Afghanistan: Der Westen scheitert - China und Russland gewinnen?

 
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Afghanistan: Der Westen scheitert - China und Russland gewinnen?
NR. 59 SEPTEMBER 2021                      Einleitung

Afghanistan: Der Westen scheitert –
China und Russland gewinnen?
Der Blick aus Peking und Moskau
Sabine Fischer / Angela Stanzel

Russland und China gelten als machtpolitische Profiteure des westlichen Abzugs aus
Afghanistan. Sowohl im chinesischen als auch im russischen Diskurs werden aber
neben triumphierenden Kommentaren zum westlichen Scheitern auch ernste Befürch-
tungen im Hinblick auf die regionale Sicherheitslage laut. Westliche Akteure sollten
sich um ein differenzierteres Verständnis der Pekinger und Moskauer Perspektiven
bemühen. Daraus könnten sich auch Möglichkeiten der Kooperation ergeben, die der
Stabilisierung Zentralasiens und Afghanistans dienen. Angesichts des sich verschär-
fenden globalen Systemwettbewerbs wird der Spielraum für Zusammenarbeit jedoch
begrenzt bleiben.

In der westlichen Debatte herrscht die Über-    beschränkt, greift zu kurz. Denn das Schei-
zeugung vor, Moskau und Peking nutzten          tern des Westens bedeutet nicht automa-
nun das Machtvakuum, das die USA und            tisch einen Gewinn für Peking und Moskau.
ihre Verbündeten in Afghanistan hinter-         China und Russland müssen sich schließ-
lassen haben, um ihre eigene Position aus-      lich ebenfalls mit den Gefahren auseinan-
zubauen. Dies trifft in Teilen sicherlich       dersetzen, die von Afghanistan auf regio-
zu: Die USA ziehen sich aus Afghanistan         naler Ebene ausgehen und chinesische
zurück, um ihren globalen Auftritt neu zu       und russische Interessen direkt gefährden
ordnen. Den europäischen Verbündeten            könnten.
bleibt nicht viel anderes übrig, als Washing-
ton zu folgen. Damit ist der Abzug aus
Afghanistan aus chinesischer und russi-         Niedergang des Westens –
scher Sicht ein weiterer Beleg für die fort-    Beginn einer neuen Weltordnung
schreitende Schwächung der westlichen
Allianz. Das allein gibt Moskau und Peking      Aus Moskauer Perspektive ist der westliche
Auftrieb, die schon seit Jahren das Ende        Rückzug aus Afghanistan ein Indiz für den
einer westlich dominierten liberalen Welt-      Niedergang der amerikanischen Hegemo-
ordnung heraufbeschwören. Wer aber              nie. Demnach vertieft der Afghanistan-
beider Perspektive auf die globale Ebene        Rückzug die Krise der amerikanischen Iden-
tität und zeugt insgesamt für die wachsende      pazifik zu konzentrieren. Im offiziellen
                 Instabilität und Anfälligkeit westlicher         chinesischen Narrativ wird häufig darauf
                 Demokratien und ihrer Außenpolitik. Das          verwiesen, dass die USA und die Europäer
                 westliche Scheitern in Afghanistan gilt Mos-     ein Chaos in Afghanistan hinterlassen
                 kau als ein weiterer Meilenstein auf dem         haben und nun von China und Russland
                 Weg zu einer multipolaren Weltordnung,           erwarten, dass sie dessen Kosten und Folgen
                 in der die USA nur mehr die Rolle einer          tragen. Ob China jedoch mit den USA in
                 Großmacht unter anderen spielen und zu-          Afghanistan zusammenarbeiten werde,
                 sehends unter chinesischen Druck geraten.        hänge davon ab, wie die USA anderswo
                     Ein disparater Westen unter geschwäch-       (also: im Indopazifik) gegenüber China
                 ter amerikanischer Führung wird in Zu-           agierten.
                 kunft von Demokratieexport mittels Regime-
                 wechselpolitik in anderen Weltregionen
                 absehen müssen. Der Abzug der Nato-Trup-         Auf regionaler Ebene überwiegen
