Charles Darwin, Die Entstehung der Arten
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dtv Fortsetzungsnummer 50 34433 Charles Darwin, Die Entstehung der Arten Bücher, die die Welt veränderten von Janet Browne, Kurt Neff 1. Auflage Charles Darwin, Die Entstehung der Arten – Browne / Neff schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG dtv München 2007 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 423 34433 3
Charles Darwin veröffentlichte 1859 sein Lebenswerk ›Die Entstehung der Ar- ten‹. Der von ihm entwickelten Evolu- tionstheorie zufolge führt die natürliche Selektion zum Überleben der bestange- passten Lebewesen. Denn diese können mehr Nachkommen zeugen und damit werden jene erblichen Varianten bevor- zugt weitergegeben, die für die Arterhal- tung optimal sind. Janet Browne erklärt, wie Darwin die Evolutionstheorie ent- wickelt hat und wie sich diese insbeson- dere auf die Wissenschaft und unser Weltbild ausgewirkt hat. Das Werk Darwins findet zurzeit wieder verstärkt Beachtung, vor allem aufgrund von christlich-fundamentalistischen Bewe- gungen in den USA, die die Evolutionstheorie ablehnen. Mit ih- rer verständlichen Darstellung bietet Browne dem Leser ein Fundament für die gegenwärtigen Diskussionen. Janet Browne ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Harvard University. Sie verfasste eine gefeierte zweibändige Dar- win-Biografie (1995/2002).
Janet Browne über Charles Darwin Die Entstehung der Arten Aus dem Englischen von Kurt Neff Deutscher Taschenbuch Verlag
Die Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i. Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat (dtv 34430) Philipp Bobbitt über Machiavelli, Der Fürst (i. Vorb. für 2008) Janet Browne über Charles Darwin, Die Entstehung der Arten (dtv 34433) Christopher Hitchens über Thomas Paine, Die Rechte des Menschen (dtv 34432) Bruce Lawrence über den Koran (dtv 34431) Alberto Manguel über Homer, Ilias und Odyssee (i. Vorb. für 2008) Peter O’Rourke über Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen (dtv 34459) Hew Strachan über Carl von Clausewitz, Vom Kriege (dtv 34460) Francis Wheen über Karl Marx, Das Kapital (dtv 34458) Deutsche Erstausgabe September 2007 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG , München www.dtv.de © 2006 Janet Browne Titel der englischen Originalausgabe: ›Darwin’s Origin of Species. A Biography‹, erschienen bei Atlantic Books, an imprint of Grove Atlantic Ltd. © der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG , München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: Johann Brandstetter, Winhöring Frontispiz: akg-images Satz: Greiner & Reichel, Köln Gesetzt aus der Concorde 8,75/11,25˙ Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany · ISBN 978-3-423-34433-3
inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Erstes Kapitel Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Zweites Kapitel »Eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte« . . . . . . . . . . . . 39 Drittes Kapitel Die Veröffentlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Viertes Kapitel Die Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Fünftes Kapitel Die Hinterlassenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Quellen und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Ein kurzer Hinweis auf Darwin-Ausgaben . . . . . . . . . . . . . 145 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
einleitung C harles Darwins ›Entstehung der Arten‹ zählt zweifellos zu den bedeutendsten naturwissenschaftlichen Werken, die je veröffentlicht wurden. Dabei entspricht es keineswegs dem heutigen Klischeebild der naturwissenschaftlichen Publikation. Es ist in einem wunderbar persönlichen Stil geschrieben, enthält weder Schaubilder noch mathematische Formeln, benennt keine weißbekittelten Gestalten in irgendeinem Labor als Gewährs- leute und kommt ohne jedes Fachchinesisch aus. Die Jahre, die zur Veröffentlichung führten, waren geprägt von unerwarteten Rückschlägen, zufälligen Begegnungen und starken Kontrover- sen. Bereits am Erscheinungstag war das Buch beim Verlag rest- los vergriffen, und das öffentliche Pro und Contra, das sich an ihm entzündete, griff wie ein Buschfeuer um sich und weitete sich bald zur ersten wahrhaft internationalen Debatte in der Ge- schichte der Naturwissenschaften aus. Die einen fielen über es her, die anderen rühmten es und hatten gleichzeitig Mühe, ihre tief verwurzelten Glaubensüberzeugungen mit Darwins verstö- renden neuen Ideen in Einklang zu bringen. Aufgrund seines wei- ten Horizonts, der Fülle von Einsichten, die es birgt, und des reichhaltigen Beweismaterials, auf das der Verfasser seine Hypo- thesen gründete, wurde das Werk von Anfang an als eine hoch aufragende neue Landmarke in der Topografie der Geisteswelt anerkannt. Zugleich war es aber auch Gegenstand hitziger Kri- tik, weil es den Standpunkt vertritt, dass alle Organismen ganz allein durch natürliche Vorgänge entstanden sind. Affe oder En- gel? Darwin oder die Bibel? Für die Viktorianer und ihre Zeitge- nossen waren das brennende Fragen und Anlässe für Streitigkei- ten, die vielerorts bis heute nicht ganz abgeflaut sind. Überhaupt fanden sowohl die Ausarbeitung von Darwins ›Entstehung der Arten‹ als auch die bis heute andauernden Kontroversen um das Werk zu keinem Zeitpunkt im kühlen Klima einer hermetisch gegen die Außenwelt abgeschotteten Sphäre der Wissenschaft
