Challenging the stadium - Prof. Dr. Hans-Jürgen Schulke

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                               Challenging the stadium

                          Hans-Jürgen Schulke (Bremen/Hamburg)

Vorspiel

Schauspiel, Gesang, Zirkus, Kämpfe von Athleten, Pferden oder Gladiatoren haben schon im
Altertum ihr Publikum gefunden. Spielerisches Erzählen von Geschichten, Mitteilen von
Neuartigem oder Ermitteln von Stärkeren hat früh seine Bühne und seine Tribüne, damit seine
Architektur gefunden. Im Mittelmeerraum sind sie vielfältig und großformatig zu besichtigen
als Arenen, Stadien oder Amphitheater. Noch heute fasziniert der Circus Maximus in Rom
seine Besucher durch Funktionalität, Monumentalität und Geschlossenheit. Er lässt erahnen,
welche Bande und welcher Bann zwischen Akteuren und Zuschauern gespannt, durch die
räumlich-akustisch-visuellen Arrangements verdichtet wurde. Die Zuschauer wurden
unmittelbare Zeugen eines bis dahin unerhörten und unvorhersehbaren Geschehens.

Schon damals lassen sich zwei anthropologische Kristallisationspunkte identifizieren, die die
eigenartige Atmosphäre in diesen Räumen hervorrufen. Es ist zum einen das Streben der
Menschen, hier und jetzt etwas noch Unbekanntes zu erfahren – ihn zeichnet lebensbegleitend
und lebenserhaltend eine unstillbare Neu-Gier aus. Er will mit eigenen Augen und Ohren
erfahren, was geschehen wird – Begriffe wie Augenzeuge oder Hörigkeit bekräftigen diese
Bedeutung. Zum anderen ist es die unendliche Sehn-Sucht nach umfassender Gemeinsamkeit,
nach Übereinstimmung mit möglichst vielen anderen Menschen, die Massenpsychologen als
„Gefühlsansteckung“ (Canetti) bezeichnen. Beide Momente – kognitiv wie emotional zu
verorten – sind phylogenetisch wichtig für Zusammenhalt und Weiterentwicklung der Gattung
Mensch.

Es hat fast 2000 Jahre gedauert, bis in Europa wieder profane Monumentalbauten für
Zuschauer errichtet wurden. In England entstanden zum Ende des 19. Jahrhunderts die ersten
Fußballstadien, nachdem zuvor schon auf einigen weitläufigen Pferderennplätzen Tribünen
errichtet worden waren. Die Zeit dazwischen war geprägt durch Dome und Kathedralen als
den rituellen Versammlungsplätzen, in denen Information und Emotion unter sakralen
Orientierungen neu arrangiert wurde. Sie bildeten vielerorts immobile Innerlichkeit mit
Leuchtturmcharakter, prägten weithin sichtbar das Stadtbild.

Turnierplätze, Theater, Ballhäuser oder Tanzsäle erlangten nie deren Dimension, auch nicht
feststehende Zirkusgebäude Ende des 19. Jahrhunderts. Erreicht wurden die Ausmaße der
Dome bestenfalls in der Fläche durch öffentliche Plätze, wo Herrscherhochzeiten, Paraden,
Märkte und Verbrennungen stattfanden. Insbesondere in italienischen Regionen gab es auch
Körperübungen wie fußballähnliche Spiele oder Pferderennen. In Deutschland entstanden zu
Beginn der Moderne dann zahlreiche öffentliche Turnplätze, auf denen – in einer ständischen
Gesellschaft höchst ungewöhnlich – alle männlichen Jugendlichen Kraft, Koordination und
kollektives Handeln gleichberechtigt üben konnten. Das durchaus unter Aufmerksamkeit
elterlicher oder obrigkeitsstaatlicher Zuschauer, die ihre Neugier über Formen und Funktion,
aber auch Risiken dieser befremdlichen Körperübungen stillen wollten. Sie schauten dem
Treiben ebenerdig zu.
Sportliche Exerzitien sind ein weiteres Kind moderner Leibesübungen, das zunächst in
England die aufstiegsorientierten bürgerlichen Jugendlichen in ihren Schulen ergreift. Getreu
der kapitalistischen Ethik der freien Konkurrenz und seiner politischen Mentalität eines „We
are the Conquerors“ streiten diese Jugendlichen bei Athletics, Boxen, Cricket, Hockey, Golf,
Badminton, Baseball, Soccer, Rugby, Rudern und Schwimmen um die besten Plätze in
internen Rangskalen. In der Orientierung am vermessenen „record“ wird die Höchstleistung
ubiquitär, überschreitet ihre lokale Haftung. In seiner Kombination von Adoleszenz, Auslese
und Askese wird der Sport zu der wichtigsten Sozialisationsinstanz des aufstrebenden
Bürgertums, das Training der körperlichen Fitness zum modernen lifestyle . Der Sportsman
betritt die Bühne alltäglicher Selbstinszenierung und beherrscht sie bis heute, während der
Gentleman als sein alter ego in der Erinnerung verblasst.

Sport bedarf zunächst keiner besonderen Räume. Flüsse, Wiesen, schnell abgesteckte
Parkflächen reichen aus, um Kreativität, Selbstorganisation und Leidenschaft ausleben zu
lassen. Zumal die pädagogische Administration die Verletzungsrisiken besorgt, der
puritanische Klerus die ungehemmte Spiellust der jungen Sportler skeptisch beäugt. Die
Sportler sind sich zunächst selbst genug, erwarten keine Zuschauer, selbst Schiedsrichter
werden nicht benötigt – Streitfälle klären die Captains für ihre Teams. Als Amateure aus
Überzeugung – genauer zur sozialen Abgrenzung gegen beruflich Verdingte und demzufolge
alltäglich Geübte wie footmen, horsemen und boatmen – wollen sie auch kein Eintrittsgeld für
ihre sportlichen Kämpfe.

Es mag aus heutiger Sicht überraschen: Die Anfänge des Sports kennen kaum Zuschauer,
demzufolge auch keine Tribünen und Stadien. Bei den ersten Olympischen Spielen der
Neuzeit 1896 in Athen war die Teilnehmerzahl bei einzelnen Disziplinen größer als die der
Zuschauer. Und noch 2004 in St. Louis gab es auf schnell hergerichteten Flächen Medaillen
im Tauziehen und Tonnenweitspringen für zufällig anwesende Seeleute unterschiedlicher
Nationalität zu gewinnen. Auch deren philantropische Vorläufer Ende des 18. Jahrhunderts,
die unter Kenntnis altertümlicher Architektur von Stadien und Colosseum die Olympischen
Spiele wiederbeleben wollten, begnügten sich mit einigen Traversen um eine tieferliegende
Rundbahn.

