Christine Schindler Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres

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www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien
2021 (= Jahrbuch 2021)

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   Christine Schindler
   Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres
   Das Dokumentationsarchiv des
   österreichischen Widerstandes 2020

   Das DÖW ist Bibliothek und Archiv, Museum, Forschungsstätte und Bera-
   tungsstelle, Erinnerungs- und Begegnungsort. Kontinuierlich steigen die Zah-
   len an Besuchen, Führungen, Praktika, Anfragen und Beratungen. Dieser Trend
   setzte sich auch Anfang 2020 fort, bis er mit dem ersten Lockdown zur Eindäm-
   mung der Corona-Pandemie ab Mitte März 2020 jäh einbrach. Der Lockdown
   war – nach vereinzelten Regelungen und Aufrufen an die Bevölkerung zur Mi-
   nimierung sozialer Kontakte schon ein paar Tage zuvor – das erste umfassende
   und einschneidende Maßnahmenpaket der österreichischen Bundesregierung
   zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Es folgten laufende Adaptierungen,

       Monatelang erinnerten Kerzen an die Opfer des Terroranschlags
       in der Wiener Innenstadt Anfang November 2020.
       Minas Ramadan
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   Lockerungen insbesondere in den Sommer- und frühen Herbstmonaten, Ver-
   schärfungen, Regelungen, die sowohl den öffentlichen als auch den privaten
   Bereich betrafen – mit stetem Blick auf die Verordnungen der Bundesregierung
   und der Wiener Stadtregierung manövrierte das DÖW pragmatisch und konse-
   quent durch die Pandemie.

   Bei einer Bilanz des Jahres 2020 muss der Toten gedacht werden, die trotz
   all dieser Bemühungen und Maßnahmen an Covid-19 gestorben sind. Erinnert
   werden auch die Toten des Terroranschlags im Herzen von Wien. Am Vorabend
   des Herbstlockdowns fand am 2. November 2020 der Anschlag des islamisti-
   schen Extremisten statt, der vier Menschen ermordete und zwei Dutzend ver-
   letzte, bis er selbst von der Polizei getötet wurde. Das DÖW liegt in dem Ge-
   biet, das in etwa der Aktionsradius des Täters war. Zu dieser Uhrzeit und dank
   der verschärften Dienstregeln hielten sich nur wenige DÖW-MitarbeiterInnen
   im Gefahrenbereich auf, die wiederum fliehen konnten bzw. im Verlauf der
   Nacht aus verschiedenen Örtlichkeiten evakuiert wurden. Am Tag darauf war
   das DÖW wie die gesamte Wiener Innenstadt aus Sicherheitsgründen abgerie-
   gelt. Lange erinnerten Kerzen und Blumen an den nahen Tatorten an die Opfer
   des Anschlags, mittlerweile ist ein Gedenkstein am Desider-Friedmann-Platz
   errichtet.

   In den Lockdown-Phasen waren die Ausstellungen des DÖW geschlossen, der
   Benutzerbetrieb wurde auf virtuelle Servicierung umgestellt. In den Monaten
   der Lockerungen im Sommer und Herbst 2020 wurden strenge Regelungen für
   den Ausstellungsbetrieb, Veranstaltungen und die Tätigkeiten vor Ort erlassen.
   Hilf­reich waren die regelmäßigen Informationsschreiben des Museumsbundes
   Österreich, der die relevanten Inhalte der einzelnen Verordnungen für Museen
   extrahierte, kommentierte und zeitnah zuschickte. Auch das Angebot des Ro-
   ten Kreuzes zur Schulung von Covid-Beauftragten, die die Autorin absolvierte,
   wurde genutzt. Christine Schindler erstellte ab Mitte März jeweils angepasste
   Konzepte zur Umsetzung der erforderlichen Schutzmaßnahmen, die dennoch
   den Betrieb des Hauses gewährleisteten.
       Ausgeklügelte Diensträder mit kleinen, festen Teams, Homeoffice, virtu-
   elle Sit­zungen, Sitzpläne, Hygienemaßnahmen, erweiterte Serviceangebote,
   Um­struk­turierung und Umstellung von Arbeiten u. v. a. m. sicherten 2020 die
   Voll­aus­lastung des Hauses bei gleichzeitiger Reduzierung der Risiken. Nicht
   aufgefangen werden konnten die BesucherInnenzahlen in den Ausstellungen
   des DÖW. Mangels TouristInnen und Schulklassen schlugen sich die Beschrän-
   kungen in den Besuchszahlen nieder. Die Gedenkstätte Steinhof auf dem Areal
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   der Klinik Penzing ist – auf Spitalsgelände gelegen – seit Mitte März 2020 und
   bis auf Weiteres geschlossen.
         Die Beratung von Interessierten aber war das ganze Jahr hindurch möglich
   bzw. wurde ermöglicht, ob dies nun in den Monaten der Lockerungen persön-
   lich oder in den Lockdown-Phasen, aber auch in den Monaten beschränkter
   Benutzungsmöglichkeiten hindurch virtuell – telefonisch, per Mail und per
   Zoom oder Skype – erfolgte. Das DÖW intensivierte umgehend sein Ange-
   bot, sodass die MitarbeiterInnen für die Anfragenden Material recherchierten,
   scannten und kostenlos übermittelten, soweit das rechtlich und umfangmäßig
   möglich war. Während der Lockerungen, wenn BenutzerInnen unter Auflagen
   im Haus recherchieren durften, wurden hausinterne Regelungen beispielsweise
   in der Maximalaktenzahl aufgehoben, um die BenutzerInnen bestmöglich zu
   unterstützen.
         Ein großer Erfolg war im ersten und zweiten Lockdown die Gratisbuch­
   aktion des DÖW, die auch viele SchülerInnen und Jugendliche nutzten, aber
   auch viele alte Menschen, die das Haus nicht verlassen konnten. Das DÖW ver-
   schickte die Erinnerungen von Josef Eisinger, dessen ungebrochener Lebens-
   mut die Menschen in der Unsicherheit der Beschränkungen bestärken sollte.
   Überraschend war das mediale Echo und große Interesse, das dem gedruckten
   Buch nach schon so wenigen Wochen verstärkt virtueller Angebote entgegen-
   gebracht wurde.
         Niemand von den MitarbeiterInnen hat bislang eine positive Corona-Dia­
   gnose erhalten. Sowohl die BenutzerInnen als auch die MitarbeiterInnen haben
   sich vorbildlich an die jeweiligen Vorschriften gehalten.
         Trotz der Corona-Pandemie konnten 2020 17 Junior Fellows – 10 junge
   Frauen und 7 junge Männer aus Österreich und Deutschland – im DÖW ein
   Prak­tikum absolvieren. 12 davon brauchten es für ihre Ausbildung, 2 kamen
   im Rahmen einer AMS-Maßnahme, 1 Person absolvierte das Praktikum aus
   persönlichem Engagement. Sie wurden im Archiv, in der Bibliothek, bei Pro-
   jekten oder im EDV-Bereich eingesetzt. 6 junge Männer leisten jährlich ihren
   Zivildienst im DÖW ab. 2020 wurden abrüstende Zivildiener im Gesundheits-
   bereich eingesetzt, ihre Dienstzeit um 3 Monate verlängert.
         15 ältere Menschen, teils Angehörige von Verfolgten, sind hier nach ihrer
   Berufslaufbahn ehrenamtlich tätig. Die ehrenamtliche Tätigkeit musste ab
   März 2020 fast gänzlich eingestellt werden, nur wenige KollegInnen konnten
   in den Sommermonaten und im Frühherbst ihre engagierte Tätigkeit für das
   DÖW ausüben.
         Derzeit 20 Angestellte – WissenschafterInnen, administratives Personal,
   Pro­­jektmitarbeiterInnen – arbeiten in unterschiedlichem Beschäftigungsaus-
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   maß und -verhältnis. Die hauptamtlichen KollegInnen, die vielfach in For­
   schun­gen und Publikationen eingebunden sind, konnten unkompliziert ver-
   stärkt in Home­officetage wechseln. Auch die administrativen Arbeiten waren
   rasch umgestellt, die Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen der Stadt und
   des Bundes gestaltete sich von Anfang an unbürokratisch und effizient.
       Für die Zivildienstleistenden und die AusstellungsbegleiterInnen des DÖW
   wurden teilweise Erfassungsarbeiten und andere alternative Aufgaben gefun-
   den. Insbesondere die Digitalisierung der Bestände wurde 2020 weiter voran-
   gebracht.
       Temporärer Arbeitsplatz war das DÖW für diejenigen, die persönlich im
   Archiv nach Angehörigen forschten oder für schulische, wissenschaftliche,
   jour­nalistische Arbeiten recherchierten. Trotz Corona verzeichnete das DÖW
   2020 knapp 700 Recherche-Besuche von Personen, die das Archiv und die
   Bibliothek des DÖW im Rahmen individueller Beratung und Projektbespre-
   chungen frequentierten. Das ist nicht ganz die Halbierung persönlicher Anwe-
   senheiten, die aus der Schließung in den Lockdowns und den Abstandsregeln
   in den Phasen der Lockerungen resultierte. Allerdings konnte die BenutzerIn-
   nenbetreuung verstärkt ins Virtuelle verlegt werden, sodass in diesem Bereich
   weniger Abstriche zu machen waren, rechnet man die über 5.000 telefonischen
   und schriftlichen Anfragen und die intensivierte Servicierung hinzu. Nahezu
   alle MitarbeiterInnen sind mit Anfragen befasst. Das DÖW-Archiv war 2020
   155 Tage planmäßig geöffnet, also in etwa drei Viertel der normalen Öffnungs-
   tage.

