Chandrasekhar und Newton - Peter H. Richter Sterne und Weltraum 37 (1998) 520-524

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Chandrasekhar und Newton
                            Peter H. Richter

             Sterne und Weltraum 37 (1998) 520-524

Newton wies nach, dass dieselbe Gravitation, die den Apfel zur Erde fallen
lässt, sich bis zum Mond und weiter erstreckt. Chandrasekhar zeigte, dass
sie aus genügend massereichen Sternen sogar schwarze Löcher zu erzeugen
vermag, und er widmete deren Studium die letzten drei Jahrzehnte seines
Lebens. In seinem Todesjahr erschien ein wunderbares Buch, das man als
Zwiegespräch der beiden Meister lesen kann; man wird sie beide danach bes-
ser verstehen.

                                 Am 21. August 1995 starb in Chica-
                                 go Subrahmanyan Chandrasekhar, einer
                                 der großen theoretischen Astro-Physiker
                                 dieses Jahrhunderts. Spross einer vor-
                                 nehmen indischen Familie – sein Onkel
                                 Chandrasekhara V. Raman erhielt 1930
                                 den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung
                                 der nach ihm benannten inelastischen
                                 Streuung –, absolvierte er rasch das Presi-
                                 dency College in Madras und gewann mit
                                 19 Jahren ein Stipendium zum Studium
                                 am Trinity College in Cambridge, Eng-
                                 land. Er hatte sich bereits mit zwei Ar-
                                 tikeln über die damals neue Fermi-Dirac-
                                 Statistik einen Namen gemacht; einer war
                                 in den Proceedings der Royal Society, der
   Abbildung 1: Subrahmany-
                                 andere im Philosophical Magazine erschie-
   an Chandrasekhar, 19. Okto-
                                 nen.
   ber 1910 - 21. August 1995

                                    1
Die Manuskripte hatte er an Ralph H. Fowler in Cambridge geschickt,
der gerade gezeigt hatte, dass weiße Zwerge ihre Stabilität dem Fermidruck
der Elektronen verdanken. Chandra, wie er allgemein genannt wurde, hoffte
auf Zusammenarbeit mit ihm und bereitete sich während der Schiffsreise
nach England im August 1930 auf die Begegnung vor. Dabei fiel ihm auf,
dass die hohen Temperaturen im Innern der weißen Zwerge eigentlich eine
relativistische Behandlung erforderten, die Fowler aber nicht gemacht hatte.
Den Extremfall sehr hoher Energien konnte er rasch durchrechnen (siehe
Kasten 1), und zu seiner aufregenden Verwunderung fand er, dass es eine
kritische Masse geben müsse, nicht sehr viel größer als die Masse der Sonne,
oberhalb der ein weißer Zwerg dem Gravitationsdruck nicht mehr standhält.
    Man kann sich denken, mit welchen Erwartungen er diese Rechnung den
Professoren Fowler, Edward A. Milne und Arthur Eddington vortrug. Und
wie verbittert er gewesen sein muss, als letzterer öffentlich erklärte Ich denke,
                                                                        ”
dass die Naturgesetze ein derart absurdes Verhalten der Sterne zu verhindern
wissen“. Eddington, der dominierende Astrophysiker seiner Zeit, konnte es
sich erlauben, die Gültigkeit des Pauli-Prinzips für relativistische Systeme
in Zweifel zu ziehen, und Pauli oder Dirac, die Chandras Resultat für kor-
rekt hielten, zogen es vor, das nicht offen zu vertreten [10]. So dauerte es
über 50 Jahre, bis jener bahnbrechenden Arbeit 1983 endlich der Nobelpreis
zuerkannt wurde.
    Im Jahr zuvor, 1982, hatte das Trinity College ihn eingeladen, eine Fest-
rede zu Eddingtons hundertstem Geburtstag zu halten. Chandra hielt zwei;
sie sind nachzulesen im Sammelband Truth and Beauty – Aesthetics and
Motivations in Science [9]. Die erste vom 19. Oktober trägt den Titel Ed-
                                                                              ”
dington: The Most Distinguished Astrophysicist of His Time“ und würdigt
ohne Abstriche die Leistungen des großen Mannes. Zwei Tage später folgt Re-
de Nummer zwei – Eddington: The expositor and the exponent of general
                     ”
relativity“.1 Sie beginnt mit der Warnung Leider wird diese Vorlesung nicht
                                             ”
ausgesprochen freundlich (happy) sein“ und endet in einer großen Abrech-
nung. Nach einer Würdigung der Verdienste Eddingtons um die Bestätigung
der ART beleuchtet Chandra seine Irrtümer. Eddingtons bösartigste Kom-
mentare zur Chandrasekhar-Grenze werden dem Stand der Erkenntnis von
1982 gegenübergestellt, und dann heißt es:

      Ich kann nur sagen, dass es mir schwer fällt zu verstehen, warum
      Eddington, einer der frühesten und hartnäckigsten Verfechter der
      Allgemeinen Relativitätstheorie, die Schlußfolgerung so unannehm-
      bar fand, dass in der natürlichen Evolution der Sterne schwarze
  1
    Man beachte die Groß- und Kleinschreibung der Wörter, die so dem erwähnten Band
entnommen ist.

                                         2
Löcher auftreten können.

Chandra zitiert ausführlich eine Passage Eddingtons aus dem Jahre 1920, in
der dieser Sympathie für Ikarus bekundet, und endet mit den Worten

      Und so erinnern wir uns heute mit Verehrung eines großen Gei-
      stes, der unbeirrt der Sonne entgegen schwebte.

Man ahnt, dass seine Rigorosität ihm nicht nur Freundschaften eintrug.
    Es versteht sich, dass er mit der Theorie der weißen Zwerge in Cambridge
nicht einmal promovieren konnte. Seine Dissertation 1933 befasste sich mit
der Gravitation rotierender Körper. Und da er gegen Eddingtons Urteil in
England keine Zukunft sah, nahm er einen Ruf an das Yerkes Observatorium
der Universität Chicago an, den Otto Struve vermittelt hatte. Er blieb dort,
bis er 1963 direkt zum Campus in Chicago wechselte.

Chandras Bücher
Sein Lebenswerk spiegelt deutlich das primäre Interesse an den Sternen wider,
aber durchweg besitzen seine Arbeiten allgemeinere physikalische Bezüge, la-
den wie Äste eines riesigen Baumes in ganz verschiedene Richtungen aus. Es
wird wenige Menschen geben, die mit allen seinen Monographien vertraut
sind; nimmt man das Sonderheft der Reviews of Modern Physics von 1943
hinzu, das im wesentlichen nur seinen Beitrag über Stochastische Probleme
in Physik und Astronomie enthält, dann hat er acht fachwissenschaftliche
Bücher verfasst, wenn mir keines entgangen ist [1]-[8]. Jedes auf charakteri-
stische Weise grundlegend für das betreffende Gebiet, und alles andere als
leichte Kost; von der Unzahl einzelner Artikel mit teilweise beachtlichen Aus-
maßen gar nicht zu reden.
    Chandrasekhar hat sich für Zeiträume von etwa zehn Jahren (bis zum
Alter von 40 weniger, hernach mehr) auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert
und es mit einer grandiosen Kombination von Tiefgang und Interesse am
Detail zu durchdringen versucht. Am Ende schrieb er jedesmal ein Stan-
dardwerk. Ich habe vier dieser Bücher genauer studiert und in den letzten
Jahren zwei von ihnen zur Grundlage von Seminaren gemacht. Auch wenn
ich Chandra nie in Person erlebt habe, so ist er mir doch durch seinen un-
verwechselbaren Stil vertraut geworden.
    Dieser Stil hat auf den ersten Blick etwas Sprödes und Elementares. Ihm
fehlt ein Sinn für formale Eleganz (oder sollte ich sagen: Arroganz?), wie man
sie bei theoretischen Physikern häufig antrifft. Doch gerade darin erweist sich
bei näherer Befassung seine Stärke. Denn allzu häufig ist Eleganz des Forma-
lismus eben auch Ausdruck von Eitelkeit des Autors: er möchte die Spuren

