Globale Eigenschwingungen der Erde

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Schwerpunkt

                             Geophysik

           Globale Eigenschwingungen der Erde
                           Elastische Schwingungen und Kreiselschwingungen der Erde erlauben Rückschlüsse
                           auf das Erdinnere
                           Walter Zürn und Rudolf Widmer-Schnidrig

So wie Geigenbauer die Geheimnisse einer
                                                                                   Abb. 1:
Stradivari zu entschlüsseln versuchen, indem                                       Signal eines Tiefherdbebens in Nordbolivien vom 9. Juni 1994,
sie ihren Klang, ihre Eigenschwingungen analy-                                     das am Observatorium Schiltach im Schwarzwald mit einem
sieren, erlauben die Eigenschwingungen der                                         Breitbandseismometer registriert wurde. Die Zeitreihe dauert
Erde als Ganzes Rückschlüsse über das Erd-                                         insgesamt 84 Stunden und erreicht eine größte Amplitude von
                                                                                   25 mm/s (vertikale Bodengeschwindigkeit). Das auffälligste Sig-
innere. Erdbeben übernehmen dabei die Rolle
                                                                                   nal sind die Rayleigh-Wellenzüge, die im 1,5-Stundenrhythmus
des Geigenbogens. Darüber hinaus regen Gezei-                                      aus wechselnden Richtungen auf dem Großkreis mit abnehmen-
tenkräfte und die Wechselwirkung mit der                                           der Amplitude an der Station ankommen. Ein voller Umlauf um
Atmosphäre und den Ozeanen die Erde auch zu                                        die Erde dauert etwa drei Stunden. Die schwache 12-Stunden-
Kreiselschwingungen an, die weitere Einblicke                                      Schwingung im Hintergrund sind die elektronisch stark abge-
                                                                                   schwächten Erdgezeiten.
in das Erdinnere ermöglichen.

D
        ie mechanischen Resonanzen eines Systems las-                              Eigenschaften werden durch Trägheitsmomente, Defor-
        sen sich mit zwei einfachen Methoden auffin-                               mierbarkeit usw. bestimmt. Die Natur führt auch die-
        den. Zum einen kann man das System aus der                                 sen Versuch mit der Erde als Kreisel dauernd durch, al-
Ruhelage auslenken und loslassen; es kehrt dann mit                                lerdings sind die Anregungen dabei kontinuierlich und
freien, gedämpften Eigenschwingungen zurück. Zum                                   bestehen aus breitbandigen Drehmomenten der Atmos-
anderen kann man das System harmonisch mit varia-                                  phäre und Ozeane oder den quasiperiodischen Gezei-
bler Frequenz anregen und die Eigenschwingungen auf                                tenkräften von Mond und Sonne.
Grund der resonanten Reaktion finden, wobei die Art                                   Neben diesen freien Schwingungen führt die feste
der Anregung zur Eigenschwingung passen muss. Hat                                  Erde eine ganze Reihe von erzwungenen (quasi-)
man eine Theorie für diese Schwingungen zur Ver-                                   periodischen Schwingungen aus, z. B. die allgemeine
fügung, lassen sich aus den Beobachtungen relevante                                Präzession der Erdachse mit einer Periode von 25765
Eigenschaften des Systems ermitteln.                                               Jahren, die jährliche Polschwankung und die Gezeiten
   Wird als Beispiel eine frei aufgehängte Stahlkugel                              der festen Erde.
kurz mit einem Hammer angeschlagen, so klingt sie                                     Wie wir im Folgenden zunächst an den elastischen,
danach für einige Zeit: Die Kugel wurde durch den                                  dann an den Kreisel-Eigenschwingungen der Erde se-
Schlag zu ihren freien elastischen Eigenschwingungen                               hen werden, ermöglichen es die beobachteten Frequen-
angeregt, deren Verschiebungen an der Oberfläche zur                               zen und Gütefaktoren der freien Schwingungen, unsere
Abstrahlung akustischer Wellen führen. Die zugehöri-                               Kenntnisse über die mechanischen Eigenschaften des
gen Eigenfrequenzen sind charakteristisch für die Ku-                              Erdinneren zu verbessern. Die Amplituden und Phasen
gel und hängen von ihrer Größe, Form, Dichte und                                   erlauben darüber hinaus Rückschlüsse auf die Anre-
Elastizität ab. Ersetzt man die Kugel durch die Erde,                              gungsmechanismen.
den Hammer durch ein starkes Erdbeben und unsere
Ohren durch empfindliche Seismometer, so hat man                                       Elastische Eigenschwingungen
das geophysikalische Analogon des Laborversuchs vor                                   Nach dem extrem starken Erdbeben am 22. Mai
                                                                                                                                                     Dr. Walter Zürn und
sich. Die Natur führt diesen Versuch häufig durch –                                1960 in Chile gelang es zum ersten Mal, Eigenschwin-              Rudolf Widmer-
leider oft mit katastrophalen Folgen –, und eine Aufga-                            gungen (Moden) der Erde mit verschiedenen langperi-               Schnidrig, Ph.D.,
be der Seismologie ist es, die elastischen Eigenschwin-                            odischen Seismographen zu beobachten. Am 28. März                 Geowissenschaftli-
gungen der Erde zu detektieren und daraus die typi-                                1964 regte ein weiteres starkes Beben in Alaska die               ches Gemeinschafts-
                                                                                                                                                     observatorium der
schen Eigenschaften der Erde zu ermitteln. Die Fre-                                Schwingungen wieder messbar an. Diese beiden Ereig-
                                                                                                                                                     Universitäten Karls-
quenzen liegen dabei zwischen 0,3 und etwa 20 mHz,                                 nisse markieren den Beginn einer neuen Forschungs-                ruhe/Stuttgart
wobei die obere Grenze nur durch Auswerteverfahren                                 richtung der Seismologie und öffneten ein neues Fens-             (BFO), Heubach 206,
gegeben ist.                                                                       ter ins tiefe Erdinnere: die terrestrische Spektroskopie          D-77709 Wolfach
   Wird ein Spielkreisel in schnelle Rotation versetzt                             [1–3]. Die beobachteten Frequenzen vieler Moden                   E-mail: walter.
                                                                                                                                                     zuern@gpi.uni-
und seine Figurenachse kurz angestoßen, so führt die                               lagen gleich sehr dicht bei denen, die für Erdmodelle             karlsruhe.de,
Achse kreisförmige Oszillationen, die Kreisel-Eigen-                               berechnet wurden, die ihrerseits aus den Laufzeiten               widmer@geophys.
schwingungen oder sog. freie Nutationen, aus. Deren                                seismischer Wellen ermittelt worden waren.                        uni-stuttgart.de
                                                                                                                               Physik Journal
© 2002 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim   1617-9439/02/1010-49 $17.50+50/0                                           1 (2002) Nr. 10       49
Schwerpunkt
                                Seismometer und Gravimeter bestehen aus trägen              sen (Selbstgravitation), wobei letztere nur bei den
                             Massen, die an Federn aufgehängt sind und deren Ver-           Moden mit den tiefsten Frequenzen eine größere Rolle
                             schiebungen gegenüber den Gehäusen mit Weg- oder               spielt. Die Form der Verschiebungsfelder und die Fre-
1) Diese Nomenklatur         Geschwindigkeitsaufnehmern erfasst und dann elektro-           quenzen dieser „seismischen“ Moden werden durch die
unterscheidet sich von
derjenigen im Artikel
                             nisch weiterverarbeitet werden. Sie reagieren auf Träg-        Geometrie der Grenzflächen sowie die Verteilung der
von R. Kind et al. Die       heitskräfte und Änderungen des Schwerefeldvektors, die         Dichte r und der elastischen Parameter in der Erde
Polarisation der Partikel-   mit seismischen Signalen einher gehen. Strainseismome-         vollständig definiert. Daher lassen sich umgekehrt die-
bewegung von S-Moden
entspricht einer Kombi-      ter (auch: Extensometer) messen dagegen die durch              se Eigenschaften und ihre Verteilung für die Erde aus
nation von P- und S v-       elastische Deformation des Gesteins hervorgerufenen            den beobachteten Verschiebungsfeldern und Frequen-
Wellen (longitudinal po-     Abstandsänderungen zweier Punkte, die zwischen 10–2            zen bestimmen.
larisierte Kompressions-
und vertikal polarisierte    und 103 m voneinander entfernt sein können.                       In der ersten Näherung kann man bei der Erde von
Scherwellen), von T-Mo-         Erdbebenseismogramme setzen sich aus verschiede-            perfekter Kugelsymmetrie ausgehen, d. h. alle Eigen-
den der von Sh-Wellen
(horizontal polarisierte
                             nen impulsartigen Signalen der elastischen Kompres-            schaften hängen nur vom Abstand r vom Mittelpunkt
Scherwellen)                 sions- und Scherwellen zusammen, die durch das Erd-            ab (K = K(r), m = m(r) und r = r(r). Im isotropen Fall
                             innere als sog. Raumwellen zur Station gelangen,               charakterisieren Kompressionsmodul K und Scher-
                             gefolgt von Wellen, die sich an der Oberfläche ausbrei-        modul m die elastische Antwort bei Scherung bzw.
                             ten, vom sog. Love- und Rayleigh-Typ, die wegen ihrer          Kompression.). Löst man die homogenen elastischen
                             Dispersion zeitlich auseinandergezogene Wellenzüge             Bewegungsgleichungen für kleine Verschiebungen aus
                                                                                            der Ruhelage unter Berücksichtigung der Gravitation
                                                                                            und ohne Rotation, so erhält man zwei Typen von Lö-
                                                                                            sungen: T-Moden und S-Moden.1)
                                                                                               Die Eigenfunktionen lassen sich (in Kugelkoordina-
                                                                                            ten r, O , o) jeweils in einen winkelabhängigen Ober-
                                                                                            flächenanteil und einen Radialanteil separieren. T-Mo-
                                                                                            den (T steht für torodial) sind dadurch charakterisiert,
                                                                                            dass das Verschiebungsfeld u(r) in radialer Richtung
                                                                                            verschwindet (ur = 0) und divergenzfrei ist (div u = 0).
                                                                                            Für sie gilt:

