CHANCEN, RISIKEN UND HERAUS-FORDERUNGEN FÜR EUROPAS ROLLE IN DER WELT

 
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CHANCEN, RISIKEN UND HERAUS-FORDERUNGEN FÜR EUROPAS ROLLE IN DER WELT
IM FOKUS

/// Multilateralismus und das Welthandelssystem

CHANCEN, RISIKEN UND HERAUS-
FORDERUNGEN FÜR EUROPAS ROLLE
IN DER WELT
MARKUS FERBER /// Der Multilateralismus befindet sich in einer Krise. Die Euro­
päische Union tut sich in der Außenhandelspolitik zunehmend schwer, die Welt­
handelsorganisation ist weitgehend handlungsunfähig und China stößt in das
politische Vakuum. Um weiterhin relevant zu bleiben, muss sich die Europäische
Union handelspolitisch neu aufstellen.

          Zu Beginn der zweiten Dekade des 21.       Liberalisierung des Welthandels haben
          Jahrhunderts befindet sich der Multila-    sich in den vergangenen Jahren nicht
          teralismus in einer Krise. Während es      ohne Weiteres fortgesetzt.
          nach dem Fall des Eisernen Vorhangs            Im Gegenteil: Die Dynamik des
          gemeinhin die Erwartungshaltung gab,       Welthandels hat sich dramatisch abge-
          dass sich die einstigen Widersacher in     schwächt, Institutionen wie die Welt-
          Ost und West gemeinsam mit den Staa-       handelsorganisation treten auf der Stel-
          ten des globalen Südens auf ein neues      le, die Europäische Union hat erstmals
          harmonisches Miteinander einlassen         einen Mitgliedsstaat verloren und die
          würden und fortan auf Basis einer de-
          mokratischen, rechtsstaatlichen und
          marktwirtschaftlichen Grundüberzeu-
          gung kooperieren würden, sieht die Re-
          alität dreißig Jahre später leider voll-     Der Multilateralismus ist in der KRISE.
          kommen anders aus. Erfreuliche Ent-
          wicklungen in den 1990er-Jahren hin zu
          Marktöffnungen und einer allgemeinen
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Quelle: iStockcom/Axel Bueckert
Ein zweiter Anlauf für ein transatlantisches Freihandelsabkommen mit der Biden-Administration
nach dem Scheitern von TTIP wäre ratsam.

USA haben sich eine vierjährige Auszeit           doch Hoffnungsschimmer. Die neue
von ihrer Rolle als globale Führungs-             US-Administration unter Joe Biden
macht und Botschafter des Freihandels             wird aller Voraussicht nach wieder eine
gegönnt. Gleichzeitig hat die Corona-             konstruktivere Rolle in der Welt einneh-
Krise, die sowohl internationalen Wert-           men. Nach vier Jahren „America First“
schöpfungsketten als auch der internati-          dürften die USA wieder eine aktivere
onalen Diplomatie einen schweren                  Außenpolitik verfolgen, eine Handels-
Schlag versetzt hat, die Problemlage              politik betreiben, die über das Verhän-
noch einmal zugespitzt. Da die Anfällig-          gen von Strafzöllen hinausgeht, und sich
keit international verwobener Wert-               internationalen Institutionen und Ver-
schöpfungsketten im Frühjahr 2020                 einbarungen wieder zuwenden. Von
sehr deutlich wurde, dreht sich in vielen         dieser Rückbesinnung auf einstige Stär-
Ländern die handelspolitische Diskussi-           ken ist bestenfalls auch ein Impuls zur
on eher um die Frage, an welchen He-              Reform der Welthandelsorganisation zu
beln man ziehen muss, um die Unab-                erwarten. Auch die Europäische Kom-
hängigkeit von seinen internationalen             mission unter Ursula von der Leyen hat
Handelspartnern zu erhöhen. Der Grat              gelobt, sich nicht nur mit sich selbst zu
zum Protektionismus ist schmal.                   beschäftigen, sondern als „geopolitische
    Wenngleich die derzeitige Bestands-           Kommission“ Europas Rolle in der Welt
aufnahme ernüchternd ausfällt, gibt es            aktiv zu definieren.