                                       3
der Schwierigkeiten verwischen, mit denen er – natürlich – zu kämpfen hat-
te. Solcherlei Eitelkeit geht Chandrasekhar ab. Er ist grundehrlich in der Art
seiner Darstellung; weicht keinem Problem aus, präsentiert es nicht von oben
herab, sondern von innen heraus, beißt sich mit den einfachsten Werkzeugen
durch, die gerade noch eine Lösung erlauben – so, wie man es in der Praxis
eben tut. Nach meiner Erfahrung ist das für jemanden, der lernen möchte,
der effektivste Weg zu gründlichem Verständnis. Stochastik habe ich, obwohl
mich deren Anwendungen in der Astronomie seinerzeit nicht sonderlich in-
teressierten, aus der erwähnten Monographie von 1943 gelernt. Im Vergleich
dazu kamen mir andere einschlägige Bücher abgehoben oder in ihrer Argu-
mentation lückenhaft bis willkürlich vor. Bei Chandrasekhar spürt man, dass
er alles, was er von sich gibt, zuvor zu seinem geistigen Eigentum gemacht
hat.
     Eine wahre Perle dieser Art wissenschaftlicher Prosa ist das Buch Strah-
lungstransport von 1950, das man zu Rate ziehen muss, will man das Him-
melsblau genauer verstehen als nur mittels einmaliger Rayleigh-Streuung,
ohne sich gleich den Simulationen moderner Großrechner hinzugeben. Es hat
unwiderstehlichen Charme, wie Chandra die Atmosphäre in Scheiben zerlegt
und so die komplizierten Transportgleichungen zu Fuß“ lösen kann, oder
                                                     ”
besser: mit den numerischen Techniken der vierziger Jahre. Zugleich vermit-
telt das Buch ein starkes Gefühl für die Einheit der Physik, indem es deutlich
macht, dass dieselben Überlegungen, die die Lichterscheinungen an unserem
Himmel erklären, auch den Austritt der Strahlung aus dem Innern der Sonne
beschreiben; diese Anwendung war natürlich Chandras ursprüngliche Moti-
vation.
     Ein drittes Beispiel für seinen Brückenbau zwischen Astronomie und all-
gemeiner Physik ist das Buch Hydrodynamische und Hydromagnetische Sta-
bilität von 1961, das wiederum aus dem Wunsch entstand, Transportprozesse
im Innern von Sternen zu verstehen, das aber zum Standardwerk über In-
stabilitäten in der Hydrodynamik überhaupt geriet. Chandrasekhar behan-
delt darin minutiös und erschöpfend eine solche Fülle von Problemen, dass
man sich fragt, was denn der Nachwelt noch zu tun übrig bleiben konn-
te. Tatsächlich hat diese unter Schlagwörtern wie Strukturbildung“ oder
                                                        ”
 Selbstorganisation“, die in den siebziger Jahren aktuell wurden, manches
”
wiederentdeckt, was sich bei Chandra schon nachlesen ließ. Heute ist das
Buch als Klassiker allgemein bekannt und geschätzt.
     Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: mit dem elementaren
Charakter der Darstellung in Chandras Werken ist nicht gemeint, dass an-
spruchsvolle Methoden vermieden würden. Wo es angebracht ist, werden die-
se erklärt und benutzt. Das zeigt sich eindrucksvoll in seinen Beiträgen zur
Gravitationstheorie, der er sich unter dem tiefen Eindruck verschrieb, den

                                       4
die exakte Lösung der Einstein-Gleichung für die Raumzeit eines rotierenden
schwarzen Loches auf ihn machte. Der Neuseeländer Roy Patrick Kerr hat-
te sie 1963 gefunden. 1983 erschien Die mathematische Theorie schwarzer
Löcher, in ihrer zupackenden Art sicher bis heute die beste und an kon-
kreten Ergebnissen reichste Darstellung des Themas. Ohne alle Schnörkel
stellt Chandra die Methoden der modernen Differentialgeometrie vor und
rechnet dann wieder unendlich viel Konkretes aus. Besonders widmet er sich
den schwierigen Fragen, die mit der Wechselwirkung von Gravitationswellen
und schwarzen Löchen des Schwarzschild- oder Kerr-Typs zusammenhängen.
Nichts ist von anderswoher einfach übernommen, alles wird explizit durch-
geführt, und so ist alles nachvollziehbar – wenn man sich nur der Mühe unter-
zieht mitzumachen. In dieser Forderung manifestiert sich ein hoher Anspruch
an seine Leser und Studenten, zugleich aber auch Respekt gegenüber der Sa-
che. Die Überzeugung, dass jeder sie bei hinreichend intensiver Anstrengung
verstehen können sollte, unterscheidet ihn diametral zum Beispiel von Ed-
dington, dem er vorwirft, die dumme Legende in die Welt gesetzt zu haben,
es gebe nur eine Handvoll Menschen, die die Allgemeine Relativitätstheorie
verstünden. Autoritärem Gebaren setzt er bescheidene Majestät entgegen,
wie der Prolog des Buches zeigt, der ungekürzt zitiert sei:
         Die schwarzen Löcher der Natur sind die vollkommensten Ob-
     jekte, die im Universum existieren: die einzigen Bausteine ihrer
     Konstruktion sind unsere Begriffe von Raum und Zeit. Und da
     die Allgemeine Relativitätstheorie zu ihrer Beschreibung nur eine
     einzige eindeutige Familie von Lösungen bereitstellt, sind sie auch
     die einfachsten Objekte.
         Die eindeutige Zwei-Parameter-Familie von Lösungen, die die
     Raumzeit in der Umgebung schwarzer Löcher beschreibt, ist die
     Kerr-Familie, die Roy Patrick Kerr im Juli 1963 entdeckte. Ih-
     re zwei Parameter sind die Masse des schwarzen Lochs und der
     Drehimpuls des schwarzen Lochs. Die statische Lösung mit Dre-
     himpuls Null wurde im Dezember 1915 von Karl Schwarzschild
     entdeckt. Ein Studium der schwarzen Löcher in der Natur ist dar-
     um ein Studium dieser Lösungen. Diesem Studium ist dieses Buch
     gewidmet.
   Seiner Verehrung für Karl Schwarzschild hat Chandrasekhar auf der Ham-
burger Tagung der Astronomischen Gesellschaft im September 1986 Aus-
druck gegeben, als er sich für die Schwarzschild-Medaille mit dem Vortrag
 Die ästhetische Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie“ bedankte.
”
Kurz zuvor hatte er zusammen mit Valeria Ferrari die Theorie wechselwir-
kender Gravitationswellen ausgearbeitet, deren strukturelle Ähnlichkeit mit