                                                                                               uO =   n W    brg ⋅    ∂
                                                                                                                               b
                                                                                                                         Pm cosO    g⋅e   im o
                                                                                                                                                      ⋅e
                                                                                                                                                           − i ⋅ v n Tm ⋅ t
                                                                                                                                                                     e           j       (1)
                                                                                                       sinO           ∂o

                                                                                                                       ∂                                   − i ⋅ v n Tm ⋅ t
                                                                                                                                                                     e           j
                                                                                               uo = − nW r ⋅ bg      ∂O
                                                                                                                               b
                                                                                                                         Pm cosO    g⋅e   im o
                                                                                                                                                      ⋅e                                 (2)

                                                                                            wobei u die Verschiebung, v(nTm ) die Eigenkreisfre-
                                                                                            quenz, Pm zugeordnete Legendre-Polynome, nW (r) die
Abb. 2:
Amplitudenspektrum einer 75 Stunden             v2 zunehmende Trägheitsbeschleunigung       radiale Eigenfunktion und t die Zeit bedeuten. n, ,
langen Gravimeterregistrierung in               erzeugt. Im Detailbild b) erkennt man       und m (– „ m „ ) sind ganze Zahlen entsprechend
Schiltach des Bebens in den Kurilen am          die durch die Coriolis-Kraft bewirkte       den Quantenzahlen bei der Lösung der Schrödinger-
4. Oktober 1994. Man erkennt die schar-         Linienaufspaltung bei den drei tiefsten     Gleichung für das Wasserstoffatom. Zur Kurzbeschrei-
fen Spektrallinien der Erde, wobei die          Frequenzen. Im Detailbild c) kann man
Mode bei 1,58 mHz ( 0S 9) die größte spek-      die anomale Aufspaltung des Multipletts
                                                                                            bung hat sich die Nomenklatur nTm durchgesetzt. Als
trale Amplitude hat. Der Amplitudenab-          10 S 2 erkennen, die durch Anisotropie im
                                                                                            Folge der Kugelsymmetrie können die Frequenzen der
fall bei hohen Frequenzen wird dadurch          inneren Kern etwa doppelt so groß ist       Moden nicht von m abhängen (Entartung), da die
verursacht, dass diese nach drei Tagen          wie sie aufgrund des Äquatorwulstes der     Wahl des Koordinatensystems beliebig ist. Die Menge
bereits stark gedämpft sind. Der Anstieg        rotierenden Erde zu erwarten wäre (s.
                                                                                            der (2 + 1) Einzelmoden (Singuletts) wird als Multi-
bei tiefen Frequenzen wird durch die mit        Text).
                                                                                            plett bezeichnet (m wird weggelassen). Die toroidale
                                                                                            Grundmode 0T2 (engl. „twisting“-mode, Abb. 3) hat ei-
                             bilden. Danach erscheint die sog. Coda, die aus mehr-          ne Periode von 44 Minuten und ist bisher nur am Ob-
                             fach reflektierten und gestreuten, sowie mehrfach um           servatorium Schiltach mit Extensometern eindeutig be-
                             die Erde gelaufenen Wellen besteht. Ähnlich wie eine           obachtet worden. Die gemessene Deformation betrug
                             stehende Welle auf einer Saite durch die Überlagerung          dabei etwa 10–11.
                             einer nach links laufenden mit einer nach rechts lau-             Für S-Moden nSm  (S für sphäroidal) ist das Ver-
                             fenden Welle entsteht, führt die konstruktive Interfe-         schiebungsfeld wirbelfrei (rot u = 0) und i. A. sind alle
                             renz dieser Wellen zu den Eigenschwingungen der Er-            drei Verschiebungskomponenten von null verschieden:
                             de. Verschiedene Eigenschwingungstypen entstehen da-
                             bei aus verschiedenen Typen von laufenden Wellen (s.                                                          − i ⋅ v n Sm ⋅ t
                                                                                                                                                  e          j
                             u.). Auswertbare Eigenschwingungsseismogramme
                                                                                                        b g b g⋅e ⋅e
                                                                                               ur = n U r ⋅ Pm cosO              imo
                                                                                                                                                                                         (3)

