Chandrasekhar und Newton - Peter H. Richter Sterne und Weltraum 37 (1998) 520-524
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Chandrasekhar und Newton Peter H. Richter Sterne und Weltraum 37 (1998) 520-524 Newton wies nach, dass dieselbe Gravitation, die den Apfel zur Erde fallen lässt, sich bis zum Mond und weiter erstreckt. Chandrasekhar zeigte, dass sie aus genügend massereichen Sternen sogar schwarze Löcher zu erzeugen vermag, und er widmete deren Studium die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens. In seinem Todesjahr erschien ein wunderbares Buch, das man als Zwiegespräch der beiden Meister lesen kann; man wird sie beide danach bes- ser verstehen. Am 21. August 1995 starb in Chica- go Subrahmanyan Chandrasekhar, einer der großen theoretischen Astro-Physiker dieses Jahrhunderts. Spross einer vor- nehmen indischen Familie – sein Onkel Chandrasekhara V. Raman erhielt 1930 den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung der nach ihm benannten inelastischen Streuung –, absolvierte er rasch das Presi- dency College in Madras und gewann mit 19 Jahren ein Stipendium zum Studium am Trinity College in Cambridge, Eng- land. Er hatte sich bereits mit zwei Ar- tikeln über die damals neue Fermi-Dirac- Statistik einen Namen gemacht; einer war in den Proceedings der Royal Society, der Abbildung 1: Subrahmany- andere im Philosophical Magazine erschie- an Chandrasekhar, 19. Okto- nen. ber 1910 - 21. August 1995 1
Die Manuskripte hatte er an Ralph H. Fowler in Cambridge geschickt, der gerade gezeigt hatte, dass weiße Zwerge ihre Stabilität dem Fermidruck der Elektronen verdanken. Chandra, wie er allgemein genannt wurde, hoffte auf Zusammenarbeit mit ihm und bereitete sich während der Schiffsreise nach England im August 1930 auf die Begegnung vor. Dabei fiel ihm auf, dass die hohen Temperaturen im Innern der weißen Zwerge eigentlich eine relativistische Behandlung erforderten, die Fowler aber nicht gemacht hatte. Den Extremfall sehr hoher Energien konnte er rasch durchrechnen (siehe Kasten 1), und zu seiner aufregenden Verwunderung fand er, dass es eine kritische Masse geben müsse, nicht sehr viel größer als die Masse der Sonne, oberhalb der ein weißer Zwerg dem Gravitationsdruck nicht mehr standhält. Man kann sich denken, mit welchen Erwartungen er diese Rechnung den Professoren Fowler, Edward A. Milne und Arthur Eddington vortrug. Und wie verbittert er gewesen sein muss, als letzterer öffentlich erklärte Ich denke, ” dass die Naturgesetze ein derart absurdes Verhalten der Sterne zu verhindern wissen“. Eddington, der dominierende Astrophysiker seiner Zeit, konnte es sich erlauben, die Gültigkeit des Pauli-Prinzips für relativistische Systeme in Zweifel zu ziehen, und Pauli oder Dirac, die Chandras Resultat für kor- rekt hielten, zogen es vor, das nicht offen zu vertreten [10]. So dauerte es über 50 Jahre, bis jener bahnbrechenden Arbeit 1983 endlich der Nobelpreis zuerkannt wurde. Im Jahr zuvor, 1982, hatte das Trinity College ihn eingeladen, eine Fest- rede zu Eddingtons hundertstem Geburtstag zu halten. Chandra hielt zwei; sie sind nachzulesen im Sammelband Truth and Beauty – Aesthetics and Motivations in Science [9]. Die erste vom 19. Oktober trägt den Titel Ed- ” dington: The Most Distinguished Astrophysicist of His Time“ und würdigt ohne Abstriche die Leistungen des großen Mannes. Zwei Tage später folgt Re- de Nummer zwei – Eddington: The expositor and the exponent of general ” relativity“.1 Sie beginnt mit der