   Das DÖW betreibt selbst grundlegende Forschungen zur Geschichte des Natio-
   nalsozialismus, seiner Vorgeschichte und seinen Nachwirkungen und ist gleich-
   zeitig mit Archiv, Bibliothek und Expertise hoch frequentierte Beratungsstätte
   für Forschende und zeitgeschichtlich Interessierte. All diese Arbeiten wären
   ohne Gegenwartsbezug von wenig aktueller Relevanz. Jeglichen antidemokra-
   tischen Anfängen zu wehren ist in den Statuten des DÖW, das von der Repu-
   blik Österreich und der Stadt Wien getragen wird, festgeschrieben. Totalitäre,
   rassistische, antisemitische, rechtsextreme, neonazistische und islamistische
   Ideologien und Bewegungen jeglicher Provenienz zu erkennen und konkret zu
   benennen, ist daher ein wesentlicher Aufgabenbereich des DÖW. Das Über-
   einkommen der österreichischen Bundesregierung Aus Verantwortung für Ös-
   terreich. Regierungsprogramm 2020–2024 beinhaltet eine Stärkung des DÖW.
   Das Dokumentationsarchiv benötigt materielle Unterstützung vor allem bei
   Infrastruktur und Räumlichkeiten und personell insbesondere bei Ausweitung
   der Aufgaben.
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   Trotz der schwierigen und außergewöhnlichen Umstände war 2020 für das
   DÖW wieder ein außerordentlich arbeitsintensives Jahr. Gerade die hauseige­
   nen Forschungsprojekte konnten grundsätzlich planmäßig vorangebracht wer-
   den. Das Projektmanagement des DÖW liegt in den Händen von Christine
   Schindler; die ordnungsgemäße Finanzgebarung des Hauses gewährleisten
   Judith Prem, Minas Ramadan und Halbwachs Schmitt & Partner Steuerbera-
   tung GmbH sowie die Aufsichtsgremien des DÖW.
       Die nachfolgend vorgestellten – ausgewählten – Tätigkeiten sollen einen
   Einblick in die Vielfalt und Dynamik der institutionellen Arbeiten und Auf-
   gaben geben. Mehr Informationen zu den Themen des DÖW und zum Institut
   selbst finden sich auf www.doew.at.

   Forschungsschwerpunkte und -projekte

           Österreich 1933–1938: Februarkämpfe 1934, Widerstand und Verfol-
            gung, Opfer von terroristischen Anschlägen der NSDAP
           Widerstand und politische Repression (aller politischen Lager und jeder
            Motivation)
           Namentliche Erfassung der österreichischen Opfer politischer Verfol-
            gung 1938–1945
           NS-Justiz
           Verfolgungs- und Vernichtungspolitik
           Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, als „asozial“ Stigmatisierte,
            Homo­sexuelle, Kärntner SlowenInnen u. a.
           Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer
           Flucht, Vertreibung und Exil 1933–1938, 1938–1945 und Auswirkun-
            gen nach 1945
           Medizin, Biopolitik, Euthanasieverbrechen sowie Medizin und Holo­
            caust
           Restitution und Entschädigung der NS-Opfer
           Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik
           Entnazifizierung und Nachkriegsjustiz in Österreich und im internatio-
            nalen Kontext (Transitional Justice)
           Rechtsextremismus, Neonazismus, Antisemitismus, Rassismus nach
            1945

   Wesentlich in der Holocaustforschung wie in der Widerstands­forschung
   des DÖW ist die laufende Aktualisierung der Datenbanken, die auch auf
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   www.doew.at die Opfer des NS-Regimes auflisten, ihnen einen Namen geben
   und Grundlage aller größeren Gedenkinitiativen und Projekte zu den österreichi-
   schen Opfern sind. Forschenden bieten sie eine einfache Recherche- und Über-
   prüfungsmöglichkeit.

