Globale Eigenschwingungen der Erde
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Schwerpunkt Geophysik Globale Eigenschwingungen der Erde Elastische Schwingungen und Kreiselschwingungen der Erde erlauben Rückschlüsse auf das Erdinnere Walter Zürn und Rudolf Widmer-Schnidrig So wie Geigenbauer die Geheimnisse einer Abb. 1: Stradivari zu entschlüsseln versuchen, indem Signal eines Tiefherdbebens in Nordbolivien vom 9. Juni 1994, sie ihren Klang, ihre Eigenschwingungen analy- das am Observatorium Schiltach im Schwarzwald mit einem sieren, erlauben die Eigenschwingungen der Breitbandseismometer registriert wurde. Die Zeitreihe dauert Erde als Ganzes Rückschlüsse über das Erd- insgesamt 84 Stunden und erreicht eine größte Amplitude von 25 mm/s (vertikale Bodengeschwindigkeit). Das auffälligste Sig- innere. Erdbeben übernehmen dabei die Rolle nal sind die Rayleigh-Wellenzüge, die im 1,5-Stundenrhythmus des Geigenbogens. Darüber hinaus regen Gezei- aus wechselnden Richtungen auf dem Großkreis mit abnehmen- tenkräfte und die Wechselwirkung mit der der Amplitude an der Station ankommen. Ein voller Umlauf um Atmosphäre und den Ozeanen die Erde auch zu die Erde dauert etwa drei Stunden. Die schwache 12-Stunden- Kreiselschwingungen an, die weitere Einblicke Schwingung im Hintergrund sind die elektronisch stark abge- schwächten Erdgezeiten. in das Erdinnere ermöglichen. D ie mechanischen Resonanzen eines Systems las- Eigenschaften werden durch Trägheitsmomente, Defor- sen sich mit zwei einfachen Methoden auffin- mierbarkeit usw. bestimmt. Die Natur führt auch die- den. Zum einen kann man das System aus der sen Versuch mit der Erde als Kreisel dauernd durch, al- Ruhelage auslenken und loslassen; es kehrt dann mit lerdings sind die Anregungen dabei kontinuierlich und freien, gedämpften Eigenschwingungen zurück. Zum bestehen aus breitbandigen Drehmomenten der Atmos- anderen kann man das System harmonisch mit varia- phäre und Ozeane oder den quasiperiodischen Gezei- bler Frequenz anregen und die Eigenschwingungen auf tenkräften von Mond und Sonne. Grund der resonanten Reaktion finden, wobei die Art Neben diesen freien Schwingungen führt die feste der Anregung zur Eigenschwingung passen muss. Hat Erde eine ganze Reihe von erzwungenen (quasi-) man eine Theorie für diese Schwingungen zur Ver- periodischen Schwingungen aus, z. B. die allgemeine fügung, lassen sich aus den Beobachtungen relevante Präzession der Erdachse mit einer Periode von 25765 Eigenschaften des Systems ermitteln. Jahren, die jährliche Polschwankung und die Gezeiten Wird als Beispiel eine frei aufgehängte Stahlkugel der festen Erde. kurz mit einem Hammer angeschlagen, so klingt sie Wie wir im Folgenden zunächst an den elastischen, danach für einige Zeit: Die Kugel wurde durch den dann an den Kreisel-Eigenschwingungen der Erde se- Schlag zu ihren freien elastischen Eigenschwingungen hen werden, ermöglichen es die beobachteten Frequen- angeregt, deren Verschiebungen an der Oberfläche zur zen und Gütefaktoren der freien Schwingungen, unsere Abstrahlung akustischer Wellen führen. Die zugehöri- Kenntnisse über die mechanischen Eigenschaften des gen Eigenfrequenzen sind charakteristisch für die Ku- Erdinneren zu verbessern. Die Amplituden und Phasen gel und hängen von ihrer Größe, Form, Dichte und erlauben darüber hinaus Rückschlüsse auf die Anre- Elastizität ab. Ersetzt man die Kugel durch die Erde, gungsmechanismen. den Hammer durch ein starkes Erdbeben und unsere Ohren durch empfindliche Seismometer, so hat man Elastische Eigenschwingungen das geophysikalische Analogon des Laborversuchs vor Nach dem extrem starken Erdbeben am 22. Mai Dr. Walter Zürn und sich. Die Natur führt diesen Versuch häufig durch – 1960 in Chile gelang es zum ersten Mal, Eigenschwin- Rudolf Widmer- leider oft mit katastrophalen Folgen –, und eine Aufga- gungen (Moden) der Erde mit verschiedenen langperi- Schnidrig, Ph.D., be der Seismologie ist es, die elastischen Eigenschwin- odischen Seismographen zu beobachten. Am 28. März Geowissenschaftli- gungen der Erde zu detektieren und daraus die typi- 1964 regte ein weiteres starkes Beben in Alaska die ches Gemeinschafts- observatorium der schen Eigenschaften der Erde zu ermitteln. Die Fre- Schwingungen wieder messbar an. Diese beiden Ereig- Universitäten Karls- quenzen liegen dabei zwischen 0,3 und etwa 20 mHz, nisse markieren den Beginn einer neuen Forschungs- ruhe/Stuttgart wobei die obere Grenze nur durch Auswerteverfahren richtung der Seismologie und öffneten ein neues Fens- (BFO), Heubach 206, gegeben ist. ter ins tiefe Erdinnere: die terrestrische Spektroskopie D-77709 Wolfach Wird ein Spielkreisel in schnelle Rotation versetzt [1–3]. Die beobachteten Frequenzen vieler Moden E-mail: walter. zuern@gpi.uni- und seine Figurenachse kurz angestoßen, so führt die lagen gleich sehr dicht bei denen, die für Erdmodelle karlsruhe.de, Achse kreisförmige Oszillationen, die Kreisel-Eigen- berechnet wurden, die ihrerseits aus den Laufzeiten widmer@geophys. schwingungen oder sog. freie Nutationen, aus. Deren seismischer Wellen ermittelt worden waren. uni-stuttgart.de Physik Journal © 2002 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 1617-9439/02/1010-49 $17.50+50/0 1 (2002) Nr. 10 49