Gleichwohl zieht der Sport heute wie kein anderes Thema die Menschen in Arenen, Stadien
und vor dem Fernsehschirm in seinen Bann, ist mit Abstand der wirtschaftlich bedeutendste
Inhalt der Unterhaltungsindustrie. Selbstverständlich nimmt er sich seinen Raum und gestaltet
ihn nach seinen Bedürfnissen und Regeln aus.

Zuschauermotive beim Sport

Zur Konstituierung und Verbreitung der Zuschauerschaft im Sport bedarf es verschiedener
Anstöße. Zunächst muss diese unbekannte, oft noch unverständliche Form der
Leibesübungen erst für eine größere Gruppe von Menschen zur Gewohnheit werden. Die
durch eigenes sportliches Tun wachsende Zahl von Kennern und Experten wird sukzessiv wie
chronologisch zu potentiellen Zuschauern.

Ein weiterer, vermutlich der entscheidende Impuls ergibt sich aus dem Wetten auf sportliche
Kämpfe. Mit ihnen erhält das unbekümmerte jugendliche Kräftemessen wirtschaftlichen
Ernstcharakter, entwickelt neue Regeln und die Philosophie der Fairness. Der nach Cromwells
Revolution quasi beschäftigungslose englische Landadel sucht Zerstreuung (lat. disportare !)
und den Thrill im der Langeweile verschriebenen Alltag. Körperliche Vergleiche, auf deren
Ausgang vorab gewettet wird, bieten das. Später kommen Industriearbeiter hinzu, die über (zu
wenig) bares Geld verfügen und beim Sportwetten verzweifelt auf plötzlichen Reichtum
hoffen. Adel wie Proletariat treffen sich als Zocker beim Totalisator (daher „Toto“) auf dem
Pferderennplatz, dann beim Boxen oder Fußball. Noch ohne die Möglichkeit elektronischer
Datenübermittlung wollen sie Augenzeuge ihres ersehnten Triumphs werden. Sie sind nicht
mehr blasierte Betrachter schweißtreibender Körperaktivitäten oder verständnislose
Kommentatoren luxuriöser Verschwendung leibhaftiger Energie, sondern verfolgen mit
wachsender Neugier wie Nervosität den Verbleib ihres Geldes. Wissensdurst und Leidenschaft
gehen im Wettkampfsport eine neuartige Symbiose ein.

Zwangsläufig entsteht damit eine neue Sportarchitektur, denn nicht nur immer größere
Zuschauermengen sind unterzubringen, sondern sie alle wollen sofort und vollständig das
Ergebnis ihrer Wette erfahren – plötzlicher Reichtum oder finanzieller Verlust, höchster
Triumph oder tiefste Depression. Tribünen entstehen am Zielstrich und entlang der
Zielgeraden, dann Stadien mit immer höheren Rängen, schließlich witterungsunabhängige
Arenen. Zugleich sind die Voraussetzungen für eine formale Chancengleichheit der Athleten
sicher zu stellen. Im Altertum unbekannte Maßnahmen wie exakt vermessene Laufbahnen,
standardisierte Wettkampfflächen, normierte Tore und Sportgeräte, einheitliche Strafräume,
Seitenwechsel zum Ausgleich widriger Witterung, unterschiedliche Gewichtsklassen werden
nun Selbstverständnis.

Der Stadionbau hängt auch mit dem Bedeutungszuwachs der Ballspiele, hier zunächst des
Fußballspiels zusammen. Die erste Sportart waren keineswegs der heute weltweit populäre
Fußball, sondern Reiten, Rudern, Laufen (Running), Boxen. Ballspiele folgten später,
zunächst Baseball und Cricket mit ihren hart gefüllten Flugobjekten, dann Rugby mit einer
unegalen Form des Balles („Pille“). Tennis und Fußball (in Deutschland bis in die 50er Jahre
des letzten Jahrhunderts gleichwertig mit dem aus dem Turnen stammenden Handball)
bedurften technischer Innovationen, bevor sie ihren Siegeszug antreten konnten.

Traten noch Ausgang des Mittelalters ungezählte junge Leute auf einer Straße zwischen den
Toren (sic!) der Stadt gegen eine unvorhersehbar taumelnde Schweinsblase und versuchten
diese unter kollektivem Gelächter durch das gegnerische Tor zu bugsieren, so eröffnet sich
mit der Erfindung des Vulkanisierens und des Ventils die Möglichkeit zu einheitlichen
Ballgrößen mit stabilen Flugeigenschaften. Nunmehr kann die Technik der Ballbehandlung
systematisch geübt werden, werden taktische Varianten nicht mehr vom Zufall karikiert.
Hilfreich sind hier gepflegte, gut drainierte Rasenflächen – aus der Willkür der Natur wird
auch hier ein Teil Sportarchitektur. Sie hat neben planen und trockenen Flächen auch einen
Tribünenbau zu bedenken, der vor Wind schützend den Flug des Balles nicht nennenswert
beeinträchtigt.

Noch heute kann man vielerorts multifunktionale Kampfbahnen besichtigen, die neben dem
Fußballfeld eine Laufbahn aufweisen; vor einigen Jahrzehnten wurde dort neben Fußball auch
Feldhandball gespielt, Radrennen gefahren, Turnfeste zelebriert oder Musikstücke von
Spielmannszügen intoniert. Die Spezies Fußballarenen hat sich erst in den letzten 10 Jahren
durchgesetzt.

Einen weiteren Impuls setzt die Identifikation der Zuschauer mit den sportlichen Akteuren,
die Projektion der eigenen Person oder Gattung auf die sportliche Höchstleistung
bewegungstalentierter Zeitgenossen. War es zunächst die Schulklasse, die in den englischen
Internaten nach Überwindung einiger Ängste und pädagogischer Widerstände die „eigene“
Mannschaft anfeuerte, war es im Zuge der rasch voranschreitenden Urbanisierung der gerade
gegründete Sportclub als Repräsentant des Wohnorts bzw. Stadtteils, der gesellschaftlichen
Klasse (bürgerlicher Verein versus Arbeiterverein !) oder der Religion. Im Zuge der
Nationalstaatenentwicklung war es schließlich die eigene Nationalmannschaft, mit deren
Farben, Fahne und Hymne sich ein ganzes Volk (mehr oder weniger) identifizierte. Mit der
Medaillenwertung bei den Olympischen Spielen erfährt dieser Identifizierungsprozess eine
politische Wertung. In dieser Linie entstehen Demonstrations- und Monumentalbauten der
Sportarchitektur, die den funktionellen Nutzen einer Sportstätte für die Athleten und den
Zuschauer weit überschreiten. In ihnen wird der Sport zumindest gelegentlich Ort politisch-
staatlicher Selbstinszenierung.

