bei steigender Tendenz gibt, eine erfolgreiche deutsche Nationalmannschaft und intensive Berichterstattung 2007 ein „WM-Fieber“ erzeugt hat und es zumindest nach der Vorrunde überall ausverkaufte Hallen gab. Genügend offener Raum stand in den dann ausgespielten überdachten Arenen – auch von den Eishockeyklubs – zur Verfügung. Bis auf einzelne Initiativen vor Ort – sehr erfolgreich etwa in Kiel – hat es allerdings keine bundesweit organisierten Fan-Feste nach dem Muster des Sommermärchens gegeben. Eine Präsentation der Pokalendrunde „Final Four“ in den Hallen der Heimatvereine oder dem neben dem Austragungsort gelegenen Stadion wird intensiv geprüft. Ähnliche Ergebnisse könnten bei der Eishockey-WM 2011 erwartet werden. Eine gewichtige Rolle spielt auch die kulturelle Tradition von Sportarten. So wurde die Rugbyweltmeisterschaft – in vielen Ländern ist Rugby Ballsportart Nummer 1 – in mehreren Ländern per Public Viewing übertragen und erfreute sich überwiegend guter Resonanz. Bei der Fußballeuropameisterschaft 2008 hat es überall in Europa, insbesondere in der Schweiz und Österreich, zahlreiche PV-Feste gegeben. Sie haben insgesamt bestätigt, dass diese Form des Zuschauens nicht nur im Austragungsland seine Resonanz findet. Auch hier
hat sich bestätigt, dass Wetter und Erfolg der heimischen Mannschaft sowie verkehrsgünstige Lage maßgebliche Erfolgsfaktoren sind. In Deutschland waren insbesondere an den Standorten von 2006 die Übertragungen von der EM 2008 gut besucht. Bemerkenswert ist, dass das Endspiel um die EM 2008 aus Wien in ein gefülltes Frankfurter Bundesligastadion übertragen wurde. In der deutschen Fußball-Bundesliga gibt es bislang erst einzelne Versuche, wichtige Auswärtsspiele der eigenen Mannschaft im heimischen Stadion zu übertragen. Neben lizenzrechtlichen Unklarheiten (Übertragungs- und Vermarktungsrechte) spielen die Belastung des Stadionrasens und der noch gering eingeschätzte wirtschaftliche Ertrag eine Rolle. Allerdings mehren sich die Zeichen, dass etwa nach Einführung des Kunstrasens diese Variante stärker genutzt wird oder vor dem Stadion temporär eine Videowall aufgebaut wird. Mit steigender Akzeptanz und Popularität – 2006 ist Public Viewing das Wort des Jahres – wird dieses Zuschauerangebot auch in außersportlichen Feldern angeboten. Bei religiösen Großveranstaltungen ist das Public Viewing bereits seit längerem in das Ereignis integrierte Praxis (Papst-Besuche, Kirchentage), da die großen Zuschauermengen ansonsten beispielsweise eine Ansprache oder Gebet nicht wahrnehmen könnten. Auch die sonntägliche Messe auf dem Petersdom wird auf einer Video-Wall übertragen. Neuerdings gibt es auch in entfernten Kirchen oder auf öffentlichen Plätzen die Übertragung des Papstbesuchs. Bei einer fortschreitenden Eventisierung dieser Veranstaltungen ist mit (noch) größeren Zuschauermengen zu rechnen, die Raum und Form für ihre religiösen Feiern suchen. Insbesondere Musikvorführungen erfreuen sich mitunter derartiger Beliebtheit, dass sie selbst auf großen Plätzen und in Stadien in Platznot geraten. Bei diesen Veranstaltungen wird heute schon routinemäßig mit Großbildwänden gearbeitet, damit auch Besucher in den hinteren Reihen oder vor der Arena ihre Idole genau genug sehen können. Über Parallelübertragungen bei ausverkauften Konzerten liegen bislang nur einzelne Erfahrungen vor. So sind in Bayreuth die Wagner-Festspiele und in Berlin aktuelle Opernvorführungen in der Nähe der Spielhäuser übertragen worden – offensichtlich mit großem Erfolg. Weitgehend spontan hat sich bei der Wahl und der Amtseinführung von Präsident Obama ein Public Viewing entwickelt. Die Wahlnacht wurde von hunderttausenden Menschen in New York, Chicago, Kenia, Hawaii und Asien vor Videowalls verfolgt. In Europa waren Lokale, Seminarräume und Konsulate mit Menschen vor Flatscreens gefüllt. Gespannt warteten ungezählte Menschen auf das Ergebnis, feierten gemeinsam den Sieger und sangen und tanzten noch weit in die Nacht. Diese Manifestationen erinnerten durchaus an die Wahlparties in den USA im 19. Jahrhundert. Der knappe Überblick macht deutlich, dass das Public Viewing bei sportlichen wie auch bei anderen Großveranstaltungen zu einem wichtigen Thema geworden ist bzw. sich