Schwerpunkt Seismometer und Gravimeter bestehen aus trägen sen (Selbstgravitation), wobei letztere nur bei den Massen, die an Federn aufgehängt sind und deren Ver- Moden mit den tiefsten Frequenzen eine größere Rolle schiebungen gegenüber den Gehäusen mit Weg- oder spielt. Die Form der Verschiebungsfelder und die Fre- 1) Diese Nomenklatur Geschwindigkeitsaufnehmern erfasst und dann elektro- quenzen dieser „seismischen“ Moden werden durch die unterscheidet sich von derjenigen im Artikel nisch weiterverarbeitet werden. Sie reagieren auf Träg- Geometrie der Grenzflächen sowie die Verteilung der von R. Kind et al. Die heitskräfte und Änderungen des Schwerefeldvektors, die Dichte r und der elastischen Parameter in der Erde Polarisation der Partikel- mit seismischen Signalen einher gehen. Strainseismome- vollständig definiert. Daher lassen sich umgekehrt die- bewegung von S-Moden entspricht einer Kombi- ter (auch: Extensometer) messen dagegen die durch se Eigenschaften und ihre Verteilung für die Erde aus nation von P- und S v- elastische Deformation des Gesteins hervorgerufenen den beobachteten Verschiebungsfeldern und Frequen- Wellen (longitudinal po- Abstandsänderungen zweier Punkte, die zwischen 10–2 zen bestimmen. larisierte Kompressions- und vertikal polarisierte und 103 m voneinander entfernt sein können. In der ersten Näherung kann man bei der Erde von Scherwellen), von T-Mo- Erdbebenseismogramme setzen sich aus verschiede- perfekter Kugelsymmetrie ausgehen, d. h. alle Eigen- den der von Sh-Wellen (horizontal polarisierte nen impulsartigen Signalen der elastischen Kompres- schaften hängen nur vom Abstand r vom Mittelpunkt Scherwellen) sions- und Scherwellen zusammen, die durch das Erd- ab (K = K(r), m = m(r) und r = r(r). Im isotropen Fall innere als sog. Raumwellen zur Station gelangen, charakterisieren Kompressionsmodul K und Scher- gefolgt von Wellen, die sich an der Oberfläche ausbrei- modul m die elastische Antwort bei Scherung bzw. ten, vom sog. Love- und Rayleigh-Typ, die wegen ihrer Kompression.). Löst man die homogenen elastischen Dispersion zeitlich auseinandergezogene Wellenzüge Bewegungsgleichungen für kleine Verschiebungen aus der Ruhelage unter Berücksichtigung der Gravitation und ohne Rotation, so erhält man zwei Typen von Lö- sungen: T-Moden und S-Moden.1) Die Eigenfunktionen lassen sich (in Kugelkoordina- ten r, O , o) jeweils in einen winkelabhängigen Ober- flächenanteil und einen Radialanteil separieren. T-Mo- den (T steht für torodial) sind dadurch charakterisiert, dass das Verschiebungsfeld u(r) in radialer Richtung verschwindet (ur = 0) und divergenzfrei ist (div u = 0). Für sie gilt: uO = n W brg ⋅ ∂ b Pm cosO g⋅e im o ⋅e − i ⋅ v n Tm ⋅ t e j (1) sinO ∂o ∂ − i ⋅ v n Tm ⋅ t e j uo = − nW r ⋅ bg ∂O b Pm cosO g⋅e im o ⋅e (2) wobei u die Verschiebung, v(nTm ) die Eigenkreisfre- quenz, Pm zugeordnete Legendre-Polynome, nW (r) die Abb. 2: Amplitudenspektrum einer 75 Stunden v2 zunehmende Trägheitsbeschleunigung radiale Eigenfunktion und t die Zeit bedeuten. n, , langen Gravimeterregistrierung in erzeugt. Im Detailbild b) erkennt man und m (– „ m „ ) sind ganze Zahlen entsprechend Schiltach des Bebens in den Kurilen am die durch die Coriolis-Kraft bewirkte den Quantenzahlen bei der Lösung der Schrödinger- 4. Oktober 1994. Man erkennt die schar- Linienaufspaltung bei den drei tiefsten Gleichung für das Wasserstoffatom. Zur Kurzbeschrei- fen Spektrallinien der Erde, wobei die Frequenzen. Im Detailbild c) kann man Mode bei 1,58 mHz ( 0S 9) die größte spek- die anomale Aufspaltung des Multipletts bung hat sich die Nomenklatur nTm durchgesetzt. Als trale Amplitude hat. Der Amplitudenab- 10 S 2 erkennen, die durch Anisotropie im Folge der Kugelsymmetrie können die Frequenzen der fall bei hohen Frequenzen wird dadurch inneren Kern etwa doppelt so groß ist Moden nicht von m abhängen (Entartung), da die verursacht, dass diese nach drei Tagen wie sie aufgrund des Äquatorwulstes der Wahl des Koordinatensystems beliebig ist. Die Menge bereits stark gedämpft sind. Der Anstieg rotierenden Erde zu erwarten wäre (s. der (2 + 1) Einzelmoden (Singuletts) wird als Multi- bei tiefen Frequenzen wird durch die mit Text). plett bezeichnet (m wird weggelassen). Die toroidale Grundmode 0T2 (engl. „twisting“-mode, Abb. 3) hat ei- bilden. Danach erscheint die sog. Coda, die aus mehr- ne Periode von 44 Minuten und ist bisher nur am Ob- fach reflektierten und gestreuten, sowie mehrfach um servatorium Schiltach mit Extensometern eindeutig be- die Erde gelaufenen Wellen besteht. Ähnlich wie eine obachtet worden. Die gemessene Deformation betrug stehende Welle auf einer Saite durch die Überlagerung dabei etwa 10–11. einer nach links laufenden