                                                                        496/2021 // POLITISCHE STUDIEN   29
IM FOKUS

              Europas Rolle in der Welt:             Zusammengenommen machen die Mit-
              nur gemeinsam stark                    gliedsstaaten der Europäischen Union
          Diese neue Orientierung nach außen ist     aber noch immer etwa ein Sechstel der
          auch dringend geboten. Schließlich hat     Weltwirtschaftsleistung aus und sind
          die Europäische Union in den vergange-     damit ein größerer Wirtschaftsraum als
          nen Jahren von der Ost-Erweiterung         jeder Drittstaat für sich genommen.
          über den Umgang mit der Finanz- und        Wenn die Mitgliedsstaaten der Europäi-
          Staatsschuldenkrise, dem Umgang mit        schen Union also gemeinsam ihr Ge-
          der Flüchtlingskrise, dem Brexit und       wicht in die Waagschale werfen, ist die
          nun den Auswirkungen der Corona-Pan-       EU auch auf internationaler Bühne ein
          demie vor allem Nabelschau betrieben.      gewichtiger Spieler. Wie niemals zuvor
          Die Handelspolitik nahm vor dem Hin-       gilt für die EU also, dass die Mitglieds-
          tergrund dieser Gemengelage eine eher      staaten nur gemeinsam stark sind.
          untergeordnete Rolle ein. Die Ausnahme
          war natürlich der Brexit und die darauf-
          folgenden Verhandlungen über das
          künftige Verhältnis mit dem Vereinigten
          Königreich. Hier standen die Handelsbe-      Nur in GEMEINSAMKEIT kann die EU
          ziehungen zwar im Fokus, es ging aber        international wirksam auftreten.
          vor allem darum, wie man die Rück-
          schritte gegenüber bereits bestehenden
          Handelsbeziehungen mit einem ehema-
          ligen EU-Mitgliedsstaat möglichst be-
          grenzen kann. Wenn für ein solches Pro-
          jekt über Jahre hinweg beachtliche per-        Handel gestalten: Europas
          sonelle und politische Ressourcen aufge-       gemischte Bilanz
          wendet werden, bleibt nicht aus, dass      Diese Stärke, die zumindest in der Theo-
          das aktive Gestalten der Welthandels-      rie besteht, muss die Europäische Union
          ordnung in den Hintergrund tritt.          nutzen, um die Welthandelsagenda in
              Zweifelsohne muss der handelspoli-     ihrem Sinne zu beeinflussen. Angesichts
          tische Anspruch der Europäischen Uni-      der Tatsache, dass die Welthandelsorga-
          on darüber hinausgehen, Schäden an         nisation, die die eigentliche treibende
          bestehenden Handelsbeziehungen zu          Kraft hinter einem regelbasierten multi-
          minimieren. Das gilt umso mehr als die     lateralen Handelssystem sein sollte, seit
          handelspolitische       Zusammenarbeit     Jahren hinter den Erwartungen zurück-
          über die Europäische Union für ihre        bleibt, wäre es an der EU, zur Lokomoti-
          Mitgliedsstaaten schlichtweg zu einer      ve des Welthandels zu werden. Das gilt
          Notwendigkeit geworden ist. Der relati-    umso mehr, als die Handelspolitik ein
          ve Anteil am Welthandel, den selbst ein    potentes Mittel darstellen kann, um auch
          führendes Exportland wie Deutschland       unsere Ziele in anderen Politikbereichen
          für sich reklamieren kann, hat über die    in die Welt zu exportieren.