Warnung Leider wird diese Vorlesung nicht ” ausgesprochen freundlich (happy) sein“ und endet in einer großen Abrech- nung. Nach einer Würdigung der Verdienste Eddingtons um die Bestätigung der ART beleuchtet Chandra seine Irrtümer. Eddingtons bösartigste Kom- mentare zur Chandrasekhar-Grenze werden dem Stand der Erkenntnis von 1982 gegenübergestellt, und dann heißt es: Ich kann nur sagen, dass es mir schwer fällt zu verstehen, warum Eddington, einer der frühesten und hartnäckigsten Verfechter der Allgemeinen Relativitätstheorie, die Schlußfolgerung so unannehm- bar fand, dass in der natürlichen Evolution der Sterne schwarze 1 Man beachte die Groß- und Kleinschreibung der Wörter, die so dem erwähnten Band entnommen ist. 2
Löcher auftreten können. Chandra zitiert ausführlich eine Passage Eddingtons aus dem Jahre 1920, in der dieser Sympathie für Ikarus bekundet, und endet mit den Worten Und so erinnern wir uns heute mit Verehrung eines großen Gei- stes, der unbeirrt der Sonne entgegen schwebte. Man ahnt, dass seine Rigorosität ihm nicht nur Freundschaften eintrug. Es versteht sich, dass er mit der Theorie der weißen Zwerge in Cambridge nicht einmal promovieren konnte. Seine Dissertation 1933 befasste sich mit der Gravitation rotierender Körper. Und da er gegen Eddingtons Urteil in England keine Zukunft sah, nahm er einen Ruf an das Yerkes Observatorium der Universität Chicago an, den Otto Struve vermittelt hatte. Er blieb dort, bis er 1963 direkt zum Campus in Chicago wechselte. Chandras Bücher Sein Lebenswerk spiegelt deutlich das primäre Interesse an den Sternen wider, aber durchweg besitzen seine Arbeiten allgemeinere physikalische Bezüge, la- den wie Äste eines riesigen Baumes in ganz verschiedene Richtungen aus. Es wird wenige Menschen geben, die mit allen seinen Monographien vertraut sind; nimmt man das Sonderheft der Reviews of Modern Physics von 1943 hinzu, das im wesentlichen nur seinen Beitrag über Stochastische Probleme in Physik und Astronomie enthält, dann hat er acht fachwissenschaftliche Bücher verfasst, wenn mir keines entgangen ist [1]-[8]. Jedes auf charakteri- stische Weise grundlegend für das betreffende Gebiet, und alles andere als leichte Kost; von der Unzahl einzelner Artikel mit teilweise beachtlichen Aus- maßen gar nicht zu reden. Chandrasekhar hat sich für Zeiträume von etwa zehn Jahren (bis zum Alter von 40 weniger, hernach mehr) auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert und es mit einer grandiosen Kombination von Tiefgang und Interesse am Detail zu durchdringen versucht. Am Ende schrieb er jedesmal ein Stan- dardwerk. Ich habe vier dieser Bücher genauer studiert und in den letzten Jahren zwei von ihnen zur Grundlage von Seminaren gemacht. Auch wenn ich Chandra nie in Person erlebt habe, so ist er mir doch durch seinen un- verwechselbaren Stil vertraut geworden. Dieser Stil hat auf den ersten Blick etwas Sprödes und Elementares. Ihm fehlt ein Sinn für formale Eleganz (oder sollte ich sagen: Arroganz?), wie man sie bei theoretischen Physikern häufig antrifft. Doch gerade darin erweist sich bei näherer Befassung seine Stärke. Denn allzu häufig ist Eleganz des Forma- lismus eben auch Ausdruck von Eitelkeit des Autors: er möchte die Spuren 3