mit einer nach rechts lau- Für S-Moden nSm (S für sphäroidal) ist das Ver- fenden Welle entsteht, führt die konstruktive Interfe- schiebungsfeld wirbelfrei (rot u = 0) und i. A. sind alle renz dieser Wellen zu den Eigenschwingungen der Er- drei Verschiebungskomponenten von null verschieden: de. Verschiedene Eigenschwingungstypen entstehen da- bei aus verschiedenen Typen von laufenden Wellen (s. − i ⋅ v n Sm ⋅ t e j u.). Auswertbare Eigenschwingungsseismogramme b g b g⋅e ⋅e ur = n U r ⋅ Pm cosO imo (3) müssen mindestens 20 Stunden lang sein. ∂ − i ⋅ v n Sm ⋅ t e j uO = V brg ⋅ n P bcosO g ⋅ e m imo ⋅e (4) Abbildung 1 zeigt eine Registrierung des stärksten je ∂O digital registrierten Tiefherdbebens (Nordbolivien, 9. V brg ∂ n − i ⋅ v n Sm ⋅ t e j uo = ⋅ P bcosO g ⋅ e m imo ⋅e , (5) Juni 1994) und Abb. 2 das Fourier-Spektrum eines ähn- sinO ∂o lich starken Bebens mit deutlich erkennbaren Spektral- linien der Erde. mit den radialen Eigenfunktionen nU (r) und nV (r). Rückstellkräfte bei diesen Schwingungen sind so- Die Mode mit der tiefsten Frequenz ist 0S2, im Eng- wohl die elastischen Spannungen, die durch Deforma- lischen als „football“-mode bezeichnet, mit einer Peri- tion aus dem Gleichgewichtszustand entstehen, als ode von 54 Minuten (siehe Abb. 3). Sie wird nur von auch die Gravitationswirkung der verschobenen Mas- den allerstärksten Erdbeben nachweisbar angeregt. Die Physik Journal 50 1 (2002) Nr. 10
Schwerpunkt definiert die so genannten Fundamentalmoden, Moden mit n > 0 sind die Obertöne. Die Moden klingen durch anelastische Vorgänge bei der Deformation exponentiell ab, und ihre Energie wird in Wärme umgewandelt. Die Gütefaktoren Q ent- sprechen der Anzahl von Schwingungen, nach denen die Amplitude einer Mode um den Faktor e–p abge- klungen ist. Anelastische Dämpfung findet besonders bei Scherdeformation statt, d. h. Moden mit wenig Scheranteil (radiale Moden) besitzen höhere Gütefak- toren als andere. Tabelle 1 enthält die Eigenfrequenzen und Gütefaktoren ausgewählter Moden mit den experi- mentellen Unsicherheiten aus der Analyse von Spek- tren wie dem in Abb. 2. Obwohl die Linien zu hohen Frequenzen hin enger beieinander liegen, ist es gelun- gen, durch die simultane Analyse von mehr als 10000 Seismogrammen insgesamt mehr als 1600 Multipletts aufgrund ihres unterschiedlichen Verschiebungsfeldes an der Erdoberfläche zu identifizieren und ihre Fre- quenzen zu schätzen. Die Fundamentalmoden (n = 0) lassen sich für >> 1 als konstruktive Interferenz aus Oberflächenwellen beschreiben, die den Planeten in zwei entgegengesetzte Richtungen von der Quelle umlaufen. Dabei überlagern sich zwei Rayleigh-Wellen zu einer 0S -Mode und zwei Love-Wellen zu einer 0T -Mode (vgl. Abb. 3 für 0S12). Es gilt dann die Jeanssche Formel: 0 v = bgb c v ⋅ +1 2 g , (6) a mit der Phasengeschwindigkeit c der Oberflächenwelle und dem Erdradius a. In Abb. 1 kann man verschiede- Abb. 3: ne Züge dieser wiederkehrenden Oberflächenwellen Schnappschüsse der berechneten Verschiebungsfelder der ausmachen. Mit wachsendem dringen die Eigenfunk- Multipletts 0T 2, 0S 2 und 0S 12 an der Erdoberfläche in der sog. Mollweide-Projektion. Die jeweiligen Erdbebenherde sind tionen dieser Moden immer weniger in die Erde ein, durch Sterne markiert. Die horizontalen Verschiebungen sind und ihre Frequenzen enthalten damit Information aus durch Pfeile (selbstverständlich nicht maßstäblich) gegeben, die immer geringer werdenden Tiefen (Abb. 4). radialen Verschiebungen sind durch rote (nach außen) und Obertöne (n > 0) kann man sich durch konstruktive blaue Farbtöne kodiert. Für 0S 12 sind die Horizontalverschie- bungen nicht gezeigt. Sie verhalten sich aber analog zu 0S 2. Interferenz von hin- und herreflektierten Raumwellen entstanden denken. Ihre radialen Eigenfunktionen Erde schwingt dabei – stark übertrieben – zwischen greifen dementsprechend tiefer in die Erde hinein den Formen eines „American football“ und eines Kür- (Abb. 4). Manche dieser Moden (wie z. B. 3S1, 8S1, 13S2, bis hin und her. 18S 4, siehe Abb. 4) haben Eigenfunktionen, die bis tief Spezialfälle der sphäroidalen Moden sind die radia- in den inneren Erdkern eindringen, was sie sehr wich- len Moden ( nS0), bei denen nur ur von null verschieden tig macht für die Ermittlung der Struktur in der Nähe ist. Die einer atmenden Kugel (engl. „breathing“-mode) des Erdmittelpunktes. entsprechende Mode 0S0 hat eine Periode von 20 Mi- nuten, die annähernd gleich der Laufzeit einer Kom- Tab. 1: Aus seismischen Daten geschätzte entartete Eigenfrequenzen und Gütefakto- pressionswelle von der Erdoberfläche zum Erdmittel- ren [3] einiger Moden mit ihren experimentellen relativen Unsicherheiten punkt und zurück ist. Daneben hat sie bei weitem den höchsten Gütefaktor, da bei dieser Mode der Anteil der Mode Frequenz Unsicherheit Q Unsicherheit Scherdeformation minimal ist (siehe Tab. 1 und Abb. mHz 10–4 % 4). Da sie noch bis zu einen Monat nach sehr starken 0S 0 814,39 0,04 5882 6 Beben beobachtet werden konnte, ist ihre Frequenz sehr genau bekannt. Eine homogene Stahlkugel mit 0S 2 309,45 9 813 24 demselben Radius wie die Erde hätte für diese Mode 0S 3 468,55 3 380 12 eine Periode von 30 Minuten. 