kreativ weiterentwickeln wird, wobei die jeweils vor Ort und zum Thema zu findenden Lösungen durchaus offen sind. Sie beinhalten sowohl die kulturelle Verortung der Veranstaltung wie auch die technisch-organisatorische Umsetzung. Hierbei spielen produktive und ökonomische Aspekte ihre nicht unerhebliche Rolle. Bei der WM 2002 waren die relativ kleinen Videowalls noch ein rares Gut von mitunter labiler technischer Funktionalität. Bei der WM 2006 waren für die 5wöchigen Fanfeste mittlere sechsstellige Summen für Ausleihe und Bedienung der komplizierten Elektronik von den Veranstaltern aufzubringen. Heute kann – Personal inklusive - für 15 000 € ein Truck für ein Wochenende gemietet werden, der praktisch an jedem Ort auf seiner Ladefläche eine
Sehfläche von 60 qm ausklappen kann und damit weit über 50 000 Menschen auf einem öffentlichen Platz den Genuss eines spannenden Public Viewing-Events gewährt. Die Technikentwicklung wird dazu beitragen, dass das PV kostengünstiger, flexibler, kurzfristiger und noch intensiver werden wird (etwa durch konkave Bildflächen, die das „Stadionfeeling“ erhöhen). Begriffliche Einordnungen: Ereignisverstärkung, Corporate und Public Viewing War bei der WM 2006 das Public Viewing mit seinen Fan-Festen noch die große Überraschung, hat es in der Folge schnell Nachahmer gefunden. Das galt zunächst naheliegenderweise für den Sport, hat mittlerweile aber auch andere gesellschaftliche Bereiche erfasst. Dabei werden neue Formen kreiert, die zugleich Übergänge und Mischformen darstellen. Elektronische Bildpräsentationen gibt es heute bei vielen Sportveranstaltungen, sie sind für die Information der Zuschauer selbstverständlich wie unverzichtbar (Triathlon, Biathlon, Skispringen, Turnen, Leichtathletik etc.). Sie verdeutlichen das am Ort sich authentisch vollziehende und individuell wahrgenommene Geschehen auf TV-Bildern gleichzeitig und wiederholend. Es handelt sich hier – wie ansatzweise in den Fußballstadien – um eine elektronisch-informative Ereignisverstärkung. Ähnliches gilt heute für politische Kundgebungen oder wirtschaftliche und wissenschaftliche Kongresse größeren Ausmaßes. Eine andere Form ist das Public Viewing in öffentlichen Einrichtungen, jedoch bei begrenzter Besucherzahl (Kinos, Kneipen, Klubhäuser, Gemeindesäle). Es handelt sich um ein Gemeinschaftserlebnis – wird doch die Intimität des häuslichen Fernsehers verlassen - , nicht jedoch um ein massenpsychologisches Phänomen. Mittlerweile wird es auch gezielt von Unternehmen als sorgfältig inszeniertes Marketingevent eingesetzt, indem bspw. aus Anlass eines bedeutsamen Fußballspiels eine größere Zahl von Firmenkunden in einen ausgedehnteren Raum mit Videowall eingeladen, unterhalten und beköstigt werden. Diese Formen werden oft als „Corporate Viewing“ bezeichnet. Elektronische Ereignisverstärkung wie Corporate Viewing sind Grenzbereiche, die nicht mit dem Public Viewing auf offenen Plätzen gleichgesetzt werden können. Das Verfolgen bedeutsamer Ereignisse in einer unzählbaren Menschenmenge vor einem überdimensionalen Fernsehschirm, die zentrale und räumlich großzügige Lage, der freie Zugang und der jederzeitige Ortswechsel, die individuelle Entscheidungsfreiheit in einer kollektiven Interessenlage sind Kriterien, die eine neue Qualität des Zuschauens ermöglichen. Die Besucher haben unabhängig vom sportlichen, kulturellen, religiösen oder politischen Inhalt längst selbst begonnen, das Public Viewing zu einem eigenen kulturellen Erlebnis zu machen. In jedem Fall handelt es sich um einen ganz anderen Erlebnisraum als im architektonisch durchstrukturierten Stadion. Südafrika 2010: Die gedoppelte Weltmeisterschaft In Südafrika werden bei der Fußball-WM weniger und kleinere Stadien zur Verfügung stehen als in Deutschland 2006, dementsprechend werden auch deutlich weniger Tickets für den Besuch der Stadien angeboten. Zudem wird die Infrastruktur (Verkehr) für die Stadien nicht europäischem Niveau entsprechen, also für viele Menschen der Weg zu den Stadien sehr aufwendig sein und die Sicherheitslage scheint schwieriger beherrschbar. Kosten und zeitlicher Aufwand stellen für viele Südafrikaner und manche anderen Fußballenthusiasten hohe Barrieren für einen Stadionbesuch dar.