Dynamik und Grenzen des Stadions

Stadien sind heute die populärsten, oft markantesten und nicht selten auch teuersten Bauwerke
einer Region. Sie vereinigen das Bestreben, höchste sportliche Leistungen zu ermöglichen,
deren Resultate exakt wie zweifelsfrei zu vermessen, das Geschehen für alle Beteiligten wie
auch Fernsehzuschauer sofort erkennbar werden zu lassen, die leidenschaftliche Anteilnahme
an Sieg und Niederlage zu fokussieren, den Zuschauern größtmöglichen Komfort zu bieten,
seine Unversehrtheit zu gewährleisten, politisches Prestige für die Clubs oder die Mächtigen
im Lande auszustrahlen, den Organisatoren schnellen wirtschaftlichen Gewinn zu sichern.
Nicht wenige Anforderungen, die den Charakter der Stadien ständig verändern und die
Architekten in neue Dimensionen vorstoßen lassen. Aktuell sind dies große Videocubes in der
Mitte über dem Spielfeld und LED-Walls, die doppelte Einblicke für die Zuschauer
ermöglichen sowie immer umfangreicher werdende VIP-Bereiche, die ein deutlich
abgestuftes System von Zuschauergruppen beinhalten.

 Stadien sind in erster Linie für das Zuschauen eingerichtete Immobilien. Zuschauer legen
Wert auf Komfort, sind dabei keineswegs passive Konsumenten. Mit ihrem Ticketkauf, ihrer
akustischen Unterstützung für die Mannschaft, ihrer Identifizierung mit dem Verein sind sie
konstitutiver Teil eines komplexen Interaktionssystems. Gleichwohl ändert sich auch ihre
Rolle, ihre Struktur und Einfluss. Die neue Generation von Stadien – mit der WM 2006
entstanden - legt deutlicher als jemals zuvor die Wege zum und im Stadion fest, organisiert
den elektronisch gesteuerten Zutritt, weist feste Sektoren und Sitze zu, fordert über
Lautsprecher und Fanbeauftragte Verhaltensrituale. Polizeiliche Aufmerksamkeit vor und im
Stadion, Video-Überwachung, Security in den Aufenthaltsbereichen lassen nichts unbeachtet
– der Zuschauer ist im Stadion seinerseits Anschauungsobjekt, temporärer Bewohner eines
Hochsicherheitstrakts.

Aus dieser Entwicklung der Stadionarchitektur ergibt sich ein Widerspruch, der nicht überall
und vielleicht auch immer weniger auszubalancieren ist: Im Kern geht es darum, den
Zuschauern einerseits sonst nirgends öffentlich gestattete Räume für emotionale Exzesse zu
ermöglichen und die Expressionen zu intensivieren, andererseits die emotionale Dynamik
nicht überborden zu lassen, also die Emotionen in eben diesen Räumen zu ordnen und zu
kanalisieren. Lautstarkes Gegröle, alkoholische Exzesse, handfeste Gewaltbereitschaft sind
für Teile der Zuschauer eher abstoßend, bei Clubverantwortlichen imageschädigend für ihr
Produkt, für die Ordnungskräfte Anlass zum Einschreiten, um Leib und Leben friedlicher
Zuschauer zu retten. Und doch sind sie konstitutiver Teil der Gesamtinszenierung.

Seit den 50er Jahren, in der elektronischen Unterhaltungsgesellschaft immer schneller
wachsend, hat sich eine neue Zuschauerschaft außerhalb der Stadien herauskristallisiert, die
Fernsehzuschauer. Das Fernsehen, anfänglich noch als Konkurrent für den Stadionbesuch
befürchtet, hat enorm zur Popularität des Sports und insbesondere des Fußballspiels
beigetragen. Durch dieses Medium ist eine weltweite Popularität und millionenfache
Expertenschaft entstanden, die wiederum die Bereitschaft zum Stadionbesuch fördert.

Auch Fernsehzuschauer sind Augenzeugen in Echtzeit, allerdings nicht mehr unmittelbar. Ihre
Wahrnehmung ist vermittelt, sie wirkt nicht direkt auf die Akteure auf und am Spielfeld
zurück. Wenn sie allein oder im intimen Kreis vor dem häuslichen Bildschirm ein Spielfeld
verfolgen, bleibt die Gefühlsansteckung aus der Masse aus. Andererseits wird ihre Neugier
besser bedient als im Stadion: Großbildausschnitte von Spielszenen, Wiederholungen,
unterschiedliche Kameraeinstellungen, Geschwindigkeits- und Entfernungsmesser,
Kommentare von Experten liefern Zusatzinformationen, über die der Zuschauer im Stadion
nicht verfügt. Und nicht verfügen soll, weil bspw. ein spielentscheidender Fehler des
Schiedsrichters, auf einer Videowall unzweifelhaft dokumentiert, zigtausende
Stadionzuschauer ihre geübte und räumlich geordnete emotionale Contenance verlieren lassen
kann.

Genau besehen wird allerdings die neugierweckende wie –stillende Fernsehübertragung schon
heute mit in das Stadion hineingetragen. Per handy-TV kann jeder Zuschauer im Stadion nach
Wahl das gesamte Spiel oder spezifische Spieler, wichtige Situationen und Konstellationen
verfolgen. Auf der großen Videowall können zumindest erzielte Tore noch einmal
nachvollzogen werden, in den immer ausgedehnteren Logenlandschaften kann die parallel
laufende Übertragung eines Privatsenders betrachtet werden. Zumindest ansatzweise nimmt
der Fernsehzuschauer mit seinem Wissensdurst schon heute Einfluss auf das Geschehen im
Stadion.

Heute wird die Verknüpfung von Neugier und Gemeinschaftserlebnis in der schüsselartig
gestalteten Arena brüchig. Einerseits sind ihr rein zahlenmäßig mit vielleicht 60 000 Plätzen
Grenzen gesetzt (die Ticketnachfrage bei großen Spielen ist weit höher, das Interesse am
Fußball steigt und wird von den Fußballverbänden gesteigert), andererseits wird das
Gemeinschaftserlebnis zunehmend segmentiert und klassifiziert, schließlich wird der
Wissensdurst über das tatsächliche Geschehen auf dem Rasen nicht nach den mittlerweile
gegebenen elektronischen Übertragungsmöglichkeiten gestillt. Die gesellschaftlich
gewachsene Aufmerksamkeit für den großen Fußball, das eher noch neugierig-distanzierte
Interesse vieler Menschen an diesem merkwürdig-faszinierenden Spiel findet im Stadion
keinen alle überzeugenden und bezahlbaren Platz.

Public Viewing als neue Qualität des Zuschauens im Sport

Die Geschichte des Sports, insbesondere des Fußballsports und seines Zuschauens zeigt
verschiedene Impulse, die nicht selten technischer Natur sind. Vulkanisierte Bälle, drainierte
Plätze, überdachte Tribünen, Übertragungen im Fernsehen mit vielfältigen
Zusatzinformationen, elektronische Spielwetten, headsets bei Schiedsrichtern, Kunstrasen
u.v.m. beeinflussen Spielweise und Zuschauerverhalten.

