CHANCEN, RISIKEN UND HERAUS-FORDERUNGEN FÜR EUROPAS ROLLE IN DER WELT
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IM FOKUS /// Multilateralismus und das Welthandelssystem CHANCEN, RISIKEN UND HERAUS- FORDERUNGEN FÜR EUROPAS ROLLE IN DER WELT MARKUS FERBER /// Der Multilateralismus befindet sich in einer Krise. Die Euro päische Union tut sich in der Außenhandelspolitik zunehmend schwer, die Welt handelsorganisation ist weitgehend handlungsunfähig und China stößt in das politische Vakuum. Um weiterhin relevant zu bleiben, muss sich die Europäische Union handelspolitisch neu aufstellen. Zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Liberalisierung des Welthandels haben Jahrhunderts befindet sich der Multila- sich in den vergangenen Jahren nicht teralismus in einer Krise. Während es ohne Weiteres fortgesetzt. nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Im Gegenteil: Die Dynamik des gemeinhin die Erwartungshaltung gab, Welthandels hat sich dramatisch abge- dass sich die einstigen Widersacher in schwächt, Institutionen wie die Welt- Ost und West gemeinsam mit den Staa- handelsorganisation treten auf der Stel- ten des globalen Südens auf ein neues le, die Europäische Union hat erstmals harmonisches Miteinander einlassen einen Mitgliedsstaat verloren und die würden und fortan auf Basis einer de- mokratischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Grundüberzeu- gung kooperieren würden, sieht die Re- alität dreißig Jahre später leider voll- Der Multilateralismus ist in der KRISE. kommen anders aus. Erfreuliche Ent- wicklungen in den 1990er-Jahren hin zu Marktöffnungen und einer allgemeinen 28 POLITISCHE STUDIEN // 496/2021
Quelle: iStockcom/Axel Bueckert Ein zweiter Anlauf für ein transatlantisches Freihandelsabkommen mit der Biden-Administration nach dem Scheitern von TTIP wäre ratsam. USA haben sich eine vierjährige Auszeit doch Hoffnungsschimmer. Die neue von ihrer Rolle als globale Führungs- US-Administration unter Joe Biden macht und Botschafter des Freihandels wird aller Voraussicht nach wieder eine gegönnt. Gleichzeitig hat die Corona- konstruktivere Rolle in der Welt einneh- Krise, die sowohl internationalen Wert- men. Nach vier Jahren „America First“ schöpfungsketten als auch der internati- dürften die USA wieder eine aktivere onalen Diplomatie einen schweren Außenpolitik verfolgen, eine Handels- Schlag versetzt hat, die Problemlage politik betreiben, die über das Verhän- noch einmal zugespitzt. Da die Anfällig- gen von Strafzöllen hinausgeht, und sich keit international verwobener Wert- internationalen Institutionen und Ver- schöpfungsketten im Frühjahr 2020 einbarungen wieder zuwenden. Von sehr deutlich wurde, dreht sich in vielen dieser Rückbesinnung auf einstige Stär- Ländern die handelspolitische Diskussi- ken ist bestenfalls auch ein Impuls zur on eher um die Frage, an welchen He- Reform der Welthandelsorganisation zu beln man ziehen muss, um die Unab- erwarten. Auch die Europäische Kom- hängigkeit von seinen internationalen mission unter Ursula von der Leyen hat Handelspartnern zu erhöhen. Der Grat gelobt, sich nicht nur mit sich selbst zu zum Protektionismus ist schmal. beschäftigen, sondern als „geopolitische Wenngleich die derzeitige Bestands- Kommission“ Europas Rolle in der Welt aufnahme ernüchternd ausfällt, gibt es aktiv zu definieren. 496/2021 // POLITISCHE STUDIEN 29