der Schwierigkeiten verwischen, mit denen er – natürlich – zu kämpfen hat- te. Solcherlei Eitelkeit geht Chandrasekhar ab. Er ist grundehrlich in der Art seiner Darstellung; weicht keinem Problem aus, präsentiert es nicht von oben herab, sondern von innen heraus, beißt sich mit den einfachsten Werkzeugen durch, die gerade noch eine Lösung erlauben – so, wie man es in der Praxis eben tut. Nach meiner Erfahrung ist das für jemanden, der lernen möchte, der effektivste Weg zu gründlichem Verständnis. Stochastik habe ich, obwohl mich deren Anwendungen in der Astronomie seinerzeit nicht sonderlich in- teressierten, aus der erwähnten Monographie von 1943 gelernt. Im Vergleich dazu kamen mir andere einschlägige Bücher abgehoben oder in ihrer Argu- mentation lückenhaft bis willkürlich vor. Bei Chandrasekhar spürt man, dass er alles, was er von sich gibt, zuvor zu seinem geistigen Eigentum gemacht hat. Eine wahre Perle dieser Art wissenschaftlicher Prosa ist das Buch Strah- lungstransport von 1950, das man zu Rate ziehen muss, will man das Him- melsblau genauer verstehen als nur mittels einmaliger Rayleigh-Streuung, ohne sich gleich den Simulationen moderner Großrechner hinzugeben. Es hat unwiderstehlichen Charme, wie Chandra die Atmosphäre in Scheiben zerlegt und so die komplizierten Transportgleichungen zu Fuß“ lösen kann, oder ” besser: mit den numerischen Techniken der vierziger Jahre. Zugleich vermit- telt das Buch ein starkes Gefühl für die Einheit der Physik, indem es deutlich macht, dass dieselben Überlegungen, die die Lichterscheinungen an unserem Himmel erklären, auch den Austritt der Strahlung aus dem Innern der Sonne beschreiben; diese Anwendung war natürlich Chandras ursprüngliche Moti- vation. Ein drittes Beispiel für seinen Brückenbau zwischen Astronomie und all- gemeiner Physik ist das Buch Hydrodynamische und Hydromagnetische Sta- bilität von 1961, das wiederum aus dem Wunsch entstand, Transportprozesse im Innern von Sternen zu verstehen, das aber zum Standardwerk über In- stabilitäten in der Hydrodynamik überhaupt geriet. Chandrasekhar behan- delt darin minutiös und erschöpfend eine solche Fülle von Problemen, dass man sich fragt, was denn der Nachwelt noch zu tun übrig bleiben konn- te. Tatsächlich hat diese unter Schlagwörtern wie Strukturbildung“ oder ” Selbstorganisation“, die in den siebziger Jahren aktuell wurden, manches ” wiederentdeckt, was sich bei Chandra schon nachlesen ließ. Heute ist das Buch als Klassiker allgemein bekannt und geschätzt. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: mit dem elementaren Charakter der Darstellung in Chandras Werken ist nicht gemeint, dass an- spruchsvolle Methoden vermieden würden. Wo es angebracht ist, werden die- se erklärt und benutzt. Das zeigt sich eindrucksvoll in seinen Beiträgen zur Gravitationstheorie, der er sich unter dem tiefen Eindruck verschrieb, den 4
die exakte Lösung der Einstein-Gleichung für die Raumzeit eines rotierenden schwarzen Loches auf ihn machte. Der Neuseeländer Roy Patrick Kerr hat- te sie 1963 gefunden. 1983 erschien Die mathematische Theorie schwarzer Löcher, in ihrer zupackenden Art sicher bis heute die beste und an kon- kreten Ergebnissen reichste Darstellung des Themas. Ohne alle Schnörkel stellt Chandra die Methoden der modernen Differentialgeometrie vor und rechnet dann wieder unendlich viel Konkretes aus. Besonders widmet er sich den schwierigen Fragen, die mit der Wechselwirkung von Gravitationswellen und schwarzen Löchen des Schwarzschild- oder Kerr-Typs zusammenhängen. Nichts ist von anderswoher einfach übernommen, alles wird explizit durch- geführt, und so ist alles nachvollziehbar – wenn man sich nur der Mühe unter- zieht mitzumachen. In dieser Forderung manifestiert sich ein hoher Anspruch an