Andererseits handelt es sich um die erste Fußball-WM in Afrika, die zur weiteren Popularisierung dieser Sportart auf dem Kontinent und in weiteren weniger entwickelten Ländern beitragen soll. Entsprechend wird das Interesse der ärmeren (d.h. vorrangig farbigen) Bevölkerung an den Spielen immens sein, während die weiße Bevölkerung ihre Präferenzen (noch) eher im Rugby und Kricket haben mag. Für sie ist eine Fußball-WM im eigenen Land eine Auszeichnung, eine Hoffnung und eine Gelegenheit sich als gute Gastgeber zuerweisen. Insbesondere die Regierung der RSA verbindet mit der WM nachhaltig touristische Interessen und will diese durch zahlreiche Gäste aus der ganzen Welt eingelöst wissen. Viele von ihnen werden keine Möglichkeit zum Stadionbesuch erhalten; die Erinnerung an die Fan- Feste 2006 wird zahllose Fußballenthusiasten dennoch in die RSA aufbrechen lassen. Insofern spricht alles für umfangreiche Public Viewing-Lösungen, die in einzelnen WM-Stadien auch an ansonsten dort spielfreien Tagen stattfinden könnten oder an anderen Orten ohne Stadien, wobei ein Aufbau temporärer Tribünen auf öffentlichen Plätzen wahrscheinlich ist. Nach derzeitigem Stand ist es durchaus realistisch, dass die Fan-Feste und damit das Public Viewing bei der WM 2010 mindestens die gleiche Bedeutung erhalten werden wie die Spiele in den Stadien. Nicht zuletzt die Kostenfreiheit beim PV wird viele Menschen zum gemeinsamen Feiern ihrer WM veranlassen. Hier wird eine Rolle spielen, dass die Besitzerdichte von privaten TV-Geräten in Südafrika deutlich geringer ist als in europäischen Ländern. Zudem geben die offenen Fan-Feste dem Land und seiner vielschichtigen Bevölkerung die ersehnte Gelegenheit, durch eine festliche Ausgestaltung der Plätze die eigenen historischen und kulturellen Wurzeln lebendig werden zu lassen. 2010 könnte die WM werden, bei der die Zuschauer von der Fußball-WM mehr über das Geschehen aus den öffentlichen Fan-Festen erfahren als über die unmittelbare Spielbeobachtung in den Stadien. Die Medien werden sich immer wieder in die Volksfeststimmung auf den öffentlichen Plätzen einschalten, Besuchergruppen ihre eigenen Choreografien kreieren, Spieler oder Trainer nach den Spielen auf den Bühnen der Fan-Feste stehen. Es wird zwei Weltmeisterschaften geben – die in den Stadien und die auf den Fan- Festen - , bei denen ungewiss ist, auf welcher die Zuschauer mehr Enthusiasmus zeigen. Zukunftsszenario 2020: Das Verschwinden der Stadien Wagen wir einen Sprung ins Jahr 2020. Die Spiele der Bundesliga finden in einer neuen Generation von Stadien statt, die mit der gerade stattgefundenen Fussball-EM in Deutschland entstanden sind. Sie bieten in der Regel Platz für 25 000 Sitzschauer an den Längsseiten und sind an den Stirnseiten mit fest installierten großen Videowalls ausgestattet, auf denen jeder Zuschauer mehrfach vergrößert Zuschauerreaktionen vom Public Viewing auf den öffentlichen Plätzen wahrnehmen kann, ansonsten Bildfrequenzen vom aktuellen Spiel und mehr noch Reklamespots. Die längsseitigen Tribünen beinhalten großenteils VIP-Bereiche, von deren Balkonen nach Bedarf aufs Spielfeld oder die Flatscreens an den Rückenlehnen der Vordersitze gesehen werden kann. Schiedsrichter auf dem Spielfeld und damit Anlässe für Schmähungen fehlen, Abseitsstellungen oder Linienüberschreitungen von Bällen werden - in Echtzeit von Sensoren ermittelt- Publikum wie Spielern bekannt gegeben. Das gleiche gilt für Foulspiel. Ein Justitiar überwacht die Entscheidungen. Die Zuschauer auf den normalen Plätzen verharren immobil während des Spiels und in der Pause. Getränke und Weckamine werden in einem ausgeklügelten Transportsystem direkt an die Plätze gebracht, die rasend schnell wechselnden Bilder auf den LSD-Reitern bleiben
