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gender thoughts New Perspectives in Gender Research Working Paper Series 2020, Volume 1 Daniela Gottschlich Christine Katz Caring with Nature/s: Zur transformativen Bedeutung von Care in More Than Human Worlds
gender thoughts New Perspectives in Gender Research Working Paper Series (ISSN 2509-8179) EDITORS-IN-CHIEF Christoph Behrens, Julia Gruhlich, Solveig Lena Hansen, and Susanne Hofmann By 2017 the Göttingen Centre for Gender Studies starts a new working paper series called Gender(ed) Thoughts Goettingen as a scholarly platform for discussion and exchange on Gender Studies. The series project-related results. All contributions to the series will be thoroughly peer-reviewed. Wherever possible, we publish com- ments to each contribution. The series aims at interdisciplinary exchange among Humanities, Social Sciences as well as Life Sciences and invites researchers to publish their results on Gender Studies. If you would like to comment on existing or future contributions, please get in touch with the editors-in-chief. The series is open to theoretical discussions on established and new approaches in Gender Studies as as an individual and social perspective in academia and day-to-day life. All papers will be published Open Access with a Creative Commons License, currently cc-by-sa 4.0, with the license text available at https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/de/. 2020, Volume 1 Daniela Gottschlich, Christine Katz Caring with Nature/s : Zur transformativen Bedeutung von Care in More Than Human Worlds Suggested Citation Gottschlich, D. & Katz, Ch. (2020) Caring with Nature/s : Zur transformativen Bedeutung von Care in More Than Human Worlds. Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series, Vol. 1 https://dx.doi.org/10.3249/2509- 8179-gtg-11 Göttingen Centre for Gender Studies Georg-August-Universität Göttingen Centrum für Geschlechterforschung Platz der Göttinger Sieben 7 D - 37073 Göttingen Germany
gender thoughts New Perspectives in Gender Research Working Paper Series 2020, Volume 1 DOI: 10.3249/2509-8179-gtg-11 Caring with Nature/s1: Zur transformativen Bedeutung von Care in Than Human Worlds Daniela Gottschlich1, Christine Katz2 1 Institut für Diversity, Natur, Gender und Nachhaltigkeit Lüneburg; gottschlich@diversu.org 2 Institut für Diversity, Natur, Gender und Nachhaltigkeit Lüneburg; katz@diversu.org Zusammenfassung Der Beitrag geht davon aus, dass Menschen in die organische, anorganische und technisch veränderte Welt in wechselseitiger Abhängigkeit eingebettet bzw. von dieser materiell-physisch wie auch diskur- siv durchdrungen sind. Analog zu Puig de la Bellacasa wird Caring daher nicht als wählbare Option beschrieben, sondern als eine unverzichtbare Notwendigkeit für alle Wesen, eine übergeordnete Prak- tik von ontologischer Signifikanz, die auch eine politische Dimension beinhaltet. Denn darüber wer- den Qualitäten und Strukturen des Kollektiven mitgestaltet. In diesem Artikel wird begründet, warum ontologische Relationalität zum Ausgangspunkt politischer Gestaltungspraxis von Natur/en gemacht werden sollte, und es wird diskutiert, wie die politisch-ökologische Dimension von Care weiterentwi- ckelt und für die sozial-ökologische Transformation in Richtung Nachhaltigkeit genutzt werden kann. In diesem Zusammenhang werden die konzeptionellen Eckpfeiler und Schlüsselbegriffe einer poli- tisch-ökologischen Theorie von Care entfaltet und zur Diskussion gestellt. Konkretisiert wird ihre Bedeutung für die politische Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse am Beispiel des Kampfes um den Hambacher Forst. Schlagworte Care/Caring with, Natur/en, politisch-ökologische Theorie von Care, ontologische Relationalität, sozial-ökologische Transformation Abstract The article assumes that humans are embedded in the organic, inorganic and technically altered world in mutual dependence and are materially-physically as well as discursively permeated by it. Analogous 1 Wir verstehen unter Natur sowohl Physisch-Materielles als auch Diskursiv-Symbolisches, halten beide Sphären, das Gesellschaftliche und das Physische, für unentrinnbar und multipel miteinander verwoben, historisch und regional unterschiedlich. Deswegen handelt es sich eher m Nat ren im Pl ral, denn m eine einde tig abgren bare Na- t r b . ir sprechen daher a ch on gesellschaftlichen Naturverhältnissen (Becker/Jahn 2006). Wir distanzieren uns darüber hinaus von einem rein anthropozentrischen Naturverständnis als Ausgangspunkt für Theorie und gesell- schaftliches Handeln. Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 7
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s to Puig de la Bellacasa, caring is therefore not described as a selectable option, but as an indispensable necessity for all beings, a superordinate practice of ontological significance that also includes a politi- cal dimension. For qualities and structures of the collective are shaped in this way. This article ex- plains why ontological relationality should be made the starting point of political design practice of nature/s and discusses how the political-ecological dimension of care can be further developed and used for social-ecological transformation towards sustainability. In this context, the conceptual cor- nerstones and key elements of a political-ecological theory of care are developed and put forward for discussion. Its significance for the political shaping of societal relations to nature is illustrated with the concrete example of the struggle for the Hambacher forest. Keywords Care/Caring, Nature/s, Political-Ecological Theory of Care, Ontological Relationality, Social- Ecological Transformation Ozean gelingt. In The Shape of Water verbünden sich die Außenseiter_innen (die Stumme, der Prolog: Zum Kulturkampf um die Schwule, die Schwarze und der sowjetische Ausgestaltung von Gesell- Wissenschaftler, der sich gegen den eigenen Geheimdienst auflehnt) gegen ein lebensfeindli- schaftsentwicklung ches-technokratisches System. Sie befreien nicht Türkis, blau, grün: Die Kinoleinwand zeigt alle nur den AmphibienMann aus dem Labor, son- Farben des Wassers. Ein Badezimmer und dern haben auch Freude daran, ein rassistisches, schließlich die gesamte Wohnung werden geflu- faschistisches, frauenverachtendes, homophobes, einge- tet, um die körperliche Vereinigung der stum- bildetes weißes Arschloch zu be-siegen (Nicodemus men Elisa mit dem namenlosen Amphibien- 2017: o.S.). Del Toro selbst erklärte in einem Mann im Wasser zu ermöglichen. In wunderbar Interview: poetischen Bildern wird in dem Film The Shape Ich mache gerne Filme, die befreiende Wirkung haben, of Water das Liebesspiel zweier Außensei- die aussagen, dass man okay ist, genauso wie man ist. ter_innen gezeigt, deren Liebe selbst die Gat- Und das, scheint