          Zeit abgenommen und wird es aller Vo-          Leider hat die Europäische Union in
          raussicht nach auch weiterhin tun. Dies    Handelsfragen in den vergangenen Jah-
          gilt für kleinere Volkswirtschaften in     ren allenfalls eine gemischte Bilanz vor-
          der Europäischen Union umso mehr.          zuweisen. Während mit Japan, Singapur
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und Vietnam einige Erfolge im asiati-
schen Raum zu Buche stehen, haben
sich die Verhandlungen mit unseren            Das ZUSTANDEKOMMEN des Mercosur-
transatlantischen Partnern in vielen Fäl-     Abkommens steht weiterhin in Frage.
len als ausgesprochen schwierig heraus-
gestellt. Das avisierte transatlantische
Freihandelsabkommen mit den Verei-
nigten Staaten (TTIP), das die transat-
lantischen Handelsbeziehungen auf
eine neue Ebene gehoben und auch                Die Verhandlungen mit den südame-
Standards für andere Freihandelsab-         rikanischen Mercosur-Staaten (Argenti-
kommen gesetzt hätte, ist am Ende           nien, Brasilien, Paraguay und Uruguay)
nicht zustande gekommen. Die Ver-           wurden zwar im Jahr 2019 erfolgreich
handlungen wurden über Jahre in der         abgeschlossen, abermals hakt es jedoch
europäischen Öffentlichkeit zum Teil        bei der Ratifizierung. So haben bereits
sehr kritisch begleitet. Dabei wurden       mehrere EU-Mitgliedsstaaten klarge-
vor allem von Nichtregierungsorganisa-      macht, dass sie das Abkommen in seiner
tionen immer wieder vermeintlich in-        jetzigen Form nicht für annahmefähig
transparente Verfahrensabläufe, eine        halten. Abermals stehen Zweifel an Um-
angebliche Aushöhlung von Verbrau-          welt- und Sozialstandards, nicht zuletzt
cherschutzstandards sowie vermeintlich      vor dem Hintergrund der fragwürdigen
undemokratische Schiedsgerichtsver-         umweltpolitischen Bilanz der brasiliani-
fahren zur Streitbeilegung und zum In-      schen Regierung unter Jair Bolsonaro,
vestitionsschutz kritisiert. Nach der       aber auch die Bedenken europäischer
Amtsübernahme von Donald Trump als          Landwirte im Zentrum der Kritik am
Präsident der Vereinigten Staaten wur-      Mercosur-Abkommen. Trotz der viel-
den die Verhandlungen nicht weiterge-       stimmigen Kritik von europäischen Ak-
führt, während sich die amerikanisch-       teuren hat sich jedoch noch keine klare
europäischen Handelsbeziehungen gra-        europäische Position herauskristallisiert,
duell immer weiter verschlechtert ha-       was auch die Chance auf Nachverhand-
ben, was sich in immer neuen Runden         lungen gering erscheinen lässt. Diese wür-
von Strafzöllen manifestiert hat.           den auch von dem Umstand erschwert,
    Die Verhandlungen zum Abkom-            dass insbesondere die brasilianische Re-
men mit Kanada (CETA), das deutlich         gierung in umwelt- und klimaschutzpoli-
überschaubarere wirtschaftliche Vorteile    tischen Fragen auf ihre Souveränität
mit sich bringt als TTIP, wurden lange      pocht und wenig kompromissbereit
Zeit von ähnlich kritischen Diskursen       scheint. Vor diesem Hintergrund sieht es
begleitet wie TTIP. Im Unterschied zum      also derzeit so aus, als ob auch das Merco-
Abkommen mit den USA hat sich die           sur-Abkommen zumindest auf absehbare
kanadische Regierung jedoch klar zum        Zeit nicht zustande kommen wird.