8 einleitung statt. Die Geschichte des Buches deckt sich in vielen Aspekten mit der Geschichte der Moderne. Aus heutiger Sicht ist natürlich Darwins historische Rolle als einer der Baumeister unserer Gegenwart klarer als je zuvor. Seine Schriften stellten alle Ansichten, die sich das menschliche Denken über organisches Leben gebildet hatte, in Frage und tru- gen maßgeblich zu den geistigen, sozialen und religiösen Wand- lungsprozessen in der westlichen Welt des 19. Jahrhunderts bei. Mit der Zeit wurde Darwin zu einem der berühmtesten Wissen- schaftler der Epoche, einem prominenten viktorianischen Meis- terdenker, in dessen Werk man schon zu seinen Lebzeiten den Grundstein der modernen Welt erblickte. Waren unsere Ureltern Menschenaffen? War die Geschichte von Adam und Eva Maku- latur und unser Leben auf dieser Erde ohne Sinn und Zweck, kaum mehr als eine tierische Existenz? Es ging bei der Diskus- sion solcher Fragen nicht darum, ob die biblischen Berichte in buchstäblicher Auslegung wahr seien oder nicht. Selbst damals stellten sich die wenigsten Gläubigen das Paradies, von dem die Bibel erzählt, als einen realen Ort vor. Vielmehr schien Darwin in den Augen vieler Zeitgenossen das Göttliche als solches ganz aus dem abendländischen Geisteshorizont vertreiben und sämt- liche die Seele und den moralischen Sinn des Menschen betref- fenden Glaubenswahrheiten in Zweifel ziehen zu wollen. Stand es den Menschen nicht frei, ohne moralische Hemmungen zu tun, was sie wollten, wenn sie nicht mehr vor Gott, ihrem Schöpfer, Rechenschaft würden ablegen müssen? »Soll man glauben, dass eine Auster danach strebt, ein Mensch zu wer- den?«, fragte 1860 Samuel Wilberforce, der Bischof von Oxford. Allgemein herrschte die Ansicht, Darwin habe einen Mordan- schlag auf die Gottesidee verübt, und er selbst nannte sich im Scherz einmal einen »Kaplan des Teufels«. Im Rückblick auf diese bewegten Zeiten spricht man heute gern von der »darwinschen Revolution«, meist allerdings nicht ohne die Bedeutung des Ausdrucks umgehend zu relativieren, denn längst ist klar, dass viele Themen, die Darwin behandelte, weder für ihn noch für seine Leser neu waren. Trotzdem hat die- se Etikettierung im allgemeinen Sprachgebrauch noch immer ihren guten Sinn. Wie so oft sind auch in diesem Fall ein einzel-
einleitung 9 ner Mensch und ein einzelnes Buch zu Repräsentanten eines weitreichenden Umbruchs in der Ideenwelt einer ganzen Epoche geworden. Gleichwohl blieb der Einfluss des Evolutionsgedan- kens nach Darwins Tod keine stabile Größe; er schwankt seit- her zwischen Zunahme und Abnahme, und mitunter nimmt er paradoxerweise gleichzeitig ab und zu. Um Beispiele zu nennen: Als Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts die evolutionären Imperative »Konkurrenz« und »Fortschritt« sich in der gesell- schaftlich-politischen Sphäre als imperialer Expansionsdrang, erstarkender Kapitalismus und Eugenik-Bewegung – in Deutsch- land: »Rassenhygiene«-Bewegung – manifestierten und das Schlagwort vom »Überleben der Tauglichsten«* in aller Munde war, hielten viele Biologen die wissenschaftliche Seite des Dar- winismus für völlig unvereinbar mit der aufstrebenden jungen Wissenschaft Genetik. Ebenso paradox: In den 1930er- und 1940er-Jahren arbeitete eine Reihe von »neodarwinistischen« Biologen, die zur Avantgarde ihres Fachs zählten, energisch da- ran, die darwinsche Evolutionslehre unter dem Namen »Syn- thetische Evolutionstheorie« auf eine erweiterte Grundlage zu stellen, während zur gleichen Zeit »neolamarckistische« Fachge- nossen massiv antidarwinistische Ansätze unterstützten, die auf der lamarckistischen Grundvorstellung von der Vererbung er- worbener Eigenschaften fußten. Schon Jahre früher, im Juli 1925, hatte in Dayton, Tennessee, der »Affenprozess« gegen den Na- turkunde-Lehrer John Scopes stattgefunden, dem christliche Fundamentalisten vorwarfen, er habe gegen ein im Staat Ten- nessee kurz zuvor erlassenes Gesetz verstoßen, indem er seine Schüler mit der Evolutionstheorie bekannt machte. Das Ge- richtsverfahren, das mit einem Schuldspruch endete, ging als ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Naturwissen- schaften und der Religion in die Geschichtsbücher ein. Eine Zeit lang blieb es im US -Bundesstaat Tennesse verboten, im schu- lischen Unterricht die Evolutionstheorie zu behandeln. In unserer Zeit, am Anfang des 21. Jahrhunderts, sind Darwins Ideen bedeutender denn je, wenn auch nach wie vor heiß um- * Survival of the fittest; die treffendere Standardübersetzung lautet heute »Überleben der Bestangepassten«. Anm. d. Übs.