mir, ist gerade in der heutigen Zeit sehr tungsgrenze überwindet. Das 2017 uraufgeführ- wichtig (vgl. Shape of Water Das Flüstern des te M rchen f r Er achsene des me ikani- Wassers 2018)2 schen Regisseurs Guillermo del Toro Gómez, Del Toros mit zahlreichen Preisen aus- das 2018 auch in deutschen Kinos zu sehen gezeichnetes Plädoyer für Diversität und einen war, handelt von einer stummen Reinigungs- neuen Gattungsgrenzen übersteigenden (Post-) kraft in einem US-amerikanischen Geheimlabor Humanismus steht beispielhaft für eine kritisch- Anfang der 1960er Jahre, die sich in eine dort emanzipatorische Position im immer deutlicher gefangengehaltene und misshandelte amphibi- zutage tretenden Kulturkampf um die Gestal- sche Kreatur verliebt. Mit Hilfe ihres Nachbarn tung von Gesellschaft und krisenhaft geworde- Giles, einem homosexuellen Graphiker, und nen gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Die ihrer schwarzen Arbeitskollegin und Freundin gegenwärtigen Krisen3 haben damit zu tun, dass Zelda befreit Elisa den AmphibienMann aus den Händen der US-Regierung, die sich die 2 Vgl. https://www.fbw-filmbewertung.com/ heilenden Kräfte des außergewöhnlichen Ge- film/shape_of_water_ das_fluestern_des_wassers, Zugriff am 22.02.2019 schöpfs gegen die Sowjets zu Nutze machen 3 Wir denken hier an den Klimawandel und das Arten- wollen. Der brutale Sicherheitschefs Strickland sterben, an die Millionen von Menschen, die zur Flucht jagt das Paar, dem dennoch die Flucht in den gezwungen werden und die vielen, die dabei ihr Leben 8 Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2019, Volume 1
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s die Lebensweise einiger auf Kosten anderer Natur als Suche nach anderen alternativen For- geht, dabei Menschen und Natur ausgebeutet men sozial-ökologischer Transformation und Kosten auf die Allgemeinheit, andere Regi- Formen, die sich emanzipatorisch und solida- onen und nachfolgende Generationen verlagert risch zeigen und die die Spannungsverhältnisse werden. Die durch diese Externalisierungspro- zwischen Autonomie und aufeinander Angewie- zesse bedingten krisen-haften Verhältnisse sind sensein, zwischen gemeinschaftsorientierten von feministischer Seite bereits in den 1980er Strukturen und individueller Entfaltung, zwi- und 1990er Jahren im Diskurs um Umwelt und schen Naturnutzung und erneuernder Naturer- Entwicklung thematisiert worden (vgl. Benn- haltung auf eine Art und Weise gestalten, dass holdt-Thomsen et al. 1983), in den letzten Jah- sie ein gutes Leben für alle ermöglichen. Der ren sind sie verstärkt zum Gegenstand sozial- Fokus auf Care verstanden als existenzielle wissenschaftlicher Analysen geworden (vgl. Notwendigkeit, Handlungspraxis und ethische allein aus dem deutschsprachigen Raum z.B. Haltung, die sich nicht nur auf Menschen, son- Massarrat 2006; Brand/Wissen 2011, 2017; dern auch auf die nicht-menschlichen Welten5 Biesecker/von Winterfeld 2014; Lessenich bezieht scheint uns aufschlussreich und anre- 2016; Wichterich 2016; Gottschlich 2017). gend bei der Suche nach neuen oder aus dem Die sozial-ökologischen Krisen lassen eine Blick geratenen Beziehungsqualitäten innerhalb Transformation des aktuell dominanten Wirt- der materiell-physischen und diskursiv verwo- schafts-, Gesellschafts- und Kulturmodells un- benen Welten, um sozial-ökologische Trans- ausweichlich erscheinen. Die Frage ist nach formationsprozesse in Richtung Nachhaltigkeit Sommer und Welzer lediglich, zu erreichen und damit auch die politische Be- ob sie eher von Menschen auf Basis von zivilisatori- deutung von Care hervorzuheben. schen Errungenschaften wie Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gleichheit und Solidarität gestaltet werden kann oder ob sie stärker von den Ver- 1. Einleitung hältnissen erzwungen wird; kurz, ob die Transformation by design or by disaster erfolgt (ebd. 2017: 12f.). (…) nothing holds together without relations of care (Puig de la Bellacasa 2017: 67). Doch über eine solidarische Gestaltung herrscht Theoretischer Ausgangspunkt unserer Überle- keineswegs Einigkeit: Wir erleben derzeit welt- gungen ist, dass wir mit der Welt, in der wir weit eine zunehmende Ablehnung und Zerset- leben, grundsätzlich verbunden und unabänder- zung liberaler Demokratien und das Erstarken reaktionärer, nationalistischer und rechtsextre- 5 In Ermangelung trennscharfer Begrifflichkeiten be- mer Kräfte, die an einem Wirtschafts-, Gesell- zeichnen wir nach Puig de la Bellacasa (2017) die nicht- schafts- und Kulturmodell festhalten wollen, menschlichen Natur/en, d.h. nicht nur das sogenannte das die sozialen und ökologischen Grundlagen Lebendige, sondern all das an organischen und anorga- zerstört. nischen Wesens- und Daseinsformen, das Voraus- setzung für Leben ist, ohne selbst als lebendig klassifi- Als Gegenmodell dazu verstehen wir unsere ziert zu werden, als mehr als menschliche Welten ( more Überlegungen in Zusammenhang mit Care4 und than human worlds in technoscience and naturecultures , ebd.: 12). Auch den Ausdruck Nichtmenschen bzw. Nicht- lassen. Aber auch die wachsende soziale Ungleichheit menschliches benutzen wir synonym und schließen und den (wieder-)erstarkenden Rassismus und Sexis- erkenntnistheoretisch an das NatureCulture-Konzept mus zählen wir dazu. von Haraway (2003) und an den Ansatz des agentiellen 4 Im Folgenden benutzen wir Care, wenn wir über den Realismus (Barad 2017) an, der ebenfalls den Dualis- theoretischen Ansatz und Rahmen sprechen und Ca- mus von Natur und Kultur überwinden will und auf ring, wenn es um das konkrete Tun und das (durch eine ontologische Relation als wechselseitige Abhän- Care-Ethik geprägte) Handeln geht. Da beide Begriffe gigkeit von nicht unabhängigen Relata abhebt. Uns jedoch auch ineinander übergehen, ist eine scharfe geht es jedoch primär um die Konsequenzen der An- begriffliche Trennung nicht möglich. sätze für ein politisch-ökologisches Konzept von Care. Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 9