Abkommen bekannt. Auf europäischer              Die durchwachsene Bilanz der EU in
Seite wurde zumindest der Teil, der un-     den letzten Jahren hat nicht nur dazu ge-
ter alleinige europäische Zuständigkeit     führt, dass Zölle in Milliardenhöhe so-
fällt, ratifiziert, wodurch CETA zumin-     wie weitere schwerer zu quantifizieren-
dest teilweise in Kraft treten konnte.      de, nicht-tarifäre Handelshemmnisse
                                                                496/2021 // POLITISCHE STUDIEN   31
IM FOKUS

          nicht abgebaut wurden, was in letzter        gezogen, das in leicht veränderter Form
          Konsequenz einen beachtlichen Wohl-          am Ende zwar trotzdem zustande kam,
          standsverlust für alle Beteiligten dar-      aber eben ohne den größten Unterzeich-
          stellt, sondern auch dazu, dass die EU       nerstaat. Dadurch ist ein handelspoliti-
          die Welthandelsordnung eben nicht in         sches Vakuum in der Region entstanden,
          dem Maße mitbestimmen konnte, wie            dass die aufstrebende Supermacht Chi-
          wir es uns gewünscht hätten. Die Euro-       na geschickt zu nutzen wusste. Mit der
          päische Union ist nach wie vor ein gro-      Regional Comprehensive Economic
          ßer und attraktiver Markt. Für Zugang        Partnership (RCEP) ist unter chinesi-
          zu diesem Markt sind viele Handelspart-      scher Führung die größte Freihandelszo-
          ner bereit, einen gewissen Preis zu zah-     ne der Welt entstanden, die immerhin
          len. Genau deshalb kann Handelspolitik       ein knappes Drittel der Weltbevölkerung
          ein wirksames Instrument dafür sein,         und einen ähnlichen, großen Teil des
          europäische Werte und Politikziele auf       Weltsozialproduktes umfasst.
          internationaler Ebene durchzusetzen.             Die direkten und unmittelbaren öko-
              Mindeststandards beim Umwelt-            nomischen Auswirkungen des RCEPs
          schutz, bei den Menschenrechten, bei         auf die EU dürften zwar zunächst über-
          Arbeits- und Sozialstandards und beim        schaubar bleiben, auch weil die Ratifizie-
          Verbraucherschutz werden sich am             rung und Implementierung des neuen
          Ende aber nur dann durchsetzen lassen,       Abkommens einige Zeit in Anspruch
          wenn wir sie in internationalen Abkom-       nehmen wird, die geopolitischen Impli-
          men verankern können. Hier gilt es also,     kationen von RCEP sind jedoch beacht-
          auch stets abzuwägen, wie hoch wir un-       lich. China positioniert sich mit diesem
          sere Anforderungen an Drittstaaten for-      Abkommen als ernstzunehmender han-
          mulieren wollen. Ist es am Ende besser,      delspolitischer Akteur auf der Weltbüh-
          ein Abkommen nicht abzuschließen,            ne und damit auch als ein Konkurrent
          weil die Standards im Bereich Umwelt-        zur Europäischen Union in handelspoli-
          schutz nicht ganz den europäischen ent-      tischen Fragen. Zwar ist Handelspolitik
          sprechen − auch wenn wir damit riskie-       bekanntlich kein Nullsummenspiel, es
          ren, dass es statt schrittweisem Fort-       ist aber nichtsdestoweniger davon aus-
          schritt in den betroffenen Drittstaaten      zugehen, dass Drittstaaten, die eine han-
          gar keinen Fortschritt gibt? Hier läuft      delspolitische Öffnung anstreben, sehr
          der öffentliche Diskurs in Europa leider     wohl registrieren, dass sie nervenzehren-
          oft zu undifferenziert ab, da nur in abso-   de Verhandlungen über Umwelt- und
          luten Gewissheiten gedacht wird.             Sozialstandards bei Verhandlungen mit
                                                       China vermeiden können, während die-
             Konkurrenz in Asien                       se zunehmend weiter oben auf der Liste
          Das wird umso mehr dann zum Pro­             der europäischen Verhandlungsthemen
          blem, wenn andere Akteure auf der            stehen. China setzt mit diesem Ansatz
          Weltbühne nicht dieselben Standards          nicht nur seine handelspolitischen Präfe-
          anlegen wie wir Europäer oder unsere         renzen um, sondern stärkt auch seinen
          Verbündeten. In Asien haben wir genau        geostrategischen Ansatz in der Region.