0S 12 1988,70 1,5 352 4 Im Gegensatz zu den Oberflächenfunktionen hän- gen die radialen Eigenfunktionen U(r), V(r) und W(r) 0S 23 3170,65 0,3 259 2 vom genauen Aufbau der Erde ab, und ihre Knotenzahl 0S 28 3634,40 0,2 217 2 entlang des Radius r nimmt mit wachsendem n zu 1S 8 1797,76 0,6 433 11 (Abb. 4). Jede Mode besitzt drei Arten von Knoten- flächen: n definiert die Anzahl der Knotenkugeln (r = 3S 1 944,20 3,2 800 10 const.) im Erdinnern, 兩m兩 gibt die Anzahl der Knotene- 10S 2 4042,58 0,5 855 13 benen durch den Erdmittelpunkt (Meridianebenen o = 0T 2 377,30 21 – – const.) an und –兩m兩 definiert die Anzahl der Knoten- kegel (O = const.) mit Spitze im Erdmittelpunkt. n = 0 0T 23 3109,10 2,2 139 3 Physik Journal 1 (2002) Nr. 10 51
Schwerpunkt Bisher sind wir davon ausgegangen, dass alle physi- mit der entarteten Eigenfrequenz nv . Die Koeffizienten kalischen Eigenschaften der Erde radialsymmetrisch a, b und c sind für jedes Multiplett verschieden. Die verteilt und die Grenzflächen kugelförmig sind. Wenn symmetrische Komponente m ⭈ b ist auf den Effekt er- man etwas genauer hinschaut, wird diese sehr hohe ster Ordnung der Coriolis-Kraft zurückzuführen, ana- Symmetrie gebrochen, und die nächste Näherung ist log zum Zeeman-Effekt beim Wasserstoffatom in einem die Axialsymmetrie um die Verbindungslinie zwischen Magnetfeld. Diese symmetrische Aufspaltung führt da- den Polen. In Wirklichkeit gibt es erhebliche Abwei- zu, dass das Knotenbild auf der Erdoberfläche mit der chungen von diesen einfachen Symmetrien, wie man Geschwindigkeit b ⭈ nv nach Westen wandert. Die bei Betrachtung der Erdoberfläche leicht einsieht. höchste Geschwindigkeit erreicht die „football“-Mode Führt man die Elliptizität der Erde ein (der Abstand 0S 2, deren Knotenmeridiane in etwa 2,5 Tagen einmal Äquator – Mittelpunkt ist ca. 21 km größer als der die Erde umrunden. Die Frequenzen ihrer fünf Singu- Abstand Pol – Mittelpunkt) und ihre Rotation, so wird letts liegen um etwas mehr als 4 mHz auseinander. Die die Radialsymmetrie gebrochen, es liegt Axialsymme- Frequenzverschiebung a und der quadratische Term in trie um die Rotationsachse vor und die Entartung der m sind hauptsächlich auf den Äquatorwulst zurück- Moden bezüglich m wird aufgehoben (O = 0 entspricht zuführen. Die Koeffizienten a, b und c hängen nur dann der Rotationsachse). Diese Komplikationen las- schwach von der Struktur des Erdinnern ab, b vor sen sich störungstheoretisch behandeln. Der erste Ef- allem von der Dichte. Die Rotationsaufspaltung über- fekt ist die Aufspaltung der Multipletts. Für die Eigen- wiegt bei tiefen Frequenzen und nimmt mit V/nv ab, kreisfrequenzen der Singuletts gilt dann (– ⱕ m ⱕ ): sodass die dadurch verursachte Linienaufspaltung nur bei wenigen Moden direkt im Spektrum eines Seis- m nv = nv ⭈ (1 + a + m ⭈ b + m2 ⭈ c) , (7) mogramms sichtbar wird (Abb. 2, links oben). Ein zweiter Effekt der Symmetriebrechung ist die Kopplung der Moden. Die Gleichungen (1) – (5) be- schreiben die Eigenfunktionen nun nur noch nähe- rungsweise. Man unterscheidet Kopplung zwischen S- und T-Moden, Kopplung zwischen Moden mit gleichem n, aber verschiedenem , und beliebige Kopplung. Am leichtesten beobachtbar ist die Coriolis-Kopplung, die zur Beobachtung von T-Moden in Spektren der verti- kalen Bodenverschiebung führt [4]. Die Stärke dieser Kopplung hängt hierbei wiederum von der Dichtever- teilung in der Erde ab. Für alle Kopplungsmechanis- men gibt es Auswahlregeln [1, 4], d. h. je nach der Phy- sik des Kopplungsmechanismus gibt es Bedingungen, Abb. 4: Radiale Verteilung der Scherenergiedich- dringtiefe mit wachsendem abnimmt, die die Quantenzahlen erfüllen müssen, damit Kopp- ten (nach rechts, blau) und Kompres- auch Moden, die signifikante Energie- lung überhaupt stattfinden kann. Die Kopplung zweier sionsenergiedichten (nach links, gelb) für dichteanteile im äußeren (z. B. 3S 1) und Moden ist umso stärker, je näher die Eigenfrequenzen einige Moden als Funktion des relativen inneren Kern (z. B. 10S 2) besitzen. Die der ungekoppelten Moden zusammenliegen. Deswegen Erdradius’. Man erkennt neben den rei- Grenzen zwischen Mantel, äußerem und nen Mantelmoden 0S , 0T , deren Ein- innerem Kern sind gestrichelt markiert. sind zwischen 1,8 und 3,3 mHz die Moden 0S und 0T +1 sehr stark durch die Coriolis-Kraft miteinander gekoppelt, was man deutlich in den beobachteten Eigenfrequenzen sehen kann. Bei Kopplung zweier Moden nähern sich die Gütefaktoren, und die Eigen- frequenzen entfernen sich voneinander. Wird die Axialsymmetrie auch noch gebrochen durch laterale Heterogenitäten in der Struktur der Er- de, so nimmt die Komplexität der Modenkopplung zu. Für Fundamentalmoden geht man davon aus, dass die- jenigen Oberflächenwellen, die vom Erdbebenherd auf dem Großkreis