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s lich aufeinander angewiesen (emotional wie und damit alle Facetten der Care-Krise8, die materiell) sind. Menschen sind in diese wechsel- durch neoliberale Politiken in den letzten Jahren seitigen Abhängigkeiten aller organischen, anor- noch verschärft wurden, zu analysieren und zu ganischen und technisch veränderten Daseins- bearbeiten. formen eingebettet bzw. von diesen materiell- Mit unseren Überlegungen wollen wir physisch wie auch diskursiv durchdrungen. Schlüsselbegriffe und Ansatzpunkte für eine Damit ist Caring keine wählbare Option, son- politisch-ökologische Theorie von Care entwer- dern eine unverzichtbare Notwendigkeit für alle fen. Letztlich geht es uns dabei um die Frage, Wesen, eine übergeordnete Praktik von ontolo- wie Caring in politisch-ökologische Zusammen- gischer Signifikanz, wie Maria Puig de la Bel- hänge zur Gestaltung gesellschaftlicher Natur- lacasa (2017: 3) es ausdrückt. verhältnisse hineingedacht werden kann (und Care adressiert nicht nur den privaten Be- muss), welche Herausforderungen damit auf der reich, sprich das Individuum in seiner ethischen Ebene von Theorie und Praxis einhergehen und Haltung und sorgenden Handlungspraxis. Es welcher Gewinn für eine gesellschaftliche hat auch eine politische Dimension, weil es als Transformation in Richtung Nachhaltigkeit Aktivität Qualitäten und Strukturen von Bezie- davon zu erwarten ist. hungsverhältnissen und damit das Kollektive Wir sind nicht die ersten, die sich intensiver mitgestaltet, in anderen Worten: Care is a perso- damit auseinandersetzen. Unsere Arbeit wird nal affair but one that is only noble insofar as it aspires insbesondere beeinflusst von der politischen to leave a mark in a collective that is, a polis (ebd.: Philosophie, vor allem von feministischer Care- 134).6 Caring als Haltung und Praxis mit auch Ethik, ökofeministischen Ansätzen, der relativ politischer Dimension ist also existentiell, fand jungen Strömung des Posthumanismus sowie und findet (schon) immer statt auch wenn das von Arbeiten feministischer Neomatera- Politische daran häufig nicht benannt wurde list_innen. Wir orientieren uns maßgeblich an und wird. den Ausführungen von Puig de la Bellacasa Wir gehen davon aus, dass es für eine gesell- (2017), die einen weiten Theorierahmen für Care schaftliche Transformation in Richtung Nach- als radikal anti-anthropozentrische spekulative haltigkeit unerlässlich ist, diese ontologische Ethik aufspannt und dabei Care weniger als Relevanz von Care aufgrund der grundlegenden moralische Bereitschaft, denn als Handeln, als Interdependenzen von menschlichen und nicht- Caring, zur Aufrechterhaltung und zum Wieder- menschlichen Welten sowie der Angewiesenheit herstellen der Erfordernisse des täglichen Le- und Verletzlichkeit allen Lebens anzuerkennen. bens begreift, in der emotionale Betroffenheiten Care zum Ausgangspunkt politischer Gestal- berücksichtigt und vernachlässigte Praktiken, tungspraxis zu machen und nach gesellschaftli- Dinge, Objekte und Erfahrungen einbezogen chen Rahmenbedingungen für gutes Caring7 zu werden. Care ist dabei konsequent situiert ange- fragen, bedeutet auch, sich der anhaltenden legt (vgl. ebd.: 160ff.). Zerstörung der verbundenen sozialen und öko- Anders als Puig de la Bellacasa verorten wir logischen Lebensgrundlagen entgegen zu stellen uns in der Politischen Theorie und wollen mit unseren Überlegungen zu einer Weiterentwick- lung der politisch-ökologischen Dimension von 6 Diese Argumentation findet sich auch bei Giddens Care beitragen. (1984), der bereits Mitte der 1980er Jahre auf die Duali- Im nächsten Kapitel umreißen wir zunächst tät der Struktur hinwies: Gesellschaft konstituiert sich über menschliches Handeln, das sowohl als strukturiert kurz unsere theoretische Verortung in der kriti- als auch als strukturierend zu begreifen ist. 7 Denn Caring ist nicht per se immer harmonisch oder 8 Vgl. zur Care-Krise, die Ausführungen im Care- nachhaltig, sondern kann unter bestimmten Bedingun- Manifest (https://care-macht-mehr.com/), zur Krise gen auch gewaltvolle Züge annehmen. des Reproduktiven (Biesecker/Hofmeister 2006). 10 Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2019, Volume 1
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s schen Politischen Theorie. Wir begründen an- meinsamen Aufsatz mit Fisher (1990) all jene schließend in Kapitel 3 zentrale Ausgangspunk- Tätigkeiten als Care bezeichnet, die wir tun, um te unserer weiteren theoretischen Überlegungen. unsere Welt zu erhalten, zu reparieren und so In Kapitel 4 entfalten wir die konzeptionellen weiter zu entwickeln, damit wir so gut wie mög- Eckpfeiler und Schlüsselbegriffe unserer poli- lich in ihr leben können. Zu dieser Welt gehö- tisch-ökologischen Theorie von Care und veran- ren für Fisher und Tronto nicht nur wir und schaulichen ihre Bedeutung für die politische unsere Körper, sondern auch unsere Umwelt Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse alles verwoben in und zu einem komplexen, am Beispiel des Kampfes um den Hambacher lebenserhaltenden Netz (Fisher/Tronto 1990: Forst (Kapitel 5). Wir geben im letzten Kapitel 40, Tronto 1993: 103). 6 einen kurzen Ausblick. Uns als Autorinnen geht es um die Neu- Konzeptualisierung des ontologischen Funda- ments von und für Politik. Laut Vosman richtet 2. Warum sprechen wir von einer eine Politische Theorie von Care ihre Aufmerk- Politischen Theorie von Care im samkeit auf Beziehungen, Emotionen und kon- krete Alltagskontexte (2016: 42f.). Wir gehen Allgemeinen und von der poli- darüber hinaus und beziehen in unseren Aus- tisch-ökologischen Theorie von führungen die Politische Theorie von Care, wie Care im Besonderen? Vosman und Conradi sie verstehen, auf gesell- schaftliche Naturverhältnisse und damit auch On the most general level, we suggest that caring be viewed as a species activity that includes everything that auf alle nicht-menschlichen Welten.9 Das beste- we do to maintain, continue, and repair our world so hende kapitalistische System, das auf permanen- that we can live in it as well as possible. That world tem Wachstum, Produktivkraftsteigerung und includes our bodies, our selves, and our environment, all Beschleunigung beruht, vereinnahmt einerseits of which we seek to interweave in a complex, life- unbezahlte und/oder schlecht bezahlte Care- sustaining web (Fisher/Tronto 1990: 40, zit. n. Akti it ten, be tet sie sorglos a s nd k m- Tronto 1993: 103). mert sich nicht um die Wiederherstellung der Im kontinuierlich breiter und dynamischer wer- Basis.10 Damit erschwert es andererseits gleich- denden Diskurs um Care lassen sich drei unter- zeitig sorgende Grundhaltungen. Denn vielfach schiedliche Diskursstränge identifizieren, die verunmöglichen die vom System generierten den Care-Begriff in seiner ökonomischen, ethi- Zwänge ein Caring with, ein Sich-in-Beziehung- schen und politischen Bedeutung fokussieren. setzen und fördern und erfordern Grundhal- Alle Diskurse sind miteinander verwoben und tungen, die eben das Relationale als ontologi- nicht voneinander zu trennen. Mit unserem sche Realität leugnen (vgl. dazu das Interview Beitrag verorten wir uns im Diskursstrang zur mit Hartmut Rosa 2018: 94). Die Grausamkei- politischen Transformation und schließen dabei neben Puig de la Bellacasa vor allem an die Ar- 9 Wir schließen mit unseren Überlegungen an den beiten von Joan Tronto (1993, 2013, 2016) an, Ausdruck more than human worlds von Puig de la Bel- die Care als transformative politische Praxis lacasa (2017) an, wohl wissend, dass die Frage der versteht. Der Transformationsanspruch richtet Grenzziehung und Unterscheidbarkeit schwierig ist sich an den Aufbau von caring democrac[ies] (vgl. z.B. Hybridnatur bei u.a. Haraway (1995) oder (Tronto 2013). Das von Tronto eingebrachte implosive holism bei Morton (2017) und fokussieren auf die Frage nach der Gestaltung der (Verantwortung für caring with als neuer Begriff hat uns inspiriert, die) Qualität der Mensch-Nichtmensch-Relationen. über Politik in einem nicht-anthropozentrischen 10 Dieser Aspekt ist zentral für die sozial-ökologische Rahmen nachzudenken. Denn Tronto hat von feministische Ökonomik und von vielen Kolleg_innen Anfang an Care nicht nur auf menschliche Be- herausgearbeitet worden; vgl. dazu exemplarisch Benn- ziehungen beschränkt, sondern in einem ge- holdt-Thomsen et al. (1983). Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 11