IM FOKUS Europas Rolle in der Welt: Zusammengenommen machen die Mit- nur gemeinsam stark gliedsstaaten der Europäischen Union Diese neue Orientierung nach außen ist aber noch immer etwa ein Sechstel der auch dringend geboten. Schließlich hat Weltwirtschaftsleistung aus und sind die Europäische Union in den vergange- damit ein größerer Wirtschaftsraum als nen Jahren von der Ost-Erweiterung jeder Drittstaat für sich genommen. über den Umgang mit der Finanz- und Wenn die Mitgliedsstaaten der Europäi- Staatsschuldenkrise, dem Umgang mit schen Union also gemeinsam ihr Ge- der Flüchtlingskrise, dem Brexit und wicht in die Waagschale werfen, ist die nun den Auswirkungen der Corona-Pan- EU auch auf internationaler Bühne ein demie vor allem Nabelschau betrieben. gewichtiger Spieler. Wie niemals zuvor Die Handelspolitik nahm vor dem Hin- gilt für die EU also, dass die Mitglieds- tergrund dieser Gemengelage eine eher staaten nur gemeinsam stark sind. untergeordnete Rolle ein. Die Ausnahme war natürlich der Brexit und die darauf- folgenden Verhandlungen über das künftige Verhältnis mit dem Vereinigten Königreich. Hier standen die Handelsbe- Nur in GEMEINSAMKEIT kann die EU ziehungen zwar im Fokus, es ging aber international wirksam auftreten. vor allem darum, wie man die Rück- schritte gegenüber bereits bestehenden Handelsbeziehungen mit einem ehema- ligen EU-Mitgliedsstaat möglichst be- grenzen kann. Wenn für ein solches Pro- jekt über Jahre hinweg beachtliche per- Handel gestalten: Europas sonelle und politische Ressourcen aufge- gemischte Bilanz wendet werden, bleibt nicht aus, dass Diese Stärke, die zumindest in der Theo- das aktive Gestalten der Welthandels- rie besteht, muss die Europäische Union ordnung in den Hintergrund tritt. nutzen, um die Welthandelsagenda in Zweifelsohne muss der handelspoli- ihrem Sinne zu beeinflussen. Angesichts tische Anspruch der Europäischen Uni- der Tatsache, dass die Welthandelsorga- on darüber hinausgehen, Schäden an nisation, die die eigentliche treibende bestehenden Handelsbeziehungen zu Kraft hinter einem regelbasierten multi- minimieren. Das gilt umso mehr als die lateralen Handelssystem sein sollte, seit handelspolitische Zusammenarbeit Jahren hinter den Erwartungen zurück- über die Europäische Union für ihre bleibt, wäre es an der EU, zur Lokomoti- Mitgliedsstaaten schlichtweg zu einer ve des Welthandels zu werden. Das gilt Notwendigkeit geworden ist. Der relati- umso mehr, als die Handelspolitik ein ve Anteil am Welthandel, den selbst ein potentes Mittel darstellen kann, um auch führendes Exportland wie Deutschland unsere Ziele in anderen Politikbereichen für sich reklamieren kann, hat über die in die Welt zu exportieren. Zeit abgenommen und wird es aller Vo- Leider hat die Europäische Union in raussicht nach auch weiterhin tun. Dies Handelsfragen in den vergangenen Jah- gilt für kleinere Volkswirtschaften in ren allenfalls eine gemischte Bilanz vor- der Europäischen Union umso mehr. zuweisen. Während mit Japan, Singapur 30 POLITISCHE STUDIEN // 496/2021
und Vietnam einige Erfolge im asiati- schen Raum zu Buche stehen, haben sich die Verhandlungen mit unseren Das ZUSTANDEKOMMEN des Mercosur- transatlantischen Partnern in vielen Fäl- Abkommens steht weiterhin in Frage. len als ausgesprochen schwierig heraus- gestellt. Das avisierte transatlantische Freihandelsabkommen mit den Verei- nigten Staaten (TTIP), das die transat- lantischen Handelsbeziehungen auf eine neue Ebene gehoben und auch Die Verhandlungen mit den südame- Standards für andere Freihandelsab- rikanischen Mercosur-Staaten (Argenti- kommen gesetzt hätte, ist am Ende nien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) nicht zustande gekommen. Die Ver- wurden zwar im Jahr 2019 erfolgreich handlungen wurden über Jahre in der abgeschlossen, abermals hakt es jedoch europäischen Öffentlichkeit zum Teil bei der Ratifizierung. So haben bereits sehr kritisch begleitet. Dabei wurden mehrere EU-Mitgliedsstaaten