                             müssen mindestens 20 Stunden lang sein.                                            ∂                                     − i ⋅ v n Sm ⋅ t
                                                                                                                                                             e           j
                                                                                               uO =   V brg ⋅
                                                                                                      n          P bcosO g ⋅ e
                                                                                                                         
                                                                                                                          m              imo
                                                                                                                                                ⋅e                                       (4)
                                Abbildung 1 zeigt eine Registrierung des stärksten je                          ∂O
                             digital registrierten Tiefherdbebens (Nordbolivien, 9.                   V brg ∂
                                                                                                      n                                               − i ⋅ v n Sm ⋅ t
                                                                                                                                                                 e           j
                                                                                               uo =           ⋅    P bcosO g ⋅ e
                                                                                                                          
                                                                                                                           m              imo
                                                                                                                                                  ⋅e                                 ,   (5)
                             Juni 1994) und Abb. 2 das Fourier-Spektrum eines ähn-                     sinO        ∂o
                             lich starken Bebens mit deutlich erkennbaren Spektral-
                             linien der Erde.                                               mit den radialen Eigenfunktionen nU (r) und nV (r).
                                Rückstellkräfte bei diesen Schwingungen sind so-                Die Mode mit der tiefsten Frequenz ist 0S2, im Eng-
                             wohl die elastischen Spannungen, die durch Deforma-            lischen als „football“-mode bezeichnet, mit einer Peri-
                             tion aus dem Gleichgewichtszustand entstehen, als              ode von 54 Minuten (siehe Abb. 3). Sie wird nur von
                             auch die Gravitationswirkung der verschobenen Mas-             den allerstärksten Erdbeben nachweisbar angeregt. Die
                             Physik Journal
                      50     1 (2002) Nr. 10
Schwerpunkt
                                                                    definiert die so genannten Fundamentalmoden, Moden
                                                                    mit n > 0 sind die Obertöne.
                                                                       Die Moden klingen durch anelastische Vorgänge bei
                                                                    der Deformation exponentiell ab, und ihre Energie
                                                                    wird in Wärme umgewandelt. Die Gütefaktoren Q ent-
                                                                    sprechen der Anzahl von Schwingungen, nach denen
                                                                    die Amplitude einer Mode um den Faktor e–p abge-
                                                                    klungen ist. Anelastische Dämpfung findet besonders
                                                                    bei Scherdeformation statt, d. h. Moden mit wenig
                                                                    Scheranteil (radiale Moden) besitzen höhere Gütefak-
                                                                    toren als andere. Tabelle 1 enthält die Eigenfrequenzen
                                                                    und Gütefaktoren ausgewählter Moden mit den experi-
                                                                    mentellen Unsicherheiten aus der Analyse von Spek-
                                                                    tren wie dem in Abb. 2. Obwohl die Linien zu hohen
                                                                    Frequenzen hin enger beieinander liegen, ist es gelun-
                                                                    gen, durch die simultane Analyse von mehr als 10000
                                                                    Seismogrammen insgesamt mehr als 1600 Multipletts
                                                                    aufgrund ihres unterschiedlichen Verschiebungsfeldes
                                                                    an der Erdoberfläche zu identifizieren und ihre Fre-
                                                                    quenzen zu schätzen.
                                                                       Die Fundamentalmoden (n = 0) lassen sich für  >> 1
                                                                    als konstruktive Interferenz aus Oberflächenwellen
                                                                    beschreiben, die den Planeten in zwei entgegengesetzte
                                                                    Richtungen von der Quelle umlaufen. Dabei überlagern
                                                                    sich zwei Rayleigh-Wellen zu einer 0S -Mode und zwei
                                                                    Love-Wellen zu einer 0T -Mode (vgl. Abb. 3 für 0S12).
                                                                    Es gilt dann die Jeanssche Formel:

                                                                       0 v   =
                                                                                   bgb
                                                                                  c v ⋅  +1 2   g    ,                                (6)
                                                                                       a
                                                                    mit der Phasengeschwindigkeit c der Oberflächenwelle
                                                                    und dem Erdradius a. In Abb. 1 kann man verschiede-
Abb. 3:                                                             ne Züge dieser wiederkehrenden Oberflächenwellen
Schnappschüsse der berechneten Verschiebungsfelder der
                                                                    ausmachen. Mit wachsendem  dringen die Eigenfunk-
Multipletts 0T 2, 0S 2 und 0S 12 an der Erdoberfläche in der sog.
Mollweide-Projektion. Die jeweiligen Erdbebenherde sind             tionen dieser Moden immer weniger in die Erde ein,
durch Sterne markiert. Die horizontalen Verschiebungen sind         und ihre Frequenzen enthalten damit Information aus
durch Pfeile (selbstverständlich nicht maßstäblich) gegeben, die    immer geringer werdenden Tiefen (Abb. 4).
radialen Verschiebungen sind durch rote (nach außen) und               Obertöne (n > 0) kann man sich durch konstruktive
blaue Farbtöne kodiert. Für 0S 12 sind die Horizontalverschie-
bungen nicht gezeigt. Sie verhalten sich aber analog zu 0S 2.
                                                                    Interferenz von hin- und herreflektierten Raumwellen
                                                                    entstanden denken. Ihre radialen Eigenfunktionen
Erde schwingt dabei – stark übertrieben – zwischen                  greifen dementsprechend tiefer in die Erde hinein
den Formen eines „American football“ und eines Kür-                 (Abb. 4). Manche dieser Moden (wie z. B. 3S1, 8S1, 13S2,
bis hin und her.                                                    18S 4, siehe Abb. 4) haben Eigenfunktionen, die bis tief
    Spezialfälle der sphäroidalen Moden sind die radia-             in den inneren Erdkern eindringen, was sie sehr wich-
len Moden ( nS0), bei denen nur ur von null verschieden             tig macht für die Ermittlung der Struktur in der Nähe
ist. Die einer atmenden Kugel (engl. „breathing“-mode)              des Erdmittelpunktes.
entsprechende Mode 0S0 hat eine Periode von 20 Mi-
nuten, die annähernd gleich der Laufzeit einer Kom-                    Tab. 1: Aus seismischen Daten geschätzte entartete Eigenfrequenzen und Gütefakto-
pressionswelle von der Erdoberfläche zum Erdmittel-                    ren [3] einiger Moden mit ihren experimentellen relativen Unsicherheiten
punkt und zurück ist. Daneben hat sie bei weitem den
höchsten Gütefaktor, da bei dieser Mode der Anteil der               Mode                  Frequenz       Unsicherheit                  Q            Unsicherheit
Scherdeformation minimal ist (siehe Tab. 1 und Abb.                                          mHz              10–4                                        %
4). Da sie noch bis zu einen Monat nach sehr starken
                                                                     0S 0                   814,39            0,04                     5882                6
Beben beobachtet werden konnte, ist ihre Frequenz
sehr genau bekannt. Eine homogene Stahlkugel mit                     0S 2                   309,45            9                         813               24
demselben Radius wie die Erde hätte für diese Mode                   0S 3                   468,55            3                         380               12
eine Periode von 30 Minuten.
                                                                     0S 12                 1988,70            1,5                       352                4
    Im Gegensatz zu den Oberflächenfunktionen hän-
gen die radialen Eigenfunktionen U(r), V(r) und W(r)                 0S 23                 3170,65            0,3                       259                2
vom genauen Aufbau der Erde ab, und ihre Knotenzahl                  0S 28                 3634,40            0,2                       217                2
entlang des Radius r nimmt mit wachsendem n zu
                                                                     1S 8                  1797,76            0,6                       433               11
(Abb. 4). Jede Mode besitzt drei Arten von Knoten-
flächen: n definiert die Anzahl der Knotenkugeln (r =                3S 1                   944,20            3,2                       800               10
const.) im Erdinnern, 兩m兩 gibt die Anzahl der Knotene-               10S 2                 4042,58            0,5                       855               13
benen durch den Erdmittelpunkt (Meridianebenen o =
                                                                     0T 2                   377,30           21                             –              –
const.) an und –兩m兩 definiert die Anzahl der Knoten-
kegel (O = const.) mit Spitze im Erdmittelpunkt. n = 0               0T 23                 3109,10            2,2                       139                3