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s ten etwa, die Tieren und Menschen in der in- 3. Ausgangspunkte für eine poli- dustriellen Fleischproduktion widerfahren, sind tisch-ökologische Theorie von ein Beispiel dafür. Zunehmend richtet sich in Analysen nun der Blick auch auf die Arbei- Care ter_innen in den Produktionsverhältnissen: Es It matters what stories we tell to tell other stories with; sind in der Regel schlecht bezahlte Arbei- it matters what concepts we think to think other concepts ter_innen aus der europäischen Peripherie (z.B. with (Haraway 2016: 118). Rumänien), die nach Deutschland migrieren, Die Arbeit an einer politisch-ökologischen The- um Schlachtarbeiten zu übernehmen, die sonst orie von Care, die Antworten auf diese Fragen niemand machen möchte und die den Gestank, gibt, steht am Anfang. Bei unseren ersten Über- Schreie, Panik und Angst der Tiere aushalten legungen zur Begründung der Zusammenhänge müssen und selbst davon krank werden (vgl. leitet uns das vorangestellte Zitat von Donna Honnigfort 2014; Ulrich 2018). Haraway auf zweifache Weise: Erstens ruft es Im härter werdenden Kulturkampf, in dem uns die Wirkmächtigkeit begrifflicher Ordnun- Caring with-Praxen sich bewegen müssen, geht es gen ins Bewusstsein. Es bedarf einer Umwäl- um nicht weniger als um die Leugnung und zung einiger bestehender Konzepte und Begriff- Bekämpfung von Mitgefühl, Sorge für einander lichkeiten wie beispielsweise der Idee des auto- und für die mehr als menschlichen Welten, in nomen Menschen-Subjekts, das die Vormacht- die wir eingebettet und von denen wir durch- stellung des Menschen auf der Erde begründet, drungen sind. Die instrumentelle Logik eines eines Verständnisses von Evolution als Kampf auf stetige Optimierung und Effizienzsteigerung ums Überleben wie es seit Darwin die gesell- setzenden Neoliberalismus gipfelt dabei in Tei- schaftlichen, ökonomischen und wissenschaftli- len bereits in einen sozial-ökologisch zerstöreri- chen Diskurse prägt. Zweitens macht Haraway schen Neofaschismus, wie wir ihn derzeit in damit klar, dass die Konzepte, in denen wir uns Brasilien erleben. Die Politische Ökologie, wie sie bereits bewegen, nicht einfach durch neue er- sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat setzt werden können. Der Hinweis, dass wir (vgl. stellvertretend Perreault et al. 2015), macht Konzepte mit Konzepten denken, Geschichten genau solche Konflikte und Kämpfe um eine mit Geschichten erzählen usf., beinhaltet auch Demokratisierung gesellschaftlicher Naturver- das Bewusstsein darüber, dass unsere Konzepte hältnisse zum Ausgangspunkt. Sie fragt, wer und Geschichten historisch situierte sind und von welchen Maßnahmen profitiert, wer die wir aus genau dieser Situation heraus anfangen Last trägt, ergreift Partei für die Marginalisierten und weiterdenken müssen. Wir schließen im und verbindet in der Analyse und der Erarbei- Folgenden zunächst an die Dualismus- und tung von Transformationsstrategien individuel- Subjektkritik an. le, strukturelle und symbolische Ebenen. Mit unserer Frage danach, welche Rahmenbedin- gungen es braucht, damit Caring with sich in 3.1 Dualismus- und Subjektkritik seinen nachhaltigen Qualitäten entfalten kann, In der Transformationsdebatte setzen sich alte Ratio- erweitern wir das Spektrum der Politischen nalitätsmuster fort. […] Sie erscheinen in der Morgenrö- Ökologie. te der Moderne […] und sind bis heute wirkmächtig (Biesecker/von Winterfeld 2013: 160). Damit Transformationsdiskurse und -pfade eine sozial-ökologische, demokratische und emanzi- patorische Richtung einschlagen (können), ist es notwendig, dass bereits in der Krisendiagnostik auch auf vorhandene Erkenntnisse kritischer 12 Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2019, Volume 1
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s Forschung zurückgriffen wird, insbesondere auf Entwicklung von Hybridsorten Umbewertun- die feministische Kritik am: gen und Abwertungen stattfinden: Sich selbst- westlich-abendländischen Erkenntnis-modell, das regenerierendes Saatgut wird in der modernen auf hierarchischen Trennungsverhältnissen be- Pflan en cht ng als primiti nd als rohes ruht, wonach die Wirklichkeit entlang dualisti- A sgangsmaterial konstr iert, das nicht mehr scher geschlechterkonnotierter Gegensatzpaare aus sich heraus reproduzierbare Hybridsaatgut sortiert wird und eine Herrschaftsmatrix konsti- wird jedoch aufgrund seiner züchtungstechni- tuiert. Das weiblich Konnotierte (wie z.B. auch schen Herstellbarkeit als fortschrittlich oder Natur und alles Naturnahe) wird in dieser Logik erbessert dargestellt. Damit ird eine kreati- abgewertet (vgl. stellvertretend Merchant 1987; ve Natur bzw. werden Orte der schöpferischen Braidotti 2013; Plumwood 1991); Erneuerung in einen passiven Ort verwandelt Subjekt der Moderne, das autonom, rational, (Shiva 1995: 40). Pflanzlicher Samen verliert souverän und unabhängig entworfen ist. Von damit seinen Status als vollständige, sich selbst feministischer und postkolonialer Kritik sind erneuernde Natur (natura naturans), denn die insbesondere jene Prozesse der Identitätsbil- daraus erwachsenden Pflanzen tragen keinen dung problematisiert worden, die Identität über potenziell keimenden Samen mehr. Die Klein- hierarchisierende Aus- und Abgrenzung herstel- bäuer_innen verlieren durch dieses sterile Saat- len.11 Charakteristisch für solche othering-Prozesse gut, die Möglichkeit einen Teil der Ernte als ist, dass im Sinne der dualistischen Herrschafts- Saatgut für die nächste Pflanzsaison zurückzu- logik das nicht zur Identität Gehörige als das halten und geraten in die Abhängigkeit von fremde Andere abgewertet, unterdrückt, verein- Agrarkonzernen. Den Pflanzen selbst wird die nahmt oder verdinglicht wird, was mit Blick auf Möglichkeit zur Vermehrung genommen. Ein Natur deren Vernutzung und destruktive Ex- zentrales Merkmal von lebendiger Natur, sich ploration erleichtert (vgl. Spivak 1988; Plum- aus sich selbst zu erneuern, wird damit zerstört. wood 1991; von Winterfeld 2006); Herkömmliches Saatgut wird so zum bloßen darauf