         Fritz Feiler wurde mit neun Jahren nach Auschwitz deportiert und ermordet.
         Screenshot https://www.memento.wien

   2020 stellte das DÖW Daten für die Neugestaltung der Österreich-Ausstellung
   in Auschwitz bei. 2020/21 wurden die Daten für die Shoah-Namens­mauern-
   Gedenkstätte in Wien vom DÖW – Wolfgang Schellenbacher und Gerhard
   Ungar – bearbeitet und bereitgestellt. Die Gedenkmauer soll die Namen aller in
   der NS-Zeit ermordeten Jüdinnen und Juden aus Österreich auflisten. Der 1930
   in Wien geborene und nach dem „Anschluss“ geflohene österreichisch-kanadi-
   sche Künstler Kurt Tutter initiierte das Denkmal und setzte sich viele Jahre für
   seine Umsetzung ein. 2018 beschloss die österreichische Regierung die Finan-
   zierung und Errichtung des Mahnmals. In Zusammenarbeit mit der Stadt Wien
   wird das Denkmal im Ostarrichipark im 9. Wiener Gemeindebezirk realisiert.
   Auf Anregung von Gerhard Baumgartner wurde im Sommer 2020 noch einmal
   öffentlich zur Überprüfung der Namen für die geplante Shoah-Namens­mauern-
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   Gedenkstätte in Wien aufgerufen. Hunderte Menschen sind diesem Aufruf ge-
   folgt, sodass Schellenbacher und Ungar die umfassende Shoah-Datenbank des
   DÖW ergänzen konnten. DÖW-Leiter Baumgartner übergab die aktualisierte
   Datenbank am 17. September an Bundesministerin Karoline Edtstadler. Die
   nach dem Stichtag einlangenden bzw. in der Folge noch erforschten Opfer­
   namen werden auf einer weiteren Stele der Gedenkstätte verewigt werden.

   Die Erfassung von Massendaten ist eine langwierige und komplexe Aufgabe
   der Grundlagenforschung, der sich das DÖW bereits seit Jahrzehnten widmet.
   Die Herausforderungen der Datenerfassung, des Datenabgleichs, der Katego-
   risierung, Aufnahme, Schreibweise, Identifizierung u. v. a. m. werden oftmals
   unterschätzt. Dabei sind folgende Parameter zu beachten und in Abertausenden
   Einzelfällen zu analysieren:
        Wie können die auf Dokumenten basierten Informationen mit den familien-
   geschichtlichen Erinnerungen verknüpft werden?
        Auf welche unterschiedlichen Daten kann bei dieser Arbeit zurückgegriffen
   und wie können diese verbunden werden?
        Welche Namen – Geburtsnamen, Aliasnamen, Namen von Verheirateten
   und Verwitweten, Künstlernamen u. v. a. m. – und Schreibweisen werden in die
   Datenbanken aufgenommen, welche können nicht eingefügt werden?
        Welche Dokumente und Quellen werden als zuverlässig eingeschätzt?
        Welche Schreibweise, welche Daten werden verwendet, wenn Informatio­
   nen auf unterschiedlichen offiziellen Dokumenten voneinander abweichen?
        Detailfragen müssen in Tausenden Fällen gelöst werden: Ist Sara oder
   Israel der ursprüngliche zweite Vorname oder der von den Nationalsozialisten
   aufgezwungene? Korrigiert man einen offenbar phonetisch festgehaltenen Ort,
   der so nicht existiert, in einen bekannten Namen, den man aber nur vermuten
   kann?
        Seit 30 Jahren bearbeitet das DÖW in Kooperation mit ForscherInnen in
   den internationalen Gedenkstätten Massendaten zu den Verfolgten, baut Hin-
   weise von Angehörigen und Nachkommen ein, ergänzt Erkenntnisse aus Pro-
   jekten, bereinigt die Daten, ergänzt sie mit Informationen aus archiveigenen
   Beständen. So konnte zumindest bei den österreichischen Holocaustopfern und
   den ermordeten WiderstandskämpferInnen ein Annäherungswert erzielt wer-
   den, bei den Opfern der Militärjustiz und den ermordeten Roma und Sinti blei-
   ben die Namen, teilweise auch Zahlen im weit Ungewisseren.
        Was sich im Ergebnis wie eine einfache Liste mit wenigen Daten darstellt,
   wurde akribisch hinterfragt, analysiert, ergänzt, korrigiert. Aktuell befinden
   sich Informationen zu 77.677 NS-Opfern (Name, Geburtsdatum, Geburtsort,
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   letzte Wohnadresse, Deportationsdatum, Deportationsort, Sterbedatum, Sterbe­-
   ort – nicht immer sind alle Parameter bekannt) in der Opferdatenbank, die unter
   www.doew.at öffentlich zugänglich ist und NutzerInnen gratis für wissenschaft-
   liche Recherchen und persönliche Nachforschungen zur Verfügung steht. Darü-
   ber hinaus verfügt das DÖW über ein Vielfaches an Daten, auch zu überleben-
   den Personen, die aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht werden können.
       Seit jeher pflegt das DÖW engen Kontakt zu den NS-Gedenkstätten und
   Forschungsinstituten in Europa, Israel und Übersee. 2020 wurde die Koopera-
   tion hinsichtlich Daten- und Dokumentenaustausch zwischen dem DÖW und
   den Arolsen Archives verstärkt. Der Abgleich umfangreicher Datenbestände
   zwischen den großen Forschungseinrichtungen ist eine Schlüsselaufgabe der
   bedeutenden Erfassungsprojekte der Grundlagenforschung. Sie dienen weiter­
   führenden Forschungen und Gedenkprojekten. Ein Datenabgleich erfolgte bei­
   spielsweise für die Jubiläumsausstellung 100 Jahre Burgenland in der Burg
   Schlai­ning, die unter der Leitung von Oliver Rathkolb erarbeitet wird. Die
   Online-Ausstellung des Institutes für Kulturwissenschaften und Theaterge-
   schichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien „Topo-
   graphie der Shoah in Währing: Orte, Häuser, Schicksale“ wurde vom DÖW
   unterstützt: https://www.oeaw.ac.at/ikt/shoah-in-waehring/.