klarge- vor allem von Nichtregierungsorganisa- macht, dass sie das Abkommen in seiner tionen immer wieder vermeintlich in- jetzigen Form nicht für annahmefähig transparente Verfahrensabläufe, eine halten. Abermals stehen Zweifel an Um- angebliche Aushöhlung von Verbrau- welt- und Sozialstandards, nicht zuletzt cherschutzstandards sowie vermeintlich vor dem Hintergrund der fragwürdigen undemokratische Schiedsgerichtsver- umweltpolitischen Bilanz der brasiliani- fahren zur Streitbeilegung und zum In- schen Regierung unter Jair Bolsonaro, vestitionsschutz kritisiert. Nach der aber auch die Bedenken europäischer Amtsübernahme von Donald Trump als Landwirte im Zentrum der Kritik am Präsident der Vereinigten Staaten wur- Mercosur-Abkommen. Trotz der viel- den die Verhandlungen nicht weiterge- stimmigen Kritik von europäischen Ak- führt, während sich die amerikanisch- teuren hat sich jedoch noch keine klare europäischen Handelsbeziehungen gra- europäische Position herauskristallisiert, duell immer weiter verschlechtert ha- was auch die Chance auf Nachverhand- ben, was sich in immer neuen Runden lungen gering erscheinen lässt. Diese wür- von Strafzöllen manifestiert hat. den auch von dem Umstand erschwert, Die Verhandlungen zum Abkom- dass insbesondere die brasilianische Re- men mit Kanada (CETA), das deutlich gierung in umwelt- und klimaschutzpoli- überschaubarere wirtschaftliche Vorteile tischen Fragen auf ihre Souveränität mit sich bringt als TTIP, wurden lange pocht und wenig kompromissbereit Zeit von ähnlich kritischen Diskursen scheint. Vor diesem Hintergrund sieht es begleitet wie TTIP. Im Unterschied zum also derzeit so aus, als ob auch das Merco- Abkommen mit den USA hat sich die sur-Abkommen zumindest auf absehbare kanadische Regierung jedoch klar zum Zeit nicht zustande kommen wird. Abkommen bekannt. Auf europäischer Die durchwachsene Bilanz der EU in Seite wurde zumindest der Teil, der un- den letzten Jahren hat nicht nur dazu ge- ter alleinige europäische Zuständigkeit führt, dass Zölle in Milliardenhöhe so- fällt, ratifiziert, wodurch CETA zumin- wie weitere schwerer zu quantifizieren- dest teilweise in Kraft treten konnte. de, nicht-tarifäre Handelshemmnisse 496/2021 // POLITISCHE STUDIEN 31
IM FOKUS nicht abgebaut wurden, was in letzter gezogen, das in leicht veränderter Form Konsequenz einen beachtlichen Wohl- am Ende zwar trotzdem zustande kam, standsverlust für alle Beteiligten dar- aber eben ohne den größten Unterzeich- stellt, sondern auch dazu, dass die EU nerstaat. Dadurch ist ein handelspoliti- die Welthandelsordnung eben nicht in sches Vakuum in der Region entstanden, dem Maße mitbestimmen konnte, wie dass die aufstrebende Supermacht Chi- wir es uns gewünscht hätten. Die Euro- na geschickt zu nutzen wusste. Mit der päische Union ist nach wie vor ein gro- Regional Comprehensive Economic ßer und attraktiver Markt. Für Zugang Partnership (RCEP) ist unter chinesi- zu diesem Markt sind viele Handelspart- scher Führung die größte Freihandelszo- ner bereit, einen gewissen Preis zu zah- ne der Welt entstanden, die immerhin len. Genau deshalb kann Handelspolitik ein knappes Drittel der Weltbevölkerung ein wirksames Instrument dafür sein, und einen ähnlichen, großen Teil des europäische Werte und Politikziele auf Weltsozialproduktes umfasst. internationaler Ebene durchzusetzen. Die direkten und unmittelbaren öko- Mindeststandards beim Umwelt- nomischen Auswirkungen des RCEPs schutz, bei den Menschenrechten, bei auf die EU dürften zwar zunächst über- Arbeits- und Sozialstandards und beim schaubar bleiben, auch weil die Ratifizie- Verbraucherschutz werden sich am rung und Implementierung des neuen