seine Leser und Studenten, zugleich aber auch Respekt gegenüber der Sa- che. Die Überzeugung, dass jeder sie bei hinreichend intensiver Anstrengung verstehen können sollte, unterscheidet ihn diametral zum Beispiel von Ed- dington, dem er vorwirft, die dumme Legende in die Welt gesetzt zu haben, es gebe nur eine Handvoll Menschen, die die Allgemeine Relativitätstheorie verstünden. Autoritärem Gebaren setzt er bescheidene Majestät entgegen, wie der Prolog des Buches zeigt, der ungekürzt zitiert sei: Die schwarzen Löcher der Natur sind die vollkommensten Ob- jekte, die im Universum existieren: die einzigen Bausteine ihrer Konstruktion sind unsere Begriffe von Raum und Zeit. Und da die Allgemeine Relativitätstheorie zu ihrer Beschreibung nur eine einzige eindeutige Familie von Lösungen bereitstellt, sind sie auch die einfachsten Objekte. Die eindeutige Zwei-Parameter-Familie von Lösungen, die die Raumzeit in der Umgebung schwarzer Löcher beschreibt, ist die Kerr-Familie, die Roy Patrick Kerr im Juli 1963 entdeckte. Ih- re zwei Parameter sind die Masse des schwarzen Lochs und der Drehimpuls des schwarzen Lochs. Die statische Lösung mit Dre- himpuls Null wurde im Dezember 1915 von Karl Schwarzschild entdeckt. Ein Studium der schwarzen Löcher in der Natur ist dar- um ein Studium dieser Lösungen. Diesem Studium ist dieses Buch gewidmet. Seiner Verehrung für Karl Schwarzschild hat Chandrasekhar auf der Ham- burger Tagung der Astronomischen Gesellschaft im September 1986 Aus- druck gegeben, als er sich für die Schwarzschild-Medaille mit dem Vortrag Die ästhetische Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie“ bedankte. ” Kurz zuvor hatte er zusammen mit Valeria Ferrari die Theorie wechselwir- kender Gravitationswellen ausgearbeitet, deren strukturelle Ähnlichkeit mit 5
der Theorie schwarzer Löcher für ihn das zentrale Element in der Schönheit der ART war. Newtons Principia Abbildung 2: Isaac Newton, 25. Dezember 1642 - 9. März 1727 (julian. Kalender) Chandras letztes Buch erschien in seinem Todesjahr. Es heißt Newton’s Principia for the Common Reader und definiert damit, wen Chandra als gewöhnlichen Leser“ ansah, nämlich den, der einen heutigen Universitäts- ” kurs zur theoretischen Mechanik sehr, sehr gut verstanden hat. In Wirklichkeit ist das Buch nicht an uns, sondern an Newton selbst gerichtet, ein Gespräch zweier Riesen“ über die Zeiten hinweg. Das macht ” die Lektüre zu einem bewegenden Erlebnis. Chandra hofft auf Newtons Wert- schätzung, indem er die Aufgaben, die in den Principia behandelt werden, alle noch einmal mit heutigen Mitteln löst und im Vergleich dann immer wieder feststellt, dass Newtons tiefe Einsicht nicht übertroffen werden kann. Die Philosophiae Naturalis Principia Mathematica von 1687 gelten als das Standardwerk der theoretischen Physik. Jeder Physiker wird das bestätigen, auch wenn kaum einer sie gelesen hat. Man kann sie nicht lesen. Ob in der Originalsprache Latein, in englischer oder deutscher Übersetzung: Newton ist nicht verstehbar, es sei denn, man weiß schon, was er sagen will. Entgegen landläufiger Meinung findet sich in dem Buch so gut wie nichts an Differen- tialrechnung. Das zweite Newtonsche Gesetz, die lex secunda mẍ = F , also Masse mal Beschleunigung gleich Kraft, wurde in dieser Form erst von Eu- ler hingeschrieben. Bei Newton findet man nur weitgehend kryptischen Text, einige Bilder und die Mathematik des Dreisatzes (oder Strahlensatzes). Im 6
