China Strategie 2021-2024 - Eidgenössisches Departement ...

 
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China Strategie
2021–2024

                  
China Strategie 2021-2024 - Eidgenössisches Departement ...
Aussenpolitische Strategie
      2020–2023

   China Strategie
     2021–2024

                             Der vorliegende Bericht wurde vom Bundesrat am 19.03.2021 gutgeheissen. Es
                             handelt sich um eine geografische Folgestrategie zur Aussenpolitischen Strategie
                             2020–2023 (APS 20–23) . Gemäss dem dortigen Ziel 6.4. erneuert die Schweiz
                             ihre China-Strategie und schafft interdepartementale Koordinationsgremien,
                             welche die Kohärenz stärken. Mit dem Bericht werden zudem das Postulat der
                             APK-N (20.4334 ) und die Motion Nidegger (20.3738 ) erfüllt (siehe Anhang).

    2           
China Strategie 2021-2024 - Eidgenössisches Departement ...
Vorwort

Vor über siebzig Jahren, am 14. September 1950, haben
die Volksrepublik China und die Schweiz ihre diplomati-
schen Beziehungen aufgenommen. Der Bundesrat war
zur Einschätzung gelangt, dass trotz weltanschaulicher
Differenzen und unterschiedlicher politischer, gesellschaft-
licher und wirtschaftlicher Systeme die Zusammenarbeit
lohnenswert sei. Die Schweiz gehört damit zu den ersten
westlichen Ländern, welche diesen Schritt vollzogen haben.

Heute ist China nach der EU und den USA der dritt-                Mit der vorliegenden Strategie hält die Schweiz an ihrer
wichtigste Handelspartner der Schweiz und zählt zu den            eigenständigen China-Politik fest. Die Schweiz bleibt der
globalen Schwerpunktländern ihrer Aussenpolitik. China            Zusammenarbeit und dem Dialog verpflichtet. Als neutraler
ist wirtschaftlich und politisch zu einer globalen Führungs-      Staat und als Gaststaat für internationale Organisationen
macht geworden. Die Schweiz sucht die Zusammenarbeit,             sieht sich die Schweiz in der Rolle einer Brückenbauerin. Sie
bilateral und multilateral, um ihre Interessen zu wahren und      bleibt dem internationalen Recht und einer regelbasierten
globale Lösungen für die drängenden Herausforderungen             multilateralen Zusammenarbeit verpflichtet.
unserer Zeit voranzubringen. Um die tausend schweizerische
Unternehmen sind in China aktiv. Der Bundesrat engagiert          Die China-Politik der Schweiz hat viele Gesichter: Alle sieben
sich dafür, dass diese mit sicheren und fairen Rahmenbedin-       Departemente des Bundes stehen im Rahmen ihrer Zuständig-
gungen operieren können.                                          keiten mit China in Kontakt. Kantone, Städte, Hochschulen,
                                                                  private Unternehmen, Verbände und Think Tanks unterhalten
Zu den schweizerischen Interessen zählen auch Werte. Dazu         teils intensive Beziehungen zu Partnern in China. Föderalismus
gehören die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und die           und dezentrale Entscheidungsfindung zählen zu den Stärken
Menschenrechte. Sie sind zentral für das Funktionieren des        der Schweiz, die es zu erhalten gilt. Mit der vorliegenden
Erfolgsmodells Schweiz und Basis der erfolgreichen Aussen-        China-Strategie will der Bundesrat dieser Vielfalt Rechnung
beziehungen. Hinsichtlich dieser Werte liegt die Schweiz          tragen. Gleichzeitig will er die Koordination verbessern und
oftmals nicht auf einer Linie mit China. Umso wichtiger ist ein   dadurch die politische Kohärenz stärken.
Dialog über unsere Differenzen.
                                                                  Pioniergeist und Pragmatismus, aber auch das Einstehen für
Das globale Machtgefüge wandelt sich. Unter anderem prägt         die Interessen und Werte der Schweiz prägen die schweize-
die geopolitische Rivalität zwischen den USA und China            rische China-Politik seit siebzig Jahren. Sie werden dies auch
zunehmend die internationalen Beziehungen. Die Weltpolitik        in Zukunft tun.
ist derzeit volatil und wenig vorhersehbar. Der Bundesrat
berücksichtigt diese Dynamiken in der vorliegenden Strategie
und wahrt die erforderliche Flexibilität, um auf weitere
Entwicklungen reagieren zu können.

                                                                  Ignazio Cassis
                                                                  Vorsteher
                                                                  Eidgenössisches Departement für
                                                                  auswärtige Angelegenheiten

                                                                                                                             3
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Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung                                   5

1     Warum eine China-Strategie?                 6

2     Geopolitische Auslegeordnung                7
2.1   Eine neue Weltmacht                         7
2.2   Internationale Konsequenzen                11

3     Die Schweiz und China                      15
3.1   Beziehungen heute                          15
3.2   Positionierung im internationalen Gefüge   20
3.3   Prinzipien für die Zusammenarbeit          21

4     Thematische Schwerpunkte                   22
4.1   Frieden und Sicherheit                     22
4.2   Wohlstand                                  24
4.3   Nachhaltigkeit                             26
4.4   Digitalisierung                            28

5     Umsetzung und Ressourcen                   30
5.1   Interne Koordinationsinstrumente           30
5.2   Externe Koordinationsinstrumente           31

Annex                                            32
Präsenz der Schweiz in China                     32
Abkürzungsverzeichnis                            34
Glossar                                          35
Parlamentarische Vorstösse                       38

4         Inhaltsverzeichnis
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Zusammenfassung

China ist ein gewichtiger internationaler Akteur.                 Die Strategie identifiziert die Prinzipien, Schwerpunkte,
China hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt und        Ziele und Massnahmen der schweizerischen China-Politik.
zählt heute zu den Grossmächten. Langfristiger, staatlicher       Die Schwerpunkte leiten sich ab aus der Aussenpolitischen
Planung kommt auch heute noch hohe Bedeutung zu: So               Strategie 2020–2023       (APS 20-23) des Bundesrates und
hat die chinesische Führung jüngst ein Bündel von Strategien      lauten wie folgt:
veröffentlicht, auf deren Grundlage China in zehn Schlüssel-
bereichen die technologische Weltführerschaft erreichen und       1.   Frieden und Sicherheit,
seinen weltweiten Einfluss weiter stärken will.                   2.   Wohlstand,
                                                                  3.   Nachhaltigkeit,
China ist de facto ein Einparteienstaat. Autoritäre               4.   Digitalisierung.
Tendenzen haben in den letzten Jahren zugenommen, ebenso
die Repression gegen Andersdenkende und die Verfolgung            Die Schweiz sucht gezielt die Zusammenarbeit mit China. Sie
von Minderheiten. China verlangt stärkere Mitsprache in           vermittelt wo immer möglich, um chinesische und westliche
internationalen Organisationen und schickt sich an, Regeln        Vorstellungen zum allseitigen Nutzen zu verbinden und
der internationalen Zusammenarbeit nach Massgabe der              gemeinsame Standards zu erhalten und weiterzuentwi-
eigenen Interessen mitzugestalten. Spannungen zwischen            ckeln. Dabei soll die liberale internationale Ordnung gewahrt
China und den USA nehmen zu. Die EU pocht verstärkt auf           werden. Die Schweiz scheut sich auch nicht davor, Kritik
Einhaltung etablierter Spielregeln. Diese wachsenden geopo-       zu äussern, wenn es die Situation erfordert. Sie koordiniert
litischen Rivalitäten verringern den Spielraum für die interna-   sich dabei mit Staaten, die ähnliche Werte und Interessen
tionale Zusammenarbeit. Diese Entwicklung ist nicht im Sinne      vertreten. Insbesondere europäische Staaten sind dabei
der Schweiz. Als Mittelmacht mit einer offenen, exportorien-      naheliegende Partner.
tierten Volkswirtschaft hat sie ein unmittelbares Interesse an
einer breit getragenen liberalen internationalen Ordnung und      Der Bundesrat will die Kohärenz im Föderalismus
handlungsfähigen multilateralen Organisationen.                   stärken. Die Strategie gibt einen Orientierungsrahmen
                                                                  vor. Sie kann jedoch nicht politische Einzelentscheide der
Die Schweiz blickt auf 70 Jahre Zusammenarbeit mit der            kommenden Jahre vorwegnehmen. Die Umsetzung der
Volksrepublik China zurück. Pioniergeist, Flexibilität und        China-Strategie ist Teil der kontinuierlichen Ausgestaltung der
Offenheit, aber auch gegenseitiger Respekt vor den unter-         Aussenpolitik durch den Bundesrat. Die China-Kompetenzen
schiedlichen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaft-      der Schweiz in- und ausserhalb der Bundesverwaltung sollen
lichen Systemen prägten die Beziehungen zwischen den              ausgebaut werden. Der Bundesrat stärkt die Kohärenz seiner
beiden Ländern. Heute ist China der drittwichtigste Handels-      Politik gegenüber China und schafft dazu neue Koordina-
partner der Schweiz, wobei ein Freihandelsabkommen, eine          tionsgremien in der Bundesverwaltung. In der interdeparte-
innovative strategische Partnerschaft, aber auch Dutzende         mentalen Arbeitsgruppe China sind Bundesstellen aus allen
von Dialoggefässen, inklusive über Menschenrechte, die            sieben Departementen vertreten, die mit China befasst sind.
Grundlage bilden.                                                 Zugleich stärkt der Bundesrat den Informationsaustausch mit
                                                                  Akteuren ausserhalb der Verwaltung, die für die Gestaltung
Die Zusammenarbeit mit China bleibt geleitet durch                der Beziehungen zu China eine wichtige Rolle spielen, wie
schweizerische Interessen und Werte. Der Bundesrat ist            dem Parlament, den Kantonen, der Wissenschaft, dem Privat-
überzeugt, dass die Schweiz ihre Interessen und Werte auch        sektor und der Zivilgesellschaft.
in Zukunft am wirksamsten durch konstruktiv-kritischen
Dialog und breit diversifizierte Beziehungen zu China wahren
kann. Die Schweiz will Brücken bauen, Chancen nutzen und
Probleme offen ansprechen. Eine Abkehr von der bisherigen
Politik gegenüber China hätte keine positive Wirkung auf
Chinas innenpolitische Entwicklung, würde hingegen schwei-
zerischen Interessen schaden und Unsicherheiten bezüglich
ihrer aussenpolitischen Positionierung schüren.