10 einleitung stritten. Dem heutigen Wissen über die Vererbung angepasst und nach Maßgabe des Erkenntnisfortschritts in tausenderlei Hin- sicht weiterentwickelt, ist das Konzept der natürlichen Selektion rund um den Globus der Grundpfeiler für die meisten biolo- gischen Lehrmeinungen. Paläontologen spüren im Fossilbericht Fälle von Massenaussterben und explosionsartiger Veränderung der Lebenswelt auf, molekulare Untersuchungen werfen Licht auf die Ursprünge und die Ausbreitung des Frühmenschen, und die Gene betrachtet man mittlerweile als einen wichtigen Schlüs- sel zum Verhalten, ja selbst zu den geistigen Funktionen des Menschen. Perspektiven dieser Art rufen naturgemäß rege De- batten hervor. Dabei wird Kritik laut an der Soziobiologie und der »neodarwinistischen« Tendenz, allenthalben die »egoisti- schen« Gene am Werk zu sehen. Von philosophischer Seite wird gegen die Selektionstheorie eingewandt, sie sei keines reprodu- zierbaren Beweises fähig und stelle daher kein gültiges Wissen dar. Der Normalbürger beobachtet den rundum wütenden Kon- kurrenzkampf im Geschäftsleben und die ausbeuterische Politik der Wirtschaftsunternehmen und fragt sich, ob Altruismus über- haupt jemals ein Grundzug der Menschennatur war, während die Kreationisten unserer Zeit rabiat gegen alle Argumente pole- misieren, die für die Evolutionstheorie sprechen, und verlangen, dass die biblische Schöpfungsgeschichte im Schulunterricht min- destens denselben Raum wie jene einnimmt. Vor der US -Präsi- dentschaftswahl Anfang November 2004 führte die ›New York Times‹ eine Wählerbefragung durch; dabei bekannten sich 55 Prozent der Befragten zu der Überzeugung, dass die Menschen, so wie sie heute sind, von Gott geschaffen wurden. Hätte Darwin diese Entwicklungen erlebt, würde ihm vieles wie ein Déjà-vu vorgekommen sein. Trotz alledem war er kein gottloser Radikalinski, der auf den Umsturz von allem, was man ihn gelehrt hatte, hinarbeitete, wie seine Gegner ihm von An- fang an unterstellten. Als Privatmann war er ein höchst respek- tabler Bürger, überhaupt nicht die Sorte Mensch, der man eine derart folgenreiche Publikation zugetraut hätte. Er wurde nie- mals wegen ketzerischer Ansichten unter Hausarrest gestellt wie der italienische Naturwissenschaftler Galileo Galilei. Auch verbrannten englische Dorfbewohner keine Strohpuppe, die ihn
einleitung 11 darstellen sollte, wie es dem politischen Theoretiker und Revo- lutionär Thomas Paine widerfuhr. Er wurde nicht wie Bischof Colenso von einem Kirchengericht der Häresie für schuldig be- funden. Nie hat man von antidarwinistischen Krawallen gehört. Stattdessen wurde Darwin 1882 als einer der größten Söhne der Nation in der Westminster Abbey beigesetzt, und für die ›Times‹ war er »der größte Engländer seit Newton«. Tatsächlich ist es eine denkwürdige Eigentümlichkeit der soge- nannten darwinschen Revolution, dass der Mann, der im Zen- trum des Sturms stand, auf rein menschlicher Ebene weithin An- klang fand. Das mag zu einem großen Teil damit zu tun gehabt haben, dass die Naturwissenschaften in der viktorianischen Ge- sellschaft zu einem Faktor von höchster Bedeutung aufstiegen. Zu einem ebenso großen Teil lag es wohl aber auch daran, dass sich im Verlauf dieser Epoche in Wirtschaft und Politik mehr und mehr die Wertvorstellungen des bürgerlichen Mittelstands durchsetzten. Vielleicht muss man Darwin bei allem Streit, den seine Theorien auslösten, auch zugutehalten, dass er selbst