Text allerdings eine Menge von Aussagen, die ohne Meisterschaft in der In- finitesimalrechnung sicher nicht hätten erzielt werden können. Offenbar hat Newton in den Principia, gedrängt von Halley, Ergebnisse zusammengetra- gen, die er im Laufe der Jahre mit Hilfe der Differential- und Integralrechung erzielt und in seinen Schubladen gesammelt hatte, die er aber nicht oder nur andeutungsweise erklärt. Seine Folge von Sätzen“, Erklärungen“, Korol- ” ” ” larien“, Aufgaben“ hat die Tradition mathematischer Literatur bis heute ” geprägt, vor allem darin, dass man die Schliche nicht preisgibt, auf denen man zu seinen Resultaten gelangt ist. Chandrasekhars eigener Stil (er war Physiker, nicht Mathematiker) ist dazu die Antithese. Doch im Interesse an der Sache und in der Hingabe zum Detail sind die beiden enge Verwandte. Die große Leistung der Principia war, die Gültigkeit des Gravitationsge- setzes zu etablieren, wonach je zwei Massen m1 und ms einander mit einer Kraft F anziehen, die beiden Massen proportional und dem Quadrat der Ent- fernung r umgekehrt proportional ist, F ∝ −m1 m2 /r2 . Man lernt im Physik- unterricht, dass Newton aus der Kombination dieses Gesetzes mit seiner lex secunda die Eigenschaften der Kepler-Ellipsen herleiten konnte; das ist in der Tat der Inhalt des 11. Abschnitts der Principia. Man lernt aber gewöhnlich nicht, dass dies für Newton noch nicht die Universalität des Kraftgesetzes demonstrierte. Denn schließlich laufen nicht alle Himmelskörper auf Kepler- Bahnen. Der Mond vor allem zeigt deutliche Abweichungen, und deshalb ist der Hauptteil der Bemühungen darauf gerichtet, dessen viele Bewegun- ” gen“ [11] zu erklären: Detailarbeit zu leisten wie Chandra in seinem Buch über schwarze Löcher, siehe Kasten 2. Es gelingt Newton, mit Hilfe des 1/r2 -Gesetzes alle zu seiner Zeit bekann- ten Eigenschaften der Mondbewegung mit einer Zahl quantitativ zu erklären: dem Verhältnis m = 27.212 22/365.242 = 1/13.36 der Längen von tropischem Monat und tropischem Jahr, dessen Quadrat die Stärke der Störung durch die Sonne charakterisiert. Alle – bis auf eine: die Präzession des Perigäums kommt um einen Faktor 2 zu langsam heraus. Das hinterlässt bohrende Zwei- fel, und Newton diskutiert ernsthaft die Alternative, an die er nicht glauben 4 mag, nämlich dass ein Kraftgesetz 1/rn mit n = 2 243 ad hoc den korrek- ten Wert für die Präzession liefern würde. Erst 50 Jahre später konnte die analytische Mechanik zeigen, dass Newtons Resultate in erster Näherung der Störungstheorie völlig korrekt sind, dass aber bei der Präzession der Apsiden die zweite Näherung, was sehr ungewöhnlich ist, fast noch einmal denselben Beitrag liefert. Es kann hier nicht ausgebreitet werden, wie Newton solche Rechnungen bewältigt haben mag, aber völlig klar ist, dass seinen nur in Worte gekleideten Argumenten eine meisterhafte Beherrschung der Infinite- simalrechnung zugrunde liegen muss. Chandras Buch ermöglicht dem common reader“, die Principia mit Ge- ” 7
winn und Verstand und ohne weitere Hilfen zu lesen, wohl erstmals seit ihrem Erscheinen. Es übersetzt Newton in die heutige Sprache der Physik. Newton hätte daran seine Freude, sicherlich auch an der Korrektur von Druckfehlern, die seit 300 Jahren niemand bemerkt hat. Chandra gesteht, dass er keinerlei Sekundärliteratur zu Rate gezogen, sondern direkt mit Newton kommuniziert habe: Wissenschaftsgeschichte auf neue Art, der Sache verpflichtet und nicht zuerst dem Autor. Physikern ist endlich der Zugang zu einer ihrer wichtigsten Quellen erschlossen; dafür gebührt