                                                                                                                     Physik Journal
                                                                                                                     1 (2002) Nr. 10            51
Schwerpunkt
                         Bisher sind wir davon ausgegangen, dass alle physi-                    mit der entarteten Eigenfrequenz nv៮  . Die Koeffizienten
                      kalischen Eigenschaften der Erde radialsymmetrisch                        a, b und c sind für jedes Multiplett verschieden. Die
                      verteilt und die Grenzflächen kugelförmig sind. Wenn                      symmetrische Komponente m ⭈ b ist auf den Effekt er-
                      man etwas genauer hinschaut, wird diese sehr hohe                         ster Ordnung der Coriolis-Kraft zurückzuführen, ana-
                      Symmetrie gebrochen, und die nächste Näherung ist                         log zum Zeeman-Effekt beim Wasserstoffatom in einem
                      die Axialsymmetrie um die Verbindungslinie zwischen                       Magnetfeld. Diese symmetrische Aufspaltung führt da-
                      den Polen. In Wirklichkeit gibt es erhebliche Abwei-                      zu, dass das Knotenbild auf der Erdoberfläche mit der
                      chungen von diesen einfachen Symmetrien, wie man                          Geschwindigkeit b ⭈ nv nach Westen wandert. Die
                      bei Betrachtung der Erdoberfläche leicht einsieht.                        höchste Geschwindigkeit erreicht die „football“-Mode
                         Führt man die Elliptizität der Erde ein (der Abstand                   0S 2, deren Knotenmeridiane in etwa 2,5 Tagen einmal
                      Äquator – Mittelpunkt ist ca. 21 km größer als der                        die Erde umrunden. Die Frequenzen ihrer fünf Singu-
                      Abstand Pol – Mittelpunkt) und ihre Rotation, so wird                     letts liegen um etwas mehr als 4 mHz auseinander. Die
                      die Radialsymmetrie gebrochen, es liegt Axialsymme-                       Frequenzverschiebung a und der quadratische Term in
                      trie um die Rotationsachse vor und die Entartung der                      m sind hauptsächlich auf den Äquatorwulst zurück-
                      Moden bezüglich m wird aufgehoben (O = 0 entspricht                       zuführen. Die Koeffizienten a, b und c hängen nur
                      dann der Rotationsachse). Diese Komplikationen las-                       schwach von der Struktur des Erdinnern ab, b vor
                      sen sich störungstheoretisch behandeln. Der erste Ef-                     allem von der Dichte. Die Rotationsaufspaltung über-
                      fekt ist die Aufspaltung der Multipletts. Für die Eigen-                  wiegt bei tiefen Frequenzen und nimmt mit V/nv ab,
                      kreisfrequenzen der Singuletts gilt dann (– ⱕ m ⱕ ):                    sodass die dadurch verursachte Linienaufspaltung nur
                                                                                                bei wenigen Moden direkt im Spektrum eines Seis-
                            m
                          nv    = nv៮  ⭈ (1 + a + m ⭈ b + m2 ⭈ c)      ,              (7)
                                                                                                mogramms sichtbar wird (Abb. 2, links oben).
                                                                                                    Ein zweiter Effekt der Symmetriebrechung ist die
                                                                                                Kopplung der Moden. Die Gleichungen (1) – (5) be-
                                                                                                schreiben die Eigenfunktionen nun nur noch nähe-
                                                                                                rungsweise. Man unterscheidet Kopplung zwischen S-
                                                                                                und T-Moden, Kopplung zwischen Moden mit gleichem
                                                                                                n, aber verschiedenem , und beliebige Kopplung. Am
                                                                                                leichtesten beobachtbar ist die Coriolis-Kopplung, die
                                                                                                zur Beobachtung von T-Moden in Spektren der verti-
                                                                                                kalen Bodenverschiebung führt [4]. Die Stärke dieser
                                                                                                Kopplung hängt hierbei wiederum von der Dichtever-
                                                                                                teilung in der Erde ab. Für alle Kopplungsmechanis-
                                                                                                men gibt es Auswahlregeln [1, 4], d. h. je nach der Phy-
                                                                                                sik des Kopplungsmechanismus gibt es Bedingungen,
Abb. 4:
Radiale Verteilung der Scherenergiedich-       dringtiefe mit wachsendem  abnimmt,             die die Quantenzahlen erfüllen müssen, damit Kopp-
ten (nach rechts, blau) und Kompres-           auch Moden, die signifikante Energie-            lung überhaupt stattfinden kann. Die Kopplung zweier
sionsenergiedichten (nach links, gelb) für     dichteanteile im äußeren (z. B. 3S 1) und        Moden ist umso stärker, je näher die Eigenfrequenzen
einige Moden als Funktion des relativen        inneren Kern (z. B. 10S 2) besitzen. Die         der ungekoppelten Moden zusammenliegen. Deswegen
Erdradius’. Man erkennt neben den rei-         Grenzen zwischen Mantel, äußerem und
nen Mantelmoden 0S  , 0T  , deren Ein-       innerem Kern sind gestrichelt markiert.
                                                                                                sind zwischen 1,8 und 3,3 mHz die Moden 0S und
                                                                                                0T +1 sehr stark durch die Coriolis-Kraft miteinander
                                                                                                gekoppelt, was man deutlich in den beobachteten
                                                                                                Eigenfrequenzen sehen kann. Bei Kopplung zweier
                                                                                                Moden nähern sich die Gütefaktoren, und die Eigen-
                                                                                                frequenzen entfernen sich voneinander.
                                                                                                    Wird die Axialsymmetrie auch noch gebrochen
                                                                                                durch laterale Heterogenitäten in der Struktur der Er-
                                                                                                de, so nimmt die Komplexität der Modenkopplung zu.
                                                                                                Für Fundamentalmoden geht man davon aus, dass die-
                                                                                                jenigen Oberflächenwellen, die vom Erdbebenherd auf
                                                                                                dem Großkreis zur Station und dann mehrfach um die
                                                                                                Erde laufen, durch konstruktive Interferenz das Seis-