Eine weitere technische Neuerung hat Anfang des neuen Jahrtausend eine ganz unerwartete
Erweiterung des Zuschauerverhaltens zunächst beim Fußball ausgelöst: Die Entstehung der
LED-Walls, bis heute oft irrtümlich als Großbildleinwände bezeichnet. Sie können auf eine
Fläche von bis zu 200 qm Sehfläche zusammengeschaltet werden. Rund 300 000 Menschen
haben vor allerdings deutlich kleineren Videowalls gemeinsam auf öffentlichen Plätzen
wichtige Spiele während der FIFA-WM 2002 in Japan und Korea angesehen. Es war die
Geburtsstunde des Public Viewing (PV), das nichts mit der Präsentation auf großen
Leinwänden gemein hat.

Die technische Neuerung an diesen großflächigen Bildpräsentationen ist, dass sie nicht mehr –
wie bei einer Kinoleinwand - reflektorisch von einer Fläche abstrahlen, sondern aus
zigtausenden kleiner gasgefüllter Ioden bestehen, die mittels elektronischer Steuerung
unterschiedliche Farbpixel herstellen können. Diese ergeben wie beim häuslichen Fernseher
ein Gesamtbild mit so großer Strahlkraft, das gestochen scharfe Bilder auf große Entfernung
und bei jeder Witterung erkennen lässt – zeitgleich, anders, umfassender und genauer als in
der Immobilie Stadion.

Die neue Technik ist mobil. Sie lässt sich – mittlerweile in wenigen Stunden – an jedem Ort
auf- und abbauen, kann auf einem ebenen Platz aufgestellt werden wie im Halbrund einer
Freilichtbühne, vor einem Berghang oder auf Pontons in einem Fluss vor der Uferböschung.
Das Fußballspiel wird in einer flüchtigen Architektur inszeniert – am Tag danach erinnert
nichts mehr an das leidenschaftliche Zuschauerverhalten während des dort übertragenen
Spiels.

Mit dieser neuen LED-Technik lassen sich die beiden wesentlichen Momente des
Zuschauersports auf neue Weise verknüpfen: Neugier stillen und Gemeinschaftsgefühl leben.
Die noch junge Geschichte des Public Viewings zeigt, dass dessen räumliche Gestaltung nicht
allein antizipativ durch Fußballfunktionäre oder Eventmanager erfolgte, sondern auch immer
maßgeblich durch die Zuschauer selbst voran getrieben wurde – durch ihre Spontaneität,
Fröhlichkeit, Lust am Feiern.

Der Durchbruch des Public Viewing bei der FIFA-WM 2006

Vor der Weltmeisterschaft 2006 standen die Organisatoren vor dem Problem, für die über
dreißigmillionen Kartenwünsche sowie die erwarteten eine Million ausländischen Besucher
(tatsächlich wurden es über 2 Millionen) angemessene Zuschauer- und
Aufenthaltsmöglichkeiten zu schaffen. Aus den Erfahrungen von internationalen Turnfesten
und Kirchentagen wurde das Konzept „Die WM auf dem Marktplatz“ entwickelt, bei dem
über vier Wochen zentrale Anlaufstellen für alle Fans zur ungezwungenen Begegnung,
Beköstigung, Informationsbeschaffung und Nutzung kultureller Angebote geschaffen wurde.
Höhepunkte bildeten die Übertragungen der 64 Spiele auf großflächigen Videowalls für
mindestens 50000 Besucher. In einem mehrjährigen komplizierten Prozess konnten Kosten,
Logistik- und Sicherheitsfragen sowie Vermarktungs-, Übertragungs- und Veranstalterrechte
geklärt werden. Bis zum Eröffnungstag der WM war offen, ob von den Fans das Angebot
angenommen werden würde und das Festorganisatorisch beherrschbar blieb.

Das Feldexperiment ist bekanntermaßen vollauf gelungen. Über 27millionen Menschen haben
sich in Deutschland beim Public Viewing versammelt, ungezählte Zuschauer in Großstädten
aller Welt kamen hinzu. Es besteht Übereinstimmung, dass das Public Viewing entscheidend
zur fröhlichen Stimmung bei der Fußball-WM 2006 („Sommermärchen“) beigetragen hat. Die
FIFA hat inzwischen beschlossen, die Fan-Feste zum festen Veranstaltungsteil bei künftigen
Weltmeisterschaften zu machen.

Aus soziologischer Sicht bieten sich zwei Zugänge zur Erklärung an: Die
Organisationssoziologie zur Bestimmung der Erfolgsfaktoren für diese einzigartige
Veranstaltung und die Kultursoziologie zur Deutung der „kollektiven Beseeltheit“
hunderttausender Menschen auf den öffentlichen Plätzen.
Die hohen Besucherquoten bei den Fan-Festen, die weit mehr Unbequemlichkeit bedeutete als
Fernsehen in den eigenen 4 Wänden (langes Stehen, weit entfernte sanitäre Einrichtungen,
teure Getränke), werden auf 6 organisatorische Faktoren zurückgeführt:

   -   zentrale Lage und leichte Erreichbarkeit der stadtarchitektonisch attraktiven Plätze
       (einschließlich WM-Ticket der Bahn, das den Transport zwischen den Städten
       erleichterte; es bildeten sich zwischen den Städten vagabundierende „WM-
       Nomaden“).
   -   Kostenfreier und flexibler Zugang bzw. Möglichkeit zum Standortwechsel auf dem
       Platz (im Unterschied zum streng segmentierten „Hochsicherheitstrakt“ Stadion). Bei
       dem Erheben von höheren Eintrittspreisen ist das PV gescheitert.
   -   Vielseitiges und attraktives Angebot an Info- und Verkaufsständen (Marktcharakter)
   -   Gutes Wetter oder witterungsunabhängige Locations (überdachte Stadien, gr0sse
       Febrikhallen)
   -   Erfolgreiches Abschneiden der eigenen Mannschaft in der Anfangsphase, nach
       erfolgreichem Start trägt die Partystimmung sich selbst
   -   Permanent abwechselungsreiches Leben auf den Fan-Meilen insbesondere durch die
       hohe Zahl ausländischer Gäste, für die sich ganztägig der ideale Anlaufpunkt ergab

Ein neuer Typus des Zuschauers: Fan und Flaneur

Die pragmatisch-organisatorischen Gründe alleine sind noch nicht hinreichend, denn (was
vielfach auch geschah) Kneipen und Kinos wären bequemere Plätze für ein Public Viewing.
Die „kollektive Beseeltheit“ bei den Fan-Festen erklärt sie nicht. Hier sind
kultursoziologische Deutungen gefragt:

   -   Der Spitzensport und insbesondere das Fußballspiel mit seiner leichten
       Nachvollziehbarkeit und zugleich komplexen Kooperationen fasziniert durch seine
       authentische Spannung. Vor dem Spiel ist Verlauf und Ergebnis ungewiss.
       Leidenschaftliche Anteilnahme am sportlichen Geschehen ist die Folge. Die
       Bewältigung der immensen Spannungen gelingt umfassender in großen
       Menschenmengen (Gefühlsansteckung und Katharsis).
   -   Die wachsende Neugier der Menschen auf das spannungsvolle Geschehen wird auf
       den Videowalls kostengünstiger und umfassender bedient als im Stadion; hier sieht
       man Vergrößerungen, Slow Motions, Wiederholungen und visuelle Hilfsmittel für
       räumliche Konstellationen wie Abseitsstellungen
   -   Die Stadionarchitektur konzentriert die Spannung, reglementiert sie zugleich aber
       auch bis zu Sanktionsmitteln. Die „mobile Anarchie“ auf dem Fan-Fest, das
       Weiterschlendern zu einem anderen Standort, führt zu einer Vermischung Menschen
       unterschiedlicher Herkunft und Interessen. Das entspannt das im Stadion oft
       martialische Geschehen, was insbesondere Frauen das Verweilen erleichtert. Nicht
       selten entwickelte sich Fan-Feste auch zu augenzwinkernden Flirtmeilen.
   -   Neue Stadien werden zumeist an der Peripherie gebaut. Public Viewing findet im
       Herzen der Stadt statt – eine Rückkehr an den Ort, an dem das Fußballspiel entstand:
       Auf der Straße zwischen den Stadttoren.
   -   Das geregelte, von gleichberechtigten Konkurrenten geprägte Zusammentreffen bei
       hochkarätigen Sportevents produziert Hochspannung, die sich auf dem offenen
       Marktplatz sogleich in Amplituden heiterer Gelassenheit bei den Fans aus aller Welt
       auflöst. Bunte Bemalung, fröhliches Fahnenschwenken, neckische Lieder
       demonstrieren Identität mit der eigenen Mannschaft, jedoch keine chauvinistischen
Überlegenheitsgebärden. Das Schiller`sche Topos„Alle Menschen werden Brüder“
       schwebte bei der Fußball-WM 2006 greifbar über dem auf öffentlichen Plätzen
       medialisierten Ereignis.

Public Viewing bildet technisch, organisatorisch wie kulturell eine neue Qualität des
Zuschauens beim Fußball. Sie wird deutlicher, wenn man den herkömmlichen Sportfan mit
der in der Soziologie vor gut hundert Jahren erstmals diskutierten Figur des Flaneurs spiegelt.
Zuschauen beim Public Viewing ist kulturelles Selbstbild von sportlich aufgeschlossenen,
allen Neuem der Informationsgesellschaft gegenüber offenen, mit Lust zum Feiern
versehenen Weltbürger, die emotionalisierende Ereignisse bewusst suchen und auswählen, sie
leidenschaftlich miterleben und zugleich eine wohlinformierte Distanz dazu herstellen
können, indem sie über das Gelände und das Geschehen flanieren, den selbst gesuchten
Standpunkt jederzeit verlassen können

Dieser kulturelle Typus von Zuschauer ist engagierter Sportsman und kritisch-genießerischer
Unterhaltungskosument, changiert zwischen beiden Optionen. Noch mehr: Er ist beim Public
Viewing leidenschaftlicher Fan und weltbürgerlicher Flaneur in Einem. In der Symbiose
verliert die Leidenschaft des sportlichen Stadionfans ihre Verbissenheit, der Müßiggang des
Flaneurs seine individualistische Blasiertheit.

Die Erfolgsgeschichte des Public Viewing in Sport, Politik und Kultur

Das Sommermärchen 2006 ist kein Unikat geblieben. Bei den Weltreiterspielen 2006 in
Aachen hat es auf dem Marktplatz der Stadt ein Public Viewing gegeben. Das Ereignis ist
insofern dichter in die Stadt hineingerückt, die Resonanz blieb noch überschaubar.
Selbstverständlich konnte es bei weitem nicht den Erfolg haben wie die Fan-Feste wenige
Wochen zuvor beim Fußball. Ähnliches gilt für die Hockey-WM kurz danach in Mönchen-
Gladbach. Hier ist zu berücksichtigen, dass Hockey in Deutschland eher eine Nischensportart
darstellt. Bei einigen erstklassigen Basketballklubs wird ein PV von bedeutsamen
Auswärtsspielen in der eigenen Halle praktiziert, erreicht jedoch bislang kaum neue
Zuschauergruppen. Interessant wird sein, wie weit es den Organisatoren der Leichtathletik-
WM 2009 in Berlin gelingen wird, diese attraktive Sportart als Fan-Fest vor dem
Brandenburger Tor zu positionieren.

Am ehesten sind Fan-Feste beim Handball denkbar, da es inzwischen über 100 000
praktizierende Fans in den Bundesligavereinen bei steigender Tendenz gibt, eine erfolgreiche
deutsche Nationalmannschaft und intensive Berichterstattung 2007 ein „WM-Fieber“ erzeugt
hat und es zumindest nach der Vorrunde überall ausverkaufte Hallen gab. Genügend offener
Raum stand in den dann ausgespielten überdachten Arenen – auch von den Eishockeyklubs –
zur Verfügung. Bis auf einzelne Initiativen vor Ort – sehr erfolgreich etwa in Kiel – hat es
allerdings keine bundesweit organisierten Fan-Feste nach dem Muster des Sommermärchens
gegeben. Eine Präsentation der Pokalendrunde „Final Four“ in den Hallen der Heimatvereine
oder dem neben dem Austragungsort gelegenen Stadion wird intensiv geprüft. Ähnliche
Ergebnisse könnten bei der Eishockey-WM 2011 erwartet werden.

Eine gewichtige Rolle spielt auch die kulturelle Tradition von Sportarten. So wurde die
Rugbyweltmeisterschaft – in vielen Ländern ist Rugby Ballsportart Nummer 1 – in mehreren
Ländern per Public Viewing übertragen und erfreute sich überwiegend guter Resonanz.
Bei der Fußballeuropameisterschaft 2008 hat es überall in Europa, insbesondere in der
Schweiz und Österreich, zahlreiche PV-Feste gegeben. Sie haben insgesamt bestätigt, dass
diese Form des Zuschauens nicht nur im Austragungsland seine Resonanz findet. Auch hier
hat sich bestätigt, dass Wetter und Erfolg der heimischen Mannschaft sowie verkehrsgünstige
Lage maßgebliche Erfolgsfaktoren sind. In Deutschland waren insbesondere an den
Standorten von 2006 die Übertragungen von der EM 2008 gut besucht. Bemerkenswert ist,
dass das Endspiel um die EM 2008 aus Wien in ein gefülltes Frankfurter Bundesligastadion
übertragen wurde.