unbemerkt, gelegentlich werden auf Signal im Kopfhörer Knöpfe zur Illumination der Sitze in bestimmten Farbkonstellationen für großflächige Choreografien angestellt. Ausschreitungen durch Hools bleiben unbekannt. Fußball bleibt das attraktivste Unterhaltungangebot weit und breit. Täglich werden im TV Spiele übertragen, die Online-Medien informieren zeitnah und sind viel genutzte interaktive Chatrooms. Das FIFA-Footballgame ist das beliebteste Angebot auf dem elektronischen Markt, die 2001 gegründete Wold-Roboterleague hat siebenstellige Zuschauerzahlen und weit höhere Wetteinsätze, das das vierte mal aufgelegte TV-Format „ Adidas sucht den Soccer- Superstar“ für 4 bis 6jährige erfreut sich höchster Einschaltquoten insbesondere bei den kaufkräftigen Jahrgängen Ü70. Die Nachfrage nach Eintrittskarten im Stadion hält sich in Grenzen. Sind die VIP-Bereiche weiter gut gefüllt, müssen viele der übrigen Plätze mit Soldaten , Schulklassen, studentischen Hilfskräften und unbeschäftigtem Securitypersonal aufgefüllt werden. Buchhalter und Verwaltungsinspektoren nutzen den Besuch als Bildungsurlaub bei freiem Eintritt. Begeisterungsschreie und Anfeuerungen werden ebenso über ein Mischpult eingespielt wie Pfeifkonzerte und Fangesängen. Oder sie werden einfach von den öffentlichen Plätzen mit PV-Festen ins Stadion übertragen. Phantasievolle Choreografien, originelle Fangesänge, aktuelle Spruchbänder sind in dieser Ordnung nicht mehr präsent; gelegentlich werden sie als Konserve auf den Videowalls eingespielt. Die Verantwortlichen des Spitzenklubs zeigen sich mit dieser Lösung durchaus zufrieden. Die Baukosten und damit laufende Zinslasten für diese Stadien sind deutlich geringer als bei den Stadien von 2006, Parkplätze und Anfahrten gestalten sich ebenso problemlos wie die Unterhaltung und Sicherung der Spielstätte deutlich sparsamer ist. Die geringeren Einnahmen sind nicht gravierend, da vor allem die Zahl der billigen Plätze reduziert wurde. Die Budgets der Klubs werden ohnehin größtenteils aus Fernseh- und Sponsoreneinnahmen bestritten. Das gleiche an Akzeptanz gilt für die FIFA, den Weltfußballverband und mittlerweile größter Konzern der Unterhaltungsindustrie wie auch seiner Kontinentalverbände. Diese Größe von Stadien bzw. deren Kosten erleichtert auch Schwellenländern die Durchführung internationaler Meisterschaften. Zudem können diese Stadien auch nach Ende des Turniers variabel weiter genutzt werden, Investitionsruinen wie noch nach der WM 2002 in Japan und Korea oder Südafrika 2010 werden künftig vermieden. Die beeindruckend große Masse der Fußballzuschauer findet sich auf den freien Plätzen in den Innenstädten; einige der Plätze befinden sich auch in unmittelbarer Nähe der Stadien und ermöglichen ein Treffen mit den Stadionbesuchern vor und nach dem Spiel. Sie sind zu den Marktplätzen der Unterhaltungsindustrie geworden, denn mehrfach in der Woche werden hier Sportveranstaltungen, Konzerte, Filme auf mobilen Videowalls geboten. Tagsüber finden hier Märkte und bewegende Spielangebote statt, die je nach abendlicher Veranstaltung auch stehen bleiben können und insofern Verzehr, Information, sportliche Wettkämpfe, Kultur und Einkauf ermöglichen. Absperrungen und Einlasspunkte können variabel nach Größe der Besucherzahl hydraulisch hochgefahren werden, eine elektronische Überwachung sichert die vielen Zugänge, durch die Fans und Flaneure jederzeit den Platz betreten und verlassen können. Dafür müssen sich die Fans nur einmal jährlich gegen eine geringe Gebühr registrieren und vor dem jeweiligen Besuch online freischalten lassen, um eine Überfüllung auf dem Platz zu verhindern.