zur Station und dann mehrfach um die Erde laufen, durch konstruktive Interferenz das Seis- mogramm und die darin enthaltenen Spektrallinien der Erde erzeugen. Auf einer lateral heterogenen Erde ist die über den Großkreis gemittelte Phasengeschwindig- keit je nach Lage des Großkreises verschieden, sodass die Interferenzbedingung (6) auf verschiedenen Groß- kreisen verschiedene Frequenzen für dasselbe Multi- Abb. 5: plett liefert. Natürlich kann jedes Singulett nur eine Eigenschaften der Mode 1S 8. Links oben würde man auf einer kugelsymmetri- feste Frequenz haben, aber das unaufgelöste Multiplett ist das radiale Verschiebungsfeld des schen, nicht rotierenden Erde erhalten, ist die Summe aller Singuletts und auf einem bestimm- gesamten Multipletts (17 Singuletts) nach die blaue gestrichelte Linienform erhält dem Beben von Abb. 1 dargestellt. man nach Einführung der Rotation und ten Großkreis tragen nur Singuletts bei, die Gl. (6) er- Warme (kalte) Farbtöne entsprechen Ver- Elliptizität der Erde, die orange dicke füllen, alle anderen interferieren destruktiv. Masters et schiebungen nach außen (innen). Das Linie ergibt sich bei Berücksichtung der al. haben diese Eigenschaft 1982 dazu benutzt, um das Bild rechts zeigt das beobachtete Ampli- lateralen Variationen der Scherwellenge- allererste lateral heterogene Erdmodell zu erstellen [5]. tudenspektrum an der Station MAJO schwindigkeit (v s = √苵◊m◊/r ◊r) des Erdmantels, Weil die scheinbaren Eigenschaften des Multipletts (Matsushiro, Japan, schwarze Linie) für wie sie z. B. in einer Tiefe von 1165 km diese Mode zusammen mit theoretischen links unten dargestellt ist. nicht davon abhängen können, wo auf dem Großkreis Linienformen: das gepunktete Spektrum der Herd lag, haben nur laterale Heterogenitäten einen Physik Journal 52 1 (2002) Nr. 10
Schwerpunkt Einfluss, die durch Kugelfunktionen geraden Grades Frequenzen erzeugt wurden, die mehrfach um die Erde beschrieben werden können, eine starke Einschrän- liefen und damit konstruktiv interferieren konnten kung bei der Inversion. (0S28 und 0S37) [8]. Der Vulkan lieferte dabei die Ener- Als intermediäre Größe zwischen dem Spektrum gie für zwei vertikale Eigenschwingungen der Atmos- eines Multipletts und der heterogenen Struktur ist es phäre, die durch ihre Druckschwankungen an der Erd- hilfreich, zu jedem Multiplett die Aufspaltungsfunktion oberfläche Rayleigh-Wellen erzeugten. s(O ,o) zu definieren. s gibt an jedem Punkt der Ober- 1998 haben japanische Seismologen entdeckt, dass fläche an, um wieviel die Eigenfrequenz des Multipletts im Hintergrundrauschen zwischen 2 und 7 mHz alle gegenüber dem kugelsymmetrischen Referenzmodell sphäroidalen Fundamentalmoden 0S mit Amplituden verschoben wäre, wenn die radiale Struktur unter die- von höchstens 10 pm/s2 (10–12 g) dauernd angeregt sem Punkt in der ganzen Erde vorliegen würde. Wenn sind. Man kann dies an guten Stationen statistisch Erdbeben, Instrumente, Rotation und Elliptizität be- nachweisen (z. B. [9]). Im Vergleich dazu sind die An- kannt sind, kann man durch iterativen Vergleich ge- fangsamplituden bei starken Erdbeben und die Schwin- rechneter mit beobachteten Multipletts die Aufspal- gungsweiten beim Mount Pinatubo um etwa den Fak- tungsfunktion ermitteln. Laske und Masters wiesen tor 1000 größer. Statistische Druckschwankungen in nach, dass sich diese Aufspaltungsfunktionen für Mul- der Atmosphäre werden als Anregung dieser Hinter- tipletts, die den inneren Erdkern „spüren“, in 20 Jah- grundschwingungen favorisiert. ren nicht signifikant geändert haben und dass damit die postulierte „Superrotation“ des inneren Kerns von Kreiseleigenschwingungen einem Grad pro Jahr gegenüber dem Erdmantel höch- Betrachtet man die Erde als abgeplatteten Kreisel, stens 0,3 o/Jahr betragen kann, aber wahrscheinlich viel so führt sie aufgrund der äußeren Kräfte und Drehmo- näher bei null liegt [6]. Die Aufspaltungsfunktion er- mente durch Mond und Sonne Präzessionsbewegungen laubt eine Inversion der 3-D Struktur der Erde, aller- aus. Zusätzlich kann die Erde noch überlagerte freie dings mit der Beschränkung auf gerade Kugelfunktio- Bewegungen ausführen, die denen eines kräftefreien nen. Abbildung 5 zeigt für die Mode 1S8 neben einem Kreisels entsprechen. Ein abgeplatteter Kreisel kann Schnappschuss des Verschiebungsfeldes die sukzessive stabil um seine Figurenachse rotieren. Weicht die Rota- Annäherung gerechneter Spektren an ein beobachtetes tionsachse von der Figurenachse ab, so muss er gleich- Spektrum durch die theoretische Berücksichtigung der zeitig eine sog. freie Nutation ausführen, bei der die Symmetriebrechung. Aus Eigenschwingungen ermittel- momentane Drehachse um die raumfeste Richtung des te Heterogenitäten der Erde sind in Abb. 5 unten in Drehimpulsvektors mit charakteristischer Frequenz lateraler Richtung dargestellt. Abbildung 6 zeigt einen umläuft. Diese Bewegung zählt als Eigenschwingung radialen Schnitt durch den Erdmantel, für den neben des Kreisels, da