                                                                                                 Zusammenfassung               5
1 Warum eine China-Strategie?

Kaum ein anderes Land hat sich in den letzten drei                                              Die Beziehungen zwischen der Schweiz und China inten-
Jahrzehnten so stark gewandelt wie China. Das Land ist zu                                       sivieren sich fortlaufend. Es gibt jedoch Bereiche, in denen
einer Lokomotive der Weltwirtschaft und zu einer Gross-                                         diese in den letzten Jahren komplizierter geworden sind.
macht mit weitreichenden geopolitischen Ambitionen                                              Wertedifferenzen treten immer häufiger und deutlicher zu
aufgestiegen. Chinas wachsendes weltpolitisches Gewicht                                         Tage. Für die Schweiz bleibt das Einstehen für Demokratie,
verändert die Rahmenbedingungen der internationalen                                             Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte sowie eine liberale inter-
Beziehungen. In den multilateralen Organisationen nimmt                                         nationale Ordnung ein zentraler Bestandteil ihrer Aussen-
China mehr Einfluss, zwischen China und den USA zeichnet                                        politik. Dabei ist sie gerade in ihrer China-Politik vermehrt mit
sich eine Periode strategischer Konkurrenz ab und zwischen                                      Zielkonflikten konfrontiert.
China und der Europäischen Union werden systemische Rivali-
täten zunehmend deutlich sichtbar. Vor diesem Hintergrund                                       Die Frage der Kohärenz gewinnt somit an Bedeutung. Dies
gestaltet die Schweiz ihre China-Politik.                                                       umso mehr, als die Anzahl der Akteure in der Schweiz, die
                                                                                                Kontakte mit China pflegen und damit im weiteren Sinne die
In allen vier Schwerpunktthemen der APS 20–23        – Frieden                                  China-Politik mitgestalten, stetig zunimmt. Gleichzeitig ist
und Sicherheit, Wohlstand, Nachhaltigkeit, Digitalisierung –                                    nicht zu verkennen, dass die China-Kompetenz (Glossar )
spielt China heute eine wichtige Rolle für die Erreichung der                                   in der Schweiz häufig noch unterentwickelt ist. Die Strategie
Ziele, die sich die Schweiz gesetzt hat. Am augenfälligsten ist                                 bietet einen Orientierungsrahmen für die kommenden vier
die wirtschaftliche Bedeutung. China ist der drittwichtigste                                    Jahre. Sie schafft zugleich die Voraussetzungen dafür, die
Handelspartner der Schweiz nach der EU und USA. Um die                                          Koordination und den Informationsaustauch im Rahmen der
tausend schweizerische Unternehmen in Bereichen wie                                             China-Politik der Schweiz zu verstärken.
Maschinenbau, Dienstleistungen und Konsumgüter haben
in China investiert. Vor der Covid-19-Pandemie verbrachten                                      Als geografische Folgestrategie der APS 20−23         bezieht
chinesische Touristen jährlich mehr als eine Million Logier-                                    sich die vorliegende China-Strategie auf die Periode 2021−24
nächte in der Schweiz.                                                                          (Grafik 1).
Ebene 1
          Strategisch (Bundesrat)

                                                                                Aussenpolitische Strategie 2020–2023

                                                             Geografisch                                                      Thematisch
                                                                                                                              Thematisch
                                                                                                                          IZA-Strategie
Ebene 2

                                                          MENA Strategie
                                                            2021–2024                                                       2021–2024
                                                                              China Strategie
                                                                                2021–2024                    Strategie                     Strategie
                                          Subsahara-Afrika Strategie                                   Digitalaussenpolitik          Landeskommunikation
                                                 2021–2024                                                  2021–2024                      2021–2024
          Operationell (Departemente)
Ebene 3

                                                 Leitbild Privatsektor im Rahmen                                Leitlinien Menschenrechte 2021–2024
                                                   der IZA-Strategie 2021­­­–2024

Grafik 1: Aussenpolitische Strategiekaskade (Quelle: EDA – illustrative Auswahl an Dokumenten).

6                                       Warum eine China-Strategie?
2 Geopolitische Auslegeordnung

2.1 Eine neue Weltmacht

In den letzten 40 Jahren ist die chinesische Wirtschaft                                      Die chinesische Regierung peilt die Wiedererlangung eines
exponentiell gewachsen. 1980 machte das chinesische                                          Anteils an der Weltwirtschaft an, wie er dem Land nach
Bruttoinlandprodukt (BIP) weniger als die Hälfte des schwei-                                 ihrem Verständnis aufgrund seiner Grösse und Geschichte
zerischen BIP aus. Heute beträgt es das vierzigfache. China ist                              zusteht (Grafik 2). Chinas Wirtschaftswachstum hat sich in
zur zweitgrössten nationalen Volkwirtschaft der Welt aufge-                                  den letzten Jahren zwar deutlich verlangsamt (Grafik 3). Im
stiegen. Gemessen an Kaufkraftstandards hat China die USA                                    Unterschied zu vielen anderen Staaten fiel China aber auch
als grösste Volkswirtschaft gar überholt.1                                                   im Kontext der Covid-19-Pandemie 2020 in keine Rezession.
                                                                                             Sein Anteil an der Weltwirtschaft wird in den nächsten Jahren
Das BIP pro Kopf in China fällt derzeit zwar noch etwa                                       weiter zunehmen.
viermal geringer aus als in den USA. Dennoch ist China heute
eine wirtschaftliche Weltmacht. Das Land hat den grössten
Anteil am Welthandel. Die vier grössten Banken der Welt
gemessen an ihrer Bilanzsumme sind chinesisch und global
systemrelevant.2 Die internationale Bedeutung der chinesi-
schen Währung ist noch bescheiden, der Renminbi könnte
sich längerfristig jedoch als internationales Zahlungs- und
Wertaufbewahrungsmittel etablieren.

100%                                                                                                                                Grafik 2: Anteil der Grossmächte oder
                                                                                                                                    geopolitischen Regionen am globalen
                                        China                                                                                       BIP über 2000 Jahre (Quellen: Statistics
                                                                                                                                    on World Population, GDP; per Capita
                                                                                            USA                                     GDP 1-2008 AD, Angus Maddison; ab
75%                                                                                                                                 2008: IWF).

                                                                              8^
                             Indien
                                        aR@0N7$>/#$0RGY

50%                                                                           Süd-
                                                                               89 und Westeuropa

                          V$3#0*$70X$%#                                       :^
                                                              1/")20
25%                                                         N7$>/#$0RGY
             R>/-$"`0N7$>/#$0                    !"#$%                        :9
                   RGY
                                                                              Rest der Welt

0%
        1   1000   1500   1600   1700     1820    1850   1870   1900   1913   1950   1960    1979   1980   1990   2000    2010   2020

1     Eurostat (EU Kommission), Die Ergebnisse des Internationalen Vergleichspro-
      gramms 2017: China, die USA und die EU sind die grössten Volkswirtschaften
      der Welt , Mai 2020.
2     Financial Stability Board, 2020 list of global systemically important banks ,
      November 2020.