   Seit Ende 2016 ist die Website www.memento.wien online. Das gemeinsam
   mit der Firma Braintrust von Wolfgang Schellenbacher erarbeitete Online-Tool,
   das Informationen zu den Opfern der NS-Diktatur in Wien bietet, macht über
   einen Stadtplan die letzten Wohnadressen von Opfern sowie eine Reihe von
   Archivdokumenten und Fotos zu Personen und Gebäuden in der Stadt sichtbar.
   Es kann auch auf Smartphones und Tablets genutzt werden. Memento Wien
   verweist aktuell auf mehr als 54.000 Ermordete in und aus Wien, verortet sind
   auch 140 Einrichtungen des NS-Terrors und andere thematisch wesentliche In-
   stitutionen. Knapp 18.000 EinzelbesucherInnen, im monatlichen Schnitt etwa
   1.500, haben 2020 auf die Seite zugegriffen.

   Im Juli 2020 fand das GI_Forum (Geoinformatics-Forum) der Universität Salz-
   burg statt, eine Plattform für raumbezogene Forschung und Anwendung, wie es
   u. a. auf www.memento.wien realisiert ist. Im Rahmen des Symposiums orga-
   nisierte Wolfgang Schellenbacher – zusammen mit EHRI (European Holocaust
   Research Infrastructure) – die Special Session Remembrance and Geomedia.
   Für die Publikation verfasste er gemeinsam mit KollegInnen aus Prag den Bei-
   trag: Present and Absent: Exploring the Holocaust of Jews in Prague Using a
   Mobile Application.
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   Wolfgang Schellenbacher leitete am 21. und 22. September 2020 den interna-
   tionalen Workshop Persecution at Home: Eviction and Resettlement of Jews
   Within the City Space, 1938–1942. Die von Schellenbacher konzipierte Ver-
   anstaltung fand im DÖW und im Renner-Institut Wien statt. Die international
   angelegte Konferenz hatte mit den Reise- und Anwesenheitsbeschränkungen
   umzugehen und wurde daher mit virtuellen Vorträgen kombiniert. Die Tagung
   richtete sich an WissenschafterInnen aus unterschiedlichen Forschungsgebie-
   ten, die zur Umsiedlung und „Ghettoisierung“ der jüdischen Bevölkerung vor
   der Deportation in den Ländern Mittel- und Westeuropas forschen. Es referier-
   ten Benjamin Frommer (Evanston, Israel, USA), Solving the Housing Problem:
   The Eviction, Concentration, and Ghettoization of Jews in the Nazi Protecto-
   rate of Bohemia and Moravia; Maria Luft (Oldenburg/Dresden, Deutschland),
   Experiences of Persecution at Home in the „Judenhäuser“ of Breslau; Philipp
   Mettauer (St. Pölten, Österreich), Deregistered. Jewish Tenants in Vienna from

Internationaler Workshop
unter Corona-Bedingungen:
Persecution at Home:
Eviction and Resettlement of
Jews Within the City Space,
1938 –1942. Von links nach
rechts, stehend: Wolfgang
Schellenbacher, Benjamin
Frommer, sitzend Philipp
Mettauer, Christoph Lind.
Vorne im Bild: Michaela
Raggam-Blesch
DÖW
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   Eviction to Deportation; Renée Wagener (Luxemburg), „To meet the needs,
   we request the allocation of the following houses to the Jewish Community as
   homes for the elderly …“ The National Socialist „Judenhaus“-Politics and the
   Role of the Jewish Community in Luxembourg; Christoph Lind (St. Pölten,
   Österreich), The Eviction to Vienna. Austria’s „Provincial Jews“ after the „An-
   schluss“; Lennert Savenije (Nijmegen, Niederlande), Relocation before Depor-
   tation in the Netherlands. The Judenviertel of Amsterdam, Forced Displacement
   and Jewish Labour Camps; Dina Feldman (Jerusalem, Israel), Spatial and So-
   ciodemographic Aspects of Persecution – The Case Study of Ghetto Piotrków
   Trybunalski; Laurence Schram, Dorien Styven, Veerle Vanden Daelen (Meche-
   len, Belgien), Left Behind in Antwerp: Mapping the Fate of Jewish Families
   Affected by Forced Labour, 1942–1944; Aneta Plzáková (Prag, Tschechien),
   Integration and Segregation of Jews in the City Space in Prague; Elisabeth
   Pönisch (Freiburg, Deutschland), Spatial, Temporal and Social Order of the „Ju-
   denhaus“. The Sociology of a Coerced Community; Maximilian Strnad (Mün-
   chen Deutschland), The Forgotten Stage of Ghettoization: Resettlement of In-
   termarried Jews 1942/43 to 1945; Michaela Raggam-Blesch (Wien, Österreich),
   Eviction and Ghettoization of Intermarried Families in Vienna. Die Tagung bil-
   det den Schwerpunkt des Jahrbuches des DÖW 2022.
        Wolfgang Schellenbacher wirkt am Aufbau eines EHRI-AT Forschungs­
   konsortiums mit dem DÖW als Partnerorganisation mit. Die European Holo­
   caust Research Infrastructure (EHRI) der Europäischen Kommission ermög-
   licht es seit über 10 Jahren, verstreute Quellen zum Holocaust zusammenzufüh-
   ren, die Forschenden zu vernetzen und Material leichter zugänglich zu machen.
   Im Wiener Wiesenthal-Institut fand im Dezember 2019 auf Initiative des Wis-
   senschaftsministeriums ein erstes Treffen zum Aufbau des neuen nationalen
   Kon­sortiums für EHRI-AT statt, weitere Treffen und Vorbereitungsarbeiten
   wurden 2020 virtuell durchgeführt. Das DÖW ist mit Gerhard Baumgartner
   und Wolfgang Schellenbacher vertreten, das Konsortium soll bis Ende 2021
   eingerichtet sein.
        Schellenbacher berät seit Sommer 2020 die Gedenkstätte Theresien­         -
   stadt / Pa­mát­ník Terezín bei der Neugestaltung der ständigen Ausstellungen im
   Ghetto Museum. 2020 führte er für das Kunstprojekt Guggenheim in Florids-
   dorf personenbezogene Recherchen durch und steuerte Bilder zum Projekt bei.