sich immer gern aus dem Getümmel heraushielt. Er sah zwar ein, dass Debatten und Auseinandersetzungen gemeinhin der Weg sind, auf dem die Wissenschaft fortschreitet, aber das verbale Hauen und Stechen, mit dem die Meinungsstreitigkeiten in der Öffent- lichkeit ausgetragen wurden, war ihm verhasst. Da zog er sich doch viel lieber in die Ruhe seines Hauses in der ländlichen Sze- nerie der Grafschaft Kent zurück und machte sich in seinem Garten zu schaffen. Hier schrieb er gern Briefe, hatte Freunde zu Gast und stellte mal in seinem Gewächshaus, mal in seinem Arbeitszimmer kleine naturkundliche Experimente an. In man- cher Beziehung muss er auf seine Zeitgenossen gewirkt haben, als wäre er einem Roman von Anthony Trollope entstiegen: ein hochgewachsener, stiller, sympathischer Mann, der Bescheiden- heit und Vertrauenswürdigkeit ausstrahlte, ganz in seiner Arbeit und seinem Familienleben aufging und sich mit Haut und Haar der Idee der wissenschaftlichen Wahrheit verschrieben hatte. Wie viele Viktorianer der gehobenen Schichten wurde er dann und wann von Magenschmerzen oder irgendwelchen rätselhaf- ten anderen Beschwerden heimgesucht. Als mustergültiger vik- torianischer Familienvater, der er war, legte er sich einen mäch-
12 einleitung tigen Bart zu, hatte ein wachsames Auge auf seine Geldanlagen und liebte herzlich seine Frau und seine Kinder. Überraschen mag, dass zu seinen Verwandten und nächsten Bekannten auch eine Reihe von Pfarrern zählte. Er war ein ebenso begeisterter Reisender, Ehemann, Vater, Freund und Dienstherr wie Natur- forscher und Denker. Vor allem war er unbestreitbar ein Schrift- steller. Im Alter auf die Auseinandersetzungen zurückblickend, in deren Mittelpunkt er gestanden hatte, gab er zu, welch beherr- schende Rolle die ›Entstehung der Arten‹ in der Epoche gespielt hatte. »Es ist ohne Zweifel die Hauptarbeit meines Lebens«, schrieb er in seiner Autobiografie. »Das Buch war von Anfang an außerordentlich erfolgreich.« Die Erstausgabe von Darwins Hauptwerk – der vollständige Titel lautet übrigens ›On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life‹ (Über die Entstehung der Arten durch natür- liche Zuchtwahl, oder: Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein) – erschien am 24. November 1859 in dem Londoner Verlag John Murray. Mit seinem grünen Einband aus strapazierfähigem Buchbinderleinen wirkte das Buch eher un- scheinbar, und trotz des Umfangs von 502 Seiten war der Laden- preis von 14 Shilling – mehr als der Wochenlohn eines durch- schnittlichen Arbeiters – für den englischen Buchmarkt der Zeit ziemlich hoch. Dass das Anliegen des Autors seriös war, gab die Aufmachung auch sonst zu erkennen: keine effektvollen natur- geschichtlichen Illustrationen als Blickfang, keine Stammtafeln von Schweine- oder Rinderrassen auf dem Einbanddeckel, noch nicht einmal ein Frontispiz mit einer Szene aus dem prähistori- schen Tierleben. Das bescheidene Auftreten war ganz nach dem Geschmack des Verfassers. »Die äußere Erscheinung meines Kindes macht mich unendlich stolz und zufrieden«, schrieb Darwin an Murray, nachdem dieser ihm ein Vorausexemplar nach Ilkley in Yorkshire geschickt hatte, wo er sich zur Hydro- therapie aufhielt. »Es freut mich ungemein, dass Sie die Güte hatten, mein Buch in Verlag zu nehmen.« Hinter diesen gelassenen Worten verbargen sich eine Menge vorausgegangener Aufregung und vielerlei Anlässe zu Tumulten, die sich künftig noch ergeben sollten.