                                                                                                                         Geopolitische Auslegeordnung                      7
War bis zum Ende des Kalten Krieges die Welt in zwei
                                          12.5%                                                         konzeptuell unterschiedlichen Entwicklungsmodelle geteilt
                                                                                                        (freie Marktwirtschaft vs. Planwirtschaft), ist die Lage heute
                                          10%                                                           um einiges komplexer geworden. Dank der Globalisierung
                                                                                                        sind heute die Verflechtungen zwischen den USA, China und
BIP-Wachstumsraten in %, Quartalszahlen

                                                                                                        Europa in allen Bereichen (wirtschaftlich, wissenschaftlich,
                                          7.5%
                                                                                             China      technologisch und kulturell) sehr eng. Gewisse Autoren sehen
                                                                                                        im Entwicklungsmodell Chinas einen «Staatskapitalismus»,
                                          5%
                                                                                                        der dem US-Modell der «freien Marktwirtschaft» und
                                                                                                        dem europäischen Modell der «sozialen Marktwirtschaft»
                                          2.5%                                                          gegenüber steht.3 Es handelt sich hierbei zwar um eine starke
                                                                                                        didaktische Vereinfachung der Realität, die jedoch die Suche
                                          0%                                              Schweiz       nach neuen gesellschaftlichen Entwicklungsmodellen für das
                                                                                                        21. Jahrhundert verdeutlicht.
                                          -2.5%
                                                                                                        Seit der Übernahme der Partei-und Staatsführung durch Xi
                                          -5%                                                           Jinping in 2012 bzw. 2013 hat in China eine noch stärkere
                                                 2009 2010 2011 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019
                                                                                                        Zentralisierung der politischen Macht stattgefunden.
                                                                                                        Die «Wiederbelebung» und «Erneuerung» der chinesischen
                Grafik 3: Wachstumsraten des chinesischen und Schweizer BIP pro Quartal                 Nation und Kultur und die damit verbundene nationale
                in Prozent, reales BIP, vor Covid-19 (Quellen: Amt für Statistik der Volks-
                republik China, SECO).                                                                  Kohäsion sind dabei wichtige Anliegen der chinesischen
                                                                                                        Führung. Zudem wurde die gesellschaftliche Kontrolle
                                                                                                        verstärkt. Wie kaum ein anderer Staat nutzt China die
                Die Gründe für den rasanten Aufstieg Chinas liegen in der                               Möglichkeiten der Digitalisierung, namentlich Künstliche
                «Öffnungs- und Reformpolitik», die das Land 1978 eingeleitet                            Intelligenz und Big Data-Methoden, auch zur sozialen Diszi-
                hat. Eine kontrollierte und gezielte Öffnung der chinesischen                           plinierung. Die Volksrepublik kennt zudem das wohl weltweit
                Märkte und die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen                                   umfassendste System der Regulierung des digitalen Raumes.
                hatten grosse Anziehungskraft auf ausländische Investoren.                              So wird etwa der Zugang zu unerwünschten Netzinhalten,
                Dank der Globalisierung konnte sich China als ein elemen-                               ausländischen Digitalunternehmen und sozialen Medien
                tarer Bestandteil vieler globaler Wertschöpfungsketten                                  unterbunden. Auch im Bildungs- und Forschungsbereich
                positionieren. Hunderte von Millionen Menschen konnten                                  nimmt der Einfluss der KPC zu.
                sich innert weniger Jahrzehnte aus der Armut befreien. Somit
                leistet China einen wesentlichen Beitrag zur globalen Armuts-                           Unter zusätzlichen Druck geraten auch die Rechte von
                reduktion (Grafik 4).                                                                   ethnischen Minderheiten, namentlich der Uiguren oder
                                                                                                        der Tibeter, aber auch von religiösen Gruppierungen. Die
                Allerdings hat sich die im Westen lange verbreitete Hoffnung,                           Menschenrechtslage in China hat sich verschlechtert. Mit
                wonach die marktwirtschaftliche Öffnung und das Entstehen                               Verabschiedung des sogenannten Sicherheitsgesetzes im Juli
                einer wohlhabenden Mittelklasse auch eine politische Libera-                            2020 werden Einschränkungen der Meinungs- und Medien-
                lisierung mit sich bringen würden, nicht realisiert. Weder                              freiheit sowie der demokratischen Institutionen auch in
                Handel noch Internet haben zu einem entsprechenden Wandel                               Hongkong stärker spürbar. Sicherheit und Stabilität werden
                Chinas geführt. Im Gegenteil haben sich in den letzten Jahren                           somit höher gewichtet als individuelle Freiheiten.
                die autoritären Tendenzen verstärkt. Chinas Bürgerinnen und
                Bürger wurden wohlhabender, aber in Bezug auf politische
                                                                                                                               2.0
                Rechte nicht freier.

                Das chinesische Regierungsmodell bleibt ein De-facto-                                                          1.5              China
                                                                                                     Anzahl Menschen (Mrd.)

                Einparteienstaat unter Führung der Kommunistischen
                Partei Chinas (KPC). Diese dominiert die Staatsstrukturen der
                                                                                                                               1.0
                Volksrepublik, die wichtigsten Entscheide werden durch die
                Parteiorgane gefällt, welche auch die Volksbefreiungsarmee                                                                      Rest der Welt
                kontrollieren. Eine Gewaltentrennung zwischen Exekutive,                                                       0.5
                Legislative und Judikative im Sinne einer liberalen Demokratie
                existiert nicht (vgl. Glossar: Chinesisches Staatssystem     ).
                Gemäss Verfassung ist die Führung durch die KPC das zentrale                                                         1990       1995        2000         2005           2010       2015 2017
                Merkmal des «Sozialismus chinesischer Prägung». Weiter                                          Grafik 4: Anzahl Personen mit weniger als 1,90 US-Dollar/Tag
                wird in der Verfassung festgehalten, dass die «Sabotage» des                                    Kaufkraft (Quelle: Weltbank).
                sozialistischen Systems verboten ist.

                                                                                                        3                     Tobias Ten Brink, Andreas Nölke, Staatskapitalismus 3.0    , 2013.

                8                                 Geopolitische Auslegeordnung
China hat verschiedene Massnahmen getroffen, um die                                     30%
Grundlagen seines Wohlstands und seiner Macht abzusichern:

Erstens wird das wirtschaftliche Wachstumsmodell so um-                                 20%                                                                                 USA
gestaltet, dass die Abhängigkeit vom Ausland reduziert und                                                                                                                  China
die Binnennachfrage gestärkt wird. Der Anteil des Aussen-
handels am BIP Chinas ist von über 60% vor 15 Jahren auf                                10%
                                                                                                                                                                            UK
35% 2019 gesunken.                                                                                                                                                          Deutschland
                                                                                                                                                                            Schweiz
Zweitens – und mit dem ersten Punkt verbunden – ist China                                 0
im Begriff, auch technologisch eine Weltmacht zu werden.

                                                                                               2009

                                                                                                      2010

                                                                                                             2011

                                                                                                                    2012

                                                                                                                           2013

                                                                                                                                  2014

                                                                                                                                         2015

                                                                                                                                                2016

                                                                                                                                                       2017

                                                                                                                                                              2018

                                                                                                                                                                     2019
Der chinesische Staat und die Unternehmen investieren stark
in Bildung, Forschung und Innovation. 2019 hat China erst-                             Grafik 5: Prozentualer Anteil an zitierten Artikeln in westlichen Journals
mals die USA als Land mit den weltweit meisten internatio-                             (Quelle: SCImago ).
nalen Patentanmeldungen abgelöst. Im Bereich der Robotik
ist China marktführend. Schon das dritte Jahr in Folge führte
dabei der Telekommunikationskonzern Huawei die Rangliste                               Drittens holt China auch im Bereich militärischer Fähig-
bei den einzelnen Firmen an, mit über 4400 angemeldeten                                keiten auf. Die Volksbefreiungsarmee entwickelt sich zu-
Patenten.4 Auch bei der Anzahl der in westlichen wissen-                               nehmend zu einer modernen Streitkraft. Zwar bestehen nach
schaftlichen Fachzeitschriften veröffentlichten Artikel hat                            wie vor Fähigkeitslücken, und die Kluft zu den USA, die über
China zu den USA aufgeholt (Grafik 5). Gemäss der Strategie                            800 Militärbasen rund um den Globus und ein Netzwerk von
«Made in China 2025»5 soll die Qualität der chinesischen Pro-                          Alliierten verfügen, bleibt beträchtlich. Aber China kann heute
duktion gesteigert werden. China soll nicht mehr nur in der                            militärische Wirkung auch abseits des Festlands erzielen und
Produktion mit geringer Wertschöpfung ein Schwergewicht                                wird langfristig weltweit zur punktuellen Machtprojektion in
sein. Hierzu wurden zehn Schlüsselindustrien identifiziert,                            der Lage sein. Das Nuklearwaffenarsenal ist im Vergleich zu
darunter Computertechnologie, Robotik, Medizin und grüne                               den USA und Russland klein, wird aber vergrössert und mo-
Technologien. Der IT- und Technologiesektor ist bereits heu-                           dernisiert. Cybermittel nehmen in der chinesischen Militärdok-
te sehr leistungsfähig. In China konnte sich – auch gestützt                           trin weiter an Bedeutung zu. Zudem investiert das Land viel in
durch eine protektionistische Industriepolitik – ein bedeuten-                         die Entwicklung neuartiger strategischer Waffensysteme. Die
des digitales «Ökosystem» etablieren, mit grossen digitalen                            chinesischen Militärausgaben steigen und liegen nach den
Anbietern, die zunehmend ins Ausland expandieren.                                      USA an zweiter Stelle weltweit. Im Vergleich zum BIP bleiben
                                                                                       sie aber konstant (Grafik 6).