Chandrasekhar Dank. Literatur [1] An Introduction to the Study of Stellar Structure, University of Chicago Press 1939 [2] Principles of Stellar Dynamics, University of Chicago Press 1943 [3] Stochastic Problems in Physics and Astronomy, Rev. Mod. Phys. 15 (1943) [4] Radiative Transfer, Oxford University Press 1950, Dover, New York 1960 [5] Hydrodynamic and Hydromagnetic Stability, Clarendon Press, Oxford 1961, Dover, New York 1981 [6] Ellipsoidal Figures of Equilibrium, Yale University Press 1969, Dover, New York 1987 [7] The Mathematical Theory of Black Holes, Oxford University Press 1983 [8] Newton’s Principia for the Common Reader, Clarendon Press, Oxford 1995 [9] Truth and Beauty – Aesthetics and Motivations in Science, The Univer- sity of Chicago Press 1987 [10] E. N. Parker, Physics Today 48 no. 11, 106-108 (1995) [11] M. C. Gutzwiller, Newton und die vielen Bewegungen des Mondes, in: Sterne, Mond, Kometen, P. H. Richter (Hrsg.), Hauschild, Bremen 1995 8
Kasten 1: Theorie der Weißen Zwerge Die Gravitationsenergie eines Sterns von Masse M und Radius R hat die Größenordnung GM 2 /R, wobei G die Gravitationskonstante ist. Den Gra- vitationsdruck erhält man als Energiedichte (Zahlenfaktoren wie 4π werden hier ignoriert), M2 N2 pG ∼ G 4 ∼ Gm2p 4 , (1) R R wobei N ∼ M/mp die Zahl der Protonen oder Elektronen ist. Bei der Sonne ist dies mit N kT /R3 vergleichbar (k die Boltzmann-Konstante, T die Tem- peratur von etwa 15 · 106 K), so daß sich ihr Radius aus dem Gleichgewicht von Gravitationsdruck und klassischem Druck eines idealen Boltzmann-Gases erklärt, R ∼ Gm2p N/kT . Ist nun die Materie so dicht wie bei weißen Zwergen, dann wird der innere Druck nicht mehr durch N kT /R3 gegeben, sondern durch den Fermidruck der Elektronen pF ∼ N kTF /R3 , wobei deren Fermi-Temperatur 2/3 ~2 N TF ∼ (2) me k R3 höher ist als die Temperatur im Innern des Sterns. Der Grund dafür ist das Pauli-Prinzip, das die Elektronen auf hohe Energieniveaus zwingt. Es folgt ~2 N 5/3 pF ∼ . (3) me R 5 Kombiniert man nun (1) und (3) durch Gleichsetzen von pG und pF , so erhält man als Beziehung zwischen Radius und Masse des weißen Zwerges das Fow- lersche Resultat ~2 R∼ N −1/3 =: RF N −1/3 . (4) Gme m2p Darin tritt bemerkenswerterweise eine nur aus Naturkonstanten gebildete Länge RF auf, deren Größe mit 1025 m oder 109 Lichtjahren etwa dem Durch- messer des sichtbaren Kosmos entspricht. Es wäre sinnlos, weißen Zwergen aus nur einem Proton, N = 1, die Ausdehnung des Kosmos zuzuordnen, da sie sich bei zu kleinen Massen erst gar nicht bilden. Für weiße Zwerge im unteren Massenbereich entspricht das Fowler-Gesetz R ∝ M −1/3 aber den Beobachtungen. 9
Abbildung 3: Masse-Radius-Beziehung für weiße Zwerge. Die beiden oberen Teil- kurven entsprechen den Näherungen (9) bzw. (8), die durchgezogene Linie zeigt das exakte Ergebnis. Die Kreise illustrieren die relativen Größen der Sterne; der schattierte Teil zeigt den Anteil der relativistischen Elektronen mit p > me c. Chandrasekhar bemerkte auf seiner Schiffsreise 1930, dass die Formel bei größeren Massen nicht mehr gelten kann. Die Dichte N/R3 und damit die Fermitemperatur TF gemäß (2) werden so groß, dass Elektronen nicht der klassischen Beziehung E = p2 /2m zwischen Energie E und Impuls p genügen, sondern relativistisch sind. Im extrem relativistischen Fall, der leicht zu be- handeln ist, muss man E = pc ansetzen (c die Lichtgeschwindigkeit) und erhält für den Fermidruck 2 (R/λ)2 ~c 4/3 pC ∼ 4 N 1− , (5) R N 2/3 wobei λ = ~/me c die Comptonlänge des Elektrons ist. Das Gleichgewicht pG = pC liefert ein verblüffendes Resultat. Zunächst findet man 2 (R/λ)2 2/3 RF N ∼ 1− , (6) λ N 2/3 √ was nach Einführen der Länge RC = RF λ und der Masse MC = NC mp gemäß 3 3 3/2 MC RC RF ~c 1 ∼ = ∼ (7) mp λ RC G m3p geschrieben werden kann als s 1/3 2/3 R M M = 1− . (8) RC MC MC 10