erstes kapitel die anfänge D ie Geschichte der ›Entstehung der Arten‹ begann lange vor dem Tag der Erstveröffentlichung. Charles Robert Darwin wurde am 12. Februar 1809 als fünftes Kind (von sechs) und zweiter Sohn des wohlhabenden Arztes Robert Waring Darwin und seiner Frau Susannah, geborene Wedgwood, in dem Land- städtchen Shrewsbury (Grafschaft Shropshire) geboren. Die Fa- milie gehörte in der Oberschicht der Provinzgesellschaft zur ers- ten Garnitur; zu ihren häufigsten Aktivitäten zählten Reisen zum Besuch von Verwandten, die Teilnahme an lokalen karita- tiven Projekten und Ferienaufenthalte an den malerischsten Stel- len der walisischen Küste. Seine frühe Kindheit empfand Darwin als überaus glückliche Zeit, obwohl er mit acht Jahren die Mut- ter verlor. In seiner Autobiografie schrieb er, er könne sich an seine Mutter und ihren Tod nur schwach erinnern, was vielleicht daran liege, dass seine drei älteren Schwestern ihn danach mit viel mütterlicher Liebe umsorgt hätten. Soweit sich anhand von Darwins Lebenszeugnissen ausmachen lässt, hinterließ dieses einschneidende Kindheitserlebnis bei ihm keine auffallende see- lische Schädigung. Allem Anschein nach war er ein warmher- ziger Junge, der am liebsten mit seinen Freunden und seiner Familie zusammen war, das Leben auf dem Land liebte, gerne Musik hörte und seinen Lesehunger mit Büchern stillte, deren Themenvielfalt ein breit gefächertes Interessenspektrum verriet. Aus seiner nächsten Umgebung wurde ihm viel Liebe entgegen- gebracht; alle erhaltenen unmittelbaren Quellen zu diesem Le- bensabschnitt belegen, dass er zu einem aufgeschlossenen, ge- sprächigen, freundlichen Menschen heranwuchs, der sich später trotz der körperlichen Beschwerden und öffentlichen Kontro- versen, die das Schicksal für ihn bereithielt, die Gabe bewahrte, dauerhafte Freundschaften zu knüpfen, und in der Lage war, bis an sein Lebensende eine innige, glückliche Ehe zu führen.
14 erstes kapitel Darwins Großvater väterlicherseits war der Dichter, Arzt und Naturwissenschaftler Erasmus Darwin (1731–1802), der in seinem biologischen Hauptwerk ›Zoonomia‹ eine Frühform der Deszendenztheorie formulierte. Sein Großvater mütterlicher- seits war Josiah Wedgwood (1730–1795), der Besitzer der berühmten Wedgwood-Porzellanmanufaktur. Beide Vorfahren gingen als herausragende Persönlichkeiten in die Geschichte ein: Während Letzterer mit der Industrialisierung der Töpferei und der Erfindung der »Wedgwoodware« einen handfesten Bei- trag zur Industriellen Revolution leistete, zählt Ersterer zu den Schlüsselfiguren der außerordentlichen Geistesblüte im England des 18. Jahrhunderts. Eine so ungewöhnliche Konstellation in der Ahnentafel spornt allemal die Kombinationsgabe der Kom- mentatoren an, und so ist es unter Historikern schon seit Lan- gem üblich, Darwins Genialität zumindest teilweise auf diese beiden Vorfahren zurückzuführen. In Wirklichkeit wies er im Persönlichkeitsbild mit keinem der beiden irgendeine Ähnlich- keit auf, den Umstand ausgenommen, dass auch er in einem fa- miliären Binnenklima aufwuchs, das entschieden mitbestimmt wurde von geistiger Aufgeschlossenheit, Freidenkertum und In- teresse für die Naturwissenschaften. In der dritten Generation verlieh nun allerdings der Reichtum der Wedgwood-Seite diesen Faktoren ein ganz neues Gewicht. Die ziemlich moderne Kon- stellation aus Fabrikantenwohlstand, Landjunkerstatus, religiö- sem Skeptizismus und kultiviertem Familienhintergrund garan- tierte Darwin einen dauerhaften Platz im gesellschaftlichen Leben der oberen Mittelklasse und die sichere Aussicht auf ein ansehnliches Erbe, was beides eine wesentliche Rolle beim Zu- standekommen seiner späteren Leistungen spielte. Er war sozu- sagen in die finanziell abgesicherte britische Intelligenzija hineingeboren worden. 1818 bis 1825 besuchte Darwin die private Shrewsbury School for Boys. In dieser Zeit fasste er den Arztberuf als Ausbildungs- ziel ins Auge und begleitete manchmal seinen Vater auf dessen Krankenbesuchen. Mit Vorliebe widmete er sich der Vergröße- rung seiner Naturaliensammlung. In der Schule experimentierte er mit Chemikalien, und gemeinsam mit seinem älteren Bruder Erasmus richtete er zu Hause ein kleines Labor ein, in dem die