                                      5
der Theorie schwarzer Löcher für ihn das zentrale Element in der Schönheit
der ART war.

Newtons Principia

Abbildung 2: Isaac Newton, 25. Dezember 1642 - 9. März 1727 (julian. Kalender)

    Chandras letztes Buch erschien in seinem Todesjahr. Es heißt Newton’s
Principia for the Common Reader und definiert damit, wen Chandra als
 gewöhnlichen Leser“ ansah, nämlich den, der einen heutigen Universitäts-
”
kurs zur theoretischen Mechanik sehr, sehr gut verstanden hat.
    In Wirklichkeit ist das Buch nicht an uns, sondern an Newton selbst
gerichtet, ein Gespräch zweier Riesen“ über die Zeiten hinweg. Das macht
                                 ”
die Lektüre zu einem bewegenden Erlebnis. Chandra hofft auf Newtons Wert-
schätzung, indem er die Aufgaben, die in den Principia behandelt werden,
alle noch einmal mit heutigen Mitteln löst und im Vergleich dann immer
wieder feststellt, dass Newtons tiefe Einsicht nicht übertroffen werden kann.
    Die Philosophiae Naturalis Principia Mathematica von 1687 gelten als das
Standardwerk der theoretischen Physik. Jeder Physiker wird das bestätigen,
auch wenn kaum einer sie gelesen hat. Man kann sie nicht lesen. Ob in der
Originalsprache Latein, in englischer oder deutscher Übersetzung: Newton
ist nicht verstehbar, es sei denn, man weiß schon, was er sagen will. Entgegen
landläufiger Meinung findet sich in dem Buch so gut wie nichts an Differen-
tialrechnung. Das zweite Newtonsche Gesetz, die lex secunda mẍ = F , also
Masse mal Beschleunigung gleich Kraft, wurde in dieser Form erst von Eu-
ler hingeschrieben. Bei Newton findet man nur weitgehend kryptischen Text,
einige Bilder und die Mathematik des Dreisatzes (oder Strahlensatzes). Im