                                                                                                mogramm und die darin enthaltenen Spektrallinien der
                                                                                                Erde erzeugen. Auf einer lateral heterogenen Erde ist
                                                                                                die über den Großkreis gemittelte Phasengeschwindig-
                                                                                                keit je nach Lage des Großkreises verschieden, sodass
                                                                                                die Interferenzbedingung (6) auf verschiedenen Groß-
                                                                                                kreisen verschiedene Frequenzen für dasselbe Multi-
Abb. 5:                                                                                         plett liefert. Natürlich kann jedes Singulett nur eine
Eigenschaften der Mode 1S 8. Links oben        würde man auf einer kugelsymmetri-               feste Frequenz haben, aber das unaufgelöste Multiplett
ist das radiale Verschiebungsfeld des          schen, nicht rotierenden Erde erhalten,          ist die Summe aller Singuletts und auf einem bestimm-
gesamten Multipletts (17 Singuletts) nach      die blaue gestrichelte Linienform erhält
dem Beben von Abb. 1 dargestellt.              man nach Einführung der Rotation und
                                                                                                ten Großkreis tragen nur Singuletts bei, die Gl. (6) er-
Warme (kalte) Farbtöne entsprechen Ver-        Elliptizität der Erde, die orange dicke          füllen, alle anderen interferieren destruktiv. Masters et
schiebungen nach außen (innen). Das            Linie ergibt sich bei Berücksichtung der         al. haben diese Eigenschaft 1982 dazu benutzt, um das
Bild rechts zeigt das beobachtete Ampli-       lateralen Variationen der Scherwellenge-         allererste lateral heterogene Erdmodell zu erstellen [5].
tudenspektrum an der Station MAJO              schwindigkeit (v s = √苵◊m◊/r
                                                                          ◊r) des Erdmantels,
                                                                                                Weil die scheinbaren Eigenschaften des Multipletts
(Matsushiro, Japan, schwarze Linie) für        wie sie z. B. in einer Tiefe von 1165 km
diese Mode zusammen mit theoretischen          links unten dargestellt ist.                     nicht davon abhängen können, wo auf dem Großkreis
Linienformen: das gepunktete Spektrum                                                           der Herd lag, haben nur laterale Heterogenitäten einen
                      Physik Journal
                52    1 (2002) Nr. 10
Schwerpunkt
Einfluss, die durch Kugelfunktionen geraden Grades                Frequenzen erzeugt wurden, die mehrfach um die Erde
beschrieben werden können, eine starke Einschrän-                 liefen und damit konstruktiv interferieren konnten
kung bei der Inversion.                                           (0S28 und 0S37) [8]. Der Vulkan lieferte dabei die Ener-
    Als intermediäre Größe zwischen dem Spektrum                  gie für zwei vertikale Eigenschwingungen der Atmos-
eines Multipletts und der heterogenen Struktur ist es             phäre, die durch ihre Druckschwankungen an der Erd-
hilfreich, zu jedem Multiplett die Aufspaltungsfunktion           oberfläche Rayleigh-Wellen erzeugten.
s(O ,o) zu definieren. s gibt an jedem Punkt der Ober-                1998 haben japanische Seismologen entdeckt, dass
fläche an, um wieviel die Eigenfrequenz des Multipletts           im Hintergrundrauschen zwischen 2 und 7 mHz alle
gegenüber dem kugelsymmetrischen Referenzmodell                   sphäroidalen Fundamentalmoden 0S mit Amplituden
verschoben wäre, wenn die radiale Struktur unter die-             von höchstens 10 pm/s2 (10–12 g) dauernd angeregt
sem Punkt in der ganzen Erde vorliegen würde. Wenn                sind. Man kann dies an guten Stationen statistisch
Erdbeben, Instrumente, Rotation und Elliptizität be-              nachweisen (z. B. [9]). Im Vergleich dazu sind die An-
kannt sind, kann man durch iterativen Vergleich ge-               fangsamplituden bei starken Erdbeben und die Schwin-
rechneter mit beobachteten Multipletts die Aufspal-               gungsweiten beim Mount Pinatubo um etwa den Fak-
tungsfunktion ermitteln. Laske und Masters wiesen                 tor 1000 größer. Statistische Druckschwankungen in
nach, dass sich diese Aufspaltungsfunktionen für Mul-             der Atmosphäre werden als Anregung dieser Hinter-
tipletts, die den inneren Erdkern „spüren“, in 20 Jah-            grundschwingungen favorisiert.
ren nicht signifikant geändert haben und dass damit
die postulierte „Superrotation“ des inneren Kerns von               Kreiseleigenschwingungen
einem Grad pro Jahr gegenüber dem Erdmantel höch-                    Betrachtet man die Erde als abgeplatteten Kreisel,
stens 0,3 o/Jahr betragen kann, aber wahrscheinlich viel          so führt sie aufgrund der äußeren Kräfte und Drehmo-
näher bei null liegt [6]. Die Aufspaltungsfunktion er-            mente durch Mond und Sonne Präzessionsbewegungen
laubt eine Inversion der 3-D Struktur der Erde, aller-            aus. Zusätzlich kann die Erde noch überlagerte freie
dings mit der Beschränkung auf gerade Kugelfunktio-               Bewegungen ausführen, die denen eines kräftefreien
nen. Abbildung 5 zeigt für die Mode 1S8 neben einem               Kreisels entsprechen. Ein abgeplatteter Kreisel kann
Schnappschuss des Verschiebungsfeldes die sukzessive              stabil um seine Figurenachse rotieren. Weicht die Rota-
Annäherung gerechneter Spektren an ein beobachtetes               tionsachse von der Figurenachse ab, so muss er gleich-
Spektrum durch die theoretische Berücksichtigung der              zeitig eine sog. freie Nutation ausführen, bei der die
Symmetriebrechung. Aus Eigenschwingungen ermittel-                momentane Drehachse um die raumfeste Richtung des
te Heterogenitäten der Erde sind in Abb. 5 unten in               Drehimpulsvektors mit charakteristischer Frequenz
lateraler Richtung dargestellt. Abbildung 6 zeigt einen           umläuft. Diese Bewegung zählt als Eigenschwingung
radialen Schnitt durch den Erdmantel, für den neben               des Kreisels, da sie ohne zusätzliche Drehmomente
Eigenschwingungen auch Laufzeitresiduen von seismi-               existieren kann, wenn entsprechende Anfangsbedin-
schen Raumwellen verwendet wurden [7].                            gungen vorliegen. Betrachtet man die Bewegung statt
    Bisher wurden nur Erdbeben als Anregungsmecha-                im raumfesten System im mitbewegten Eigensystem des
nismus für Eigenschwingungen der Erde erwähnt.                    Kreisels, so entspricht die Nutation einer Rotation der
Diese Scherbrüche sind von sehr kurzer Dauer im Ver-              momentanen Drehachse um die Figurenachse, die im
gleich zu den Abklingzeiten der Moden, damit können               Englischen „wobble“ („taumeln“) genannt wird, im
die Moden frei schwingen, bis sie im Rauschen ver-                Deutschen aber keinen besonderen Namen hat. Der
schwinden. Widmer und Zürn u. a. haben 1991 beob-                 Zusammenhang zwischen Winkelgeschwindigkeit des
achtet, dass beim Ausbruch des Vulkans Mount Pinatu-              Wobbles sWobble und Periode der Nutation TN ergibt
bo auf den Philippinen ca. acht Stunden lang harmoni-             sich aus der Kreiseltheorie zu:
sche Rayleigh-Wellen mit zwei charakteristischen                                  2⋅p
                                                                     s Wobble =       −V   ,
                                                                                  TN                                       (8)