rekurrierenden Wirtschaftsmodell, passiven Rohstoff für die Produktion einer das Natur sowie die soziale Reproduktionsarbeit marktfähigen Ware, dem Hybridsaatgut, abge- als kostenlose und dauerhaft verfügbare Res- wertet. Nur diejenigen natur(re)produktiven sourcen betrachtet, zugleich aber aus der öko- Eigenschaften erfahren sozio-ökonomische nomischen Bewertung ausklammert und die Anerkennung, deren Ausbeutung Profit ver- sozialen und ökologischen Folgekosten zu Las- spricht oder/und für die grenzüberschreitende ten der Allgemeinheit, einzelner Gruppen und Märkte geschaffen werden können. Damit ein- zukünftiger Generationen externalisiert, und das her geht auch eine Nicht-Anerkennung und mit seinem Fokus auf Gewinnmaximierung, Entwertung all der naturnahen Arbeiten und Verwertung und Leistungsoptimierung alles derjenigen, die sich bisher um das Saatgut ge- nicht Zweckdienliche ausschließt (vgl. stellver- kümmert haben und das sind mehrheitlich tretend Biesecker/Hofmeister 2006). Frauen (vgl. Katz et al. 2004; Inhetveen 2004; Die vielfältigen Folgen der dualistischen Katz/Mölders 2013). Die Arbeitsbereiche züch- herrschaftsförmigen Trennungsmatrix für die tungstechnischer Innovationen sind hingegen gesellschaftlichen Naturverhältnisse sind von stark männerdominiert bzw. kulturell männlich feministischer Seite an den unterschiedlichsten assoziiert. Beispielen gezeigt worden. So kritisierte Vanda- Neben der gerade beschriebenen Dualis- na Shiva bereits 1995, dass im Kontext der muskritik bildet die Subjektkritik für uns einen entscheidenden Ausgangspunkt für eine Neu- ausrichtung von Konzepten, zentralen Begriffen 11 Ebenso kritisiert wurde (und wird) die Vorstellung von Identität als abgeschlossene Entität (vgl. z.B. und Praktiken sozial-ökologischer Transforma- Butler 1991; Bhabha 2000). Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 13
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s tion. Die feministische Kritik am Entwurf des Was bedeutet diese Kritik nun mit Blick auf Subjekts ist vielfältig. Sie bezieht sich zum einen die Frage nach einer Gestaltung von gesell- auf Aspekte, die mit einer Herausbildung zu schaftlichen Naturverhältnissen und für eine Beginn der Moderne zusammenhängen, und politisch-ökologische Theorie von Care? insbesondere seine epistemologische Verfasst- 1) Zunächst ist davon die Frage berührt, wie heit, die darauf fußenden Identitäts- Natur konzeptualisiert wird als Subjekt oder konstruktionen sowie den Anspruch einer exis- als Objekt und welche Folgen damit für Care tierenden intersubjektiven und adressierbaren als Haltung und Praxis verbunden sind. Bei- Identität betreffen (vgl. Plumwood 1991; spielsweise prägt die Vorstellung von Natur als Braidotti 2013). Die Kritik bezieht sich jedoch einer wilden, gewaltigen unberechenbaren, zum anderen auf eine postmoderne Position, gleichermaßen jedoch fürsorglichen, ernähren- die sowohl die Existenz eines erkennenden Sub- den bzw. potenten, mitgestaltenden, dem Men- jekts ablehnt, als auch die eines Subjekts, das schen quasi wesenhaft gegenübergestellten Sub- praktische (z.B. moralische) Ansprüche stellt. jektnatur die Gesellschafts-Natur-Beziehungen Während im letztgenannten Fall das Subjekt auf andere Art und Weise, als Verständnisse (wie auch das Objekt) im Diskurs verschwindet, von Natur als ein funktionales organismenloses versteht die erstgenannte Konzeptualisierung Energie- und Stoffflusssystem (z.B. als CO2- den Menschen als frei und unabhängig. Von Senke, Luftfilter, Ressourcenlager) bzw. als seinem Willen und seiner Vernunft hängen auch Nutz- oder Optimierungsobjekt, das von außen alle Nichtmenschen ab. Diese werden damit zu kontrolliert und gesteuert werden muss (vgl. Objekten, mit deren Hilfe das menschliche Sub- Katz/Winterfeld 2006). Natur als verdinglichtes jekt seine praktischen Ziele zu erreichen ver- Funktionssystem, wie sie in den Schutz- sucht. Aus feministischer Sicht ist jedoch auch /Nutzungsdebatten und in vielen naturwissen- das unkritische Pochen auf Differenz und das schaftsbasierten Diskussionen zu Nachhaltigkeit reflexhafte Anerkennen jedweder Andersartig- aufscheint, trägt zudem die Gefahr der unzuläs- keit mit großer Vorsicht zu genießen. Nancy sigen Reduzierung in sich mit weitreichenden Fraser (1996: 206f.) hat bereits Ende der 2000er Konsequenzen für die gesellschaftlichen Natur- Jahre dazu aufgerufen, differenziert zu untersu- verhältnisse: Gemessen in Substanz- und Ener- chen, welche Identitätsansprüche in der Vertei- gieflüssen, reduziert auf den Funktionserhalt digung sozialer Beziehungen der Ungleichheit sowie auf Informationen, bei denen Struktur- und Herrschaft zum Ausdruck kommen und und Qualitätsmerkmale an Bedeutung verlieren, welche für bzw. gegen eine Demokratisierung wird Natur ort-, arten- und körperlos (vgl. arbeiten. Denn Subjekt-positionen und die da- Jungkeit et al. 2002). Dies erleichtert es, sie einer mit verknüpften Identitäten sind immer das allumfassenden Kontrolle zu unterstellen im Produkt von Herrschafts-beziehungen, d.h. sie Dienst einer absoluten Verwertungslogik. Denn werden von gesellschaftspolitischen Machtkons- mit dem Schutz dieser Funktionen rückt auch tellationen konstituiert.12 alles, was potenziell ökonomisch nutzbar ge- macht werden kann, in den Vordergrund des Schutzinteresses (z.B. die Hotspots der Bio- 12 Feministische Subjektkritik steht damit in einem diversität, die geographisch vor allem rund um nahezu unauflöslichen Spannungsverhältnis von Dif- den Äquator verteilt sind). Care wird in dieser ferenzbezug einerseits und dessen (vollständiger) Lesart von Natur zu einer Schutzpraxis, die Auflösung andererseits (vgl. u.a. Cornell 1991; Baer 2013: 55): Die Forderung nach gleichwertiger Aner- dringend erforderlich ist, um in fürsorglicher kennung und Teilhabe bedient sich des Bezugs auf Manier die Hand über eine ausgebeutete Ob- eine Gruppe und den Verweis auf ein geteiltes (Dis- jektnatur zu halten, d.h. bestimmte, als schüt- kriminierungs-)Schicksal und gemeinsame Merkmale. Zugleich geht es jedoch genau darum, solcherart Re- zenswert festgelegte Zustände von Natur zu duktion zu vermeiden. 14 Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2019, Volume 1