                                      6
Text allerdings eine Menge von Aussagen, die ohne Meisterschaft in der In-
finitesimalrechnung sicher nicht hätten erzielt werden können. Offenbar hat
Newton in den Principia, gedrängt von Halley, Ergebnisse zusammengetra-
gen, die er im Laufe der Jahre mit Hilfe der Differential- und Integralrechung
erzielt und in seinen Schubladen gesammelt hatte, die er aber nicht oder nur
andeutungsweise erklärt. Seine Folge von Sätzen“, Erklärungen“, Korol-
                                              ”         ”                ”
larien“, Aufgaben“ hat die Tradition mathematischer Literatur bis heute
          ”
geprägt, vor allem darin, dass man die Schliche nicht preisgibt, auf denen
man zu seinen Resultaten gelangt ist. Chandrasekhars eigener Stil (er war
Physiker, nicht Mathematiker) ist dazu die Antithese. Doch im Interesse an
der Sache und in der Hingabe zum Detail sind die beiden enge Verwandte.
     Die große Leistung der Principia war, die Gültigkeit des Gravitationsge-
setzes zu etablieren, wonach je zwei Massen m1 und ms einander mit einer
Kraft F anziehen, die beiden Massen proportional und dem Quadrat der Ent-
fernung r umgekehrt proportional ist, F ∝ −m1 m2 /r2 . Man lernt im Physik-
unterricht, dass Newton aus der Kombination dieses Gesetzes mit seiner lex
secunda die Eigenschaften der Kepler-Ellipsen herleiten konnte; das ist in der
Tat der Inhalt des 11. Abschnitts der Principia. Man lernt aber gewöhnlich
nicht, dass dies für Newton noch nicht die Universalität des Kraftgesetzes
demonstrierte. Denn schließlich laufen nicht alle Himmelskörper auf Kepler-
Bahnen. Der Mond vor allem zeigt deutliche Abweichungen, und deshalb
ist der Hauptteil der Bemühungen darauf gerichtet, dessen viele Bewegun-
                                                                ”
gen“ [11] zu erklären: Detailarbeit zu leisten wie Chandra in seinem Buch
über schwarze Löcher, siehe Kasten 2.
     Es gelingt Newton, mit Hilfe des 1/r2 -Gesetzes alle zu seiner Zeit bekann-
ten Eigenschaften der Mondbewegung mit einer Zahl quantitativ zu erklären:
dem Verhältnis m = 27.212 22/365.242 = 1/13.36 der Längen von tropischem
Monat und tropischem Jahr, dessen Quadrat die Stärke der Störung durch
die Sonne charakterisiert. Alle – bis auf eine: die Präzession des Perigäums
kommt um einen Faktor 2 zu langsam heraus. Das hinterlässt bohrende Zwei-
fel, und Newton diskutiert ernsthaft die Alternative, an die er nicht glauben
                                                         4
mag, nämlich dass ein Kraftgesetz 1/rn mit n = 2 243        ad hoc den korrek-
ten Wert für die Präzession liefern würde. Erst 50 Jahre später konnte die
analytische Mechanik zeigen, dass Newtons Resultate in erster Näherung der
Störungstheorie völlig korrekt sind, dass aber bei der Präzession der Apsiden
die zweite Näherung, was sehr ungewöhnlich ist, fast noch einmal denselben
Beitrag liefert. Es kann hier nicht ausgebreitet werden, wie Newton solche
Rechnungen bewältigt haben mag, aber völlig klar ist, dass seinen nur in
Worte gekleideten Argumenten eine meisterhafte Beherrschung der Infinite-
simalrechnung zugrunde liegen muss.
     Chandras Buch ermöglicht dem common reader“, die Principia mit Ge-
                                       ”
                                       7
winn und Verstand und ohne weitere Hilfen zu lesen, wohl erstmals seit ihrem
Erscheinen. Es übersetzt Newton in die heutige Sprache der Physik. Newton
hätte daran seine Freude, sicherlich auch an der Korrektur von Druckfehlern,
die seit 300 Jahren niemand bemerkt hat. Chandra gesteht, dass er keinerlei
Sekundärliteratur zu Rate gezogen, sondern direkt mit Newton kommuniziert
habe: Wissenschaftsgeschichte auf neue Art, der Sache verpflichtet und nicht
zuerst dem Autor. Physikern ist endlich der Zugang zu einer ihrer wichtigsten
Quellen erschlossen; dafür gebührt Chandrasekhar Dank.

Literatur
 [1] An Introduction to the Study of Stellar Structure, University of Chicago
     Press 1939

 [2] Principles of Stellar Dynamics, University of Chicago Press 1943

 [3] Stochastic Problems in Physics and Astronomy, Rev. Mod. Phys. 15
     (1943)

 [4] Radiative Transfer, Oxford University Press 1950, Dover, New York 1960

 [5] Hydrodynamic and Hydromagnetic Stability, Clarendon Press, Oxford
     1961, Dover, New York 1981

 [6] Ellipsoidal Figures of Equilibrium, Yale University Press 1969, Dover,
     New York 1987

 [7] The Mathematical Theory of Black Holes, Oxford University Press 1983

 [8] Newton’s Principia for the Common Reader, Clarendon Press, Oxford
     1995

 [9] Truth and Beauty – Aesthetics and Motivations in Science, The Univer-
     sity of Chicago Press 1987