4   WIPO, China Becomes Top Filer of International Patents in 2019 Amid Robust
    Growth for WIPO’s IP Services, Treaties and Finance , April 2020.
5   Mercator Institute for China Studies, Evolving Made in China 2025 , July
    2019.

Grafik 6: Militärausgaben Chinas (Schätzungen) und der                    900                                                                                                        6.0%
USA in realen Ausgaben (linke Skala) und gemessen am
BIP (rechte Skala) (Quelle: SIPRI Military Expenditures                   800
Database, Stockholm 2020).
                                                                                                                                                                                     5.0%
                                                                          700

                                                                          600
                                                                                                                                                                                     4.0%
                                                                          500     USA

                                                                          400                                                                                    USA% BIP            3.0%
                                                               USD Mrd.

                                                                          300
                                                                                                                                                              China % BIP
                                                                                                                                                                                     2.0%
                                                                          200

                                                                          100
                                                                                                                                                                                     1.0%
                                                                          0       China

                                                                                                                                                                                     0%
                                                                                2000    2002      2004        2006         2008     2010        2012      2014       2016     2018

                                                                                                                       Geopolitische Auslegeordnung                                    9
Unter Präsident Xi pflegt China ein neues Selbstverständ-                                     Eine Herausforderung ist die demographische Entwick-
nis als Grossmacht. International manifestiert sich dies in                                  ­lung. China hat nicht nur die grösste Bevölkerung weltweit
einer deutlich aktiveren Aussenpolitik und dem Anspruch,                                      (19%), sondern auch die am schnellsten alternde. Landflucht
als Weltmacht respektiert zu werden. Nach chinesischer Les-                                   und eine beschleunigte Urbanisierung bringen sozial und
art geht es dabei um die «Rückkehr» in eine weltpolitische                                    wirtschaftlich sowohl Vorteile als auch Herausforderungen.
Führungsrolle – dies nachdem das chinesische Kaiserreich in                                   Ein anhaltendes Thema ist zudem die Ungleichheit in der
der Zeit des europäischen Imperialismus an einem politischen                                  chinesischen Gesellschaft: Auch wenn die grosse Mehrheit
und wirtschaftlichen Tiefpunkt angelangt war. Die Handha-                                     der Chinesinnen und Chinesen vom Aufschwung der letzten
bung der Covid-19-Pandemie hat das Selbstbewusstsein der                                      Jahrzehnte profitieren konnte, haben die Unterschiede in der
politischen Führung weiter gestärkt. Die Interessenlage und                                   Einkommensverteilung zugenommen.6
geostrategische Agenda der Volksrepublik sind heute zuneh-
mend global geprägt.                                                                         Schliesslich bringt die rasante Entwicklung Chinas auch massive
                                                                                             Umweltprobleme mit sich. Neben lokalen und regionalen
Allerdings sieht sich China auch mit grossen internen Heraus-                                Umweltproblemen wie der Verschmutzung von Boden, Luft
forderungen konfrontiert. Die Unsicherheiten hinsichtlich                                    und Wasser, ist der Ausstoss von klimaerwärmenden Gasen
der weiteren Entwicklung des Welthandels, die alternde                                       ein Problem von globalen Dimensionen. Obwohl Chinas
Gesellschaft oder die hohe interne Verschuldung schaffen                                     Emissionen im Jahr 2013 ihren Höchststand erreicht haben,
eine anspruchsvolle wirtschaftliche Ausgangslage für die                                     ist das Land mit seinem Anteil von etwa 28% an den globalen
kommenden Jahre.                                                                             Emissionen immer noch der weltweit führende CO2-Emittent.
                                                                                             Seine CO2-Emissionen pro-Kopf sind hingegen mit denen der
                                                                                             europäischen Länder vergleichbar (Grafik 7). Mehr als 80%
                                                                                             seines Energiemixes besteht aus fossilen Brennstoffen. Aller-
                                                                                             dings hat Präsident Xi das Ziel formuliert, dass China vor 2060
                                                                                             klimaneutral sein soll. China investiert bereits heute mehr als
                                                                                             jedes andere Land in erneuerbare Energien und ist zu einer
                                                                                             Vorreiterin der Elektromobilität geworden. Sollte es dem Land
                                                                                             gelingen, seine ambitionierten Klimaziele zu erreichen, wäre
                                                                                             dies ein sehr wichtiger Schritt im weltweiten Kampf gegen
                                                                                             den Klimawandel.

                                                                                             6   World Bank, The World Bank in China: Overview ; World Bank, Data Bank:
                                                                                                 Poverty and Equity ; Asian Development Bank Data Library, People’s
                                                                                                 Republic of China, Key Indicators .

                                       9                                                                                         25                                 Grafik 7: Totale (linke Skala)
                                                                                                                                                                    und pro-Kopf (rechte Skala)
                                       8                                                                                                                            CO2 -Emissionen Chinas im
                                                                                                                                                                    Verhältnis zum Rest der
                                                                                                                                                                    Welt, bzw. zu den USA und
                                       7                                                                                         20                                 der Schweiz (Quelle: World
                                                                                                                                                                    Development Indicators
                                                                                                                                                                    Weltbank, sowie Global
                                       6
 CO2-Emissionen, Basisjahr 1990 (Gt)

                                                                                                                                                                    Carbon Project).
                                                                                                                                      CO2-Emissionen pro Kopf (t)

                                       5                                                                    USA pro Kopf         15

                                       4

                                       3                                                                                         10

                                                                                                          China pro Kopf
                                       2

                                       1      China total                                                                        5

                                                                                                       Schweiz pro Kopf
                                       0
                                              Rest der Welt total
                                       -1                                                                                        0
                                            1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018

10                                            Geopolitische Auslegeordnung
2.2 Internationale Konsequenzen

China verändert die Welt. Mehr als andere Grossmächte                              sondern bringen für die betroffenen Länder auch Entwick-
folgt die Volksrepublik dabei einer langfristigen Strategie.                       lungschancen mit sich. Dabei zeigen sich jedoch auch
Die von China ausgehende wirtschaftliche Dynamik steht in                          Unterschiede zu den über Jahrzehnte entwickelten Grund-
einer Wechselwirkung mit verstärktem politischen Einfluss.                         sätzen der Entwicklungsfinanzierung der OECD-Geber-
Unter Ländern des globalen Südens gewinnt das chinesische                          staaten. Ein Beispiel betrifft die Transparenz: Über Umfang,
Entwicklungsmodell von Wohlstand ohne politischen Plura-                           Konditionalität und Finanzierungsbedingungen ist mangels
lismus als Alternative zur liberalen Demokratie zunehmend an                       öffentlicher statistischer Informationen wenig bekannt. China
Attraktivität. Die Folgen für die internationale Ordnung sind                      beteiligt sich auch nur bedingt an den Reformen, wie sie mit
weitreichend.                                                                      den Schuldnerländern beispielsweise in IWF- oder Weltbank-
                                                                                   programmen zu Schuldentransparenz und -nachhaltigkeit,
Für viele Länder in Asien, Lateinamerika, aber auch in                             Strukturanpassungen oder Massnahmen zur guten Regie-
Subsahara-Afrika hat sich China als grösster bilateraler                           rungsführung vereinbart werden. Manche Empfängerländer
Handels- und Investitionspartner etabliert. Grosse durch                           haben sich gegenüber China in eine starke finanzielle Abhän-
China finanzierte oder vorfinanzierte Infrastrukturprojekte                        gigkeit begeben.
ermöglichen nicht nur einen Zugang Chinas zu natürlichen
Ressourcen, neuen Märkten und Produktionskapazitäten,

                                                                                                               Grafik 8: Verschiedene Wirtschaftskorridore der
                                                                                                               Belt & Road Initiative (Quelle: NDB, Lagebericht
                                                                                                               Sicherheit 2020 ).