                 pen wird so zur Chiffre für die neue Un-         die Gefahren
                 zuverlässigkeit Washingtons im Verhältnis
                 zu seinen Partnern und Verbündeten in            Unterhalb der Ebene globaler Weltord-
                 aller Welt – aus russischer Sicht ist dies       nungsfragen treten vielschichtige Risiken
                 eine Botschaft, die in seiner Nachbarschaft      in den Vordergrund, mit denen sich Mos-
                 vor allem die Ukraine betrifft. Russische        kau und Peking in Afghanistan konfrontiert
                 Beobachterinnen und Beobachter registrie-        sehen.
                 ren aufmerksam die Enttäuschung jener               Aus chinesischer Sicht ist die größte
                 europäischen Nato-Partner, die sich von der      Gefahr ein »spill-over«-Effekt, der sowohl
                 Biden-Administration in Washington eine          von dem radikal-islamischen Terrorismus
                 Renaissance des transatlantischen Bündnis-       als auch vom Zufluss von Drogen nach
                 ses erhofft hätten. Die EU erweist sich in       China ausgehen kann. Chinas Kerninteresse
                 den afghanischen Wirren in den Augen             mit Blick auf Afghanistan richtet sich seit
                 Moskaus einmal mehr als unfähig, selb-           langem einzig und allein auf die Sicherheit
                 ständig zu handeln. Die Frage, ob und wie        der eigenen Grenzen. Dies liegt einerseits
                 viele Geflüchtete aus Afghanistan in Europa      an den von Afghanistan ausgehenden
                 aufgenommen werden sollten, stelle ihre          Sicherheitsbedrohungen, andererseits an
                 Mitgliedstaaten vor eine weitere Zerreiß-        der Nähe zur autonomen Region Xinjiang.
                 probe und unterlaufe den europäischen            In Xinjiang vermutet Peking unter der mus-
                 Wertekonsens. Im Hinblick auf Afghanistan        limischen Minderheit der Uiguren poten-
                 (und darüber hinaus) gehört die Bühne nun        tielle islamistische Terroristen und hat daher
                 China, Russland und relevanten regionalen        eine Reihe neuer extremer Sicherheitsmaß-
                 Akteuren wie Pakistan und Iran.                  nahmen getroffen, um die Kontrolle über
                     Auch in Peking wird der westliche Rück-      die Uiguren zu verschärfen; dazu gehören
                 zug aus Afghanistan als weiteres Indiz           etwa die sogenannten »Bildungszentren«,
                 dafür gesehen, dass »der Westen absteigt         bei denen es sich faktisch um Internie-
                 und der Osten aufsteigt«, ein Narrativ,          rungslager handelt. Die chinesische Regie-
                 das im Kontext des globalen Systemwett-          rung sieht in Terrorgruppen – insbesondere
                 bewerbs immer öfter verwendet wird. Auch         der Islamischen Bewegung Ostturkestan
                 China hat den Rückzug der USA aus Afgha-         (ETIM), die die Unabhängigkeit Xinjiangs
                 nistan sogleich zum Anlass genommen,             anstrebt – die größte Bedrohung der natio-
                 anderen Ländern, auch europäischen, zu           nalen Sicherheit.
                 signalisieren, dass sie sich auf die USA nicht      Insofern gilt der Sicherheitslage in Xin-
                 verlassen können. Zugleich betrifft China        jiang ein Hauptaugenmerk der Führung in
                 dieser Rückzug insofern auch direkt, als die     Peking. Als die Nato 2010 ankündigte, die
                 USA angekündigt haben, ihre Ressourcen           ISAF-Mission in Afghanistan zu beenden,
                 fortan auf den Konflikt mit China im Indo-       stellte sich für Peking bereits die Frage, ob