   Das Projekt zur Klärung des Schicksals der insgesamt rund 4.800 aus Wien,
   Mährisch-Ostrau, Prag und Kattowitz nach Nisko am San deportierten Män-
   ner startete unter der Leitung von Claudia Kuretsidis-Haider Anfang 2020. Im
   Herbst 2019 wurde hiezu eine Auftaktkonferenz in Wien mit Beteiligung ukrai­
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   nischer und deutscher Forscherinnen – Andrea Löw (Zentrum für Holo­caust-
   Studien am IfZ München), Olga Radchenko (Bohdan Khmelnytsky National
   University, Cherkasy, Ukraine) – durchgeführt, dessen Ergebnisse im Jahrbuch
   des DÖW 2020 veröffentlicht sind: Nisko 1939: Die Schicksale der Juden aus
   Wien. Der Band umfasst neue Erkenntnisse zu diesem Thema, insbesondere
   eine umfassende Darstellung von Winfried R. Garscha, biografische Skizzen
   von Claudia Kuretsidis-Haider und Informationen zum Schicksal der Depor-
   tierten in der Sowjetunion von Olga Radchenko. Das Projekt, an dem Wolfgang
   Schellenbacher, Dieter Hecht, Winfried Garscha u. a. mitarbeiten, hat die Er-
   stellung einer Online-Dokumentenedition zum Ziel, die wichtige Arbeiten wie
   von Johnny Moser mit neu erschlossenen Quellen ergänzt und das Schicksal
   der deportierten Männer aus Wien sichtbar macht. Die Nisko-Online-Edition
   wird in Zusammenarbeit mit der von der Europäischen Union finanzierten For-
   schungsinfrastruktur European Holocaust Research Infrastructure (EHRI) er-
   stellt.

   2018 startete die Kooperation mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu
   den österreichischen JudenretterInnen: Die Gedenkstätte gibt – in Zusammen-
   hang mit ihrer Dauerausstellung zu diesem Thema – die Buch-Reihe Stille
   Helden. Hilfe für verfolgte Juden heraus, im Zuge derer die Situation in den
   besetzten Ländern Europas dargestellt werden soll. Erschienen sind bereits die
   Arbeiten zu den besetzten Niederlanden, Norwegen, Weißrussland, Lettland
   und Bulgarien. Das DÖW hat den Band für Österreich übernommen, Manfred
   Mugrauer leitet das Redaktionsteam. Das Buch wird 2021 erscheinen. Die am
   23. Oktober 2020 eröffnete Dauerausstellung der Berliner Gedenkstätte Stille
   Helden Widerstand gegen die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945 unter-
   stützte das DÖW mit Materialien. Zur coronabedingt virtuell durchgeführten
   Eröffnung sind Impressionen unter https://www.gedenkstaette-stille-helden.de/
   aus­stellung/ausstellungsvideos/ abrufbar.

   Seit Herbst 2020 ist das DÖW Partner im Projekt Jugend erinnert – Maly
   Trostinec der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft. Projektpartner sind
   weiters der Lern- und Gedenkort Jawne in Köln, Gedenkstätte und NS-Doku-
   mentationszentrum Bonn und das Jüdische Museum Prag. Im Zuge dieses Vor-
   habens des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerkes Dortmund und
   der Geschichtswerkstatt Minsk sind 2021 Workshops mit jungen Menschen
   aus Belarus, Deutschland und Österreich geplant, die bislang pandemiebedingt
   laufend verschoben werden mussten. Die ausgewählten ProjektmitarbeiterIn-
   nen aus den drei Ländern sollen aktiv an der Gestaltung einer transnationalen
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2021 (= Jahrbuch 2021)

   304            Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020

   Erinnerungskultur zur Vernichtungsstätte Maly Trostinec beitragen. Waltraud
   Barton und der Verein IM-MER Initiative Malvine – Maly Trostinec erin-
   nern sich seit vielen Jahren um diese Erinnerungsstätte bemühen. Sie wirkt
   auch beim geplanten Workshop in Wien mit, der von Christine Schindler und
   Claudia Kuretsidis-Haider für September 2021 organisiert wird.
       Das DÖW hat grundlegende Forschungen zu dieser Vernichtungsstätte vor-
   gelegt, zuletzt 2019 u. a. mit dem Jahrbuchschwerpunkt Deportation und Ver-
   nichtung – Maly Trostinec. Die Belarussische Staatliche Akademie der Künste
   in Minsk verwendete Texte und Materialien des DÖW zu Maly Trostinec für
   eine Veranstaltungsreihe zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges
   und für die Zeitschrift Artefakt, für die die Texte ins Russische übersetzt wur-
   den.

         Jakob Probst, geb. 1885, wurde 1942 nach Maly Trostinec deportiert und ermordet.
         Von den Tausenden nach Minsk und Maly Trostinec Verschleppten hat fast niemand
         überlebt.
         Screenshot https://www.memento.wien

   Im Auftrag der Winzergenossenschaft Krems rekonstruierten Robert Streibel
   und Bernhard Herrman unter Projektleitung des DÖW (Brigitte Bailer und
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2021 (= Jahrbuch 2021)

                 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020                     305

   Gerhard Baumgartner) ab Oktober 2018 den Arisierungsvorgang und das
   Rück­stellungsverfahren unter Berücksichtigung der relevanten Rechtsge­
   schäfte betreffend den Arisierungskomplex „Paul Josef und Johanna
   Robitschek“ / Sandgrube 13, Krems. Das Projekt wurde im Frühjahr 2020
   abgeschlossen. Auf www.doew.at befindet sich ein Überblickstext von Brigitte
   Bailer zum Thema: Die Sandgrube 13 und die Gründung der Winzergenossen-
   schaft Krems 1938. Anfang Juli 2019 wurde auf dem Gelände der Sandgrube 13
   eine Gedenktafel enthüllt, die an Paul und Johanna Robitschek erinnert. 2021
   wurden die im Zuge des Projektes eruierten Akten gescannt und die Originale
   dem Stadtarchiv Krems übergeben. Ein Ordner mit Fotos verblieb im DÖW.