die anfänge 15 beiden während der Schulferien Experimente durchführten. Sol- che Interessen waren zu dieser Zeit typisch für junge Leute ihrer sozialen Klasse; dennoch sehen wir hier den Anfang von Dar- wins lebenslanger Faszination für die Wissenschaft und die Welt der Natur. Wie viele Jungen seines Alters scheint er ansonsten glücklich und zufrieden gewesen zu sein, wenn er, allein seinen eigenen Interessen und Neigungen folgend, durch die Landschaft streifen konnte. Die erhaltenen Lebenszeugnisse aus jener Zeit lassen darauf schließen, dass Darwins Talenten, eingeschnürt in das starre Korsett des zeittypischen humanistischen Bildungs- programms für Knaben, wie sie waren, zunächst wenig Entfal- tungsspielraum blieb. Sein Leben nahm eine aufregende Wendung, als sein Vater ihn 1825 vorzeitig von der Schule nahm und, wie zuvor schon seinen Bruder Erasmus nach Cambridge, zum Medizinstudium nach Edinburgh schickte; Erasmus begleitete ihn, um in Edinburgh sein Krankenhauspraktikum zu absolvieren. Damals zahlte man als Student für jede einzelne obligatorische Lehrveranstaltung – anatomische, geburtshilfliche, physikalische, pharmakologische usw. Pflichtvorlesungen oder -praktika – separat, ein um einiges lockerer als heute organisierter Studiengang. Männliche Jugend- liche konnten schon in sehr jungen Jahren an der Universität probeweise ein paar Fächer belegen, ehe sie zum ernsthaften Studium übergingen. Nach anfänglicher Begeisterung entdeckte der sechzehnjährige Charles, dass sein Nervenkostüm den bluti- gen Realitäten der Medizin des frühen 19. Jahrhunderts nicht ge- wachsen war. Nachdem er bei zwei »grässlichen« chirurgischen Operation – eine davon an einem Kind – zugeschaut hatte, stand für ihn fest, dass der Arztberuf nichts für ihn war (man war noch zwei Jahrzehnte von der Anwendung der Narkose entfernt). 1827 brach er das Medizinstudium ab. Während der kurzen, in Edinburgh verbrachten Zeitspanne war er allerdings manchen jener Einflüsse ausgesetzt, die ihn in jungen Jahren am nachhaltigsten prägten, Einflüssen, deren Nachwirkung bis an sein Lebensende anhielt. Darwin-Biografen sichten standardmäßig besonders sorgfältig die Edinburgher Jah- re ihres Helden, denn nach ihrer Überzeugung sind hier sämt- liche Keime seines späteren Denkens zu finden – womit sie
16 erstes kapitel weitgehend recht haben. Die Universität Edinburgh war im Ver- einigten Königreich die führende Hochschule für die naturwis- senschaftlichen Fächer und die Medizin. Sie bot Lehrveranstal- tungen zu allen Aspekten der modernen Naturwissenschaft auf dem aktuellen Stand der kontinentaleuropäischen Forschung an. Charles hörte Chemie bei Thomas Hope und Naturgeschich- te bei Robert Jameson; Letzterer konnte zur Illustration seiner Ausführungen nicht selten auf das exzellente naturgeschicht- liche Museum der Universität verweisen. Darwin schätzte dieses Museum ungemein. Hier machte er die Bekanntschaft eines orts- ansässigen Taxidermisten (Tierpräparators), eines freigelassenen schwarzen Sklaven namens John Edmonston, den es aus dem südamerikanischen Guyana nach Schottland verschlagen hatte; von ihm lernte er, wie man Vögel ausstopft. Mit dem Museums- kurator William Macgillivray verbrachte er angenehme Stunden im Gespräch über Muscheln und Vögel. Im Rahmen von Jame- sons Vorlesung wurde er auch in die Geologie eingeführt und hörte erstmals von den zeitgenössischen Debatten über die Erdgeschichte und über Fossilienfunde – Darwin erklärte al- lerdings, dass ihn Jamesons staubtrockener Vortrag über diese Dinge so sehr angeödet habe, dass er sich nie wieder mit ihnen beschäftigen werde. Es machte ihm auch Vergnügen, sich auf eigene Faust als praktischer Naturforscher zu betätigen. Er trat in die kleine Stu- dentenverbindung »Plinian Society« ein und lernte hier Robert Grant kennen, einen charismatischen Dozenten an der medizi- nischen Fakultät, der ein Anhänger der französischen Entwick- lungsanatomie und evolutionistischer Ideen war. Unter seiner Anleitung begann Darwin, marine Weichtiere der Nordsee zu beobachten, und machte dabei seine beiden ersten wissenschaft- lichen Entdeckungen, die er auf der Zusammenkunft der Plinian Society am 27. März 1827 vortrug: Bei den schwarzen Kügel- chen, die man gelegentlich in Austernschalen fand, handelte es sich nicht, wie bisher angenommen, um Algensporen, sondern um die Eier eines Rochenegels (Pondobtella muricata), und die Larven des Moostierchens Flustra waren dank ihren erst von ihm entdeckten haarfeinen Geißeln in der Lage, frei umherzu- schwimmen.