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und wie bei einem schrittweisen Abzug der       Regierung am ehesten in der Lage sein
internationalen Truppen die Sicherheit in       könnte, die Sicherheit der chinesischen
Afghanistan auch langfristig gewährleistet      Grenzen zu stabilisieren und ISIS-K in
werden könne. Greifbarer wurde die Bedro-       Schach zu halten. Mit dem Empfang der
hung für China, nachdem sich ein Ableger        Taliban in Tianjin hat China signalisiert,
(ISIS-K, wobei das »K« für die historische      dass es durchaus gewillt ist, eine Taliban-
Region Khorsan steht) des »Islamischen          Regierung in Kabul anzuerkennen. Im
Staates« (IS) 2015 in Afghanistan etabliert     Gegenzug, so ist zu vermuten, dürfte
hatte. Peking befürchtet, dass ISIS-K auch in   Peking Zusicherungen bekommen haben,
der afghanischen Provinz Badakhshan Fuß         dass die Taliban nach Kräften verhindern
gefasst hat, die an China grenzt, und dass      werden, dass radikal-islamistische Terror-
sich eine wachsende Zahl von ETIM-Anhän-        gruppen nach Xinjiang eindringen.
gern der Gruppierung anschließen (eine
Parallele zu den Entwicklungen Ende der         Moskau verfolgt mit seiner Afghanistan-
1990er Jahre unter der damaligen Taliban-       Politik vor allem drei Ziele: Die jetzige In-
Herrschaft, als radikale Islamisten von         stabilität in Afghanistan darf sich erstens
Afghanistan aus die Separatistenbewegung        nicht über dessen Grenzen hinaus nach
in Xinjiang unterstützten).                     Zentralasien ausweiten. Dies betrifft
   Während die nur 76 Kilometer lange           Kampfhandlungen, aber auch Flucht und
Grenze (am östlichen Ende des Wakhan-           Migration. Die Gefahr einer Destabilisie-
Korridors gelegen) zwischen China und           rung der verbündeten zentralasiatischen
Afghanistan leicht kontrolliert werden          Republiken bereitet große Sorge. Moskau
kann (seit 2017 auch durch chinesisches         bietet die gegenwärtige Situation auch eine
Sicherheitspersonal auf afghanischer Seite),    Gelegenheit, seine Position als Sicherheits-
sieht China vor allem auch in Tadschikistan     garant für die zentralasiatische Region zu
Sicherheitsbedrohungen. Aufgrund der nur        festigen. Eine erneute westliche Präsenz in
schwer zugänglichen Gebiete an der Grenze       Zentralasien zur Stabilisierung des Umfelds
sowohl zu Afghanistan wie auch zu China         rund um Afghanistan wird in Moskau als
gilt Tadschikistan als Land, das Terrorgrup-    unerwünscht explizit ausgeschlossen.
pen in besonderem Maße die Gelegenheit             Russland hat in seiner jüngsten Ge-
bietet, nach Xinjiang einzudringen. China       schichte eine Serie islamistisch motivierter
führt daher inzwischen mit Tadschikistan        terroristischer Anschläge erlitten und sieht
gemeinsame Anti-Terrorismus-Übungen             in der Kombination von islamistischen
durch, die jüngste fand vom 18. bis 20. Au-     Gruppierungen im russischen Nordkauka-
gust 2021 statt, und pflegt seit 2016 mit       sus, Rückkehrern aus Kriegsgebieten wie
Afghanistan, Pakistan und Tadschikistan         Syrien und transnationalen terroristischen
eine Zusammenarbeit bei der Terrorismus-        Netzwerken eine äußerst große Bedrohung.
bekämpfung.                                     Deshalb sollen, zweitens, transnationale
   China hat in den vergangenen Jahren in       terroristische Gruppierungen wie ISIS(-K)
bi- und minilateralen Formaten den Dialog       oder al-Qaida daran gehindert werden,
mit den Taliban gesucht (seit 2016 etwa         wieder in Afghanistan Fuß zu fassen und
im Rahmen der Quadrilateralen Koordinie-        von dort aus in Zentralasien oder Russland
rungsgruppe [QCG] zusammen mit Afgha-           Operationen durchzuführen. Die Eindäm-
nistan, Pakistan und den USA). Diese Kon-       mung des Handels mit Drogen, die aus
takte haben die Grundlage für den aktuel-       Afghanistan stammen oder das Land auf
len Austausch zwischen Peking und Tali-         dem Transitweg passieren, ist das dritte Ziel
ban-Vertretern geschaffen; Ende Juli kam        der russischen Politik.
es zu einem offiziellen Besuch der Taliban         Wie Peking sieht auch die russische
und einem Treffen mit dem chinesischen          politische Führung die Hauptansprechpart-
Außenminister Wang Yi in Tianjin. Pekings       ner für die Umsetzung dieser primären
Kalkül ist dabei, dass derzeit eine Taliban-    Ziele in den neuen Herrschern in Kabul.