          dies gerade gesehen. Zunächst haben die          Aus europäischer Sicht ergibt sich
          USA sich aus dem Transpazifischen            mittelfristig auch die Notwendigkeit,
          Partnerschaftsabkommen (TPP) zurück-         die eigene Handelsagenda in Asien wei-
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eine breitere politische Debatte sein. Da-
                                              bei muss die Frage im Fokus stehen, was
China positioniert sich zunehmend             die neue Strategie leisten soll.
als handelspolitischer KONKURRENT                 Zunächst sollte diese Strategie die
Europas auf der Weltbühne.                    übergreifenden Ziele der europäischen
                                              Handelspolitik verbindlich klären. Die
                                              innereuropäischen Konflikte rund um
                                              TTIP, CETA und das Mercosur-Abkom-
                                              men haben leider sehr deutlich gemacht,
                                              dass es bei den an der europäischen
  ter voranzutreiben und an die bisheri-      Handelspolitik beteiligten politischen
  gen Abkommen mit Japan, Südkorea,           Akteuren (Kommission, Europäisches
  Singapur und Vietnam anzuknüpfen,           Parlament, Mitgliedsstaaten und natio-
  um sicherzustellen, dass europäische        nale Parlamente) offenbar unterschiedli-
  Unternehmen im gesamten Pazifik-            che Vorstellungen hinsichtlich der durch
  Raum zu ähnlichen Konditionen Han-          die europäische Handelspolitik zu errei-
  del treiben können wie solche aus           chenden Ziele und deren Rangfolge gibt.
  RCEP-Mitgliedern. Andernfalls drohen        Dies erschwert die Durchführung einer
  Verdrängungseffekte hinsichtlich der        effektiven Außenhandelspolitik, da die
  Handelsströme im asiatisch-pazifischen      Europäische Kommission ihren Ver-
  Raum, die sich für europäische Unter-       handlungspartnern nicht glaubhaft ver-
  nehmen nachteilig auswirken könnten.        sichern kann, dass etwaige Zugeständ-
                                              nisse in den Verhandlungen auch tat-
      Überprüfung der EU-Handelspolitik       sächlich dazu führen, dass ein Abkom-
  Vor dem Hintergrund der beschriebe-         men in der EU ratifiziert wird. Wenn je-
  nen Verschiebungen im Welthandels-          doch in internationalen Verhandlungen
  system muss die Europäische Union die       die Autorität der Europäischen Kommis-
  Angemessenheit ihres handelspoliti-         sion als Verhandlungsführerin in Frage
  schen Ansatzes und ihrer handelspoliti-     steht, unterminiert dies einen der we-
  schen Instrumente grundsätzlich über-       sentlichen Vorzüge einer gemeinsamen
  prüfen. Die Europäische Kommission          europäischen Handelspolitik, nämlich
  hat zu diesem Zweck im Juni 2020 eine       das Sprechen mit einer Stimme.