die anfänge 17 Der Umgang mit Grant schlug für Darwin mit einer enormen Erweiterung seines intellektuellen Horizonts zu Buche. Sein Mentor führte ihn in die Edinburgher Wissenschaftskreise ein und ermutigte ihn zur Ausdehnung seines naturgeschichtlichen Interessengebiets. Er weckte in seinem Schützling das lebenslan- ge Interesse für den »Reproduktionsprozess« (die Einzelheiten der geschlechtlichen oder ungeschlechtlichen Fortpflanzung) der Organismen und für die Embryologie der Wirbellosen (wie z. B. Mollusken, Schwämme, Polypen). Er veranlasste Darwin, Lamarcks ›Système des animaux sans vertèbres‹ (1801; dt. Syste- matik der Wirbellosen) zu lesen, und brach eines Tages in eine Lobeshymne auf Lamarcks »Transmutationslehre« aus (auch als »Transformismus« bezeichnet; der Ausdruck »Evolution« war noch nicht in Gebrauch), von der Darwin später sagte, sie habe keinen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Aber immer- hin hatte er zum fraglichen Zeitpunkt bereits das Buch seines Großvaters über die Gesetze des Lebens und der Gesundheit (›Zoonomia‹, 1794–1796) gelesen, das den Abriss einer Entwick- lungslehre ganz ähnlich der lamarckschen enthält. Erasmus Dar- win war jetzt seit zweieinhalb Jahrzehnten tot und Jean-Baptiste de Lamarck ein hochbetagter Greis, aber beide waren noch lange nicht vergessen oder wurden zum alten Eisen gezählt. Mit ihren kühnen biologischen Theorien in der Tradition der Aufklärung und besonders mit ihren evolutionistischen Ideen standen sie bei radikalen Denkern der 1820er-Jahre in hohem Ansehen. In aktualisierter Form dienten diese Ideen Grant als Ausgangsbasis für seine These, dass Schwämme die Ur-Organismen sind, aus denen sich der komplette Stammbaum der Arten entwickelte. Darwin verließ also Edinburgh mit einem sehr viel weiteren geis- tigen Horizont, als ihn junge Männer seines Alters sonst zu ha- ben pflegten. Er hatte erfahren, dass man ehrgeizige Fragen nach der Entstehung und der Ursache der Formenwelt des Lebendigen stellen kann, und bereits direkte Bekanntschaft mit einschlägi- gen evolutionistischen Erklärungen gemacht. Trotzdem haben wir keinen Grund zu der Annahme, dass er schon damals zum Evolutionisten geworden sei. Dr. med. Robert Darwin war nicht erfreut über Charles’ Aus- stieg aus dem Medizinstudium. Nach einigen knappen Diskus-
18 erstes kapitel sionen zwischen Vater und Sohn und nachdem Letzterer, unter- stützt von einem Nachhilfelehrer, sich alle seit Ende der Schul- zeit vergessenen Latein- und Griechischkenntnisse durch hartes Büffeln wieder angeeignet hatte, nahm Charles Anfang 1828 am Christ’s College der Universität Cambridge das Studium der Theologie mit dem Ziel auf, wenigstens den Grad eines »Bache- lor of Arts« zu schaffen – die Voraussetzung für die Aufnahme in den Klerus der Anglikanischen Kirche. Die Familien Darwin und Wedgwood waren zwar nicht sonderlich religiös, aber als Vikar in den geistlichen Stand zu treten war in der Viktoriani- schen Epoche ein von jungen Leuten aus dem gehobenen Bürger- tum gern beschrittener Weg zu einer einträglichen Pfründe und einem geachteten sozialen Status; mehrere Mitglieder des weite- ren Familienkreises waren bereits tüchtige Landpfarrer. Ganz so wie Reverend Gilbert White, ein namhafte Naturforscher und Ornithologe des 18. Jahrhunderts, konnten junge Männer mit entsprechendem sozialen und akademischen Hintergrund damit rechnen, als Landpfarrer reichlich Zeit für ihre naturkundlichen Interessen oder sonstigen Hobbys zu haben. In seiner Autobio- grafie schrieb Darwin später, dass er 1827/28 erst einmal einen milden Glaubenszweifel überwinden musste, danach aber sehr zufrieden war mit der Aussicht auf den geistlichen Beruf. Im Rückblick sah er aber auch deutlich, welche objektive Ironie in dieser Berufswahl lag. »Wenn ich daran denke, wie heftig ich von den Orthodoxen angegriffen worden bin, so erscheint es mir spaßig, dass ich einmal beabsichtigte, Geistlicher zu werden.«1 Offenbar hatte ihm sein Vater unmissverständlich erklärt, dass er es sich nicht leisten könne, keinen Beruf zu ergreifen. Er dür- fe nicht unbedingt damit rechnen, seine Lebenshaltungskosten später einmal allein aus einer ererbten Privatschatulle bestreiten zu können. »Du hast keine anderen Interessen als Jagen, Hunde und Rattenfangen, und du wirst dir selbst und der ganzen Fami- lie zur Schande«, hatte Vater Darwin seinem Sprössling einmal den Kopf gewaschen. Als es aus war mit der Medizin, dürfte also die Kirchenlaufbahn für die beiden das Gesprächsthema der Stunde gewesen sein. Die Jahre an der Universität Cambridge sollten von höchster Bedeutung für Darwins weiteres Leben sein, wenn auch mit