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s konservieren. Ein solches auf Zustands-, Arten- (Steinen, Viren, Gewässern?) ist jedoch unklar bzw. Objektschutz bezogenes Verständnis von und wird kontrovers diskutiert und behandelt Care wird von einigen feministischen For- (vgl. Weber 2007). scher_innen äußerst kritisch betrachtet, da 2) Zweitens gehen allerdings mit der feminis- dadurch sowohl die Schutz-Nutzen-Dichotomie als tischen Kritik am Subjektentwurf der Moderne auch der herrschaftliche Umgang mit Natur/en nicht die Adressat_innen der politischen Naturgestal- nur nicht überwunden, sondern womöglich sogar manifes- tung und diejenigen verloren, die Care als Hal- tiert (Hofmeister/Mölders 2017: 66) werde. tung und Handlungspraxis betreiben: Wer kann Allerdings wird hier eine Konstruktion von als handelndes und verantwortliches Subjekt Natur als unabhängig vom Menschen zugrunde bestimmt, adressiert und kritisiert werden, wenn gelegt und damit von vornherein die dualisti- das Subjekt grundsätzlich als fluide und kontin- sche Trennung zwischen Natur-Kultur weiter gent gilt? Wie können dann Unterschiede jen- aufrechterhalten. Die genannte Problematisie- seits kategorialer Zu- oder gar Festschreibungen rung entspricht auch einem Konzept von Care, beschrieben werden? Und wie sieht dann ein das die Asymmetrie der Beziehungen zum Aus- kollekti es, politikrele antes Wir a s? Das gangspunkt der Kritik macht, und mit der Kon- sind Fragen, die bereits herausforderungsreich zeption von Care-Taker und Care-Giver ebenfalls sind, wenn man lediglich an den Menschen und stets dualistisch angelegt ist (vgl. ebd.: 69ff.) und seine sozialen Interaktionen denkt. Die Kom- Interdependenzen ausblendet. plexität und Schwierigkeiten vergrößern sich Natur in der Vorstellung als wildes eigen- jedoch um ein Vielfaches, bezieht man die ständiges, selbstregenerierbares potentes Sub- nicht-menschlichen Welten in diese Überlegun- jekt, mit dem wir Menschen unabdingbar (weil gen ein. In den nachfolgenden Absätzen setzen relational entworfen) verwoben sind, hat völlig wir uns etwas genauer damit auseinander. andere Bezugspunkte zu Care. Fürsorge meint hier, für Bedingungen zu sorgen, Verhältnisse zu schaffen bzw. zu erhalten, die es ermögli- 3.2 Ansätze und Bezüge aus der chen, dass auch bestimmte nicht-menschliche Forschung um Natur und Care Bereiche sich selber berlassen bleiben, sein und sich ohne Einmischung und Steuerung von Unsere wissenschaftliche Analyse muss relational sein, indem sie die Verhältnisse an einem Ort der Welt mit außen entwickeln können. Es ist bezogen auf denen an anderen Orten zusammendenkt. Und ebenso Naturschutz das, was wir unter Wildnis verste- relational muss unsere politische Aktion sein, indem sie hen, es sind aber auch wirtschaftsorientierte das Handeln der Akteure an einem Ort der Welt mit Praktiken angesprochen, die einen prozessorien- dem von Akteuren an anderen Orten zusammenbringt. tierten Ansatz (ökologische Waldwirtschaft, vgl. Anderes Denken und anderes Handeln entstehen nicht Sturm 1993) oder ein solidarisches Wirtschaften aus sich selbst heraus, sondern nur aus dem Austausch mit einem Caring with Natures-Ansatz (biologi- und in der Auseinandersetzung mit dem Denken und sche Landwirtschaft, artgerechte Tierhaltung, Handeln anderer (Lessenich 2018: 7). vgl. Well/Gradwell 2001; Curry 2002; Puig de la Ausgehend von der Kritik an der androzentri- Bellacasa 2017: 169ff.) verfolgen. Die Anerken- schen Trennungsmatrix der Moderne mit ihrer nung von Naturen als (relationales) Subjekt Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft, beinhaltet stets auch das Akzeptieren von von Subjekt und Objekt gab (und gibt) es etli- Nichtwissen bzw. die Grenzen der Erkennbar- che Anstrengungen, die dualistische Ordnung keit und des Verstehens des subjekthaften Ge- zu überwinden und Brücken zwischen den als genübers. Welchen Naturen Subjektstatus zuer- Gegensatzpaare entworfenen Kategorien herzu- kannt werden kann/soll (Pflanzen, Tieren, aber stellen: Beispielsweise haben vor mehr als 25 auch Bakterien? Pilzen?) und welchen nicht Jahren Ökofeministinnen wie Val Plumwood (1991) mit dem auf Gilligans Ethics of Care Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 15
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s (Gilligan 1982) fußenden Konzept des Self-in- politisch-ökologischen Theorie zu Care und Relationship eine Alternative entworfen, in der ihren Schlüsselbegriffen, auf die wir im Folgen- die Verbindung zwischen allem, was organisch den etwas genauer eingehen, bauen auf diesen und anorganisch mit Leben zusammenhängt, in auf. den Mittelpunkt rückt. Die Idee der relationa- len, interdependenten Verbundenheit aller We- sen und aller Naturen findet sich auch in den 4. Schlüsselbegriffe und konzepti- Philosophien und Traditionen zahlreicher Kul- onelle Eckpfeiler einer poli- turen außerhalb der westlichen Welt (vgl. z.B. Shiva 1989). Sowohl in Ecuador als auch in tisch-ökologischen Theorie von Bolivien hat die Natur den Status eines Rechts- Care subjekts erlangt durch die Aufnahme indigener Kein Gemeinsames ist möglich, sofern wir uns nicht Konzepte wie dem Buen Vivir (dem guten Le- weigern, unser Leben und unsere Reproduktion auf dem ben für alle im Einklang mit der Natur). In ex- Leid anderer zu gründen und uns als von ihnen getrennt pliziter Auseinandersetzung mit dem Naturbe- wahrzunehmen (Federici 2012: 100). griff des abendländischen Rationalismus wird damit ein anderes Verständnis von Natur in die Politik eingebracht (vgl. z.B. Acosta 2009; 4.1 Ontologische Relationalität Gudynas 2009). Neuere und vielfältige Arbeiten als Dreh- und Angelpunkt von sog. Posthumanist_innen (vgl. z.B. Braidot- Unserer Argumentation für eine politisch- ti 2013; Haraway 2016; Puig de la Bellacasa ökologische Theorie von Care liegt ein relationa- 2017) befassen sich mit einer anderen philoso- ler Subjektbegriff zugrunde, der mit dem Wis- phischen Genealogie einer Genealogie, die sen um die Verletzlichkeit aller Daseinsformen die Beziehungen von Menschen zur Natur […] be- und -zustände die verschiedenen Formen des rücksichtigt, ohne den Menschen selbst ins Zentrum zu Angewiesenseins berücksichtigt, sie aber gleich- rücken (Janicka 2017: 22; vgl. auch Chimaira zeitig als eingebettet in und strukturiert durch gesell- 2011; Donaldson/Kymlicka 2011; Koechlin/ schaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse betrach- Battaglia 2012; Sezgin 2016; Irigaray/Marder tet (Conradi 2016: 85). 2016). Auch in den Naturwissenschaften (Bio- logie, Medizin, Quantenphysik) werden seit Relationships are not something extrinsic to who we are, not an add on feature of human nature; they play etlichen Jahren Ansätze diskutiert, die von einer an essential role in shaping what it is to be human umfassenden Verbindung der Lebenselemente (Warren 1990: 143, zit. n. Plumwood 1991: 20). ausgehen. Die Grundlage des stofflichen Le- Ontologische Relationalität den Ausdruck bens wird nicht in mikroskopisch kleinster Sub- übernehmen wir von Rosi Braidotti 2013 be- stanz gesehen, sondern als dynamisch, im dau- deutet: Die Vorstellung vom Menschen und der ernden Wandel begriffen (vgl. Feyerabend 2009; Natur als in sich geschlossene, voneinander Dürr 2011). Neomaterialistinnen wie Karen abgetrennte Entitäten ist eine Illusion. Erkennt- Barad (2017) nehmen Abstand von der Idee nisse aus der Quantenphysik (Bohr, Dürr), phi- abgeschlossener Entitäten und betonen statt- losophische (Feyerabend, Butler, Warren, A. dessen die Relationalität der unentrinnbar mit- Weber, Plumwood, Barad) und psychologische einander verwobenen materiell-diskursiven Ansätze (Gilligan) legen nahe, dass wir sowohl Phänomene. Auch der Biologe und Philosoph als Menschen untereinander, aber auch mit der Andreas Weber (2016) liefert mit seinem Kon- nicht-menschlichen organischen und anorgani- zept Enlivenment Bausteine für ein Theoriemo- schen Natur unausweichlich verbunden, radikal dell lebendiger Beziehungen jenseits toter Mate- relational sind. Das heißt jedoch nicht, dass rie der Moderne. Unsere Überlegungen zu einer damit zugleich Unterschiede zwischen den rela- 16 Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2019, Volume 1