                                                                        Arktischer
                                                                          Ozean
                       Atlantischer
                          Ozean

                                       Rotterdam
                         Europa
                                                         Moskau
                                                                              Novosibirsk
                         Venedig
                                                                                                           Ulan-Bator
                                                                                  Astana                                           Pazifischer
                                                                  Zentralasien                                     Beijing           Ozean
                             Athen           Ankara                                            Ürümqi                    Lianyungang
                                                                         Bischkek                                            Shanghai
                                                                                                                Xi’an
                                                                  Duschanbe                                                   Fuzhou
                                                                                                    China Lanzhou
                                        Naher Osten
                                                        Teheran
                                                                                                              Kunming
                                                                                                                               Guangzhou
                                                                       Gwadar
                         Afrika                                                             Kolkata

                                                                                       Colombo                           Singapur

                              Mombasa                                                                                        Jakarta
                                                                          Indischer Ozean

                      Neue eurasische Kontinentalbrücke (Seidenstrassen-Wirtschaftsgürtel)

                 Wirtschaftliche Landkorridore:                                         Wirtschaftliche Seepassagen:
                      China-Mongolei-Russland                                                China-Indischer Ozean-Afrika-Mittelmeer
                      China-Zentralasien-Westasien                                           China-Arktischer Ozean-Europa
                      China-Pakistan                                                         China-Ozeanien-Südpazifik
                      China-Bangladesch-Indien-Myanmar
                      China-Indochinesische Halbinsel

                                                                                                            Geopolitische Auslegeordnung                     11
Die von China 2013 ins Leben gerufene «Belt and Road                          stellt aber als einziges Land vier Direktoren von insgesamt 15
Initiative» (BRI, vgl. Glossar ) steht exemplarisch für ein                   UNO-Sonderorganisationen.
global orientiertes Entwicklungsmodell, mit dem China seine
wachsende wirtschaftliche und geopolitische Präsenz auf dem                   In der WTO profitiert China in den meisten Bereichen
internationalen Parkett mit einem Markennamen versehen                        weiterhin vom Status als Entwicklungsland. Bisher hat es
will und seinen Führungsanspruch strategisch ausbaut und                      jedoch nur beschränkt Verantwortung für Erhalt und Ausbau
unterstreicht.7 Auch wenn sie nicht präzis definiert ist, geht                der multilateralen Handelsregeln übernommen. In multi-
es in erster Linie darum, innerhalb Chinas die Entwicklung der                lateralen Entwicklungsbanken ist China teilweise unter den
ärmeren Westprovinzen zu beschleunigen und die Konnekti-                      zehn grössten Geberstaaten, so zum Beispiel bei der Inter-
vität zwischen Regionen (primär Asien, Zentralasien, Europa                   nationalen Entwicklungsorganisation der Weltbankgruppe.
und Afrika) zu stärken (Grafik 8). Dabei spielen grosse Infra-                Das Land bleibt aber gleichzeitig bedeutender Kreditnehmer
strukturvorhaben und die Koordination der Wirtschafts- und                    und hat somit in diesen Institutionen eine aussergewöhnliche
Finanzpolitik eine zentrale Rolle.                                            Doppelrolle inne. China initiiert zudem neue Gouvernanz-
                                                                              strukturen. So lancierte China 2015 eine neue multilaterale
Anders als multilaterale Organisationen ist die BRI kein                      Entwicklungsbank, die Asiatische Infrastruktur-Investi-
Verbund von völkerrechtlich gleichberechtigten Mitgliedern,                   tionsbank (AIIB), welche zunehmend Aktivitäten über Asien
sondern eine auf China als Initiator, Gastgeber und perma-                    hinaus entwickelt.
nenten Vorsitzenden ausgerichtete Struktur. Dies birgt die
Problematik, dass die Anwendung international akzeptierter                    China nutzt seinen wachsenden Einfluss auch, um das multi-
Standards nicht in gleich bindendem Masse verhandelt und                      laterale System zu seinen Gunsten umzugestalten. So deutet
überprüft wird wie in multilateralen Gefässen. Die konkrete                   Peking Normen der bestehenden internationalen Ordnung
Umsetzung dieses strategischen Programms in seinen                            getreu seines Gesellschafts- und Entwicklungsmodells um.
verschiedenen Elementen wird von China flexibel gehandhabt.                   Dies zeigt sich insbesondere im Menschenrechtsbereich. Auch
                                                                              setzt sich China dafür ein, den Zugang zivilgesellschaftlicher
Stark verändert hat sich Chinas Rolle in Bezug auf den                        Akteure zu internationalen Organisationen einzuschränken.
Multilateralismus. Die Volksrepublik investiert heute viel
in bestehende multilaterale Foren. Sie bringt sich stärker ein,               Der Machtzuwachs Chinas und sein robustes Einstehen für
übernimmt Verantwortung und präsentiert sich als Stütze der                   eigene Interessen verstärkt Tendenzen zur weiteren Fragmen-
bestehenden Ordnung. Der Anteil Chinas an der Finanzierung                    tierung der internationalen Ordnung. Sein stark wachsender
der Vereinten Nationen ist in den letzten zehn Jahren rasant                  Einfluss im UNO-System hängt auch damit zusammen, dass
gestiegen (Grafik 9), die Unterstützung an verschiedene                       die USA in den letzten Jahren nicht bereit waren, multilateral
UNO-Organe ist jedoch selektiv. Von den fünf Vetomächten                      im selben Ausmass wie früher die Führungsrolle einzunehmen.
des UNO-Sicherheitsrats stellt China am meisten Truppen                       Bemühungen zur Reform und zur Stärkung des multilateralen
für Friedensmissionen. Unter den Mitarbeitenden des                           Systems sind durch die wachsende Rivalität zwischen China
UNO-Sekretariats ist China zwar noch unterrepräsentiert. Es                   und den USA noch schwieriger geworden.

                                                                              Die US-amerikanische China-Politik hat sich stark
7    NDRC, MFA, MOFCOM, Vision and Actions on Jointly Building Silk Road
                                                                              verändert. Washington bezeichnet China nicht mehr als
     Economic Belt and 21st-Century Maritime Silk Road , March 2015.          Partner, sondern als «strategischen Wettbewerber». Die

Rang
                                                                                                                   Grafik 9: Rangliste der 10
   1                                                                                                   USA        grössten Beitragszahler an
   2                                                                                                   China      das reguläre Budget der UNO
   3                                                                                                   Japan      seit 2010 (Quelle: UNO).
   4                                                                                                   Deutschland
   5                                                                                                   UK
   6                                                                                                   Frankreich
   7                                                                                                   Italien
   8                                                                                                   Brasilien
   9                                                                                                   Kanada
  10                                                                                                   Russland

     2010–2012                       2013–2015                        2016–2018               2019–2021

12            Geopolitische Auslegeordnung
wachsende Skepsis ist parteiübergreifend. Sowohl die                                China (Dezember 2020) versucht die EU-Kommission diesen
USA als auch China haben unter der Administration Trump                             Prinzipien Nachdruck zu verleihen und die wirtschaftlichen
gegenseitig eine Reihe von Zöllen, Sanktionen und Verboten                          Bedingungen zu verbessern. Viele Unternehmen sind im
verfügt, welche die Weiterführung globaler Wertschöpfungs-                          chinesischen Markt nach wie vor mit Rechtsunsicherheit und
ketten erschweren. Angesichts der engen Verflechtung der                            Willkür, Verletzungen von Rechten des geistigen Eigentums
beiden Volkswirtschaften ist eine umfassende Entkoppelung                           und des Daten- und Persönlichkeitsschutzes und erzwun-
(decoupling) schwer vorstellbar und mit immensen Kosten                             genen Technologietransfers konfrontiert. In der chinesischen
verbunden. Hingegen ist eine partielle Entkoppelung etwa                            Wirtschaft kommt dem Staat und staatlich kontrollierten bzw.
bei neuen Technologien und strategischen Gütern wie Mikro-                          subventionierten Unternehmen weiterhin eine dominante
chips bereits im Gange.                                                             Rolle zu, was zu signifikanten Wettbewerbsverzerrungen
                                                                                    führen kann. Der Marktanteil ausländischer Dienstleistungs-
Es ist noch nicht absehbar, wieweit sich die globale                                unternehmen in China ist weiterhin auf sehr tiefem Niveau.
Gouvernanz weiter fragmentieren wird und ob sich die
Abgrenzung in Normenräume mit je eigenen Wertesystemen,                             China seinerseits ist heute in Europa deutlich präsenter als
Industriestandards, Datenräumen und Zahlungssystemen                                noch vor einem Jahrzehnt. Mit zahlreichen Staaten bestehen
vertiefen wird. Eine solche Blockbildung zu Ungunsten multi-                        bilaterale Partnerschaften. Mit ost- und zentraleuropäischen
lateraler Lösungen würde weit mehr Verlierer als Gewinner                           Staaten pflegt China ein regionales Kooperationsformat
hervorbringen. Dennoch scheint es realistisch, von einer                            (China-CEEC oder «17+1 Mechanismus»). Seit 2005 belaufen
wachsenden Konkurrenz zwischen den USA und China                                    sich die chinesischen Direktinvestitionen in Europa auf über
auszugehen, die über den heutigen Zustand von Handels-                              400 Mia. USD, wobei die Zahlen seit 2017 rückläufig sind.
und Technologiekonflikten hinausgeht.                                               In mehreren Staaten haben chinesische Firmen in Infrastruk-
                                                                                    turen investiert.
Ein erhöhtes Eskalationsrisiko zeigt sich namentlich an der
maritimen Peripherie Chinas. Im Südchinesischen Meer                                Ähnlich wie in den USA hat sich auch in vielen europäi-
kollidieren chinesische Gebietsansprüche mit denen anderer                          schen Staaten die öffentliche Meinung bezüglich China
Ländern und dem Anspruch auf freien Zugang zu den                                   verschlechtert. Langjährige Erhebungen zeigen einen
Weltmeeren, den die USA und viele andere Staaten einfordern.                        klaren Trend.10 Die Ansicht, wonach Europa eine einheit-
Auch die Taiwan-Frage birgt weiterhin Konfliktpotenzial.                            lichere und durchsetzungsfähige Politik gegenüber China
Erhöhte Spannungen sind ausserdem an der Landgrenze zu                              brauche, hat innerhalb der EU und ihrer Mitgliedstaaten
Indien zu beobachten.                                                               an Boden gewonnen. Mit Erfolg bemüht sich die EU daher,
                                                                                    auch in Bereichen, in denen die Kompetenzen bei den
Die Europäische Union hat das Potenzial, sich als eine                              Mitgliedstaaten liegen, mehr Kohärenz zu schaffen. So hat
dritte Kraft im globalen Machtgefüge zu positionieren. Die                          sie beispielsweise 2019 einen einheitlichen Rahmen für die
europäische Einigung ist auch eine Antwort darauf, dass die                         Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen in kritische Infra-
Welt längst nicht mehr eurozentrisch ist. Im Verbund hätten                         strukturen geschaffen, dessen Umsetzung auf Stufe der
die europäischen Staaten das erforderliche Gewicht, um auf                          Mitgliedstaaten erfolgt. Divergierende nationale Positions-
der Weltbühne europäische Werte und Interessen zu vertei-                           bezüge in der Frage einer Zulassung chinesischer Technologie
digen. Unterschiedliche nationale Positionen stehen einer                           im 5G-Bereich (Glossar ) sind aber nur ein Beispiel für die
wirksamen gemeinsamen Aussenpolitik der EU aber oftmals                             anhaltenden Schwierigkeiten, eine gemeinsame Chinapolitik
im Wege.                                                                            zu formulieren.