[10] E. N. Parker, Physics Today 48 no. 11, 106-108 (1995)

[11] M. C. Gutzwiller, Newton und die vielen Bewegungen des Mondes, in:
     Sterne, Mond, Kometen, P. H. Richter (Hrsg.), Hauschild, Bremen 1995

                                     8
Kasten 1: Theorie der Weißen Zwerge
Die Gravitationsenergie eines Sterns von Masse M und Radius R hat die
Größenordnung GM 2 /R, wobei G die Gravitationskonstante ist. Den Gra-
vitationsdruck erhält man als Energiedichte (Zahlenfaktoren wie 4π werden
hier ignoriert),
                                    M2          N2
                            pG ∼ G 4 ∼ Gm2p 4 ,                           (1)
                                    R           R
wobei N ∼ M/mp die Zahl der Protonen oder Elektronen ist. Bei der Sonne
ist dies mit N kT /R3 vergleichbar (k die Boltzmann-Konstante, T die Tem-
peratur von etwa 15 · 106 K), so daß sich ihr Radius aus dem Gleichgewicht
von Gravitationsdruck und klassischem Druck eines idealen Boltzmann-Gases
erklärt, R ∼ Gm2p N/kT .
    Ist nun die Materie so dicht wie bei weißen Zwergen, dann wird der innere
Druck nicht mehr durch N kT /R3 gegeben, sondern durch den Fermidruck
der Elektronen pF ∼ N kTF /R3 , wobei deren Fermi-Temperatur
                                                   2/3
                                 ~2
                                          
                                              N
                            TF ∼                                          (2)
                                 me k         R3

höher ist als die Temperatur im Innern des Sterns. Der Grund dafür ist das
Pauli-Prinzip, das die Elektronen auf hohe Energieniveaus zwingt. Es folgt

                                     ~2 N 5/3
                              pF ∼            .                           (3)
                                     me R 5
Kombiniert man nun (1) und (3) durch Gleichsetzen von pG und pF , so erhält
man als Beziehung zwischen Radius und Masse des weißen Zwerges das Fow-
lersche Resultat
                           ~2
                    R∼           N −1/3 =: RF N −1/3 .                  (4)
                         Gme m2p
Darin tritt bemerkenswerterweise eine nur aus Naturkonstanten gebildete
Länge RF auf, deren Größe mit 1025 m oder 109 Lichtjahren etwa dem Durch-
messer des sichtbaren Kosmos entspricht. Es wäre sinnlos, weißen Zwergen
aus nur einem Proton, N = 1, die Ausdehnung des Kosmos zuzuordnen, da
sie sich bei zu kleinen Massen erst gar nicht bilden. Für weiße Zwerge im
unteren Massenbereich entspricht das Fowler-Gesetz R ∝ M −1/3 aber den
Beobachtungen.

                                      9
Abbildung 3: Masse-Radius-Beziehung für weiße Zwerge. Die beiden oberen Teil-
kurven entsprechen den Näherungen (9) bzw. (8), die durchgezogene Linie zeigt
das exakte Ergebnis. Die Kreise illustrieren die relativen Größen der Sterne; der
schattierte Teil zeigt den Anteil der relativistischen Elektronen mit p > me c.

    Chandrasekhar bemerkte auf seiner Schiffsreise 1930, dass die Formel bei
größeren Massen nicht mehr gelten kann. Die Dichte N/R3 und damit die
Fermitemperatur TF gemäß (2) werden so groß, dass Elektronen nicht der
klassischen Beziehung E = p2 /2m zwischen Energie E und Impuls p genügen,
sondern relativistisch sind. Im extrem relativistischen Fall, der leicht zu be-
handeln ist, muss man E = pc ansetzen (c die Lichtgeschwindigkeit) und
erhält für den Fermidruck
                                                   2
                                           (R/λ)2
                                     
                              ~c 4/3
                        pC ∼ 4 N       1−             ,                     (5)
                              R             N 2/3
wobei λ = ~/me c die Comptonlänge des Elektrons ist. Das Gleichgewicht
pG = pC liefert ein verblüffendes Resultat. Zunächst findet man
                                                  2
                                           (R/λ)2
                                     