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s tionalen Daseinsformen und -zuständen geleug- als eine deskriptive oder historische Tatsache unserer net werden. Wir sind selbstverständlich mit mit Formierung, sondern auch als eine dauerhaft normative uns zusammenlebenden Menschen physisch, Dimension, in der wir gezwungen sind, uns über unsere psychisch, emotional und geistig anders verwo- wechselseitigen Abhängigkeiten klarzuwerden (Butler ben als mit räumlich weit entfernten, uns nicht 2012: 44; Herv. DG./C.K.). bekannten, mit Haustieren mehr, als mit den in Ontologische Relationalität anzuerkennen, be- völlig anderen Gefilden vorkommenden Wild- deutet, sich der damit einhergehenden Interde- tieren. Und es gibt nicht-menschliche Welten, pendenzen, des aufeinander Angewiesenseins die wir meiden, ablehnen oder sogar bekämp- und der grundsätzlichen Verletzlichkeit allen fen, wie beispielsweise Bakterien oder Insekten, Daseins deutlich bewusst zu werden. Es bedeu- die lebensbedrohliche Krankheiten übertragen. tet, Caring für sich und andere als essentialisti- Die Qualität der Relationalität ist von vielerlei sche Notwendigkeit zu begreifen, als etwas, das Faktoren abhängig, u.a. von der Betrach- wir alle lebensphasenabhängig und unterschied- ter_innen-Perspektive (wer beurteilt aus welcher lich intensiv ausüben aber auch annehmen müs- Perspektive das Verhältnis), von Vertrautheit, sen. vom Grad des Angewiesenseins, von der be- Neben das relationale Sein tritt damit auch wussten Reflexion von Relationalität als Tatsa- ein Sollen, eine dauerhaft normative Dimension , che, vom Wissen über die Interdependenzen wie Butler es nennt, das einer entsprechenden und nicht zuletzt von den gesellschaftlichen ethischen Rahmung für die Praxis bedarf. Diese Machtverhältnissen. Denn eine relationale Sub- Praxis des Sich-bewusst-Werdens und In- jekt-konzeptualisierung bedeutet nicht Macht- Beziehung-Setzens zu den eigenen Bedürfnissen freiheit. und Gefühlen und zu anderen Menschen aber Der Ansatz einer radikalen ontologischen auch zu nicht-menschlichen Welten muss Subjektrelationalität sprengt also zwar das dua- geübt und reflektiert werden. Die Frage, wie listische Subjekt-Objekt-Trennungs-verhältnis. sichergestellt werden kann, dass Caring-Prozesse Er zeigt uns jedoch nicht, wie wir diese Relatio- von allen Beteiligten als befriedigend erlebt nalitäten gestalten sollen oder wie wir mit den werden, bleibt daher zentral (vgl. Conradi 2016: dabei auftretenden Widersprüchen und Ambi- 85f.). valenzen umgehen können oder sollten, wie wir Wie kann man nun aber gesellschaftliche das Ideal der Autonomie als änderungs- bzw. Naturverhältnisse und diesbezüglich Politik ergänzungs-bedürftig kritisieren können, ohne gestalten (z.B. auch Herrschaftskritik üben), es vollends aufzugeben. Bereits an anderer Stelle wenn das adressierbare Subjekt bzw. Gestal- (vgl. Gottschlich/Katz 2018) haben wir in die- tungsobjekt so nicht mehr abgrenzbar ist, son- sem Zusammenhang auf Judith Butler verwie- dern nur in seiner Relationalität zu anderen oder sen, die fragt: darüber hinausgehend zu nicht- menschlichen Daseinsformen existiert? Bisher Gibt es eine Möglichkeit, wie ich in vielen Bereichen für Autonomie kämpfen, aber auch die Forderungen13 be- laufen die politischen Prozesse und Mechanis- rücksichtigen kann, die uns auferlegt werden, weil wir in men über eine identitätsorientierte Adressierung einer Welt von Wesen leben, die per definitionem phy- von Menschen bzw. von spezifischen sozialen sisch voneinander abhängig sind und wechselseitig phy- Gruppen als handelnde Subjekte oder Kollekti- sisch verletzbar sind? […] Diese Art, sich Gemein- ve. Was bedeutet relationale Subjektivität für schaft vorzustellen, bejaht die Relationalität nicht bloß das Verständnis von Care und Caring with Natu- re/s? Wie können beispielsweise Caring-Prozesse 13 Diese Forderungen beziehen sich auf die Dispo- als befriedigend erlebt werden, wenn Beteiligte niertheit des menschlichen körperlichen Selbst au- sich nicht (mehr) verbal äußern können oder ßerhalb seiner Selbst, d.h. auf das Angewiesensein noch nie konnten? auf Andere aufgrund von Sterblichkeit, Verwundbar- keit und zeitweiliger Handlungsunfähigkeit. Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 17
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s 4.2 Relationale Identitätsbildung, Herausbildung von Identität wirkt fundamental auf diese durch Abgrenzung und Trennung Naturgestaltung und Caring generierte Art der Identitätskonstruktion. Sie Der Vorstellung einer geteilten weiblichen Iden- erfordert demgegenüber eine Orientierung an tität aufgrund gemeinsamer Diskriminierungs- Praktiken, die Unterschiedsbildung als Bestand- und Ungleichheits-erfahrungen als Basis für teil einer einbindenden, kontextabhängigen, politisches Handeln wurde bereits vor mehr als kontingent materiell-diskursiven und ethisch 30 Jahren eine Absage erteilt (vgl. z.B. hooks gerahmten Praxis begreifen, die Kollektivität 1985; Assmann 1998; Johnson Reagon 2000). nicht grundsätzlich in Frage stellen, ohne jedoch Was daraus für die Artikulation gemeinsamer (kategoriale) Differenzen einzuebnen oder zu politischer Forderungen bzw. Kritik folgt, ist bis ignorieren. Mit Blick auf das gesellschaftspoliti- heute einer der strittigsten Diskurse in der fe- sche Handeln ist das noch halbwegs vorstellbar. ministischen (Forschungs- und Bewegungs- Denn dies ist von Pluralität aber auch von Kol- )Szene (vgl. z.B. Hark 2013). Die Kritik an der lektivität bestimmt. Mit Blick auf die Wechsel- Identitätspolitik lässt sich auch auf andere Be- beziehungen15 mit nicht-menschlichen Daseins- reiche übertragen, wie z.B. Immigration oder formen bzw. der Vorstellung ontologischer eben den Umgang mit Natur/en. Dass und wie Relationalität wird es schwieriger. Schwierig wir als Gesellschaft unsere Naturbeziehungen zum einen deswegen, weil die epistemologische gestalten, ist eng verbunden mit einer Identi- Verfasstheit, begriffliche Fassung und Eingren- tätsvorstellung, die auf der Grundlage des oben zung dessen, was und wer dann als handelndes skizzierten und von uns