sie ohne zusätzliche Drehmomente Eigenschwingungen auch Laufzeitresiduen von seismi- existieren kann, wenn entsprechende Anfangsbedin- schen Raumwellen verwendet wurden [7]. gungen vorliegen. Betrachtet man die Bewegung statt Bisher wurden nur Erdbeben als Anregungsmecha- im raumfesten System im mitbewegten Eigensystem des nismus für Eigenschwingungen der Erde erwähnt. Kreisels, so entspricht die Nutation einer Rotation der Diese Scherbrüche sind von sehr kurzer Dauer im Ver- momentanen Drehachse um die Figurenachse, die im gleich zu den Abklingzeiten der Moden, damit können Englischen „wobble“ („taumeln“) genannt wird, im die Moden frei schwingen, bis sie im Rauschen ver- Deutschen aber keinen besonderen Namen hat. Der schwinden. Widmer und Zürn u. a. haben 1991 beob- Zusammenhang zwischen Winkelgeschwindigkeit des achtet, dass beim Ausbruch des Vulkans Mount Pinatu- Wobbles sWobble und Periode der Nutation TN ergibt bo auf den Philippinen ca. acht Stunden lang harmoni- sich aus der Kreiseltheorie zu: sche Rayleigh-Wellen mit zwei charakteristischen 2⋅p s Wobble = −V , TN (8) wobei V die Winkelgeschwindigkeit des Kreisels ist. Der amerikanische Astronom Seth Carlo Chandler entdeckte schon 1891 bei astronomischen Beobachtun- gen eine Breitenschwankung der Erde mit einer Peri- ode von 435 Sterntagen. Die momentane Rotations- achse bewegt sich dabei an den Polen der Erde zy- klisch innerhalb eines Kreises mit 10 m Radius. Diese Bewegung setzt sich zusammen aus dem sog. Chandler- Wobble und der etwas stärkeren, von der Atmosphäre erzwungenen Jahresperiode. Die Chandlersche Bewe- gung wurde schnell mit der bereits von Euler vorherge- sagten Bewegung mit der Periode 305 Sterntage in Ver- bindung gebracht, die Diskrepanz verlangte aber eine Abb. 6: Erklärung. Schnitt durch ein modernes Modell des Erdmantels, wie es aus Euler kannte den inneren Aufbau der Erde natürlich Laufzeitresiduen seismischer Raumwellen und den Aufspal- tungsfunktionen von Eigenschwingungen invertiert worden ist noch nicht und behandelte die Erde daher als starren [7]. Dargestellt sind wiederum Abweichungen in der Scher- Kreisel. Um die korrekten Kreiseleigenschwingungen wellengeschwindigkeit relativ zu einem kugelsymmetrischen der Erde zu erhalten, muss man den Drehimpulssatz Geschwindigkeitsmodell. Die Orientierung des Schnitts und der (im mit der Erde rotierenden System) ohne äußere Anomalien im Modell ist aus der Lage der blauen Linie auf der Weltkarte zu ersehen, die an Stelle des Erdkerns eingesetzt Drehmomente auf den deformierbaren Erdmantel und wurde. Die schwarze Linie im Modell verläuft in einer Tiefe von den flüssigen Kern getrennt anwenden und beide Teile 660 km. durch innere Drehmomente koppeln [10]. Dies erlaubt Physik Journal 1 (2002) Nr. 10 53
Schwerpunkt eine Rotation der beiden Teile um festen Kegel (Achse = Drehimpuls- leicht unterschiedliche Achsen. Man achse) ab. Die Berührungslinie der schreibt: beiden Kegel ist die momentane · Rotationsachse. Drehimpuls, mo- LK + v × LK = N (9) mentane Rotationsachse und Figu- · LM + v × LM = –N (10) renachse bleiben immer in einer Ebene2). LK und LM sind dabei die Drehim- Für eine starre Erde ohne flüssi- pulsvektoren von Kern bzw. Mantel. gen Kern reduziert sich Gl. (11) auf N ist die Summe aller Wechselwir- sCW = a ⭈ V, mit der Euler-Periode 2) v stimmt nur dann mit V überein, wenn die kungen (topographisch, elektroma- Abb. 7: von 305 Sterntagen. Ein Anteil des Kreiselschwingungen gnetisch, gravitativ, viskos) zwischen Darstellung der beiden Kreisel-Eigen- Äquatorwulstes besteht jedoch aus nicht angeregt sind. schwingungen der Erde mit aufeinander Mantel und Kern. Als wichtigste der momentanen Reaktion der elas- abrollenden Kegeln. L ist die Drehim- wird die sog. Druck- oder Trägheits- pulsachse (Achse des raumfesten Kegels), tischen Erde auf die Fliehkraft und kopplung angesehen: Wenn Kern ∧ e3 ist die Figurenachse (Achse des körper- dieser Anteil trägt damit nicht zum und Mantel nicht um dieselbe Achse festen Kegels) und v die momentane „Rückstellmoment“ bei. Dies führt rotieren, entstehen durch die ellip- Rotationsachse. Die Öffnungswinkel aller über die Konstante d zu einer Peri- Kegel sind hier stark übertrieben gezeich- soidische Form der Kern-Mantel- odenverlängerung. Andererseits ist net. Das wirkliche Winkelverhältnis Grenze Druckkräfte, die versuchen, zwischen äußeren und inneren Kegeln der flüssige Erdkern nur schwach die beiden Achsen zusammenzubrin- beträgt in beiden Fällen etwa 1:400. an den Mantel gekoppelt und gen. Setzt man nun die entsprechen- nimmt am Wobble nicht teil, dies den Größen ein, so erhält man zwei Eigenfrequenzen verkürzt die Periode wieder mittels des Faktors A/AM. für freie Wobble-Bewegungen der Erde: Mit realistischen Zahlen führt dies auf eine Periode von 397 Sterntagen. Es kommen zwei weitere Peri- A odenverlängerungen hinzu [12]: 29,8 Sterntage durch sCW = AM b g ⋅a⋅ 1− d ⋅V (11) die momentane Einstellung der Ozeanoberfläche auf