die anfänge 19 etwas anderem Ergebnis, als Vater und Sohn es erwarteten. Da- rum durchstöbern Wissenschaftshistoriker seit eh und je diesen Abschnitt von Darwins Biografie nach Hinweisen – und seien sie noch so klein –, die eventuell auf sein späteres Wirken hin- deuten. Einig ist man sich darin, dass die akademische Szene in Cambridge sich von der in Edinburgh stark unterschied und dass die mit Hauruck vorgenommene Verpflanzung aus dem unter- kühlt-rauen Klima der medizinischen Fakultät Edinburgh auf die wonnigen Auen der theologischen Fakultät Cambridge die entscheidende Wende in Darwins Leben mit sich brachte. Sein späteres Werk kann man de facto sehr gut als Ergebnis der Ver- bindung von Edinburgher und Cambridger Ideen beschreiben – als Ergebnis eines Zusammenwirkens, bei dem sich die beiden Komplexe gegenseitig zu neuen Einsichten befruchteten. In Cambridge fand Darwin Eingang in das Milieu der sozialen und intellektuellen Elite, das bis ans Ende seiner Tage seine Heimat blieb; die Freundschaften, die er hier schloss, hatten Bestand. Höchste Bedeutung gewannen für ihn zwei der neuen Freunde, der 32-jährige Botanikprofessor Reverend John Stevens Hens- low (1796–1861) und der 43-jährige Geologieprofessor Adam Sedgwick (1785–1873). Er lernte den Universalgelehrten William Whewell und den Naturforscher und Pfarrer Leonard Jenyns kennen. Sein engster persönlicher Freund in Cambridge war sein Vetter William Darwin Fox, der sich hier ebenfalls auf das geist- liche Amt vorbereitete. Darwin verlebte an den Ufern des Cam drei fabelhafte Jahre. Der akademische Stundenplan stellte keine sonderlich hohen Ansprüche und ließ ihm reichlich Zeit, seinen naturkundlichen Interessen zu frönen. In die Fußstapfen seines Vetters tretend und bald auch mit ihm konkurrierend, wurde er zum passionier- ten Amateur-Entomologen, dessen Kenntnisse in Sachen Käfer- klassifikation immerhin ausreichten, dem Verfasser eines ein- schlägigen Standardlehrbuchs einen kleinen Beitrag zu liefern. Er nahm an Fuchsjagden teil, schoss Federwild, tauschte mit Freunden Objekte aus seiner Naturaliensammlung oder spielte mit ihnen Karten und genoss mit einem großen Bekanntenkreis die Freuden der Geselligkeit. »[Ich] geriet … in eine ausgelas- sene Gesellschaft, in der sich einige liederliche, gemeine junge
20 erstes kapitel Leute befanden. Wir tafelten oft am Abend zusammen, obschon an diesen Mahlzeiten oft angesehenere Männer teilnahmen, und tranken zuweilen zuviel, sangen lustige Lieder und spielten spä- ter Karten. Ich weiß wohl, daß ich mich der auf solche Art ver- lebten Tage und Abende schämen sollte; da aber einige meiner Freunde sehr angenehm und wir alle in bester Stimmung waren, so kann ich nicht anders als mit großem Vergnügen auf diese Zei- ten zurückblicken.«2 Natürlich studierte Darwin auch. Neben dem Pflichtprogramm in Mathematik, alten Sprachen und Theologie, das eine Mühsal für ihn bedeutete, besuchte er Henslows Botanikvorlesung und (im letzten Studienjahr) Sedgwicks öffentliche Geologievor- lesung. Henslow hatte eindeutig große Sympathie für ihn – viel- leicht erkannte der Professor, was in ihm steckte – und lud ihn zu seinen jeden Freitag stattfindenden Abendgesellschaften ein, wo Darwin einige Leuchten des Universitätslehrkörpers kennen- lernte. Auf Henslows Anraten hin dehnte er seine Lektüre auf ein breites Themenspektrum aus, sodass er sich in späteren Jahren sowohl auf John Herschels ›Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy‹ (1830; dt. Einführung in das Studium der Natur) als auch auf Alexander von Humboldts ›Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents‹ (in französischer Sprache 1814–1825; engl. unter dem Titel Personal Narrative of Travels to the Equinoctial Regions of America, During the Years 1799–1804, 1814–1829) als Inspirationsquellen berufen konnte. Besonders intensiv beschäftigte sich Darwin mit der Theologie von Archidiakon William Paley – anfangs nur, weil sie Prüfungs- wissen war, bald jedoch auch aus eigenem Antrieb. Im Abschluss- examen wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, dass der Prüfling Fragen zum Inhalt von Paleys Büchern ›Übersicht und Prüfung der Beweise und Zeugnisse für das Christenthum‹ (1785) und ›Grundsätze der Moral und Politik‹ (1794) beant- worten konnte. Nach dem Bachelor-Examen las Darwin aus per- sönlichem Interesse das letzte von Paleys drei Hauptwerken, ›Natural Theology‹ (1802), in dem u. a. anhand der »Uhrmacher- Analogie« ein teleologischer Gottesbeweis geführt wird: Die An- gepasstheit der Lebewesen an ihre Umwelt, so Paley, ist voll- kommen zweckmäßig, und das ist ein schlüssiger Beweis für die
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