                           2/3   RF
                        N ∼            1−             ,             (6)
                                  λ         N 2/3
                                         √
was nach Einführen der Länge RC = RF λ und der Masse MC = NC mp
gemäß
                          3  3  3/2
                  MC        RC          RF        ~c        1
                       ∼           =          ∼                     (7)
                   mp        λ          RC         G        m3p
geschrieben werden kann als
                                        s
                                  1/3            2/3
                      R         M                M
                          =               1−              .         (8)
                      RC        MC              MC

                                       10
Dies ist Chandrasekhars berühmte Formel. Wenn M gegen MC anwächst,
schrumpft der Gleichgewichtsradius R gegen Null, das heißt, der Stern kol-
labiert! Die Chandrasekhar-Masse MC ist allein durch die Naturkonstanten
~, c, G und mp bestimmt. Ihr numerischer Wert ist, bei genauer Rechnung,
etwa 1.4 Sonnenmassen. Das Fowler-Resultat (4) lässt sich jetzt ausdrücken
als                                    1/3
                             R       MC
                                =                                        (9)
                            RC       M
und kann durch eine exakte relativistische Rechnung stetig an (8) angeschlos-
sen werden, siehe Abbildung 1, die Chandras Artikel in den Monthly Notes of
the Royal Astronomical Society 95, 207 (1935) entnommen ist. Die charakte-
ristische Länge RC ≈ 6000km ist ungefähr der Radius der Erde, zugleich aber
das geometrische Mittel aus der Größe des Kosmos und der Comptonlänge
des Elektrons. Ob das nur Zufall ist?

Kasten 2: Newtons Mondtheorie
In groben Zügen kann man sagen, dass der Kern der Mondtheorie in Pro-
position LXVI des ersten Buches und ihren 22 Korollarien enthalten ist.
Allerdings ist die Darstellung dort so knapp, dass Begründungen für die Be-
hauptungen schlechterdings nicht nachvollzogen werden können. Das scheint
Newton bewusst zu sein, denn in den Propositionen XXI bis XXXV des drit-
ten Buches schiebt er Einzelheiten nach.

Abbildung 4: Newtons Veranschaulichung des Systems aus Sonne (S), Erde (T),
Mond (P).

  Um einen Eindruck vom Stil der Principia zu geben, sei die Proposition
LXVI hier in deutscher Übersetzung zitiert:
        Wenn drei Körper, deren Kräfte mit dem Quadrat der Entfer-
     nung abnehmen, sich gegenseitig anziehen; und die beschleunigen-
     den Anziehungen je zweier gegen den dritten sich untereinander
     wie die Quadrate der Entfernungen verhalten; und die zwei gerin-
     geren den größten umrunden: dann, sage ich, werden die beiden

                                     11
rotierenden Körper mit den zum innersten und größten gezogenen
     Radien um jenen Körper Flächen überstreichen, die in stärkerem
     Maße der Zeit proportional sind, und einer Bahn folgen, die eher
     eine Ellipse mit Fokus im Schnittpunkt der Radien approximiert,
     wenn jener große Körper selbst von jenen anziehenden Kräften
     beeinflusst wird, als es der Fall wäre, wenn jener große Körper
     überhaupt nicht von den geringeren angezogen würde, sondern in
     Ruhe wäre; oder als es der Fall wäre, wenn jener große Körper
     sehr viel mehr oder sehr viel weniger angezogen würde, oder sehr
     viel mehr oder sehr viel weniger durch die Anziehung beeinflusst
     würde.