                                                                                                 SWP-Aktuell 59
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Die Taliban sind 2003 in Russland als ter-     weise Russland. In chinesischen Medien
                 roristische Organisation verboten worden.      wird Afghanistan bereits eine Rolle in der
                 Dennoch begann Moskau bereits Mitte            chinesischen Seidenstraßeninitiative (BRI)
                 des vergangenen Jahrzehnts – zunächst          zugeschrieben. Eine chinafreundliche Tali-
                 im Verborgenen, dann mit zunehmendem           ban-Regierung könnte Peking im Gegenzug
                 Selbstbewusstsein und vor den Augen der        die Ausbeutung der vermeintlich immen-
                 Weltöffentlichkeit –, mit den Taliban zu       sen natürlichen Ressourcen (wie Kupfer
                 sprechen. Es handelte sich dabei um eine       oder Lithium) in Aussicht stellen.
                 (unter vielen) Absetzbewegung(en) von             Ob Afghanistan tatsächlich Teil der BRI
                 westlich dominierten diplomatischen            werden könnte (offiziell gab es bereits 2016
                 Initiativen. Die veränderte Haltung gegen-     eine entsprechende Absichtserklärung Chi-
                 über den Taliban entsprang aber vor allem      nas und Afghanistans) und China in gro-
                 der Erkenntnis, dass sie trotz der Präsenz     ßem Stil in die afghanische Infrastruktur
                 der US- und Nato-Truppen wieder an Ein-        und den Abbau von Ressourcen investieren
                 fluss gewannen. Vom raschen Kollaps            wird, hängt in erster Linie davon ab, ob die
                 der afghanischen Armee war Moskau              Taliban imstande sein werden, das Land zu
                 jedoch ähnlich überrascht wie die Nato-        stabilisieren. Die Taliban kontrollieren bis
                 Verbündeten. Bis heute herrscht Unsicher-      dato nicht alle islamistischen Gruppierun-
                 heit über den Charakter und die Ziele der      gen in Afghanistan und schon gar nicht
                 Bewegung, und über die möglichen Folgen        ISIS-K, der für den Terroranschlag am Flug-
                 ihrer Politik für Russland. Moskau folgt       hafen von Kabul im August verantwortlich
                 einer für die russische Außenpolitik typi-     war. Solange chinesische Investitionen mit
                 schen realpolitischen Linie und enthält sich   großen Sicherheitsrisiken behaftet sind,
                 jeder Stellungnahme zur innenpolitischen       dürfte Peking sich zurückhaltend zeigen.
                 Situation oder zur Menschenrechtslage in       Völlig offen ist auch, ob die afghanische
                 Afghanistan. Russische Diplomaten äußer-       Regierung unter Führung der Taliban in der
                 ten sich nach der Einnahme Kabuls zu-          Lage sein wird, den Abbau der natürlichen
                 nächst positiv über die ersten Schritte der    Ressourcen des Landes zu organisieren.
                 Taliban. Verteidigungsminister Sergei          China müsste gegebenenfalls nicht nur in
                 Schoigu bezog allerdings eine deutlich kri-    Minen, sondern in erheblichem Maße auch
                 tischere Position und verwies auf die gro-     in die notwendige Infrastruktur investieren.
                 ßen Sicherheitsrisiken, die sich aus der       Ein weiteres Dilemma dürfte aus chinesi-
                 neuen Situation in Afghanistan ergeben.        scher Perspektive der Anbau von Schlaf-
                 Die russischen Regierungsinstitutionen und     mohn darstellen, der die größte Einzel-
                 Sicherheitsdienste scheinen sich in ihrer      einnahmequelle der Taliban ist und dies
                 Einschätzung der Lage also nicht unbedingt     voraussichtlich auch bleiben wird. Es dürfte
                 einig zu sein. Dennoch deutet vieles darauf    für jeden Partner einer Taliban-Regierung
                 hin, dass Russland die Taliban anerkennen      schwierig sein, sie davon zu überzeugen,
                 und von der nationalen Liste terroristischer   auf diese lukrative Einnahmequelle zu
                 Organisationen streichen wird.                 verzichten.
                                                                   In Moskau herrschen kaum Zweifel,
                                                                dass China die entscheidende Rolle bei der
                 Wirtschaftlicher Gewinn?                       weiteren politischen und wirtschaftlichen
                                                                Entwicklung Afghanistans spielen wird.
                 Die Vertreter der Taliban äußerten während     Wirtschaftlich hat Russland wenig zu bie-
                 ihres Besuchs Ende Juli in Tianjin die Hoff-   ten – wie in Syrien fehlt es ihm an Kapazi-
                 nung, dass China ihr Land wirtschaftlich       täten für Wiederaufbau und Entwicklung.
                 und finanziell unterstützen werde. Tatsäch-    Die extreme Instabilität schreckt auch russi-
                 lich kann China Afghanistan, und poten-        sche Investoren ab. Nicht umsonst dreht sich
                 tiell auch einer Taliban-Regierung, wirt-      der russische Diskurs nahezu ausschließlich
                 schaftlich viel mehr bieten als beispiels-     um Sicherheitsfragen. Die Eurasische Wirt-