   Begonnen und abgeschlossen wurde 2020 eine Vorstudie zur Verstrickung des
   oberösterreichischen Baukonzerns Swietelsky in das NS-Zwangsarbeitsregime.
   Nachdem der Historiker und DÖW-Projektmitarbeiter Rudolf Leo im Ös­ter­
   reichischen Staatsarchiv Unterlagen zu Wohnungsarisierungen entdeckt hatte,
   beauftragte der Konzern das DÖW mit Recherchearbeiten, um das Ausmaß vor-
   handener Akten in ganz Europa zu ermitteln. Am 5. November 2020 widmete
   das ORF-Wirtschaftsmagazin „Eco“ (ORF 2) diesem Thema einen Beitrag unter
   dem Titel „Straße der SS“ und interviewte Rudolf Leo und Claudia Kuretsidis-
   Haider zu ihren bisherigen Forschungsergebnissen. Nachdem die Ergebnisse der
   Vorstudie, die unter der Leitung von Gerhard Baumgartner durchgeführt wurde,
   vorlagen, hat der Konzern das DÖW mit der umfassenden historischen Recher-
   che beauftragt. Das Projekt startet im September 2021.

   Nachdem das DÖW dem 15. Wiener Gemeindebezirk die Namen der ermor-
   deten Jüdinnen und Juden des Bezirkes für die Errichtung einer Gedenktafel
   übermittelt hat, erstellt Manfred Mugrauer im Auftrag der Kulturkommission
   ein Manuskript zum Widerstand im 15. Wiener Gemeindebezirk. Die Arbei-
   ten werden im September 2021 abgeschlossen.

   Gemeinsam mit dem Historiker Christoph Benedikter (Ludwig Boltzmann-In-
   stitut für Kriegsfolgenforschung) und dem Kurator des Joanneums in Graz und
   Künstler Günther Holler-Schuster (Neue Galerie Graz) arbeitet das DÖW unter
   der Leitung von Ursula Schwarz 2020/21 seine Kunstsammlung auf. Es be-
   herbergt rund 230 Gemälde und Grafiken von etwas mehr als 100 Künstlern,
   darunter auch einige wenige Künstlerinnen. Die Arbeiten sind vielfach direkte
   Zeugnisse aus KZ-Haft, Kriegsgeschehen, Flucht und Exil. Die Werke bilde-
   ten ursprünglich keine konzipierte und mit System angelegte Kunstsammlung,
   vielmehr handelt es sich dabei im Wesentlichen um eine Ansammlung von im
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2021 (= Jahrbuch 2021)

   306            Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020

   Laufe der Zeit überbrachten Geschenken von Künstlern und Künstlerinnen, die
   damit dem DÖW ihre Wertschätzung zum Ausdruck bringen wollten. Ein Teil
   der Kunstwerke ist in mehr oder weniger umfangreichem Ausmaß zu restau-
   rieren, wie dies schon bei der 2015 und 2016 gezeigten Auswahl geschehen
   ist. 2015 bildeten die Wiener Festwochen den organisatorischen Rahmen der
   Präsentation, 2016 präsentierte das GrazMuseum die Bilder und Grafiken. Das
   Land Niederösterreich (Abteilung Wissenschaft und Forschung, St. Pölten) för-
   dert die Aufarbeitung dieses Bestandes. Das Projekt wurde ins Jahr 2021 ver-
   längert, da die Recherche in Archiven 2020 coronabedingt zeitweise nicht oder
   nur schwer möglich war. Eine erste Ausstellung ist 2022 in St. Pölten geplant.

         In der Kunstsammlung des DÖW befinden sich Zeichnungen der Breslauerin
         Elisabeth Argutinsky-Dolgorukow aus Theresienstadt,1943/1944. Sie überlebte
         und starb 1953 in Berlin.
         DÖW

   Das DÖW hat bereits für die letzte Ausstellung des Museums Niederösterreich
   mit dem Titel „Der junge Hitler“ zentrale Ausstellungstücke zur Verfügung ge-
   stellt, wie etwa ein Notenblatt zu einer von Hitler und seinem Jugendfreund
   August Kubizek geplanten Oper „Wieland der Schmied“, Teil einer von der
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2021 (= Jahrbuch 2021)

                 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020                     307

   Familie Kubizek im DÖW deponierten Sammlung an Bildern, Manuskripten
   und Autografen von Hitlers Jugendfreund August Kubizek.

   Den Themen Flucht, Vertreibung und Exil 1933–1938, 1938–1945 und
   Aus­wirkungen nach 1945 sind mehrere Beiträge im Jahrbuch 2021 gewid-
   met: Christine Kanzler, Flucht nach Albanien, Andrea Hurton, Verfolgung und
   Rettungswiderstand. Untergetauchte Wiener Juden und Jüdinnen in Belgien
   1940–1945: drei Familiengeschichten und Peter Steinbach, „Wahnfrei auf sich
   selber stehen“. Exil und Widerstehen – Selbstbehauptung im Gegensatz.
       Wolfgang Schellenbacher sprach am 16. Dezember 2020 im Linzer Dorf
   TV zum Thema Tönende Ohnmacht – Kinder auf der Flucht.

   Unter der Leitung von Franjo Steiner (IZ Wien) und Gerhard Baumgartner
   (DÖW) startete Anfang 2020 das von der Europäischen Union im Rahmen
   von Interreg Austria–Hungary bewilligte Projekt border(hi)stories. Erin­-
   nern – Ge­denken – der Grenze entlang, das vom IZ Wien in Zusammenarbeit
   mit dem Land Burgenland, dem DÖW und ungarischen Partnern durchgeführt
   wird. Es befasst sich in zweieinhalb Jahren mit der 100-jährigen Geschichte
   der Grenzregion zwischen Ungarn und Österreich. Als Ergebnisse entstehen ein
   digitales Inventar der Gedächtnisorte, auf dem Dokumente, Fachliteratur und
   Bildmaterial öffentlich zugänglich und abrufbar gemacht werden, sowie eine
   interaktive Landkarte der Gedächtnisorte auf beiden Seiten der Grenze. Eine
   gemeinsame Wanderausstellung wird an verschiedenen Orten der Region ge-
   zeigt, Diskussionsveranstaltungen und Projekte an Schulen durchgeführt. The-
   ma ist – unter vielen anderen – beispielsweise der Bau des sogenannten Süd-
   ostwalls, bei dem Tausende ungarisch-jüdische ZwangsarbeiterInnen zu Tode
   gebracht wurden. In den Nachkriegsjahrzehnten wiederum prägte der „Eiserne
   Vorhang“ das Gebiet. 1956 konnten Hunderttausende Ungarn in den Westen
   flüchten, im historischen Jahr 1989 wurde die Grenze geöffnet.
       Auf österreichischer Seite sind das IZ Wien, das DÖW, das Land Burgen-
   land (Abteilung 7 – Bildung, Kultur und Gesellschaft, Referat Wissenschaft,
   Eisenstadt) beteiligt, auf ungarischer Seite Vas Megyei Önkormányzati Hivatal,
   Szombathely, Nyugat-Pannon Terület- és Gazdaságfejlesztési Szolgáltató Köz-
   hasznú Nonprofit Kft, Szombathely, Györ-Moson-Sopron Megyei Önkormá-
   nyzat, Györ. Strategische ProjektpartnerInnen sind: Bildungsdirektion für
   Wien, Bildungsdirektion für Burgenland, Soproni Tankerületi Központ, Gyori
   Tankerületi Központ, Sárvári Tankerületi Központ, Szombathelyi Tankerületi
   Központ, Verein Gedenkinitiative RE.F.U.G.I.U.S., Burgenländische Volks-
   hochschulen, Burgenländische Forschungsgesellschaft.
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2021 (= Jahrbuch 2021)