In Bezug auf China konnten sich die EU-Staaten auf                                  Offen bleibt auch, inwieweit sich eine eigenständige
gemeinsame Grundlagen einigen. Die EU positioniert sich                             europäische oder stärker transatlantische Positionierung
gegenüber China deutlich weniger konfrontativ als die USA.                          gegenüber China herausbildet. Die von der EU-Kommission
Sie bezeichnet China in ihrem Strategiepapier als «Partner,                         vorgelegte neue Wachstumsstrategie eines «European Green
Wettbewerber und Systemrivalen gleichzeitig». Sie fordert                           Deal», die auf eine faire und wohlhabende Gesellschaft mit
die Einhaltung multilateraler Standards und pocht auf mehr                          einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfä-
Reziprozität.8 Ziel ist nicht die Entkoppelung, sondern eine                        higen Wirtschaft abzielt, ist ein Beispiel für ein europäisches
interessengeleitete Zusammenarbeit bei Einhaltung inter-                            Selbstverständnis, das sich sowohl vom chinesischen wie vom
nationaler Spielregeln. Verschiedene EU-Mitgliedstaaten                             amerikanischen abgrenzt. In manchen Bereichen, etwa wenn
haben bereits China-Strategien mit ähnlichen Stossrich-                             es um gemeinsame Werte wie die individuellen politischen
tungen verabschiedet.9 Mit der politischen Grundsatz-                               Freiheiten geht, ist aber mit einem europäisch-amerikani-
einigung zu einem Investitionsabkommen (Comprehensive                               schen Zusammengehen zu rechnen.
Agreement on Investment, CAI) zwischen der EU und

8 EU Kommission, EU-China – A strategic outlook   , March 2019. EU Kommission, EU   10 Laura Silver, Kat Devlin, Christine Huang, Unfavorable Views of China Reach Historic
China Relations , June 2020.                                                        Highs in Many Countries: Majorities say China has handled COVID-19 outbreak poorly ,
9 Beispiele: Niederlande   und Schweden .                                           October 2020.

                                                                                                                Geopolitische Auslegeordnung                             13
2000

     USA

     gleich

     China

                                                                               Die Darstellung von Grenzen und die Verwendung von Namen und Bezeichnungen auf
                                                                            diesen Karten bedeutet nicht, dass die Schweiz diese offiziell befürwortet oder anerkennt.

2018

      USA

      gleich

      China

Grafik 10: Verschiebungen im Welthandel – Visualisierung des jeweils wichtigeren Handelspartners (USA oder China) in 2000 und 2018
(Quelle: Lowy Institute basierend auf IWF, Direction of Trade Statistics).

14            Geopolitische Auslegeordnung
3 Die Schweiz und China

Die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und China       Machtgefüge, wie es in der geopolitischen Auslegeordnung
sind heute umfangreich, vielschichtig und konstruktiv. Diffe-    dargelegt wurde. Die China-Politik der Schweiz kann heute
renzen werden offen angesprochen. Vor der Festlegung der         nicht isoliert vom grösseren Kontext definiert werden –
künftigen China-Strategie werden in diesem Kapitel diese         dasselbe gilt auch für die Beziehungen zu anderen Gross-
Beziehungen erläutert. Danach folgen grundsätzliche Überle-      mächten. Abschliessend werden in diesem Kapitel zentrale
gungen zur Positionierung der Schweiz im sich wandelnden         Prinzipien für die künftigen Beziehungen mit China definiert.

3.1 Beziehungen heute

Als einer der ersten westlichen Staaten anerkannte die
Schweiz 1950 die Volksrepublik China. Seit Anfang der
1980er Jahre haben sich die bilateralen Beziehungen mit
China in allen Bereichen gefestigt und eine bemerkenswerte
Intensität erreicht. Sie decken unterschiedliche Bereiche
wie Politik, Menschenrechte, Wirtschaft, Arbeitsmarkt und
Beschäftigung, Wissenschaft und Technologie, Bildung,
Umwelt, Migration und Kultur ab. Seit 2010 ist China der
wichtigste Handelspartner der Schweiz in Asien. 2005 identi-
fizierte der Bundesrat China als eines von heute acht globalen
Schwerpunktländern für die Aussenpolitik der Schweiz.

Im Sinne einer Ein-China-Politik verzichtet die Schweiz auf
diplomatische Beziehungen mit den Behörden in Taiwan,
wobei Zusammenarbeit auf technischer, wirtschaftlicher
und kultureller Ebene mit Taiwan möglich und gewünscht                                             1950-2020
ist. Dabei anerkennt die Schweiz auch den demokratischen                                            Switzerland - China
Charakter der lokalen Behörden und der taiwanesischen                                                   瑞士 - 中国
Gesellschaft.

Das Inkrafttreten eines Freihandelsabkommens mit China
2014 war eine Premiere für ein kontinentaleuropäisches Land.
2016 wurde darüber hinaus eine «innovative strategische
Partnerschaft» vereinbart. Jährlich findet ein strategischer
Dialog zwischen den Aussenministern beider Länder statt.
Dieser bildet den Rahmen für die fast dreissig Fachdialoge
zwischen schweizerischen und chinesischen Behörden.                         Grafik 11: Logo für die 70 Jahre diplomatischer Beziehungen
                                                                            zwischen der Schweiz und der Volksrepublik China (Quelle:
                                                                            EDA).

                                                                                               Die Schweiz und China                      15
1975 Handelsabkommen, Etablierung Joint Economic Commission
                                                                                                1989 Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit
 Wichtige Abkommen und Dialoge

                                                                                                      1991 Schaffung des bilateralen Menschenrechtsdialogs
                                                                                                      1991 Doppelbesteuerungsabkommen
                                                                                                                                     2007 Schaffung des politischen Dialogs
                                                                                                                                     2007 Schaffung des Dialogs zum geistigen Eigentum
                                                                                                                                                 2013 Schaffung des Finanzdialogs
                                                                                                                                                   2014 Freihandelsabkommen Schweiz-China
                                                                                                                                                      2016 Strategic Innovative Partnership
                                                                                                                                                       2017 Schaffung des strategischen Dialogs

 1950                                        1960            1970             1980             1990                      2000           2010             2020
                                                                                                                                                      2016 Die Schweiz wird Mitglied der Asian
                                                                                                                                                      Infrastructure Investment Bank
                                                                                                                                             2010 China wird wichtigster Handelspartner
                                                                                                                                             der Schweiz in Asien
                                                                                                                                     2007 Schweiz anerkennt den Marktwirtschaftsstatus Chinas
                                                                                                                   1995 Generalkonsulat in Shanghai wieder eröffnet
                                                                                     1982 Städtepartnerschaft Zürich - Kunming
                                                                                  1980 Gründung der Schweizerisch-Chinesischen Handelskammer
                                                                                  1980 beteiligt sich die Schweizer Firma Schindler am ersten Joint Venture in China
                                          1957 die in Peking eingerichtete Gesandtschaft erhält den Status einer Botschaft
                                 1950 Anerkennung der VR China und Aufnahme der bilateralen Beziehungen

                                                                                                           Grafik 12: Ausgewählte Meilensteine der bilateralen Beziehungen (EDA).