kritisierten modernen Subjekt mit welcher Verantwortung wofür zu Subjektentwurfs fußt. Es stellt sich nun die Fra- bezeichnen ist, kompliziert ist.16 Schwierig aber ge, wie sich Identitätskonstruktionen (als Vo- zum zweiten auch, weil selbst, wenn Natur- raussetzung für politisch adressierbare Gestal- Mensch-Gesellschaftsbeziehungen als interde- ter_innen von gesellschaftlichen Natur- pendent und aufeinander bezogen verstanden beziehungen) auf der Basis einer relationalen werden (vgl. Becker/Jahn 2006), ein solches Subjektkonzeption ändern und was das für Care Verständnis von Natur- und Umweltkontexten als politisch-ökologische Transformationspraxis als durchweg sozial-ökologische Handlungsfel- bedeutet. der nicht notwendigerweise mit einem relationa- Als Ergebnis des oben skizzierten Tren- len Identitätsverständnis einhergehen muss.17 nungsparadigmas wird Identität über eine in Aber was bedeutet es, bei der Betrachtung ge- gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettete sellschaftlicher Naturverhältnisse konsequent Verhältnisbestimmung aus Gemeinsamkeiten von einem relationalen Gestaltungssubjekt aus- und Unterschieden hergestellt, die nie abge- zugehen? schlossen ist.14 Es finden dabei dauernd neue Es bedeutet zunächst sich genau dieser Rela- und andere Grenzziehungen zwischen dem tionalität und des aufeinander Angewiesenseins Eigenen und dem Anderen statt, Grenzziehun- gen, die machtvoll auf der symbolischen, der individuellen und strukturellen Ebene das Zu- 15 Nach Barad (2017) gibt es keine Beziehungen zwi- gehörige vom Nichtzugehörigen trennen und schen abgrenzbaren Entitäten, weil es keine materi- ell-physisch und diskursiv abgrenzbaren Entitäten das gesellschaftlich Anerkannte vom Marginali- gibt. Entsprechend wählt sie dafür den Begriff der sierten scheiden. Eine auf Relationalität fußende Intraaktion. 16 Man denke hier nur an Latours Akteur-Netzwerk- Theorie (Latour 2001) oder Haraways Hybride Na- 14 Lorde (1988) gibt zu bedenken, dass Identität als tureCultures (Haraway 1997). sicherer Ort niemals erreicht werden wird, weil die 17 Der Ansatz des Frankfurter Instituts für Soziale Differenzen, die im Ich herumliegen, die das Ich ausmachen Ökologie (vgl. Becker/Jahn 2006) ist eher dialektisch […] verhindern, dass Identität sich je runden könnte (Hark angelegt. Über erforderliche Subjektpositionen und 2013: 44 bezugnehmend auf Lorde). Identitätskonstruktionen gibt er keine Auskunft. 18 Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2019, Volume 1
Gottschlich und Katz: Caring with Nature/s bewusst zu werden und sich damit die existenti- mit dem Fokus auf solcherart Vernachlässigun- elle Notwendigkeit von Care als Praxis und Hal- gen und Verwerfungen, werden Identitäts- tung zu vergegenwärtigen. Damit verbindet sich kategorien überschritten, und es verbindet sich zum einen ein Fokus auf das durch den Er- damit die Hoffnung auf neue Koalitionen, die kenntnisweg der Moderne Vernachlässigte, sich nicht in allen Fragen des Begehrens, der Überzeu- Ausgeblendete und Abgespaltene und zum an- gungen oder der jeweils eigenen Identität einig sein (müss- deren dessen aktive Berücksichtigung zur Kon- ten) (Butler 2010: 37f.). Es handelt sich dabei struktion von Wirklichkeit und eigener Identität. um Möglichkeiten des kollektiven Handelns, bei Denn die als unvereinbare Gegensätze konstru- denen nicht eine maximale Annäherung aller ierten Verhältnisse sind grundsätzlich und un- Teilnehmer_innen Voraussetzung ist, sondern auflösbar miteinander verwoben: Das Andere um Bündnisse, die die Gegensätze ihrer Mit- mit dem Eigenen, das Objekt mit dem Subjekt, glieder produktiv und als belebend integrieren. das Reproduktive mit dem Produktiven, das Hark (2013: 42), die sich auf Johnson Reagon Emotionale mit dem Rationalen. (2000) beruft, sieht solcherart Allianzen als ein- Welche Konsequenzen sich daraus für die zige Alternativen für das Überleben . Es gehe nicht politische Gestaltung gesellschaftlicher Natur- um Komfort, Selbst-Bestätigung, Heimat und die verhältnisse ergeben, ist noch weitgehend unbe- Stabilisierung von Identität sondern, um harte arbeitet. Eine wesentliche Konsequenz er- Arbeit, [die beinhaltet] von anderen in Frage gestellt scheint uns, das jeweils Ausgegrenzte und Ab- [zu] werden und sich dennoch um diese anderen [zu] gespaltene aus der eigenen Identitätsposition in sorgen (ebd.). In diesen Koalitionen kommt es Zusammenhang mit sozial-ökologischen Wech- darauf an, das Unerwartete in die Welt zu brin- selwirkungen sei es bezogen auf Wirtschaftli- gen. Denn dabei wird etwas hervorgebracht, das ches, Politisches oder Wissenschaftliches be- vorher nicht existierte und auf einer relationa- wusst mit einzubeziehen und im praktischen len, kontingenten und der jeweils anderen über- Handeln berücksichtigen zu lernen. Dafür müs- eigneten Identität beruht als das jederzeit an- sen Räume geschaffen und bestehende Struktu- fechtbare Ergebnis von Politik (ebd.: 43). ren umgebaut bzw. neue geschaffen werden. In einem solchen Verständnis von Allianzen Die bereits erwähnten Care-Ansätze in den Be- hätten auch nicht-menschliche Welten Platz. reichen solidarische Landwirtschaft und ökolo- Kollektiv zu handeln, würde dann nicht bedeu- gische Waldwirtschaft (vgl. Well/Gradwell ten, bereits bestehende Differenzen zu reprodu- 2001; Curry 2002; Puig de la Bellacasa 2017; zieren, sondern jene Differenzen, von denen wir noch Sturm 1993; Katz 2016) sind noch nicht als nichts wissen, ins Leben zu heben (ebd.). Möglichkeitsräume für ein bewusstes Einüben, Was dies dann für die Frage nach der Ver- sich als relationales Subjekt zu begreifen, analy- antwortung des Handelns bedeutet und welche siert worden. konkreten Transformationsstrategien für die Statt auf eine Politik der (geteilten und damit Praxis sich daraus ableiten ließen, müsste weiter von anderen abgegrenzten) Identität bzw. da- untersucht werden. Hier sehen wir vielfältigen rauf bezugnehmender Interessen, Ansprüche Forschungsbedarf. und Haltungen zu rekurrieren, halten wir es mit Allerdings werden auch relationale Identitä- Blick auf die politische Gestaltung gesellschaft- ten weiterhin widersprüchlich sein, denn sie licher Naturverhältnisse für zielführender, die sind ebenfalls in Machtverhältnisse eingebun- differenziell verteilte Verletzlichkeit und deren Nicht- den. Nach Gayatri Spivak (1988: 283) existiert wahrnehmung (Hark 2013: 41), zum Ausgangs- keine Möglichkeit, Identitätsansprüche und - punkt feministischer Interventionen zu machen differenzen jenseits von gesellschaftlicher Herr- und dies für eine nachhaltigkeitsorientierte schaftsordnung zu entwickeln, da jede Identi- Transformation produktiv einzusetzen. Denn tätskonstruktion als Ausgangspunkt einer politi- Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 19
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