Dies ist Chandrasekhars berühmte Formel. Wenn M gegen MC anwächst, schrumpft der Gleichgewichtsradius R gegen Null, das heißt, der Stern kol- labiert! Die Chandrasekhar-Masse MC ist allein durch die Naturkonstanten ~, c, G und mp bestimmt. Ihr numerischer Wert ist, bei genauer Rechnung, etwa 1.4 Sonnenmassen. Das Fowler-Resultat (4) lässt sich jetzt ausdrücken als 1/3 R MC = (9) RC M und kann durch eine exakte relativistische Rechnung stetig an (8) angeschlos- sen werden, siehe Abbildung 1, die Chandras Artikel in den Monthly Notes of the Royal Astronomical Society 95, 207 (1935) entnommen ist. Die charakte- ristische Länge RC ≈ 6000km ist ungefähr der Radius der Erde, zugleich aber das geometrische Mittel aus der Größe des Kosmos und der Comptonlänge des Elektrons. Ob das nur Zufall ist? Kasten 2: Newtons Mondtheorie In groben Zügen kann man sagen, dass der Kern der Mondtheorie in Pro- position LXVI des ersten Buches und ihren 22 Korollarien enthalten ist. Allerdings ist die Darstellung dort so knapp, dass Begründungen für die Be- hauptungen schlechterdings nicht nachvollzogen werden können. Das scheint Newton bewusst zu sein, denn in den Propositionen XXI bis XXXV des drit- ten Buches schiebt er Einzelheiten nach. Abbildung 4: Newtons Veranschaulichung des Systems aus Sonne (S), Erde (T), Mond (P). Um einen Eindruck vom Stil der Principia zu geben, sei die Proposition LXVI hier in deutscher Übersetzung zitiert: Wenn drei Körper, deren Kräfte mit dem Quadrat der Entfer- nung abnehmen, sich gegenseitig anziehen; und die beschleunigen- den Anziehungen je zweier gegen den dritten sich untereinander wie die Quadrate der Entfernungen verhalten; und die zwei gerin- geren den größten umrunden: dann, sage ich, werden die beiden 11
rotierenden Körper mit den zum innersten und größten gezogenen Radien um jenen Körper Flächen überstreichen, die in stärkerem Maße der Zeit proportional sind, und einer Bahn folgen, die eher eine Ellipse mit Fokus im Schnittpunkt der Radien approximiert, wenn jener große Körper selbst von jenen anziehenden Kräften beeinflusst wird, als es der Fall wäre, wenn jener große Körper überhaupt nicht von den geringeren angezogen würde, sondern in Ruhe wäre; oder als es der Fall wäre, wenn jener große Körper sehr viel mehr oder sehr viel weniger angezogen würde, oder sehr viel mehr oder sehr viel weniger durch die Anziehung beeinflusst würde. Was mag das heißen? Zuerst muss man sich aus dem weiteren Kontext da- von überzeugen, dass mit dem großen Körper“ die Erde und mit den beiden ” geringeren“ Sonne und Mond gemeint sind. Das erhellt vor allem aus Ab- ” bildung 4, die insgesamt siebenmal als Illustration erscheint. Warum aber sollte die Sonne geringer“ sein als die Erde, wenn doch die Kraft, die die ” Sonne auf den Mond ausübt, doppelt so groß ist wie die Anziehungskraft durch die Erde? Sind mS und mE sind die Massen von Sonne und Erde, mS /mE ≈ 333 000, und rS , rE die Entfernungen Mond-Sonne bzw. Mond- Erde, rS /rE ≈ 390, dann findet man nämlich für das Verhältnis der Kräfte (mS /rS2 )/(mE /rE2 ) ≈ 2.2. Ist man aber mit der Mondtheorie etwas vertraut, dann ahnt man, was Newton sagen will: dass