Ende aber nur dann durchsetzen lassen, Abkommens einige Zeit in Anspruch wenn wir sie in internationalen Abkom- nehmen wird, die geopolitischen Impli- men verankern können. Hier gilt es also, kationen von RCEP sind jedoch beacht- auch stets abzuwägen, wie hoch wir un- lich. China positioniert sich mit diesem sere Anforderungen an Drittstaaten for- Abkommen als ernstzunehmender han- mulieren wollen. Ist es am Ende besser, delspolitischer Akteur auf der Weltbüh- ein Abkommen nicht abzuschließen, ne und damit auch als ein Konkurrent weil die Standards im Bereich Umwelt- zur Europäischen Union in handelspoli- schutz nicht ganz den europäischen ent- tischen Fragen. Zwar ist Handelspolitik sprechen − auch wenn wir damit riskie- bekanntlich kein Nullsummenspiel, es ren, dass es statt schrittweisem Fort- ist aber nichtsdestoweniger davon aus- schritt in den betroffenen Drittstaaten zugehen, dass Drittstaaten, die eine han- gar keinen Fortschritt gibt? Hier läuft delspolitische Öffnung anstreben, sehr der öffentliche Diskurs in Europa leider wohl registrieren, dass sie nervenzehren- oft zu undifferenziert ab, da nur in abso- de Verhandlungen über Umwelt- und luten Gewissheiten gedacht wird. Sozialstandards bei Verhandlungen mit China vermeiden können, während die- Konkurrenz in Asien se zunehmend weiter oben auf der Liste Das wird umso mehr dann zum Pro der europäischen Verhandlungsthemen blem, wenn andere Akteure auf der stehen. China setzt mit diesem Ansatz Weltbühne nicht dieselben Standards nicht nur seine handelspolitischen Präfe- anlegen wie wir Europäer oder unsere renzen um, sondern stärkt auch seinen Verbündeten. In Asien haben wir genau geostrategischen Ansatz in der Region. dies gerade gesehen. Zunächst haben die Aus europäischer Sicht ergibt sich USA sich aus dem Transpazifischen mittelfristig auch die Notwendigkeit, Partnerschaftsabkommen (TPP) zurück- die eigene Handelsagenda in Asien wei- 32 POLITISCHE STUDIEN // 496/2021
eine breitere politische Debatte sein. Da- bei muss die Frage im Fokus stehen, was China positioniert sich zunehmend die neue Strategie leisten soll. als handelspolitischer KONKURRENT Zunächst sollte diese Strategie die Europas auf der Weltbühne. übergreifenden Ziele der europäischen Handelspolitik verbindlich klären. Die innereuropäischen Konflikte rund um TTIP, CETA und das Mercosur-Abkom- men haben leider sehr deutlich gemacht, dass es bei den an der europäischen ter voranzutreiben und an die bisheri- Handelspolitik beteiligten politischen gen Abkommen mit Japan, Südkorea, Akteuren (Kommission, Europäisches Singapur und Vietnam anzuknüpfen, Parlament, Mitgliedsstaaten und natio- um sicherzustellen, dass europäische nale Parlamente) offenbar unterschiedli- Unternehmen im gesamten Pazifik- che Vorstellungen hinsichtlich der durch Raum zu ähnlichen Konditionen Han- die europäische Handelspolitik zu errei- del treiben können wie solche aus chenden Ziele und deren Rangfolge gibt. RCEP-Mitgliedern. Andernfalls drohen Dies erschwert die Durchführung einer Verdrängungseffekte hinsichtlich der effektiven Außenhandelspolitik, da die Handelsströme im asiatisch-pazifischen Europäische Kommission ihren Ver- Raum, die sich für europäische Unter- handlungspartnern nicht glaubhaft ver- nehmen nachteilig auswirken könnten. sichern kann, dass etwaige Zugeständ- nisse in den Verhandlungen auch tat- Überprüfung der EU-Handelspolitik sächlich dazu führen, dass ein Abkom- Vor dem Hintergrund der beschriebe- men in der EU ratifiziert wird. Wenn je- nen Verschiebungen im Welthandels- doch in internationalen Verhandlungen system muss die Europäische Union die die Autorität der Europäischen Kommis- Angemessenheit