und die Fliehkräfte und 8,5 Sterntage durch die Relaxation F sNDFW = − V ⋅ 1 + A b gIJK aK − b der Elastizität des Mantels gegenüber seismischen Fre- GH AM , (12) quenzen (Anelastizität). Damit ist die Periode des Chandler-Wobble im Prinzip verstanden, wobei die wobei a = (C–A)/A und aK = (CK–AK)/AK die dynami- letzten beiden Terme noch etwas voraussetzungsbehaf- schen Elliptizitäten von Erde und Kern sind. A, AK und tet sind. Der Chandler-Wobble hat einen Gütefaktor AM sind die äquatorialen, C, CK und CM die polaren unter 100, als dissipative Prozesse kommen Anelasti- Trägheitsmomente [11] von ganzer Erde, Kern und zität im Erdmantel, viskose Reibung, elektromagneti- Mantel, V ist die mittlere Winkelgeschwindigkeit der sche und topographische Kopplung an der Kern-Man- Erde. Die erste der Rotationseigenschwingungen ist der tel-Grenze sowie Reibung in den Ozeanen in Frage. berühmte Chandler-Wobble, dessen Drehsinn mit der Frequenz und Gütefaktor des Chandler-Wobble sind Erdrotation übereinstimmt (prograd). Die zweite wird sehr wichtige Messgrößen zur Ermittlung der Fre- je nach Sichtweise als „Nearly Diurnal Free Wobble“ quenzabhängigkeit der Elastizität des Erdmantels (NDFW) oder als freie Kern-Nutation (FCN) bezeich- (Rheologie). net; aufgrund des Vorzeichens in Gl. (12) verläuft sie Der Chandler-Wobble wird dauernd angeregt, wobei entgegen der Erdrotation (retrograd). als Energiequellen die Atmosphäre, die Ozeane und Abbildung 7 zeigt beide Wobbles in einer anschau- Erdbeben (Veränderungen der Trägheitsmomente) dis- lichen Darstellung: Der körperfeste Kegel (Achse = kutiert werden. Die Atmosphäre scheint nur etwa ein Figurenachse) rollt reibungslos auf bzw. in dem raum- Drittel der nötigen Energie liefern zu können, Erdbe- ben sind nicht sicher als Quellen identifiziert worden. R. Gross behauptet, die restlichen zwei Drittel in den Ozeanen gefunden zu haben [14]. Heute wird die Orientierung der Erdachse im Raum vom Internationalen Erdrotationsdienst kontinuierlich mit Methoden wie Radiointerferometrie mit langer Ba- sis (VLBI), Laser-Entfernungsmessungen zum Mond (LLR) und zu Satelliten (SLR) sowie GPS mit hoher Präzision gemessen. Supraleitende Gravimeter sind in der Lage, die mit den Wobbles assozierten Änderungen der lokalen Zentrifugalbeschleunigung von etwa 40–80 Abb. 8: Abb. 9: nm/s2 im Jahres- und 14-Monats-Rhythmus aufzulösen Aus der mit raumgeodätischen Methoden Die Antwort der Erde auf die von den (Abb. 8). Etwa 16 % dieses Effekts sind auf die elasti- ermittelten Polbewegung lässt sich die Gezeitenkräften ausgeübten Drehmo- sche Deformation der Erde durch die Fliehkräfte lokale Änderung der Zentrifugalbe- mente weist eine Resonanz auf, die von schleunigung berechnen, die der Wobble- zurückzuführen. Eine genaue Messung dieses Anteils dem Nearly Diurnal Free Wobble verur- Periode von rund 400 Tagen folgt. Die sacht wird und mit Gravimetern detek- würde einen neuen Eckwert für die Mantelrheologie für Straßburg berechnete Änderung tiert werden kann (Messpunkte). liefern, da die elastischen Modulen gegenüber denen (blau) lässt sich auch lokal mit supralei- Unterlegt ist die Modellkurve für die bei den mehr als vier Größenordnungen höheren seis- tenden Gravimetern detektieren (rot). Parameter T FCN = 432 Sterntage und Q FCN mischen Frequenzen dadurch kleiner sind. Von letzterer sind die bekannten Erdge- = 3 ⭈ 10 . Die zugrundeliegende Gezeiten- 4 zeiten sowie atmosphärische und hydro- registrierung von 1996 bis 2000 wurde Die Amplitude der freien Kern-Nutation ist etwa logische Effekte subtrahiert worden. mit einem supraleitenden Gravimeter bei 400mal so groß wie die des NDFW. Diese Schwingung Straßburg erstellt. wird auf zwei Arten beobachtet. Zunächst ist die Nuta- Physik Journal 54 1 (2002) Nr. 10
Schwerpunkt tion selbst mit VLBI beobachtet worden mit einer Am- Dank plitude von 0,84 nrad. Sie ist ebenfalls zeitabhängig, Wir bedanken uns bei Bettina Bayer, Jacques Hinde- und in der Atmosphäre ist genügend Energie vorhan- rer, Gabi Laske, Joe Resovsky und Séverine Rosat für den, um diese Amplitude zu erzeugen. Die zweite Me- Material zu den Abbildungen. thode ist indirekt: Man beobachtet die resonante Reak- tion der Erde auf Drehmomente mit Frequenzen in der Literatur Nähe der Resonanz. Diese Drehmomente werden [1] F. A. Dahlen und J. Tromp, Theoretical Global Seismology, Princeton University Press, Princeton durch die ganztägigen Erdgezeitenkräfte erzeugt [13], 1998 deren angreifende Amplituden sehr genau bekannt [2] G. Müller und W. Zürn, Landolt-Börnstein, Neue sind. Die Reaktion der Erde wird mit Gravimetern und Serie V/2a, Springer Verlag, Berlin 1984 Extensometern gemessen, und aus der Frequenzabhän- [3] T. G. Masters und R. Widmer, Free Oscillations: gigkeit dieser Reaktion lassen sich die Eigenschaften Frequencies and Attenuation. In T. J. Ahrens, der Resonanz (komplexe Eigenfrequenz, komplexe (Hrsg.), Global Earth Physics: a handbook of phy- sical constants, Am. Geophysical