In der deutschen Fußball-Bundesliga gibt es bislang erst einzelne Versuche, wichtige
Auswärtsspiele der eigenen Mannschaft im heimischen Stadion zu übertragen. Neben
lizenzrechtlichen Unklarheiten (Übertragungs- und Vermarktungsrechte) spielen die
Belastung des Stadionrasens und der noch gering eingeschätzte wirtschaftliche Ertrag eine
Rolle. Allerdings mehren sich die Zeichen, dass etwa nach Einführung des Kunstrasens diese
Variante stärker genutzt wird oder vor dem Stadion temporär eine Videowall aufgebaut wird.

Mit steigender Akzeptanz und Popularität – 2006 ist Public Viewing das Wort des Jahres –
wird dieses Zuschauerangebot auch in außersportlichen Feldern angeboten. Bei religiösen
Großveranstaltungen ist das Public Viewing bereits seit längerem in das Ereignis integrierte
Praxis (Papst-Besuche, Kirchentage), da die großen Zuschauermengen ansonsten
beispielsweise eine Ansprache oder Gebet nicht wahrnehmen könnten. Auch die sonntägliche
Messe auf dem Petersdom wird auf einer Video-Wall übertragen. Neuerdings gibt es auch in
entfernten Kirchen oder auf öffentlichen Plätzen die Übertragung des Papstbesuchs. Bei einer
fortschreitenden Eventisierung dieser Veranstaltungen ist mit (noch) größeren
Zuschauermengen zu rechnen, die Raum und Form für ihre religiösen Feiern suchen.

 Insbesondere Musikvorführungen erfreuen sich mitunter derartiger Beliebtheit, dass sie selbst
auf großen Plätzen und in Stadien in Platznot geraten. Bei diesen Veranstaltungen wird heute
schon routinemäßig mit Großbildwänden gearbeitet, damit auch Besucher in den hinteren
Reihen oder vor der Arena ihre Idole genau genug sehen können. Über Parallelübertragungen
bei ausverkauften Konzerten liegen bislang nur einzelne Erfahrungen vor. So sind in Bayreuth
die Wagner-Festspiele und in Berlin aktuelle Opernvorführungen in der Nähe der Spielhäuser
übertragen worden – offensichtlich mit großem Erfolg.

Weitgehend spontan hat sich bei der Wahl und der Amtseinführung von Präsident Obama ein
Public Viewing entwickelt. Die Wahlnacht wurde von hunderttausenden Menschen in New
York, Chicago, Kenia, Hawaii und Asien vor Videowalls verfolgt. In Europa waren Lokale,
Seminarräume und Konsulate mit Menschen vor Flatscreens gefüllt. Gespannt warteten
ungezählte Menschen auf das Ergebnis, feierten gemeinsam den Sieger und sangen und
tanzten noch weit in die Nacht. Diese Manifestationen erinnerten durchaus an die Wahlparties
in den USA im 19. Jahrhundert.

Der knappe Überblick macht deutlich, dass das Public Viewing bei sportlichen wie auch bei
anderen Großveranstaltungen zu einem wichtigen Thema geworden ist bzw. sich kreativ
weiterentwickeln wird, wobei die jeweils vor Ort und zum Thema zu findenden Lösungen
durchaus offen sind. Sie beinhalten sowohl die kulturelle Verortung der Veranstaltung wie
auch die technisch-organisatorische Umsetzung. Hierbei spielen produktive und ökonomische
Aspekte ihre nicht unerhebliche Rolle.

Bei der WM 2002 waren die relativ kleinen Videowalls noch ein rares Gut von mitunter
labiler technischer Funktionalität. Bei der WM 2006 waren für die 5wöchigen Fanfeste
mittlere sechsstellige Summen für Ausleihe und Bedienung der komplizierten Elektronik von
den Veranstaltern aufzubringen. Heute kann – Personal inklusive - für 15 000 € ein Truck für
ein Wochenende gemietet werden, der praktisch an jedem Ort auf seiner Ladefläche eine
Sehfläche von 60 qm ausklappen kann und damit weit über 50 000 Menschen auf einem
öffentlichen Platz den Genuss eines spannenden Public Viewing-Events gewährt. Die
Technikentwicklung wird dazu beitragen, dass das PV kostengünstiger, flexibler, kurzfristiger
und noch intensiver werden wird (etwa durch konkave Bildflächen, die das „Stadionfeeling“
erhöhen).

Begriffliche Einordnungen: Ereignisverstärkung, Corporate und Public Viewing

War bei der WM 2006 das Public Viewing mit seinen Fan-Festen noch die große
Überraschung, hat es in der Folge schnell Nachahmer gefunden. Das galt zunächst
naheliegenderweise für den Sport, hat mittlerweile aber auch andere gesellschaftliche
Bereiche erfasst. Dabei werden neue Formen kreiert, die zugleich Übergänge und
Mischformen darstellen.

Elektronische Bildpräsentationen gibt es heute bei vielen Sportveranstaltungen, sie sind für
die Information der Zuschauer selbstverständlich wie unverzichtbar (Triathlon, Biathlon,
Skispringen, Turnen, Leichtathletik etc.). Sie verdeutlichen das am Ort sich authentisch
vollziehende und individuell wahrgenommene Geschehen auf TV-Bildern gleichzeitig und
wiederholend. Es handelt sich hier – wie ansatzweise in den Fußballstadien – um eine
elektronisch-informative Ereignisverstärkung. Ähnliches gilt heute für politische
Kundgebungen oder wirtschaftliche und wissenschaftliche Kongresse größeren Ausmaßes.

Eine andere Form ist das Public Viewing in öffentlichen Einrichtungen, jedoch bei begrenzter
Besucherzahl (Kinos, Kneipen, Klubhäuser, Gemeindesäle). Es handelt sich um ein
Gemeinschaftserlebnis – wird doch die Intimität des häuslichen Fernsehers verlassen - , nicht
jedoch um ein massenpsychologisches Phänomen. Mittlerweile wird es auch gezielt von
Unternehmen als sorgfältig inszeniertes Marketingevent eingesetzt, indem bspw. aus Anlass
eines bedeutsamen Fußballspiels eine größere Zahl von Firmenkunden in einen
ausgedehnteren Raum mit Videowall eingeladen, unterhalten und beköstigt werden. Diese
Formen werden oft als „Corporate Viewing“ bezeichnet.