zunächst die Schwerpunktbe- wegung des Systems Erde+Mond betrachtet werden sollte und danach die Relativbewegung von Erde und Mond. Der Schwerpunkt, mit der Gesamt- masse M = mE + mM von Erde und Mond dort vereinigt gedacht, folgt einer Keplerellipse um die Sonne, und auf dem Hintergrund dieser Bewegung kann die Relativbewegung wiederum in niedrigster Näherung als Keplerellip- se beschrieben werden, mit der differentiellen Anziehung durch die Sonne als schwacher Störung. Aus dieser Sicht ist es sinnvoll, die Erde als den großen ” Körper“ anzusehen, der allerdings, dem Mond gegenüber, ebenfalls um den gemeinsamen Schwerpunkt rotiert und somit von der Anziehung durch die beiden geringeren“ beeinflusst wird. Das Problem überhaupt in dieser Weise ” anzusetzen, ist die erste große Leistung Newtons in der Mondtheorie. Newton unterscheidet dann zwei Fälle, die nacheinander bearbeitet wer- den. Im Fall 1 liegt die Mondbahn in der Ekliptik und wird in erster Näherung als Kreis um T angenommen, der durch die Sonne etwas verformt wird. Im Fall 2 wird dann die Inklination berücksichtigt. 12
Abbildung 5: Richtung und relative Stärke der Störkraft, die die Sonne auf die Mondbahn ausübt, wenn sie sehr weit links steht. Quantitativ gilt FS = 12 m2 r(1 + 3 cos 2ψ). Es kommt nun darauf an, den Einfluss der Sonne zu charakterisieren. Newton beschreibt in Worten alle Eigenschaften der in Abb. 5 dargestellten Quadrupolkraft: - Ihre Stärke im Vergleich zur Anziehung Erde-Mond ist (mS /M )(rE /rS )3 , und dies ist nach dem dritten Keplerschen Gesetz gleich dem Qua- drat des Verhältnisses von tropischem Monat und tropischem Jahr, (27.322/365.24)2 = 1/178.7 =: m2 . - Sie ist proportional dem Abstand r zwischen Erde und Mond. - In den Syzygien (Vollmond- und Neumond) ist sie effektiv abstoßend und vom Betrag her doppelt so groß wie in Quadratur (Halbmond- Positionen), wo sie effektiv anziehend wirkt. In allen anderen Positio- nen zerstört sie den Zentralkraftcharakter der Wechselwirkung zwischen Erde und Mond. Und welche Wirkung hat nun diese Störung? Mit erstaunlicher Sicherheit erkennt Newton ohne alle Begründung (die wird erst in Proposition XXVII des dritten Buches geliefert), dass sie eine anfänglich kreisförmige Mondbahn in eine Ellipse deformiert, mit dem Punkt T als Zentrum, nicht Brennpunkt, und dass deren große Halbachse die Halbmond-Positionen verbindet, siehe Abb. 6. Newton findet, dass der Mond in den Syzygien um einen Faktor 69/70 näher bei der Erde steht und dass er dort einen höheren Drehimpuls hat als in Quadratur. 13
Abbildung 6: Form der Mondbahn unter dem Einfluss der Störung durch die Sonne, wenn die ungestörte Bahn ein Kreis um T ist. Quantitativ gilt r/r0 = 1 − x cos 2ψ mit x = m2 (1 + 19m/6). Auf dieser Grundlage gelingt es ihm, alle seit Tycho bekannten Un- ” gleichheiten“ in der Bewegung des Mondes quantitativ zu erklären, besonders aber die seit dem Altertum bekannten Unterschiede von tropischem Monat (Frühlingspunkt zu Frühlingspunkt), T1 = 27.321 Tage, anomalistischem Mo- nat (Perigäum zu Perigäum), Ta = 27.554 Tage, und drakonitischem Monat (Knoten zu Knoten), Td = 27.212 Tage. Sein Resultat Td ≈ T1 (1 − 34 m2 ) = 0.9958T1 = 27.206 für die Knotenbewegung ist exzellent, aber die Präzession des Perigäums kommt mit Ta = T1 (1 + 34 m2 ) = 1.0042T1 = 27.436 nur halb so schnell heraus, wie es wünschenswert wäre. Diese Schwierigkeit konnten erst Clairaut, D’Alembert und Euler beheben. 14
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