Die bilateralen Beziehungen sind also breit, in vielen Bereichen
substantiell und dem Dialog verpflichtet. Sie präsentieren sich
heute wie folgt – wobei die Reihenfolge der Themen nichts
über deren Bedeutung aussagt:

Handel: China war mit einem bilateralen Warenhandelsvo-
lumen von rund 36 Milliarden Franken11 (bzw. rund 50 Milli-
arden Franken zusammen mit der Sonderverwaltungszone
Hongkong) der drittwichtigste Handelspartner der Schweiz
im Jahr 2019 (Grafik 13).12 Das Dienstleistungshandelsvo-                                                          300
lumen belief sich im gleichen Jahr gemäss der SNB auf 7.2                                                                                                                            EU
Milliarden Franken. Wirtschaftliche Interessen gehörten schon
früh zu den wichtigsten Treibern der bilateralen Beziehungen.                                                      250

Schweizer Industrie- und Dienstleistungsunternehmen spielten
gerade im internationalen Vergleich eine Pionierrolle bei der
Erschliessung der chinesischen Märkte und des Investitions-                                                        200

standorts. Aufgrund der strategischen Position Hongkongs
als Eintrittstor nach China und der vorhandenen Rechtssi-
                                                                                                                   150
                                                                                                        CHF Mrd.

cherheit haben Schweizer Unternehmen und Finanzinstitute
dort eine bedeutende Präsenz aufgebaut. Das Freihandelsab-
kommen mit China hat den Zugang zum chinesischen Markt
                                                                                                                   100
insbesondere für die Industrieunternehmen verbessert und
einen Rechtsrahmen für die Pflege und Weiterentwicklung                                                                                                                             USA
der wirtschaftlichen Beziehungen geschaffen.
                                                                                                                   50

                                                                                                                                                                                 China
                                                                                                                   0
                                                                                                                         2015         2016            2017            2018          2019
11 «Total 2» einschliesslich Gold in Barren und anderen Edelmetallen, Münzen,
   Edel- und Schmucksteinen sowie Kunstgegenständen und Antiquitäten.
12 Die Handelsbilanz 2020 wird durch den Sondereffekt der globalen Pandemie                                Grafik 13: Gesamthandel der Schweiz mit ihren wichtigsten Handels-
   beeinflusst, daher werden Zahlen bis 2019 verwendet.                                                    partnern bis 2019 (Quelle: EZV).

16                                     Die Schweiz und China
120

             100

             80
  CHF Mrd.

             60

             40

             20

                                                                                              Grafik 14: Gesamthandel der Schweiz mit
             0                                                                                ausgewählten Ländern bis 2019 (Quelle: EZV).
                   2015           2016       2017           2018             2019

                          Japan     China   UK      USA     Deutschland

Während der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 haben               Finanz- und Steuerfragen: Die Zusammenarbeit der
die offizielle Schweiz und ihre Vertretungen in China die          Behörden in diesem Bereich hat sich seit der Lancierung des
Beschaffung von medizinischen Produkten in China unter-            jährlichen bilateralen Finanzdialogs und der Revision des
stützt. Trotz verschiedener Schwierigkeiten erlaubte das gut       Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung im
etablierte Kontaktnetz über Firmen, Verbände und die Vertre-       Jahr 2013 vertieft. Der automatische Informationsaustausch
tungen vor Ort eine einfache und engmaschige Kommuni-              über Finanzkonten wurde im September 2019 zum ersten
kation und wo nötig Koordination.                                  Mal durchgeführt. Für die Schweizer Finanzbranche ist China
                                                                   ein strategischer Wachstumsmarkt. Hongkong ist weiterhin
Die Herausforderungen für schweizerische Firmen im chinesi-        wichtigster Standort für den chinesischen Markt. Die
schen Markt bleiben zahlreich: Mangelnde Rechtssicherheit,         Öffnungsschritte auf dem chinesischen Finanzmarkt erlauben
lokaler Protektionismus und eine enge Verflechtung zwischen        zusätzlich den Ausbau der Präsenz auf dem Festland. Damit
Staat und Wirtschaft werden regelmässig genannt. Dazu              tragen Schweizer Finanzinstitute auch zur Entwicklung des
kommt eine zunehmend international wettbewerbsfähige               chinesischen Finanzmarktes bei. Zudem eröffnen sich mit der
lokale Industrie. Massnahmen aufgrund des amerikanisch-            Liberalisierung neue bilaterale Kooperationsmöglichkeiten,
chinesischen Handels- und Technologiekonflikts treffen             beispielsweise in den Bereichen Kapitalmarkt, Finanzinfra-
indirekt auch schweizerische Firmen, etwa die Erhebung von         struktur, Versicherungsmarkt und Sustainable Finance. Trotz
zusätzlichen Zöllen im Warenhandel oder verschärfte Export-        dieser positiven Entwicklungen in den letzten Jahren bleiben
kontrollen mit teils extraterritorialer Wirkung. Einschneidende    der limitierte Marktzugang, die Kapitalverkehrskontrollen
regulatorische Massnahmen, etwa im Bereich der grenz-              und die Hürden für den Ausbau neuer Geschäftsbereiche und
überschreitenden Datenflüsse, erschwerten die Geschäftstä-         Niederlassungen eine Herausforderung für die schweizerische
tigkeit ausländischer Unternehmen allerdings bereits vorher.       Finanzbranche. Chinesische Banken sind seit der Schaffung
Zusätzlich stellen Kleinpaketlieferungen aus China, welche         des Renminbi-Hubs13 2016 in der Schweiz präsent.
auf amerikanischen oder chinesischen E-Commerce Platt-
formen bestellt werden, eine Herausforderung für die Zoll-         Investitionen: Chinesische Direktinvestitionen in der Schweiz
und Steuerbehörden in der Schweiz dar.                             haben bis 2016 stetig zugenommen, sind aber noch immer
                                                                   vergleichsweise bescheiden (Grafik 16). Die Übernahme des
Arbeits- und Beschäftigungsfragen: Die Schweiz und                 in Basel beheimateten Agrochemie-Unternehmens Syngenta
China pflegen diesbezüglich seit dem Abschluss eines bilate-       durch die chinesische Staatsfirma ChemChina im Jahr 2016
ralen Abkommens im Rahmen des Freihandelsabkommens                 markierte den bisherigen Höhepunkt dieses Trends. China
einen vertieften Dialog. Das Abkommen bekräftigt die               weist 2019 in der Schweiz einen Kapitalbestand (nach
Verpflichtungen beider Länder als Mitgliedstaaten der Inter-       letztlich berechtigtem Investor) von 14,9 Milliarden Franken
nationalen Arbeitsorganisation (IAO). Die Sozialpartner beider     aus. Dies entspricht 1,1% der gesamten ausländischen
Länder sind aktiv an der Umsetzung beteiligt. Die bisherigen
Dialoge haben sich insbesondere auf die Bereiche Sozialpart-
nerschaft, öffentliche Arbeitsvermittlung sowie Sicherheit         13 Seit 2016 kann die chinesische Währung – der Renminbi – in der Schweiz
und Gesundheit am Arbeitsplatz konzentriert.                          gehandelt werden.

                                                                                                     Die Schweiz und China                     17
Direktinvestitionen in der Schweiz. Der Kapitalbestand der                  China, die USA, aber auch andere Länder kennen eine Kontrolle
  Schweizer Direktinvestitionen in China belief sich per Ende                 von grenzüberschreitenden Investitionen in Bereichen, die
  2019 auf rund 22,5 Milliarden Franken.                                      für die öffentliche Ordnung als kritisch bezeichnet werden.
                                                                              Auch in der Schweiz hat die in den vergangenen Jahren zu
                                                                              beobachtende Zunahme an Investitionen von privaten und
                                                                              staatsnahen Unternehmen aus grossen Schwellenländern –
                                                                              darunter China – die Diskussion entfacht, ob eine Investitions-
                                                                    116       kontrolle benötigt wird. Im März 2020 hat das Parlament den
        100                                                                   Bundesrat mit der Annahme der Motion Rieder 18.3021
                                                         94                   beauftragt, die gesetzlichen Grundlagen für eine Investitions-
                                                                              kontrolle zu schaffen, nicht zuletzt im Hinblick auf chine-
                                               78
                                                                              sische Investitionen. Der Bundesrat ist daran, dieses Mandat
                                     62                                       umzusetzen. Die Eröffnung der Vernehmlassung ist in der
        50
                          44
                                                                              zweiten Jahreshälfte 2021 vorgesehen.

                27                                                            Im Vergleich zur Schweiz ist der Zugang für ausländische
                                                                              Direktinvestitionen in China eingeschränkt, in den letzten
        0                                                                     Jahren gab es – auf nationaler Ebene – jedoch einige Entwick-
               2014      2015       2016      2017       2018       2019
                                                                              lungen in Richtung einfacherer Zugang. Es gibt aber weiterhin
  Grafik 15: Anzahl an Unternehmen in der Schweiz, die einer chinesischen     eine Liste von Sektoren, in welchen Investitionen aus dem
  multinationalen Gruppe angehören (2019: provisorische Daten; Quelle:
                                                                              Ausland nicht möglich sind. Im Rahmen seiner Industriepolitik
  Bundesamt für Statistik).
                                                                              überprüft China alle fünf Jahre, ob einzelne Sektoren für
                                                                              ausländische Investitionen autonom geöffnet oder gegebe-
                  China Japan                                                 nenfalls auch wieder geschlossen werden.
                  14,9  38,5
                                                Rest EU
                                                209,4 CHF Mrd.                Tourismus: China ist ein wichtiger Herkunftsmarkt für den
                                                                              Schweizer Tourismus. Chinesische Gäste generierten im Jahr
                                                                              2019 rund 1,4 Mio. Hotellogiernächte in der Schweiz. Damit
                                                                              war China hinter Deutschland, den USA und Grossbritannien
                                                                              der viertwichtigste ausländische Herkunftsmarkt. 2020
                                                                              hat die Covid-19-Pandemie den internationalen Tourismus
                                                                Deutschland
                                                                51,7          praktisch zum Erliegen gebracht.