Elektronische Ereignisverstärkung wie Corporate Viewing sind Grenzbereiche, die nicht mit
dem Public Viewing auf offenen Plätzen gleichgesetzt werden können. Das Verfolgen
bedeutsamer Ereignisse in einer unzählbaren Menschenmenge vor einem überdimensionalen
Fernsehschirm, die zentrale und räumlich großzügige Lage, der freie Zugang und der
jederzeitige Ortswechsel, die individuelle Entscheidungsfreiheit in einer kollektiven
Interessenlage sind Kriterien, die eine neue Qualität des Zuschauens ermöglichen. Die
Besucher haben unabhängig vom sportlichen, kulturellen, religiösen oder politischen Inhalt
längst selbst begonnen, das Public Viewing zu einem eigenen kulturellen Erlebnis zu machen.
In jedem Fall handelt es sich um einen ganz anderen Erlebnisraum als im architektonisch
durchstrukturierten Stadion.

Südafrika 2010: Die gedoppelte Weltmeisterschaft

In Südafrika werden bei der Fußball-WM weniger und kleinere Stadien zur Verfügung stehen
als in Deutschland 2006, dementsprechend werden auch deutlich weniger Tickets für den
Besuch der Stadien angeboten. Zudem wird die Infrastruktur (Verkehr) für die Stadien nicht
europäischem Niveau entsprechen, also für viele Menschen der Weg zu den Stadien sehr
aufwendig sein und die Sicherheitslage scheint schwieriger beherrschbar. Kosten und
zeitlicher Aufwand stellen für viele Südafrikaner und manche anderen Fußballenthusiasten
hohe Barrieren für einen Stadionbesuch dar.
Andererseits handelt es sich um die erste Fußball-WM in Afrika, die zur weiteren
Popularisierung dieser Sportart auf dem Kontinent und in weiteren weniger entwickelten
Ländern beitragen soll. Entsprechend wird das Interesse der ärmeren (d.h. vorrangig farbigen)
Bevölkerung an den Spielen immens sein, während die weiße Bevölkerung ihre Präferenzen
(noch) eher im Rugby und Kricket haben mag. Für sie ist eine Fußball-WM im eigenen Land
eine Auszeichnung, eine Hoffnung und eine Gelegenheit sich als gute Gastgeber zuerweisen.

  Insbesondere die Regierung der RSA verbindet mit der WM nachhaltig touristische
Interessen und will diese durch zahlreiche Gäste aus der ganzen Welt eingelöst wissen. Viele
von ihnen werden keine Möglichkeit zum Stadionbesuch erhalten; die Erinnerung an die Fan-
Feste 2006 wird zahllose Fußballenthusiasten dennoch in die RSA aufbrechen lassen. Insofern
spricht alles für umfangreiche Public Viewing-Lösungen, die in einzelnen WM-Stadien auch
an ansonsten dort spielfreien Tagen stattfinden könnten oder an anderen Orten ohne Stadien,
wobei ein Aufbau temporärer Tribünen auf öffentlichen Plätzen wahrscheinlich ist.

Nach derzeitigem Stand ist es durchaus realistisch, dass die Fan-Feste und damit das Public
Viewing bei der WM 2010 mindestens die gleiche Bedeutung erhalten werden wie die Spiele
in den Stadien. Nicht zuletzt die Kostenfreiheit beim PV wird viele Menschen zum
gemeinsamen Feiern ihrer WM veranlassen. Hier wird eine Rolle spielen, dass die
Besitzerdichte von privaten TV-Geräten in Südafrika deutlich geringer ist als in europäischen
Ländern. Zudem geben die offenen Fan-Feste dem Land und seiner vielschichtigen
Bevölkerung die ersehnte Gelegenheit, durch eine festliche Ausgestaltung der Plätze die
eigenen historischen und kulturellen Wurzeln lebendig werden zu lassen.

2010 könnte die WM werden, bei der die Zuschauer von der Fußball-WM mehr über das
Geschehen aus den öffentlichen Fan-Festen erfahren als über die unmittelbare
Spielbeobachtung in den Stadien. Die Medien werden sich immer wieder in die
Volksfeststimmung auf den öffentlichen Plätzen einschalten, Besuchergruppen ihre eigenen
Choreografien kreieren, Spieler oder Trainer nach den Spielen auf den Bühnen der Fan-Feste
stehen. Es wird zwei Weltmeisterschaften geben – die in den Stadien und die auf den Fan-
Festen - , bei denen ungewiss ist, auf welcher die Zuschauer mehr Enthusiasmus zeigen.

Zukunftsszenario 2020: Das Verschwinden der Stadien

Wagen wir einen Sprung ins Jahr 2020. Die Spiele der Bundesliga finden in einer neuen
Generation von Stadien statt, die mit der gerade stattgefundenen Fussball-EM in Deutschland
entstanden sind. Sie bieten in der Regel Platz für 25 000 Sitzschauer an den Längsseiten und
sind an den Stirnseiten mit fest installierten großen Videowalls ausgestattet, auf denen jeder
Zuschauer mehrfach vergrößert Zuschauerreaktionen vom Public Viewing auf den
öffentlichen Plätzen wahrnehmen kann, ansonsten Bildfrequenzen vom aktuellen Spiel und
mehr noch Reklamespots. Die längsseitigen Tribünen beinhalten großenteils VIP-Bereiche,
von deren Balkonen nach Bedarf aufs Spielfeld oder die Flatscreens an den Rückenlehnen der
Vordersitze gesehen werden kann. Schiedsrichter auf dem Spielfeld und damit Anlässe für
Schmähungen fehlen, Abseitsstellungen oder Linienüberschreitungen von Bällen werden - in
Echtzeit von Sensoren ermittelt- Publikum wie Spielern bekannt gegeben. Das gleiche gilt
für Foulspiel. Ein Justitiar überwacht die Entscheidungen.

Die Zuschauer auf den normalen Plätzen verharren immobil während des Spiels und in der
Pause. Getränke und Weckamine werden in einem ausgeklügelten Transportsystem direkt an
die Plätze gebracht, die rasend schnell wechselnden Bilder auf den LSD-Reitern bleiben
unbemerkt, gelegentlich werden auf Signal im Kopfhörer Knöpfe zur Illumination der Sitze in
bestimmten Farbkonstellationen für großflächige Choreografien angestellt. Ausschreitungen
durch Hools bleiben unbekannt.

Fußball bleibt das attraktivste Unterhaltungangebot weit und breit. Täglich werden im TV
Spiele übertragen, die Online-Medien informieren zeitnah und sind viel genutzte interaktive
Chatrooms. Das FIFA-Footballgame ist das beliebteste Angebot auf dem elektronischen
Markt, die 2001 gegründete Wold-Roboterleague hat siebenstellige Zuschauerzahlen und weit
höhere Wetteinsätze, das das vierte mal aufgelegte TV-Format „ Adidas sucht den Soccer-
Superstar“ für 4 bis 6jährige erfreut sich höchster Einschaltquoten insbesondere bei den
kaufkräftigen Jahrgängen Ü70.