   308           Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020

   Ende 2019 hatte das DÖW die deutsche Ausgabe der Autobiografie von Josef
   Eisinger Flucht und Zuflucht. Erinnerungen an eine bewegte Jugend her-
   ausgegeben. Christine Schindler und Claudia Kuretsidis-Haider haben gemein-
   sam mit Kitty Weinberger die Bearbeitung der Übersetzung besorgt. Eisinger
   war mit einem Kindertransport nach England entkommen, wurde später nach
   Kanada verbracht und machte dort bzw. in den USA eine steile wissenschaftli-
   che Karriere. Das Buch bietet vielerlei Einblicke in das Leben und die Gefühls-
   welt eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings.
        Um die Menschen zuhause im ersten strengen Lockdown zu unterstützen,
   die virtuelle Angebote nicht nutzen konnten oder wollten, wurde die Auto-
   biografie, deren nahezu druckfrische Auflage noch fast vollständig im Haus
   vorhanden war, gratis zugeschickt. Josef Eisinger schilderte seine Erlebnis-
   se in Wien, auf der Flucht und in seiner neuen Heimat auf eine so mensch-
   liche Weise, dass sein ungebrochener Lebensmut junge wie alte Menschen
   in der Unsicherheit der Beschränkungen bestärken konnte. Die kleine, für
   DÖW-Mitglieder gedachte Gratisbuchaktion erhielt ein riesiges Echo, als die
   Redakteurin Gabi Hassler zusammen mit Christine Schindler im ORF (Wien
   heute am Karfreitag und ZIB um 9 am Karsamstag) über diese Aktion berich-
   teten. Die Reaktionen gingen in die Abertausende, tagelang verpackten und
   versendeten DÖW-Mitarbeiterinnen die Bücher. Die Anfragen kamen auch
   von sehr jungen interessierten Menschen und viele Töchter und Söhne frag-
   ten für ihre alten Eltern an. Die Rückmeldungen waren selbst dann noch po-
   sitiv, als die Bücher vergriffen waren. Auch der Nachdruck im Herbstlock-
   down, der ebenfalls kostenlos versendet wurde, konnte die Nachfrage nicht
   decken. Das Buch ist als kostenloser Online-Download auf www.doew.at
   verfügbar.

   Zum Themenbereich Aufarbeitung, Restitution und Entschädigung nach
   1945 arbeitet vor allem die ehemalige wissenschaftliche Leiterin Brigitte
   Bailer seit vielen Jahren. Sie war im Sommersemester 2020 an der Ringvor-
   lesung von Ilse Reiter-Zatloukal Juden und Judenheit(en) in Österreich. Eine
   Rechtsgeschichte beteiligt und referierte zu Vertriebene sind wir. Die aus Ös-
   terreich vertriebenen Jüdinnen und Juden in Opferfürsorge und Rückstellung.
   Sie hält immer wieder Seminare am Institut für Zeitgeschichte der Universität
   Wien ab, arbeitet aber auch mit SchülerInnen und Jugendlichen. Am 27. Januar
   2020 chattete sie im Rahmen einer Veranstaltung der Demokratiewerkstatt zum
   Thema Holocaust mit der 1. Klasse der HLW Horn (Niederösterreich) und der
   4. Klasse des BG/BRG Rahlgasse (Wien) (https://www.demokratiewebstatt.at/
   thema/thema-holocaust-shoah/chat-mit-expertin).
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2021 (= Jahrbuch 2021)

                 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020                     309

   Bailer ist Mitglied des Stiftungsrates des DÖW, ebenso der österreichischen
   Delegation zur International Holo­caust Remembrance Association (IHRA), wo
   sie an Publikationen zu Holo­caust Distortion sowie am Projekt zu Memory
   Laws arbeitet. Sie ist Mitglied in der Academic Working Group und im Com-
   mittee on Antisemitism and Holocaust Denial. Sie wurde auch in die ExpertIn-
   nenkommission für Straßennamen Graz berufen und ist Mitglied im Wissen-
   schaftlichen Beirat von erinnern.at. Zu ihren Fachgebieten gibt sie regelmä-
   ßig Interviews, so im Mai 2020 in der ORF-Reihe Menschen und Mächte zum
   Kriegsende 1945. Insbesondere nimmt sie immer wieder zu Entnazifizierung
   und Umgang mit den Opfern des NS-Regimes Stellung.
        Bei der Internationalen Konferenz der Polish Academy of Science, Vienna,
   Juridification of history – between collective memory, historiography and poli-
   tics of memory am 18. 12. 2020 referierte sie zu From denazification to banning
   of Holocaust denial – the Austrian law against Nationalsocialist acitivities.
   Das DÖW fungierte als Projektpartner dieser Konferenz.