ihres handelspoliti- sion als Verhandlungsführerin in Frage schen Ansatzes und ihrer handelspoliti- steht, unterminiert dies einen der we- schen Instrumente grundsätzlich über- sentlichen Vorzüge einer gemeinsamen prüfen. Die Europäische Kommission europäischen Handelspolitik, nämlich hat zu diesem Zweck im Juni 2020 eine das Sprechen mit einer Stimme. öffentliche Konsultation initiiert, deren Die oberste Priorität der neuen euro- Ergebnisse in einer neuen Handelsstra- päischen Handelsstrategie sollte in der tegie münden sollen. Wiederbelebung der Welthandelsorga- Mitte Februar 2021 hat die Europäi- nisation bestehen, denn eine Freihan- sche Kommission im Rahmen einer Mit- delsagenda, die von einer breiten Zahl teilung zu einer offenen, nachhaltigen von Ländern gestützt wird, bringt po- und durchsetzungsfähigen EU-Han- tenziell die größten Handelserleichte- delspolitik erste Ergebnisse dieser Über- rungen und damit die größten Wohl- prüfung veröffentlicht und dabei das standsgewinne mit sich. Bilaterale, also Konzept der „offenen strategischen Au- Abkommen mit einem Handelspartner, tonomie“ in den Mittelpunkt gerückt. oder plurilaterale Abkommen, also Ab- Die Mitteilung der Kommission kann kommen mit einigen wenigen Akteuren, aber nur der erste Ausgangspunkt für sind gegenüber echten multilateralen 496/2021 // POLITISCHE STUDIEN 33
IM FOKUS Verträgen, die eine große Zahl an Teil- nehmerstaaten einschließen, grundsätz- lich nur die zweitbeste Lösung. Die WTO braucht eine weitreichende Leider befindet sich ausgerechnet REFORM. diejenige Organisation, die sich im Zen- trum der multilateralen Handelsord- nung befindet, nämlich die Welthan- delsorganisation, seit geraumer Zeit im Dornröschenschlaf. In den vergangenen Jahren bot die WTO weder ein Forum, Partnern und vor allen mit den USA ab- um die weitere Liberalisierung des Welt- gestimmter Vorschlag für eine Moderni- handels voranzutreiben noch um die sierung der WTO sein. Neben den insti- Einhaltung und Durchsetzung bereits tutionellen und organisatorischen Fra- bestehender WTO-Abkommen zu errei- gen muss dabei auch ein Anlauf für eine chen und Konflikte zwischen Vertrags- Modernisierung der bisherigen WTO- parteien zu schlichten. Zumindest das Abkommen genommen werden. Viele letztgenannte Problem sollte sich bereits der derzeit gültigen Abkommen sollten dadurch wesentlich lindern lassen, dass mittelfristig um Aspekte wie die Digita- die USA ihre bisherige Blockade der lisierung des Handels und Nachhaltig- Nach- bzw. Neubesetzung von Mitglie- keitsaspekte ergänzt werden. Wenn die- dern im WTO-Berufungsgremium auf- se Faktoren nicht adressiert werden, geben. Jedoch würde auch eine Neube- drohen die WTO-Regeln im 20. Jahr- setzung der Mitglieder des Berufungs- hundert stecken zu bleiben und für den gremiums die grundsätzliche Kritik, die Welthandel der Zukunft stetig weniger viele WTO-Mitgliedsstaaten am derzei- relevant zu werden. tigen Berufungssystem hegen, nicht auf- lösen, weshalb hier zumindest mittel- Ein erneuertes Bündnis mit den USA fristig über strukturelle Lösungen nach- Europa und die Vereinigten Staaten wa- gedacht werden muss. ren in den vergangenen Jahrzehnten gro- In den ersten Wochen der neuen US- ße Profiteure eines regelbasierten Welt- Administration hat sich zumindest be- handelssystems. Aus diesem Grund und reits der Streit um die politische Füh- aufgrund der zentralen Rolle der USA in rung der WTO lösen lassen. Ab 1. März wesentlichen Entscheidungsstrukturen 2021 führt die Nigerianerin Ngozi sind die USA der natürliche Partner Eu- Okonjo-Iweala die Welthandelsorgani- ropas, wenn es um die Stärkung des sation. Ihr stehen jedoch schwierige