  öffentliche Konsultation initiiert, deren       Die oberste Priorität der neuen euro-
  Ergebnisse in einer neuen Handelsstra-      päischen Handelsstrategie sollte in der
  tegie münden sollen.                        Wiederbelebung der Welthandelsorga-
      Mitte Februar 2021 hat die Europäi-     nisation bestehen, denn eine Freihan-
  sche Kommission im Rahmen einer Mit-        delsagenda, die von einer breiten Zahl
  teilung zu einer offenen, nachhaltigen      von Ländern gestützt wird, bringt po-
  und durchsetzungsfähigen EU-Han-            tenziell die größten Handelserleichte-
  delspolitik erste Ergebnisse dieser Über-   rungen und damit die größten Wohl-
  prüfung veröffentlicht und dabei das        standsgewinne mit sich. Bilaterale, also
  Konzept der „offenen strategischen Au-      Abkommen mit einem Handelspartner,
  tonomie“ in den Mittelpunkt gerückt.        oder plurilaterale Abkommen, also Ab-
  Die Mitteilung der Kommission kann          kommen mit einigen wenigen Akteuren,
  aber nur der erste Ausgangspunkt für        sind gegenüber echten multilateralen
                                                                  496/2021 // POLITISCHE STUDIEN   33
IM FOKUS

          Verträgen, die eine große Zahl an Teil-
          nehmerstaaten einschließen, grundsätz-
          lich nur die zweitbeste Lösung.               Die WTO braucht eine weitreichende
              Leider befindet sich ausgerechnet         REFORM.
          diejenige Organisation, die sich im Zen-
          trum der multilateralen Handelsord-
          nung befindet, nämlich die Welthan-
          delsorganisation, seit geraumer Zeit im
          Dornröschenschlaf. In den vergangenen
          Jahren bot die WTO weder ein Forum,         Partnern und vor allen mit den USA ab-
          um die weitere Liberalisierung des Welt-    gestimmter Vorschlag für eine Moderni-
          handels voranzutreiben noch um die          sierung der WTO sein. Neben den insti-
          Einhaltung und Durchsetzung bereits         tutionellen und organisatorischen Fra-
          bestehender WTO-Abkommen zu errei-          gen muss dabei auch ein Anlauf für eine
          chen und Konflikte zwischen Vertrags-       Modernisierung der bisherigen WTO-
          parteien zu schlichten. Zumindest das       Abkommen genommen werden. Viele
          letztgenannte Problem sollte sich bereits   der derzeit gültigen Abkommen sollten
          dadurch wesentlich lindern lassen, dass     mittelfristig um Aspekte wie die Digita-
          die USA ihre bisherige Blockade der         lisierung des Handels und Nachhaltig-
          Nach- bzw. Neubesetzung von Mitglie-        keitsaspekte ergänzt werden. Wenn die-
          dern im WTO-Berufungsgremium auf-           se Faktoren nicht adressiert werden,
          geben. Jedoch würde auch eine Neube-        drohen die WTO-Regeln im 20. Jahr-
          setzung der Mitglieder des Berufungs-       hundert stecken zu bleiben und für den
          gremiums die grundsätzliche Kritik, die     Welthandel der Zukunft stetig weniger
          viele WTO-Mitgliedsstaaten am derzei-       relevant zu werden.
          tigen Berufungssystem hegen, nicht auf-
          lösen, weshalb hier zumindest mittel-           Ein erneuertes Bündnis mit den USA
          fristig über strukturelle Lösungen nach-    Europa und die Vereinigten Staaten wa-
          gedacht werden muss.                        ren in den vergangenen Jahrzehnten gro-
              In den ersten Wochen der neuen US-      ße Profiteure eines regelbasierten Welt-
          Administration hat sich zumindest be-       handelssystems. Aus diesem Grund und
          reits der Streit um die politische Füh-     aufgrund der zentralen Rolle der USA in
          rung der WTO lösen lassen. Ab 1. März       wesentlichen Entscheidungsstrukturen
          2021 führt die Nigerianerin Ngozi           sind die USA der natürliche Partner Eu-
          Okonjo-Iweala die Welthandelsorgani-        ropas, wenn es um die Stärkung des
          sation. Ihr stehen jedoch schwierige        Welthandelssystems geht. Während eine
          Aufgaben hinsichtlich der Reform der        erfolgreiche WTO-Reform die Grundli-
          WTO bevor.                                  nie für den künftigen Welthandel mar-
              Diese beiden Aspekte zeigen bereits,    kieren kann, ist klar, dass auch die ambi-
          dass eine weitreichende Reform der          tionierteste Reform letztendlich ein
          Welthandelsorganisation nicht gegen,        Kompromiss auf Basis des kleinsten ge-
          sondern nur gemeinsam mit den USA           meinsamen Nenners darstellen wird.