Was mag das heißen? Zuerst muss man sich aus dem weiteren Kontext da-
von überzeugen, dass mit dem großen Körper“ die Erde und mit den beiden
                                  ”
 geringeren“ Sonne und Mond gemeint sind. Das erhellt vor allem aus Ab-
”
bildung 4, die insgesamt siebenmal als Illustration erscheint. Warum aber
sollte die Sonne geringer“ sein als die Erde, wenn doch die Kraft, die die
                   ”
Sonne auf den Mond ausübt, doppelt so groß ist wie die Anziehungskraft
durch die Erde? Sind mS und mE sind die Massen von Sonne und Erde,
mS /mE ≈ 333 000, und rS , rE die Entfernungen Mond-Sonne bzw. Mond-
Erde, rS /rE ≈ 390, dann findet man nämlich für das Verhältnis der Kräfte
(mS /rS2 )/(mE /rE2 ) ≈ 2.2. Ist man aber mit der Mondtheorie etwas vertraut,
dann ahnt man, was Newton sagen will: dass zunächst die Schwerpunktbe-
wegung des Systems Erde+Mond betrachtet werden sollte und danach die
Relativbewegung von Erde und Mond. Der Schwerpunkt, mit der Gesamt-
masse M = mE + mM von Erde und Mond dort vereinigt gedacht, folgt
einer Keplerellipse um die Sonne, und auf dem Hintergrund dieser Bewegung
kann die Relativbewegung wiederum in niedrigster Näherung als Keplerellip-
se beschrieben werden, mit der differentiellen Anziehung durch die Sonne als
schwacher Störung. Aus dieser Sicht ist es sinnvoll, die Erde als den großen
                                                                       ”
Körper“ anzusehen, der allerdings, dem Mond gegenüber, ebenfalls um den
gemeinsamen Schwerpunkt rotiert und somit von der Anziehung durch die
beiden geringeren“ beeinflusst wird. Das Problem überhaupt in dieser Weise
        ”
anzusetzen, ist die erste große Leistung Newtons in der Mondtheorie.
    Newton unterscheidet dann zwei Fälle, die nacheinander bearbeitet wer-
den. Im Fall 1 liegt die Mondbahn in der Ekliptik und wird in erster Näherung
als Kreis um T angenommen, der durch die Sonne etwas verformt wird. Im
Fall 2 wird dann die Inklination berücksichtigt.

                                     12
Abbildung 5: Richtung und relative Stärke der Störkraft, die die Sonne auf die
Mondbahn ausübt, wenn sie sehr weit links steht. Quantitativ gilt FS = 12 m2 r(1 +
3 cos 2ψ).

  Es kommt nun darauf an, den Einfluss der Sonne zu charakterisieren.
Newton beschreibt in Worten alle Eigenschaften der in Abb. 5 dargestellten
Quadrupolkraft:

    - Ihre Stärke im Vergleich zur Anziehung Erde-Mond ist (mS /M )(rE /rS )3 ,
      und dies ist nach dem dritten Keplerschen Gesetz gleich dem Qua-
      drat des Verhältnisses von tropischem Monat und tropischem Jahr,
      (27.322/365.24)2 = 1/178.7 =: m2 .

    - Sie ist proportional dem Abstand r zwischen Erde und Mond.

    - In den Syzygien (Vollmond- und Neumond) ist sie effektiv abstoßend
      und vom Betrag her doppelt so groß wie in Quadratur (Halbmond-
      Positionen), wo sie effektiv anziehend wirkt. In allen anderen Positio-
      nen zerstört sie den Zentralkraftcharakter der Wechselwirkung zwischen
      Erde und Mond.

Und welche Wirkung hat nun diese Störung? Mit erstaunlicher Sicherheit
erkennt Newton ohne alle Begründung (die wird erst in Proposition XXVII
des dritten Buches geliefert), dass sie eine anfänglich kreisförmige Mondbahn
in eine Ellipse deformiert, mit dem Punkt T als Zentrum, nicht Brennpunkt,
und dass deren große Halbachse die Halbmond-Positionen verbindet, siehe
Abb. 6. Newton findet, dass der Mond in den Syzygien um einen Faktor
69/70 näher bei der Erde steht und dass er dort einen höheren Drehimpuls
hat als in Quadratur.

                                        13
Abbildung 6: Form der Mondbahn unter dem Einfluss der Störung durch die
Sonne, wenn die ungestörte Bahn ein Kreis um T ist. Quantitativ gilt r/r0 =
1 − x cos 2ψ mit x = m2 (1 + 19m/6).

    Auf dieser Grundlage gelingt es ihm, alle seit Tycho bekannten Un-
                                                                        ”
gleichheiten“ in der Bewegung des Mondes quantitativ zu erklären, besonders
aber die seit dem Altertum bekannten Unterschiede von tropischem Monat
(Frühlingspunkt zu Frühlingspunkt), T1 = 27.321 Tage, anomalistischem Mo-
nat (Perigäum zu Perigäum), Ta = 27.554 Tage, und drakonitischem Monat
(Knoten zu Knoten), Td = 27.212 Tage. Sein Resultat Td ≈ T1 (1 − 34 m2 ) =
0.9958T1 = 27.206 für die Knotenbewegung ist exzellent, aber die Präzession
des Perigäums kommt mit Ta = T1 (1 + 34 m2 ) = 1.0042T1 = 27.436 nur halb
so schnell heraus, wie es wünschenswert wäre. Diese Schwierigkeit konnten
erst Clairaut, D’Alembert und Euler beheben.

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