Union, Washing- Admittanz) ermitteln (Abb. 9). Dasselbe gilt für VLBI- ton (1995) Beobachtungen der erzwungenen Nutationen, die mit [4] W. Zürn et al., Geophys. J. Int. 113, 113 (2000) den Erdgezeiten eng assoziiert sind. [5] G. Masters et al., Nature 298, 609 (1982) Es ist abgeschätzt worden, dass alle weiter oben an- [6] G. Laske und G. Masters, Nature 402, 66 (1999) geführten Kopplungsmechanismen gegenüber der Träg- [7] G. Masters et al., The Relative Behavior of Shear heits- oder Druckkopplung an der Kern-Mantel-Gren- Velocity, Bulk Sound Speed, and Compressional ze vernachlässigbar sind. Letztere wird durch die dyna- Velocity in the Mantle: Implications for Chemical and Thermal Structure. In S. Karato et al., (Hrsg.), mische Elliptizität aK an der Kern-Mantel-Grenze Monograph 117, AGU, Washington (2000) beschrieben. Die Größe b gibt an, welcher Anteil von [8] R. Widmer und W. Zürn, Geophys. Res. Lett 19, aK momentan auf die Druckkräfte reagiert und damit 765 (1992) die „Rückstellmomente“ um etwa 25 % verringert. Die [9] K. Nishida und N. Kobayashi, J. Geophys. Res. beobachtete Periode von 432 Sterntagen ist kürzer als 104, 28741 (1999) die von 466 Sterntagen für ein hydrostatisch auf die [10] K. Lambeck, Geophysical Geodesy: The Slow De- formations of the Earth, Clarendon Press, Oxford Rotation reagierendes seismologisches Erdmodell. 1988 Führt man Anelastizität im Erdmantel ein, wird die [11] C. F. Yoder, Astrometric and Geodetic Properties Diskrepanz noch größer. Diese wird zurzeit damit of Earth and the Solar System. In T. J. Ahrens, erklärt, dass die Kern-Mantel-Grenze um ca. 5 % (ent- (Hrsg.), Global Earth Physics: a handbook of phy- sprechend 300 – 500 m) stärker abgeplattet ist als hy- sical constants, Am. Geophysical Union, Washing- drostatisch (1/400) erwartet wird. Derart kleine Pertur- ton (1995) [12] M. L. Smith und F. A. Dahlen, Geophys. J. R. Astr. bationen in der Topographie der Kern-Mantel-Grenze Soc. 64, 223 (1981) lassen sich mit seismologischen Methoden nicht erfas- [13] W. Zürn, The Nearly-Diurnal Free Wobble Reso- sen. Der Gütefaktor des NDFW beträgt etwa 20000, zu nance. In H. Wilhelm et al., (Hrsg.), Lecture Notes niedrig für Mantel-Anelastizität alleine, d. h. ein noch in Earth Sciences 66, Springer-Verlag, Heidelberg nicht identifizierter Dämpfungsmechanismus ist am (1997) Werk. Auch die Admittanz der Erde für den NDFW [14] R. Gross, Geophys. Res. Lett. 27, 2329 (2000) kann in Zukunft Eckwerte für diese Umgebung der [15] D. De Vries und J. M. Wahr, J. Geophys. Res. 96, 8275 (1991) Kern-Mantel-Grenze liefern. Führt man den festen inneren Kern zusätzlich ein, ergeben sich zwei weitere Kreisel-Eigenschwingungen Die Autoren [15], deren Beobachtung aussteht, jedoch u. a. die Elliptizität der Oberfläche des inneren Kerns ein- Walter Zürn beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit Erdbebenwellen und Ei- schränken würde. genschwingungen der Erde. Nach sei- ner Promotion verbrachte er einige Jah- Ausblick re in den USA an der University of Ca- Der heutige Stand unserer Kenntnisse der langwel- lifornia at Los Angeles sowie ein Jahr ligen Struktur des tiefen Erdinnern beruht zu einem als wissenschaftlicher Stationsleiter der wesentlichen Teil auf den Beobachtungen der verschie- Amundsen-Scott-Südpolstation in der denen Eigenschwingungen der Erde. Weitere und ver- Antarktis. Für seine Verdienste wurde 1976 der 1515 m hohe Zurn Peak in der besserte Beobachtungen im Zusammenwirken mit Antarktis nach ihm benannt. Seit Mitte theoretisch-numerischen Weiterentwicklungen werden der 70er-Jahre ist er am Geophysikalischen Institut der Uni helfen, dieses Bild zu verfeinern. Die dreidimensionale Karlsruhe und am Observatorium Schiltach tätig. In seiner Verteilung der Dichte im Erdmantel z. B. stellt noch Freizeit ist er in den Bergen unterwegs und spielt Schach. eine Herausforderung dar, der nur mittels Eigen- Rudolf Widmer-Schnidrig hat an der schwingungen auf den Leib gerückt werden kann. ETH Zürich Geophysik studiert und 1991 am Institute of Geophysics and Die jüngsten Entdeckungen der ständig angeregten Planetary Science der Scripps Instituti- elastischen Moden [9] und der Coriolis-gekoppelten on of Oceanography in San Diego/USA tieffrequenten Moden [4], die ersten Ansätze zu einer promoviert. Seither ist er, unterbrochen zeitabhängigen Seismologie [6], sowie die immer höher durch einen weiteren USA-Aufenthalt, werdende Auflösung bei der Beobachtung der freien Assistent am Geophysikalischen Institut Nutationen zeigen auch, dass dieses aufregende For- in Karlsruhe und arbeitet am Observato- rium Schiltach. Beruflich steht sein In- schungsgebiet immer wieder Überraschungen bereit teresse für das Erdinnere im Vorder- hält, die unseren Blick in Richtung Erdmittelpunkt grund, privat erkundet er das Erdäußere beim Klettern in verbessern werden. Fels und Eis, Radfahren und auf Skitouren. Physik Journal 1 (2002) Nr. 10 55
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