Welthandelssystems geht. Während eine Aufgaben hinsichtlich der Reform der erfolgreiche WTO-Reform die Grundli- WTO bevor. nie für den künftigen Welthandel mar- Diese beiden Aspekte zeigen bereits, kieren kann, ist klar, dass auch die ambi- dass eine weitreichende Reform der tionierteste Reform letztendlich ein Welthandelsorganisation nicht gegen, Kompromiss auf Basis des kleinsten ge- sondern nur gemeinsam mit den USA meinsamen Nenners darstellen wird. gelingen kann. Ein Baustein der neuen Dies ist angesichts der unterschiedlichen europäischen Handelsstrategie muss und teilweise widerstrebenden Interes- deshalb ein mit den internationalen senslagen der WTO-Mitglieder ein er- 34 POLITISCHE STUDIEN // 496/2021
wartbares Ergebnis. Deswegen lohnt es tere Themen und Aspekte erweitert wer- sich, mit denjenigen Staaten, mit denen den und würde für den Moment ein es eine größere Schnittmenge gibt, auch neues Grundverständnis zwischen zwei über WTO-Vereinbarungen hinauszuge- der größten Wirtschaftsblöcke der Welt hen und weiter- und tiefergehende Ab- zementieren. kommen auszuhandeln, solange diese mit dem Rahmenwerk der WTO im Ein- Ausblick: Europa muss klang stehen. voranschreiten Die Vereinigten Staaten bleiben da- Die Bestandsaufnahme zu Multilatera- für ein natürlicher Partner. Während der lismus und Welthandelssystem mag im erste Anlauf für ein umfassendes Frei- Moment ernüchternd ausfallen. Europa handelsabkommen mit den USA wie zu- stand sich in den vergangenen Jahren oft vor skizziert nicht gelungen ist, sollte das selbst im Weg, Verbündete wie die USA die Europäische Union nicht davon ab- haben enttäuscht und geostrategische halten einen neuen Versuch zu wagen. Konkurrenten haben das Heft des Han- Schließlich zeigt sich die neue US-Admi- delns übernommen. Dieses düstere Bild nistration unter Joe Biden deutlich welt- muss aber keinesfalls bedeuten, dass offener und kooperationsbereiter als ihre sich diese Trends auch in Zukunft naht- Vorgängerregierung. Entsprechend wäre los fortsetzen und die Europäische Uni- es eine vertane Chance, lediglich die Es- on zukünftig zum Zuschauer degradiert kalationsspirale rund um immer neue wird. Wenn wir die multilaterale Welt- Strafzölle zu beenden. Zweifelsohne handelsordnung aber auf Dauer mitge- müssten für ein neues transatlantisches stalten wollen, muss die EU eine proak- Freihandelsabkommen die richtigen tivere Rolle in der internationalen Han- Konsequenzen aus dem Scheitern von delspolitik einnehmen. Dabei muss die TTIP gezogen werden. EU zunächst ihre handelspolitischen Es würde sich in jedem Fall lohnen, Ziele genau definieren, eine neue Part- zumindest diejenigen Aspekte, die sich nerschaft mit den USA anstreben und bei TTIP als konsensfähig herausgestellt die Reform der Welthandelsorganisati- haben, noch einmal aufzugreifen. Kon on vorantreiben. /// troverse Bereiche wie der Investitions- schutz und die damit verbundenen Schiedsgerichte sollten ausgeklammert werden und der Fokus stattdessen auf weniger kontroverse Punkte wie die An- gleichung von technischen Standards und die gegenseitige Anerkennung von Zulassungsverfahren gelegt werden. Selbst wenn das Ambitionsniveau damit hinter dem von TTIP zurückbleiben würde, wäre zumindest ein Grundstein /// M ARKUS FERBER, MDEP für eine vertiefte Handelsbeziehung mit ist wirtschaftspolitischer Sprecher der EVP- dem strategisch wichtigsten Partner ge- Fraktion im Europäischen Parlament, Brüssel legt. Ein solches Abkommen könnte und Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung, dann in der Zukunft sukzessive um wei- München. 496/2021 // POLITISCHE STUDIEN 35
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