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schaftsunion, der ohnehin nur Kasachstan          fehlt, selbst wenn es den politischen Wil-
und Kirgistan als Vollmitglieder angehören,       len hätte, die wirtschaftliche Kraft für
spielt hier kaum eine Rolle.                      weitergehendes Engagement. Peking
                                                  konzentriert sich auf die eng definierte
                                                  Wahrung seiner Sicherheitsinteressen
Fazit                                             und zeigt bislang keine große Neigung,
                                                  ökonomische Risiken einzugehen. Die
Peking und Moskau haben bislang ihre              wirtschaftliche Integration und Stabili-
Äußerungen und Positionen zur Lage in             sierung Afghanistans im Rahmen der BRI
Afghanistan abgeglichen. Am 30. August            ist daher zumindest mittelfristig unwahr-
2021 ließen sie durch Stimmenthaltung im          scheinlich. Wie selten zuvor wird im rus-
UN-Sicherheitsrat die Verabschiedung einer        sischen Diskurs Chinas Primat als Staat
Resolution zu, die die Taliban auffordert,        unterstrichen, der für die wirtschaftliche
weiterhin Menschen ausreisen und Afgha-           und damit auch politische Zukunft Af-
nistan nicht zu einem sicheren Hafen für          ghanistans maßgeblich ist. Dies spricht
transnationalen Terrorismus werden zu             für die zunehmende Asymmetrie im rus-
lassen. Es ist davon auszugehen, dass sie         sisch-chinesischen Verhältnis.
diese Form der Koordination auf internatio-     ∎ Weil vor allem China bislang kein Inter-
naler Ebene fortführen werden. Die an-            esse an einem nennenswerten wirtschaft-
haltende Ungewissheit verbietet weiterrei-        lichen Engagement erkennen lässt, wird
chende Aussagen darüber, wie die russische        Afghanistan auch in Zukunft auf west-
und die chinesische Politik sich entwickeln       liche humanitäre und Entwicklungshilfe
werden. Das bisher Gesagte lässt indes vor-       angewiesen bleiben. Hier liegt auch das
läufige Schlussfolgerungen zu:                    größte Potential für Deutschland, bzw.
∎ Russland wird vorerst durch seine bilate-       die EU, sich zu engagieren – soweit
   ralen Beziehungen zu den zentralasia-          das mit der neuen Taliban-Regierung
   tischen Staaten und durch die von ihm          in Kabul möglich ist. Darüber hinaus
   geführte Organisation des Vertrags über        wäre aber auch die Zusammenarbeit mit
   kollektive Sicherheit (OVKS) wichtigster       Peking und Moskau wünschenswert. Der
   Sicherheitsgarant in Zentralasien blei-        geopolitische Großkonflikt um die Aus-
   ben. Da China sich auf die Sicherung           richtung der neuen Weltordnung, der
   der eigenen Grenzen konzentriert, wird         die Haltung Moskaus und Pekings zu den
   es sich wahrscheinlich nur punktuell           USA und zur EU bestimmt, wird dem
   engagieren. Auf dem Gipfel der Shang-          jedoch enge Grenzen setzen. Kooperation
   haier Organisation für Zusammenarbeit          mit den USA und der EU würde der
   (SOZ) in Duschanbe am 16. und 17. Sep-         Großmacht-Rhetorik widersprechen,
   tember 2021 könnte bereits deutlich            der sich beide Staaten derzeit bedienen.
   werden, ob und, falls ja, welche Rolle die     China wie Russland machen deutlich,
   SOZ spielen wird. Wie intensiv Moskau          dass sie nicht vom Westen geschaffene
   und Peking in Belangen regionaler Sicher-      Probleme lösen werden. Selbst wenn
   heit kooperieren und ob möglicherweise         Zusammenarbeit zustande käme, sollten
   Meinungsverschiedenheiten zur Sicher-          westliche Akteure nicht der Illusion
   heitslage in Zentralasien auftreten wer-       aufsitzen, dass sich an dieser Rhetorik
   den, wird davon abhängen, wie sich die         und an den damit verbundenen Wahr-
   hochvolatile Situation in Afghanistan          nehmungen etwas ändern wird.
   und entlang seiner Grenzen entwickeln          Darüber hinaus erschweren grundsätz-
   wird.                                          lich unterschiedliche Herangehens-
∎ Peking und Moskau werden sich in Afgha-         weisen an Entwicklungszusammenarbeit
   nistan und in der benachbarten Region          oder den Kampf gegen Terrorismus oder
   Zentralasien vor allem auf Sicherheits-        Drogen jedwede praktische Kooperation:
   kooperation beschränken. Russland              China und Russland setzen auf Sicher-