                                                                  wobei V die Winkelgeschwindigkeit des Kreisels ist.
                                                                     Der amerikanische Astronom Seth Carlo Chandler
                                                                  entdeckte schon 1891 bei astronomischen Beobachtun-
                                                                  gen eine Breitenschwankung der Erde mit einer Peri-
                                                                  ode von 435 Sterntagen. Die momentane Rotations-
                                                                  achse bewegt sich dabei an den Polen der Erde zy-
                                                                  klisch innerhalb eines Kreises mit 10 m Radius. Diese
                                                                  Bewegung setzt sich zusammen aus dem sog. Chandler-
                                                                  Wobble und der etwas stärkeren, von der Atmosphäre
                                                                  erzwungenen Jahresperiode. Die Chandlersche Bewe-
                                                                  gung wurde schnell mit der bereits von Euler vorherge-
                                                                  sagten Bewegung mit der Periode 305 Sterntage in Ver-
                                                                  bindung gebracht, die Diskrepanz verlangte aber eine
Abb. 6:                                                           Erklärung.
Schnitt durch ein modernes Modell des Erdmantels, wie es aus
                                                                     Euler kannte den inneren Aufbau der Erde natürlich
Laufzeitresiduen seismischer Raumwellen und den Aufspal-
tungsfunktionen von Eigenschwingungen invertiert worden ist       noch nicht und behandelte die Erde daher als starren
[7]. Dargestellt sind wiederum Abweichungen in der Scher-         Kreisel. Um die korrekten Kreiseleigenschwingungen
wellengeschwindigkeit relativ zu einem kugelsymmetrischen         der Erde zu erhalten, muss man den Drehimpulssatz
Geschwindigkeitsmodell. Die Orientierung des Schnitts und der     (im mit der Erde rotierenden System) ohne äußere
Anomalien im Modell ist aus der Lage der blauen Linie auf der
Weltkarte zu ersehen, die an Stelle des Erdkerns eingesetzt
                                                                  Drehmomente auf den deformierbaren Erdmantel und
wurde. Die schwarze Linie im Modell verläuft in einer Tiefe von   den flüssigen Kern getrennt anwenden und beide Teile
660 km.                                                           durch innere Drehmomente koppeln [10]. Dies erlaubt
                                                                                                         Physik Journal
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Schwerpunkt
                      eine Rotation der beiden Teile um                                                            festen Kegel (Achse = Drehimpuls-
                      leicht unterschiedliche Achsen. Man                                                          achse) ab. Die Berührungslinie der
                      schreibt:                                                                                    beiden Kegel ist die momentane
                          ·                                                                                        Rotationsachse. Drehimpuls, mo-
                         LK + v × LK = N               (9)
                                                                                                                   mentane Rotationsachse und Figu-
                            ·
                           LM + v × LM = –N                    (10)                                                renachse bleiben immer in einer
                                                                                                                   Ebene2).
                        LK und LM sind dabei die Drehim-                                                              Für eine starre Erde ohne flüssi-
                        pulsvektoren von Kern bzw. Mantel.                                                         gen Kern reduziert sich Gl. (11) auf
                        N ist die Summe aller Wechselwir-                                                          sCW = a ⭈ V, mit der Euler-Periode
2) v stimmt nur dann
mit V überein, wenn die kungen (topographisch, elektroma-             Abb. 7:                                      von 305 Sterntagen. Ein Anteil des
Kreiselschwingungen     gnetisch, gravitativ, viskos) zwischen Darstellung der beiden Kreisel-Eigen-               Äquatorwulstes besteht jedoch aus
nicht angeregt sind.                                                  schwingungen der Erde mit aufeinander
                        Mantel und Kern. Als wichtigste                                                            der momentanen Reaktion der elas-
                                                                      abrollenden Kegeln. L ist die Drehim-
                        wird die sog. Druck- oder Trägheits- pulsachse (Achse des raumfesten Kegels),              tischen Erde auf die Fliehkraft und
                        kopplung angesehen: Wenn Kern                 ∧
                                                                      e3 ist die Figurenachse (Achse des körper-   dieser Anteil trägt damit nicht zum
                        und Mantel nicht um dieselbe Achse festen Kegels) und v die momentane                      „Rückstellmoment“ bei. Dies führt
                        rotieren, entstehen durch die ellip-          Rotationsachse. Die Öffnungswinkel aller     über die Konstante d zu einer Peri-
                                                                      Kegel sind hier stark übertrieben gezeich-
                        soidische Form der Kern-Mantel-                                                            odenverlängerung. Andererseits ist
                                                                      net. Das wirkliche Winkelverhältnis
                        Grenze Druckkräfte, die versuchen,            zwischen äußeren und inneren Kegeln          der flüssige Erdkern nur schwach
                        die beiden Achsen zusammenzubrin- beträgt in beiden Fällen etwa 1:400.                     an den Mantel gekoppelt und
                        gen. Setzt man nun die entsprechen-                                                        nimmt am Wobble nicht teil, dies
                        den Größen ein, so erhält man zwei Eigenfrequenzen                   verkürzt die Periode wieder mittels des Faktors A/AM.