          gelingen kann. Ein Baustein der neuen       Dies ist angesichts der unterschiedlichen
          europäischen Handelsstrategie muss          und teilweise widerstrebenden Interes-
          deshalb ein mit den internationalen         senslagen der WTO-Mitglieder ein er-
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wartbares Ergebnis. Deswegen lohnt es          tere Themen und Aspekte erweitert wer-
sich, mit denjenigen Staaten, mit denen        den und würde für den Moment ein
es eine größere Schnittmenge gibt, auch        neues Grundverständnis zwischen zwei
über WTO-Vereinbarungen hinauszuge-            der größten Wirtschaftsblöcke der Welt
hen und weiter- und tiefergehende Ab-          zementieren.
kommen auszuhandeln, solange diese
mit dem Rahmenwerk der WTO im Ein-                 Ausblick: Europa muss
klang stehen.                                      voranschreiten
    Die Vereinigten Staaten bleiben da-        Die Bestandsaufnahme zu Multilatera-
für ein natürlicher Partner. Während der       lismus und Welthandelssystem mag im
erste Anlauf für ein umfassendes Frei-         Moment ernüchternd ausfallen. Europa
handelsabkommen mit den USA wie zu-            stand sich in den vergangenen Jahren oft
vor skizziert nicht gelungen ist, sollte das   selbst im Weg, Verbündete wie die USA
die Europäische Union nicht davon ab-          haben enttäuscht und geostrategische
halten einen neuen Versuch zu wagen.           Konkurrenten haben das Heft des Han-
Schließlich zeigt sich die neue US-Admi-       delns übernommen. Dieses düstere Bild
nistration unter Joe Biden deutlich welt-      muss aber keinesfalls bedeuten, dass
offener und kooperationsbereiter als ihre      sich diese Trends auch in Zukunft naht-
Vorgängerregierung. Entsprechend wäre          los fortsetzen und die Europäische Uni-
es eine vertane Chance, lediglich die Es-      on zukünftig zum Zuschauer degradiert
kalationsspirale rund um immer neue            wird. Wenn wir die multilaterale Welt-
Strafzölle zu beenden. Zweifelsohne            handelsordnung aber auf Dauer mitge-
müssten für ein neues transatlantisches        stalten wollen, muss die EU eine proak-
Freihandelsabkommen die richtigen              tivere Rolle in der internationalen Han-
Konsequenzen aus dem Scheitern von             delspolitik einnehmen. Dabei muss die
TTIP gezogen werden.                           EU zunächst ihre handelspolitischen
    Es würde sich in jedem Fall lohnen,        Ziele genau definieren, eine neue Part-
zumindest diejenigen Aspekte, die sich         nerschaft mit den USA anstreben und
bei TTIP als konsensfähig herausgestellt       die Reform der Welthandelsorganisati-
haben, noch einmal aufzugreifen. Kon­          on vorantreiben. ///
troverse Bereiche wie der Investitions-
schutz und die damit verbundenen
Schiedsgerichte sollten ausgeklammert
werden und der Fokus stattdessen auf
weniger kontroverse Punkte wie die An-
gleichung von technischen Standards
und die gegenseitige Anerkennung von
Zulassungsverfahren gelegt werden.
Selbst wenn das Ambitionsniveau damit
hinter dem von TTIP zurückbleiben
würde, wäre zumindest ein Grundstein           /// M
                                                    ARKUS FERBER, MDEP
für eine vertiefte Handelsbeziehung mit        ist wirtschaftspolitischer Sprecher der EVP-
dem strategisch wichtigsten Partner ge-        Fraktion im Europäischen Parlament, Brüssel
legt. Ein solches Abkommen könnte              und Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung,
dann in der Zukunft sukzessive um wei-         München.
                                                                    496/2021 // POLITISCHE STUDIEN   35
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