                                                                Frankreich    Bildung, Forschung und Innovation: Die Schweiz als
                                                                58,5          eine weltweit führende Technologienation ist für China ein
                                                                              attraktiver Partner im Bereich Forschung, Entwicklung und
                                                           UK                 Innovation. Die Aneignung von ausländischen Technologien
                                                           68,1               ist eine wichtige Komponente des staatlich verordneten
USA
651,3                                                                         chinesischen Entwicklungsmodells. Zunehmend treten chine-
                                                                              sische Firmen auch in der Schweiz als Käufer von Technologie-
                                                                              firmen auf.

  Grafik 16: Kapitalbestand ausländischer Direktinves-                        › Die Zusammenarbeit mit China im Forschungs- und
  titionen (in CHF Mrd.) von Hauptwirtschaftspartnern
  der Schweiz 2019, gegliedert nach letztlich berech-                           Innovationsbereich (F&I) hat sich seit dem Start des
  tigtem Investor (Quelle: SNB).                                                offiziellen bilateralen Dialogs 2003, der Lancierung der
                                                                                Bilateralen Kooperationsprogramme zur Unterstützung der
                                                                                Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technologie 2008
                                                                                und der Eröffnung eines Swissnex in Shanghai 2008 intensi-
                                                                                viert (Grafik 17). Ausserdem stellen die Rahmenprogramme
                                                                                für Forschung und Innovation der Europäischen Union
                                                                                ein multilaterales Instrument für die Zusammenarbeit mit
                                                                                China dar. China ist in vielen bedeutenden und technisch
                                                                                und finanziell anspruchsvollen Disziplinen ein interessanter
                                                                                Partner. China ist ein Kernmarkt für den Schweizerischen
                                                                                Innovationspark . «Switzerland Innovation» und mehrere
                                                                                Vereinbarungen zielen darauf ab, die Schweiz als attrakti-
                                                                                ven Standort für Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten
                                                                                bekannt zu machen. Bi- und multilaterale Kooperations-
                                                                                projekte beruhen stets auf der Autonomie, Selbstinitia-

  18           Die Schweiz und China
China
                                       2000
 Anzahl kollaborativer Publikationen

                                                                                                                                Japan

                                                                                                                                Brasilien
                                                                                                                                Russland
                                       1000                                                                                     Indien         Grafik 17: Anzahl wissenschaftliche
                                                                                                                                Südafrika      Ko-Publikationen der Schweiz mit
                                                                                                                                Südkorea       China und mit anderen BRICS-
                                                                                                                                               Staaten, Südkorea und Japan
                                                                                                                                               (Quelle: Evaluation of Switzerland’s
                                                                                                                                               bilateral cooperation programmes
                                                                                                                                               in science and technology, IRIS
                                                                                                                                               Group, 2020).
                                              2007   2008   2009   2010   2011   2012   2013   2014   2015     2016   2017   2018

                tive und den Interessen der Schweizer Forschungs- und                                        Gesundheit: In internationalen Gesundheitsfragen nimmt
                Innovationsakteure. Mittlerweile pflegen fast alle Schweizer                                 China eine zentrale Rolle ein, wie die Covid-19-Pandemie
                Hochschulen Partnerschaften mit China, wenn auch von                                         aufgezeigt hat. Die Abhängigkeit der Schweiz von in China
                unterschiedlicher Intensität.                                                                produzierten Wirkstoffen und medizinischen Schutzaus-
                                                                                                             rüstungen rückte die Frage nach sicheren und nachhaltigen
› Auch im Bildungsbereich besteht seit 2014 ein regel-                                                       Lieferketten ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit.
  mässiger politischer Dialog. China zeigt grosses Interesse                                                 Ausserdem ist China einer der wichtigsten Märkte für die
  am Modell der Schweizer Fachhochschulen und hat sich bei                                                   Schweizer Life Sciences Industrie.
  nationalen Reformen von der Schweiz inspirieren lassen.
  Damit kann die Schweiz das hiesige Berufsbildungssystem                                                    Menschenrechte: Die Schweiz und China führen seit
  in einem bedeutenden Markt profilieren, was den Fach-                                                      1991 einen bilateralen Menschenrechtsdialog. Der vertrau-
  hochschulen und den Schweizer Unternehmen vor Ort                                                          liche Menschenrechtsdialog bietet eine Plattform, um die
  zugutekommt. Gemäss dem Bundesamt für Statistik waren                                                      Menschenrechtslage offen und kritisch anzusprechen. Dazu
  im akademischen Jahr 2019/20 2‘493 chinesische Studieren-                                                  gehören insbesondere die Meinungsäusserungsfreiheit und
  de an Schweizer Hochschulen eingeschrieben; China stellt                                                   die Minderheitenrechte, inklusive in den tibetischen Gebieten
  damit die viertgrösste Gruppe ausländischer Studierender                                                   Chinas und in Xinjiang. Weiter werden die gegenseitigen
  in der Schweiz. Unterschiedliche Vorstellungen bestehen in                                                 Schwerpunkte in multilateralen Gremien diskutiert, nach
  Bezug auf die Bedeutung der akademischen Freiheit.                                                         Möglichkeit Einzelfälle thematisiert und konkrete Koopera-
                                                                                                             tionsmöglichkeiten ausgelotet. Beispielsweise besteht seit
› Im digitalen Bereich gehören einige chinesische Unter-                                                     2003 ein Expertenaustausch im Strafvollzug.
  nehmen in Bereichen wie Informatik und Telekommunikati-
  on, Überwachungstechnologie, unbemannte Luftfahrzeuge,                                                     Die Bereitschaft Chinas, Menschenrechtsfragen zu disku-
  E-Commerce oder Künstliche Intelligenz zur Weltspitze.                                                     tieren, hat in den vergangenen Jahren mit Verweis auf die
  Chinesische und schweizerische Vorstellungen – etwa in                                                     Einmischung in innere Angelegenheiten abgenommen.
  den Bereichen digitale Gouvernanz, Datenschutz, grenz-                                                     Zugleich hat sich die Situation in China mit Bezug auf
  überschreitende Datenflüsse, Marktzugang in der digitalen                                                  Meinungsäusserungsfreiheit, Schutz der Privatsphäre,
  Wirtschaft, Schutz der Menschenrechte und Trennung                                                         Rechte von Minderheiten sowie Druckversuche gegenüber
  zwischen wirtschaftlichen und staatlichen Interessen –                                                     Menschenrechtsverteidigern deutlich verschlechtert. Es
  gehen teilweise weit auseinander. Die aktuelle Debatte um                                                  bestehen Divergenzen in Bezug auf das Verständnis der
  die Rolle des chinesischen Technologiekonzerns Huawei                                                      Menschenrechte und auf die Gewährleistung ihres Schutzes.
  beim Aufbau von 5G-Mobilfunknetzen betrifft auch direkt                                                    China ist bestrebt, eigene Konzepte und neue Begrifflich-
  schweizerische Interessen.                                                                                 keiten in den internationalen Diskurs einzuführen, um das
                                                                                                             Menschenrechtsnarrativ im chinesischen Sinne umzudeuten.
Nachhaltigkeit: Im globalen Klimaschutz ist China als
grösster globaler Emittent von CO2 und zugleich als vertrags-                                                Letztmals fand der Menschenrechtsdialog im Juni 2018 in
treuer Signatarstaat des Klimaübereinkommens von Paris ein                                                   Peking statt. Seither wurden weitere Dialogrunden von China
relevanter Partner für die Schweiz. Die DEZA unterhält seit                                                  abgesagt, sei es als Reaktion auf die Beteiligung der Schweiz an
Jahren mehrere Programme mit China im Bereich Klima-                                                         multilateraler Kritik zur Situation in Xinjiang oder mit Verweis
wandel. Beispielsweise hat das chinesisch-schweizerische                                                     auf die Covid-19-Pandemie. Mehrere Staaten, die ebenfalls
Projekt «Zero Energy Building» zum Ziel, die Treibhausgas-                                                   einen Menschenrechtsdialog mit China führen, befinden sich
emissionen in China zu verringern.                                                                           in derselben Situation (z.B. UK, Niederlande, Neuseeland,
                                                                                                             Japan). 2020 konnten lediglich die EU und Deutschland ihre

                                                                                                                                         Die Schweiz und China                  19
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