                        für freie Wobble-Bewegungen der Erde:                                Mit realistischen Zahlen führt dies auf eine Periode
                                                                                             von 397 Sterntagen. Es kommen zwei weitere Peri-
                                    A                                                        odenverlängerungen hinzu [12]: 29,8 Sterntage durch
                            sCW =
                                   AM
                                             b   g
                                       ⋅a⋅ 1− d ⋅V                                    (11)
                                                                                             die momentane Einstellung der Ozeanoberfläche auf
                            und                                                              die Fliehkräfte und 8,5 Sterntage durch die Relaxation
                                        F
                            sNDFW = − V ⋅ 1 +
                                                A
                                                     b   gIJK
                                                     aK − b
                                                                                             der Elastizität des Mantels gegenüber seismischen Fre-
                                        GH     AM
                                                                 ,                    (12)   quenzen (Anelastizität). Damit ist die Periode des
                                                                                             Chandler-Wobble im Prinzip verstanden, wobei die
                        wobei a = (C–A)/A und aK = (CK–AK)/AK die dynami-                    letzten beiden Terme noch etwas voraussetzungsbehaf-
                        schen Elliptizitäten von Erde und Kern sind. A, AK und tet sind. Der Chandler-Wobble hat einen Gütefaktor
                        AM sind die äquatorialen, C, CK und CM die polaren                   unter 100, als dissipative Prozesse kommen Anelasti-
                        Trägheitsmomente [11] von ganzer Erde, Kern und                      zität im Erdmantel, viskose Reibung, elektromagneti-
                        Mantel, V ist die mittlere Winkelgeschwindigkeit der                 sche und topographische Kopplung an der Kern-Man-
                        Erde. Die erste der Rotationseigenschwingungen ist der tel-Grenze sowie Reibung in den Ozeanen in Frage.
                        berühmte Chandler-Wobble, dessen Drehsinn mit der                    Frequenz und Gütefaktor des Chandler-Wobble sind
                        Erdrotation übereinstimmt (prograd). Die zweite wird                 sehr wichtige Messgrößen zur Ermittlung der Fre-
                        je nach Sichtweise als „Nearly Diurnal Free Wobble“                  quenzabhängigkeit der Elastizität des Erdmantels
                        (NDFW) oder als freie Kern-Nutation (FCN) bezeich-                   (Rheologie).
                        net; aufgrund des Vorzeichens in Gl. (12) verläuft sie                   Der Chandler-Wobble wird dauernd angeregt, wobei
                        entgegen der Erdrotation (retrograd).                                als Energiequellen die Atmosphäre, die Ozeane und
                           Abbildung 7 zeigt beide Wobbles in einer anschau-                 Erdbeben (Veränderungen der Trägheitsmomente) dis-
                        lichen Darstellung: Der körperfeste Kegel (Achse =                   kutiert werden. Die Atmosphäre scheint nur etwa ein
                        Figurenachse) rollt reibungslos auf bzw. in dem raum-                Drittel der nötigen Energie liefern zu können, Erdbe-
                                                                                             ben sind nicht sicher als Quellen identifiziert worden.
                                                                                             R. Gross behauptet, die restlichen zwei Drittel in den
                                                                                             Ozeanen gefunden zu haben [14].
                                                                                                 Heute wird die Orientierung der Erdachse im Raum
                                                                                             vom Internationalen Erdrotationsdienst kontinuierlich
                                                                                             mit Methoden wie Radiointerferometrie mit langer Ba-
                                                                                             sis (VLBI), Laser-Entfernungsmessungen zum Mond
                                                                                             (LLR) und zu Satelliten (SLR) sowie GPS mit hoher
                                                                                             Präzision gemessen. Supraleitende Gravimeter sind in
                                                                                             der Lage, die mit den Wobbles assozierten Änderungen
                                                                                             der lokalen Zentrifugalbeschleunigung von etwa 40–80
Abb. 8:                                       Abb. 9:                                        nm/s2 im Jahres- und 14-Monats-Rhythmus aufzulösen
Aus der mit raumgeodätischen Methoden         Die Antwort der Erde auf die von den           (Abb. 8). Etwa 16 % dieses Effekts sind auf die elasti-
ermittelten Polbewegung lässt sich die        Gezeitenkräften ausgeübten Drehmo-             sche Deformation der Erde durch die Fliehkräfte
lokale Änderung der Zentrifugalbe-            mente weist eine Resonanz auf, die von
schleunigung berechnen, die der Wobble-
                                                                                             zurückzuführen. Eine genaue Messung dieses Anteils
                                              dem Nearly Diurnal Free Wobble verur-
Periode von rund 400 Tagen folgt. Die         sacht wird und mit Gravimetern detek-          würde einen neuen Eckwert für die Mantelrheologie
für Straßburg berechnete Änderung             tiert werden kann (Messpunkte).                liefern, da die elastischen Modulen gegenüber denen
(blau) lässt sich auch lokal mit supralei-    Unterlegt ist die Modellkurve für die          bei den mehr als vier Größenordnungen höheren seis-
tenden Gravimetern detektieren (rot).         Parameter T FCN = 432 Sterntage und Q FCN      mischen Frequenzen dadurch kleiner sind.
Von letzterer sind die bekannten Erdge-       = 3 ⭈ 10 . Die zugrundeliegende Gezeiten-
                                                      4