Die Nachfrage nach Eintrittskarten im Stadion hält sich in Grenzen. Sind die VIP-Bereiche
weiter gut gefüllt, müssen viele der übrigen Plätze mit Soldaten , Schulklassen, studentischen
Hilfskräften und unbeschäftigtem Securitypersonal aufgefüllt werden. Buchhalter und
Verwaltungsinspektoren nutzen den Besuch als Bildungsurlaub bei freiem Eintritt.
Begeisterungsschreie und Anfeuerungen werden ebenso über ein Mischpult eingespielt wie
Pfeifkonzerte und Fangesängen. Oder sie werden einfach von den öffentlichen Plätzen mit
PV-Festen ins Stadion übertragen. Phantasievolle Choreografien, originelle Fangesänge,
aktuelle Spruchbänder sind in dieser Ordnung nicht mehr präsent; gelegentlich werden sie als
Konserve auf den Videowalls eingespielt.

Die Verantwortlichen des Spitzenklubs zeigen sich mit dieser Lösung durchaus zufrieden. Die
Baukosten und damit laufende Zinslasten für diese Stadien sind deutlich geringer als bei den
Stadien von 2006, Parkplätze und Anfahrten gestalten sich ebenso problemlos wie die
Unterhaltung und Sicherung der Spielstätte deutlich sparsamer ist. Die geringeren Einnahmen
sind nicht gravierend, da vor allem die Zahl der billigen Plätze reduziert wurde. Die Budgets
der Klubs werden ohnehin größtenteils aus Fernseh- und Sponsoreneinnahmen bestritten.

Das gleiche an Akzeptanz gilt für die FIFA, den Weltfußballverband und mittlerweile größter
Konzern der Unterhaltungsindustrie wie auch seiner Kontinentalverbände. Diese Größe von
Stadien bzw. deren Kosten erleichtert auch Schwellenländern die Durchführung
internationaler Meisterschaften. Zudem können diese Stadien auch nach Ende des Turniers
variabel weiter genutzt werden, Investitionsruinen wie noch nach der WM 2002 in Japan und
Korea oder Südafrika 2010 werden künftig vermieden.

Die beeindruckend große Masse der Fußballzuschauer findet sich auf den freien Plätzen in
den Innenstädten; einige der Plätze befinden sich auch in unmittelbarer Nähe der Stadien und
ermöglichen ein Treffen mit den Stadionbesuchern vor und nach dem Spiel. Sie sind zu den
Marktplätzen der Unterhaltungsindustrie geworden, denn mehrfach in der Woche werden hier
Sportveranstaltungen, Konzerte, Filme auf mobilen Videowalls geboten. Tagsüber finden hier
Märkte und bewegende Spielangebote statt, die je nach abendlicher Veranstaltung auch stehen
bleiben können und insofern Verzehr, Information, sportliche Wettkämpfe, Kultur und
Einkauf ermöglichen. Absperrungen und Einlasspunkte können variabel nach Größe der
Besucherzahl hydraulisch hochgefahren werden, eine elektronische Überwachung sichert die
vielen Zugänge, durch die Fans und Flaneure jederzeit den Platz betreten und verlassen
können. Dafür müssen sich die Fans nur einmal jährlich gegen eine geringe Gebühr
registrieren und vor dem jeweiligen Besuch online freischalten lassen, um eine Überfüllung
auf dem Platz zu verhindern.
Die Videowalls werden mit großen Trucks wenige Stunden vor Beginn der Spiele
aufgefahren, ebenso transportable überdachte Tribünen für bis zu 8000 Zuschauer. Sie sind im
Unterschied zu den 80 000 bis 100 000 Stehplätzen kostenpflichtig. Die Videowalls haben
eine konvexe Form, so dass bei den Zuschauern das Gefühl entsteht sie seien mitten in einem
Stadionkessel oder gar Mitspieler auf dem Spielfeld. Seitliche Videowalls geben permanent
Zusatzinformationen über spezifische Spielsituationen, Ballgeschwindigkeiten,
Körperkontakte und Schiedsrichterentscheidungen.

Auf der offenen Innenfläche feuern die buntbemalten Zuschauer ihre Mannschaft an, fiebern
mit, hüpfen rhythmisch oder machen spontan Polonaisen mit zusammengebundenen
Fanschals quer über den Platz, singen neu intonierte Lieder, bestimmen per handyvoting das
Auswechselverhalten und treten über gegenseitige Fernsehübertragungen in Dialoge mit dem
Stadion ein. In der Pause organisieren die Anhänger der beiden Mannschaften einen Bewerb
im Bockspringen.

Zentraler Kommunikationsmittelpunkt sind die Bühnen vor den LED-Walls, auf denen
Moderatoren das Publikum ansprechen, Fans neue Songs oder elektronische Designs
präsentieren, Experten gehört und Wetten abgeschlossen werden können. Vor ihnen baut eine
Gruppe junger Leute eine dreistockige Pyramide, deren fahnenschwenkende junge Frau auf
der Pyramidenspitze irgendwie an Barrikadenkämpfer aus der französischen Revolution
erinnert. Der von zwei Kindern mitgebrachte Schaumstoffball führt plötzlich zu einem
fröhlichen Leistungsvergleich im Hochschießen, am Ende vollführen Fans aller Couleur ein
endloses Bockspringen.

Das PV ist ein buntes Volksfest im und um das Spiel, ein sich ständig selbst erneuerndes
Event. Es beginnt weit vor und endet erst lange nach Schlusspfiff, wenn Spieler und Trainer
eingetroffen sind, die originellste Verkleidung oder der witzigste Song gekürt worden ist, alle
wichtigen Spielszenen noch einmal gezeigt wie fachkundig analysiert wurden. Nicht wenige
sind auch schon mit neuen Bekanntschaften weiter gezogen.

Die rund 5 Stunden bilden zugleich eine unerschöpfliche Kontaktbörse, denn die große Zahl
von Menschen auf einem unreglementierten Feld und das Interesse am Spiel schafft eine
Leichtigkeit der Gemeinsamkeit, die den Blickkontakt, die räumlich-körperliche Annäherung,
das Ansprechen, den Austausch von Telefonnummern und Fotos oder die Verabredung an
einem der vielen Stände erleichtert.

Wenn auch die Zuschauer durchaus „ihre“ Mann- oder Frauschaft anfeuern, so wissen sie
doch jederzeit, dass diese für sie unerreichbar wie unempfänglich ist – Leidenschaft mit
Augenzwinkern, Angriffslust mit Beißhemmung. Der große Fußball hat zwischen den
Eingangstoren zum Marktplatz einige seiner Ursprünge wiederbelebt.
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