                                                                                                SWP-Aktuell 59
                                                                                               September 2021

                                                                                                            5
heit, Moskau insbesondere auf militä-                      lichkeit folgen. Begrenzte Zusammenarbeit
                                  rische Mittel. Die EU hingegen hatte in                    könnte zu einer langsamen Besserung der
                                  der Vergangenheit ihren Schwerpunkt                        Lage in Afghanistan führen – eine sub-
                                  auf zivile Hilfemaßnahmen, Staats-                         stanzielle Entspannung der Beziehungen
                                  aufbau, Polizeireform oder substanzielle                   zwischen der EU, Russland und China ist
                                  Entwicklungshilfe gelegt. Für die EU                       von ihr aber nicht zu erwarten.
                                  gilt es nun, mögliche Bereiche der Zu-
                                  sammenarbeit mit dem neuen Taliban-
                                  Regime zu identifizieren und sicher-
                                  zustellen, dass etwa die von der EU an-
© Stiftung Wissenschaft           gekündigte humanitäre Hilfe auch bei
und Politik, 2021                 der afghanischen Bevölkerung ankommt.
Alle Rechte vorbehalten           Ob dies aber in Zusammenarbeit mit Chi-
                                  na und Russland gelingen kann, ist frag-
Das Aktuell gibt die Auf-
                                  lich. In Zeiten des Systemwettbewerbs
fassung der Autorinnen
wieder.                           sind eher Widersprüche und wechsel-
                                  seitige Blockaden zu erwarten als Syn-
In der Online-Version dieser      ergien. Je mehr dieser Wettbewerb
Publikation sind Verweise         zwischen den USA und China (und Russ-
auf SWP-Schriften und
                                  land) an Schärfe gewinnt, desto weniger
wichtige Quellen anklickbar.
                                  Spielraum bietet sich Akteuren wie
SWP-Aktuells werden intern        Deutschland und der EU für eine Zusam-
einem Begutachtungsverfah-        menarbeit.
ren, einem Faktencheck und
einem Lektorat unterzogen.     Russland und China profitieren auf globaler
Weitere Informationen
                               Ebene von der Schwächung, die der Westen
zur Qualitätssicherung der
SWP finden Sie auf der SWP-    nach dem Abzug aus Afghanistan erfahren
Website unter https://www.     hat. Die neue Situation konfrontiert sie aber
swp-berlin.org/ueber-uns/      auch mit ernsten sicherheitspolitischen
qualitaetssicherung/           Herausforderungen, für die sie bislang
                               keine Lösung haben. Westliche Akteure
SWP
Stiftung Wissenschaft und
                               müssen das berücksichtigen und sollten die
Politik                        chinesische und russische Politik nicht nur
Deutsches Institut für         im geopolitischen Kontext interpretieren.
Internationale Politik und     Der Großkonflikt mit dem Westen über-
Sicherheit                     lagert das gemeinsame Interesse an regio-
                               naler Sicherheit und wird Kooperation
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin                   behindern, die der wirtschaftlichen und
Telefon +49 30 880 07-0        politischen Stabilisierung Afghanistans und
Fax +49 30 880 07-100          seiner Nachbarschaft dienen könnte. Die
www.swp-berlin.org             EU sollte dennoch mit beiden Staaten, vor
swp@swp-berlin.org
                               allem aber mit Peking das Gespräch dar-
ISSN (Print) 1611-6364
                               über suchen – schon allein um der Ver-
ISSN (Online) 2747-5018        antwortung gerecht zu werden, die west-
doi: 10.18449/2021A59          liche Akteure für die humanitäre Kata-
                               strophe in Afghanistan tragen. Russland ist
                               in dieser Hinsicht ein zweitrangiger Spieler
                               und wird China mit großer Wahrschein-

                               Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
                               Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien.

      SWP-Aktuell 59
      September 2021

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