zeiten sowie atmosphärische und hydro-        registrierung von 1996 bis 2000 wurde
                                                                                                 Die Amplitude der freien Kern-Nutation ist etwa
logische Effekte subtrahiert worden.          mit einem supraleitenden Gravimeter bei        400mal   so groß wie die des NDFW. Diese Schwingung
                                              Straßburg erstellt.                            wird auf zwei Arten beobachtet. Zunächst ist die Nuta-
                      Physik Journal
                54    1 (2002) Nr. 10
Schwerpunkt
tion selbst mit VLBI beobachtet worden mit einer Am-          Dank
plitude von 0,84 nrad. Sie ist ebenfalls zeitabhängig,        Wir bedanken uns bei Bettina Bayer, Jacques Hinde-
und in der Atmosphäre ist genügend Energie vorhan-         rer, Gabi Laske, Joe Resovsky und Séverine Rosat für
den, um diese Amplitude zu erzeugen. Die zweite Me-        Material zu den Abbildungen.
thode ist indirekt: Man beobachtet die resonante Reak-
tion der Erde auf Drehmomente mit Frequenzen in der        Literatur
Nähe der Resonanz. Diese Drehmomente werden                [1] F. A. Dahlen und J. Tromp, Theoretical Global
                                                                Seismology, Princeton University Press, Princeton
durch die ganztägigen Erdgezeitenkräfte erzeugt [13],
                                                                1998
deren angreifende Amplituden sehr genau bekannt            [2] G. Müller und W. Zürn, Landolt-Börnstein, Neue
sind. Die Reaktion der Erde wird mit Gravimetern und            Serie V/2a, Springer Verlag, Berlin 1984
Extensometern gemessen, und aus der Frequenzabhän-         [3] T. G. Masters und R. Widmer, Free Oscillations:
gigkeit dieser Reaktion lassen sich die Eigenschaften           Frequencies and Attenuation. In T. J. Ahrens,
der Resonanz (komplexe Eigenfrequenz, komplexe                  (Hrsg.), Global Earth Physics: a handbook of phy-
                                                                sical constants, Am. Geophysical Union, Washing-
Admittanz) ermitteln (Abb. 9). Dasselbe gilt für VLBI-
                                                                ton (1995)
Beobachtungen der erzwungenen Nutationen, die mit          [4] W. Zürn et al., Geophys. J. Int. 113, 113 (2000)
den Erdgezeiten eng assoziiert sind.                       [5] G. Masters et al., Nature 298, 609 (1982)
   Es ist abgeschätzt worden, dass alle weiter oben an-    [6] G. Laske und G. Masters, Nature 402, 66 (1999)
geführten Kopplungsmechanismen gegenüber der Träg-         [7] G. Masters et al., The Relative Behavior of Shear
heits- oder Druckkopplung an der Kern-Mantel-Gren-              Velocity, Bulk Sound Speed, and Compressional
ze vernachlässigbar sind. Letztere wird durch die dyna-         Velocity in the Mantle: Implications for Chemical
                                                                and Thermal Structure. In S. Karato et al., (Hrsg.),
mische Elliptizität aK an der Kern-Mantel-Grenze
                                                                Monograph 117, AGU, Washington (2000)
beschrieben. Die Größe b gibt an, welcher Anteil von       [8] R. Widmer und W. Zürn, Geophys. Res. Lett 19,
aK momentan auf die Druckkräfte reagiert und damit              765 (1992)
die „Rückstellmomente“ um etwa 25 % verringert. Die        [9] K. Nishida und N. Kobayashi, J. Geophys. Res.
beobachtete Periode von 432 Sterntagen ist kürzer als           104, 28741 (1999)
die von 466 Sterntagen für ein hydrostatisch auf die       [10] K. Lambeck, Geophysical Geodesy: The Slow De-
                                                                formations of the Earth, Clarendon Press, Oxford
Rotation reagierendes seismologisches Erdmodell.
                                                                1988
Führt man Anelastizität im Erdmantel ein, wird die         [11] C. F. Yoder, Astrometric and Geodetic Properties
Diskrepanz noch größer. Diese wird zurzeit damit                of Earth and the Solar System. In T. J. Ahrens,
erklärt, dass die Kern-Mantel-Grenze um ca. 5 % (ent-           (Hrsg.), Global Earth Physics: a handbook of phy-
sprechend 300 – 500 m) stärker abgeplattet ist als hy-          sical constants, Am. Geophysical Union, Washing-
drostatisch (1/400) erwartet wird. Derart kleine Pertur-        ton (1995)
                                                           [12] M. L. Smith und F. A. Dahlen, Geophys. J. R. Astr.
bationen in der Topographie der Kern-Mantel-Grenze
                                                                Soc. 64, 223 (1981)
lassen sich mit seismologischen Methoden nicht erfas-      [13] W. Zürn, The Nearly-Diurnal Free Wobble Reso-
sen. Der Gütefaktor des NDFW beträgt etwa 20000, zu             nance. In H. Wilhelm et al., (Hrsg.), Lecture Notes
niedrig für Mantel-Anelastizität alleine, d. h. ein noch        in Earth Sciences 66, Springer-Verlag, Heidelberg
nicht identifizierter Dämpfungsmechanismus ist am               (1997)
Werk. Auch die Admittanz der Erde für den NDFW             [14] R. Gross, Geophys. Res. Lett. 27, 2329 (2000)
kann in Zukunft Eckwerte für diese Umgebung der            [15] D. De Vries und J. M. Wahr, J. Geophys. Res. 96,
                                                                8275 (1991)
Kern-Mantel-Grenze liefern.
   Führt man den festen inneren Kern zusätzlich ein,
ergeben sich zwei weitere Kreisel-Eigenschwingungen
                                                            Die Autoren
[15], deren Beobachtung aussteht, jedoch u. a. die
Elliptizität der Oberfläche des inneren Kerns ein-                                Walter Zürn beschäftigt sich seit über
                                                                                  30 Jahren mit Erdbebenwellen und Ei-
schränken würde.
                                                                                  genschwingungen der Erde. Nach sei-
                                                                                  ner Promotion verbrachte er einige Jah-
  Ausblick                                                                        re in den USA an der University of Ca-
   Der heutige Stand unserer Kenntnisse der langwel-                              lifornia at Los Angeles sowie ein Jahr
ligen Struktur des tiefen Erdinnern beruht zu einem                               als wissenschaftlicher Stationsleiter der
wesentlichen Teil auf den Beobachtungen der verschie-                             Amundsen-Scott-Südpolstation in der
denen Eigenschwingungen der Erde. Weitere und ver-                                Antarktis. Für seine Verdienste wurde
                                                                                  1976 der 1515 m hohe Zurn Peak in der
besserte Beobachtungen im Zusammenwirken mit
                                                                                  Antarktis nach ihm benannt. Seit Mitte
theoretisch-numerischen Weiterentwicklungen werden          der 70er-Jahre ist er am Geophysikalischen Institut der Uni
helfen, dieses Bild zu verfeinern. Die dreidimensionale     Karlsruhe und am Observatorium Schiltach tätig. In seiner
Verteilung der Dichte im Erdmantel z. B. stellt noch        Freizeit ist er in den Bergen unterwegs und spielt Schach.
eine Herausforderung dar, der nur mittels Eigen-            Rudolf Widmer-Schnidrig hat an der
schwingungen auf den Leib gerückt werden kann.              ETH Zürich Geophysik studiert und
                                                            1991 am Institute of Geophysics and
   Die jüngsten Entdeckungen der ständig angeregten
                                                            Planetary Science der Scripps Instituti-
elastischen Moden [9] und der Coriolis-gekoppelten          on of Oceanography in San Diego/USA
tieffrequenten Moden [4], die ersten Ansätze zu einer       promoviert. Seither ist er, unterbrochen
zeitabhängigen Seismologie [6], sowie die immer höher       durch einen weiteren USA-Aufenthalt,
werdende Auflösung bei der Beobachtung der freien           Assistent am Geophysikalischen Institut
Nutationen zeigen auch, dass dieses aufregende For-         in Karlsruhe und arbeitet am Observato-
                                                            rium Schiltach. Beruflich steht sein In-
schungsgebiet immer wieder Überraschungen bereit
                                                            teresse für das Erdinnere im Vorder-
hält, die unseren Blick in Richtung Erdmittelpunkt          grund, privat erkundet er das Erdäußere beim Klettern in
verbessern werden.                                          Fels und Eis, Radfahren und auf Skitouren.

                                                                                                        Physik Journal
                                                                                                        1 (2002) Nr. 10       55
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