Die Videowalls werden mit großen Trucks wenige Stunden vor Beginn der Spiele aufgefahren, ebenso transportable überdachte Tribünen für bis zu 8000 Zuschauer. Sie sind im Unterschied zu den 80 000 bis 100 000 Stehplätzen kostenpflichtig. Die Videowalls haben eine konvexe Form, so dass bei den Zuschauern das Gefühl entsteht sie seien mitten in einem Stadionkessel oder gar Mitspieler auf dem Spielfeld. Seitliche Videowalls geben permanent Zusatzinformationen über spezifische Spielsituationen, Ballgeschwindigkeiten, Körperkontakte und Schiedsrichterentscheidungen. Auf der offenen Innenfläche feuern die buntbemalten Zuschauer ihre Mannschaft an, fiebern mit, hüpfen rhythmisch oder machen spontan Polonaisen mit zusammengebundenen Fanschals quer über den Platz, singen neu intonierte Lieder, bestimmen per handyvoting das Auswechselverhalten und treten über gegenseitige Fernsehübertragungen in Dialoge mit dem Stadion ein. In der Pause organisieren die Anhänger der beiden Mannschaften einen Bewerb im Bockspringen. Zentraler Kommunikationsmittelpunkt sind die Bühnen vor den LED-Walls, auf denen Moderatoren das Publikum ansprechen, Fans neue Songs oder elektronische Designs präsentieren, Experten gehört und Wetten abgeschlossen werden können. Vor ihnen baut eine Gruppe junger Leute eine dreistockige Pyramide, deren fahnenschwenkende junge Frau auf der Pyramidenspitze irgendwie an Barrikadenkämpfer aus der französischen Revolution erinnert. Der von zwei Kindern mitgebrachte Schaumstoffball führt plötzlich zu einem fröhlichen Leistungsvergleich im Hochschießen, am Ende vollführen Fans aller Couleur ein endloses Bockspringen. Das PV ist ein buntes Volksfest im und um das Spiel, ein sich ständig selbst erneuerndes Event. Es beginnt weit vor und endet erst lange nach Schlusspfiff, wenn Spieler und Trainer eingetroffen sind, die originellste Verkleidung oder der witzigste Song gekürt worden ist, alle wichtigen Spielszenen noch einmal gezeigt wie fachkundig analysiert wurden. Nicht wenige sind auch schon mit neuen Bekanntschaften weiter gezogen. Die rund 5 Stunden bilden zugleich eine unerschöpfliche Kontaktbörse, denn die große Zahl von Menschen auf einem unreglementierten Feld und das Interesse am Spiel schafft eine Leichtigkeit der Gemeinsamkeit, die den Blickkontakt, die räumlich-körperliche Annäherung, das Ansprechen, den Austausch von Telefonnummern und Fotos oder die Verabredung an einem der vielen Stände erleichtert. Wenn auch die Zuschauer durchaus „ihre“ Mann- oder Frauschaft anfeuern, so wissen sie doch jederzeit, dass diese für sie unerreichbar wie unempfänglich ist – Leidenschaft mit Augenzwinkern, Angriffslust mit Beißhemmung. Der große Fußball hat zwischen den Eingangstoren zum Marktplatz einige seiner Ursprünge wiederbelebt.
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