   Der Forschungsschwerpunkt des wissenschaftlichen Leiters des DÖW, Gerhard
   Baumgartner, ist die Geschichte der österreichischen Roma und Sinti. Als
   Ex­perte zu dieser Thematik ist er ein viel gefragter Referent im In- und Aus-
   land, von Medien, Bildungseinrichtungen, Fachtagungen.
       2020 erschien die von Gerhard Baumgartner und Herbert Brettl erarbei-
   tete, reich bebilderte Publikation „Einfach weg!“ Romasiedlungen im Bur-
   genland. Das Buch thematisiert die Zerstörung der über 120 burgenländischen
   Romasiedlungen durch die Nationalsozialisten. Über 400 historische Bildquel-
   len und Dokumente aus österreichischen und ungarischen Archiven sowie
   Privatsammlungen dokumentieren die Geschichte dieser Siedlungen seit dem
   18. Jahrhundert bis zur Situation der Überlebenden nach 1945. Von zahlrei-
   chen angesetzten Buchpräsentationen vor allem im Burgenland musste ein Teil
   coronabedingt verschoben werden.
       Im Jahrbuch des DÖW 2021 skizziert Herbert Brettl Aspekte zur Genese
   und Struktur des „Zigeunerlagers“ Lackenbach.
       Gerhard Baumgartner ist Mitglied des Kuratoriums der Bundesanstalt
   Mauthausen Memorial. Weiterhin fungiert er u. a. als Vorstandsmitglied im
   Wie­ner Wiesenthal-Institut. Er ist Mitglied der Südostdeutschen Historischen
   Kommis­sion für die Geschichte der Deutschen in Südost- und Mitteleuropa
   sowie ständiges Mitglied des Committee on the Genocide of the Roma der
   IHRA – In­ternational Holocaust Remembrance Alliance und Mitglied im Wis-
   senschaftlichen Beirat des internationalen Projektes Digital Archive of the
   Roma. Baumgartner wurde in das Kuratorium des Nationalfonds der Republik
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2021 (= Jahrbuch 2021)

   310           Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020

   Österreich kooptiert und durch Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner für die
   Dauer von drei Jahren als Fachbeiratsmitglied für die Erarbeitung von Vor-
   schlägen für die Verleihung der Wissenschaftspreise des Landes Niederöster-
   reich bestellt, ebenso ist er Jurymitglied des Kultursonderpreises 2020 „Prä-
   sentation und Vermittlung von Zeitgeschichte in Niederösterreich“. Gerhard
   Baumgartner ist Jurymitglied des Irene-Harand-Preises der Marktgemeinde
   Wiener Neudorf und des NÖ P.E.N.-Clubs.

                                                        Gerhard Baumgartner und
                                                        Herbert Brettl publizierten
                                                        2020 einen umfassenden und
                                                        reich bebilderten Band zu den
                                                        zerstörten Roma­siedlungen
                                                        des Burgenlandes.
                                                        new academic press

   Baumgartner war Mitglied der Evaluierungskommission zum Heeresgeschicht-
   lichen Museum, die von Bundesministerin Klaudia Tanner eingesetzt wurde
   und unter der Leitung des Österreichischen Museumsbundes Anfang 2021
   ihren Endbericht präsentierte. Neben einem bereits vorher erstellten Bericht
   über die vielfach kritisierten Mängel im Ausstellungsbereich „Republik und
   Diktatur“ beschäftigte sich der Endbericht mit der Gesamtausrichtung des Mu-
   seums und seiner Sammlungen.
       Aufgrund seiner Expertise für grundbücherliche Arisierungsverfahren wur-
   de Gerhard Baumgartner in die Unabhängige ExpertInnenkommission – Ge-
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2021 (= Jahrbuch 2021)

                 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020                     311

   schichte der Nathaniel Freiherr von Rothschildʼschen Stiftung berufen, die
   im September 2020 von der Stadt Wien eingesetzt wurde, die Vorwürfe rund
   um die nach 1945 wiedererrichtete Nathaniel-Rothschild-Stiftung zu unter­-
   suchen.
        Seit dem Sommer 2020 ist das DÖW mit Gerhard Baumgartner in der vom
   Bundesministerium für Inneres eingerichteten Arbeitsgruppe zur Erörterung
   der in der Entschließung 81/E des Nationalrats gestellten Fragen betreffend
   Untersagung der Feier im Gedenken an das „Massaker von Bleiburg“ (AG
   Bleiburg) vertreten, welche die zeitgeschichtlichen Hintergründe sowie die
   po­litischen Implikationen der jährlich vom Verein Bleiburger Ehrenzug in
   Kärn­ten abgehaltenen kroatischen Gedenkfeier für die ehemalige Armee des
   Ustascha-Staates untersuchen soll. Die erste Sitzung fand am 19. September
   2020 im BMI statt, weitere Sitzungen virtuell. Die Gedenkfeier hat sich in den
   letzten Jahrzehnten zu einem der größten Treffen rechtsextremer Aktivisten aus
   ganz Europa entwickelt, weswegen das DÖW in den letzten Jahren – in Zusam-
   menarbeit vor allem mit Mathias Lichtenwagner und dem Mauthausen Komi-
   tee Österreich – wiederholt Sachverhaltsdarstellungen wegen Verstößen gegen
   das Verbotsgesetz und das Abzeichengesetz eingebracht hat. Nach einer Vor-
   sprache des Stiftungsratsvorsitzenden BM a.D. Rudolf Edlinger bei Kardinal
   Schönborn hat sich auch die Katholische Kirche von der Kooperation der Ver-
   anstaltung in Bleiburg zurückgezogen. Die umfangreichen Dokumentationen
   der Experten des DÖW sowie der Österreichischen Akademie der Wissenschaf-
   ten wurden von der Kommissionsleitung mit großem Interesse aufgenommen.
   2020 entfiel das Bleiburger Treffen im Zuge der Corona-Maßnahmen. Im Juli
   2020 brachten ÖVP, SPÖ, Grüne und Neos einen gemeinsamen Antrag im Par-
   lament gegen das Bleiburger Ustascha-Treffen ein. Unter Berücksichtigung der
   Grundrechtecharta, der Menschenrechtskonvention sowie verfassungsrechtli-
   cher Vorgaben sollen die rechtlichen Möglichkeiten geprüft werden, um die ul-
   tranationalistisch-faschistische Gedenkfeier ab dem Jahr 2021 zu unterbinden.
   Gerhard Baumgartner hielt im Sommersemester 2020 eine Lehrveranstaltung
   an der Donauuniversität Krems zum Thema „Migration in Europa“.

   Nach den Forschungen der Projektmitarbeiterin Sabine Schweitzer zu Dezen-
   trale nationalsozialistische „Zigeunerlager“ auf dem Gebiet des ehemaligen
   Österreich 1938–1945 und Internierung und Zwangsarbeit von Roma und
   Sinti auf dem Gebiet des heutigen Österreich unter der Leitung von Gerhard
   Baumgartner wurde die Publikation zu den Roma-Lagern in der NS-Zeit vor-
   bereitet. Sie erscheint 2021 in Kooperation mit dem Kulturverein österreichi-
   scher Roma und deren Obmann Andreas Sarközi.
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   312           Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020

   Zum Themenbereich der NS-Medizinverbrechen ressortiert die Gedenkstätte
   Steinhof. Die Gedenkstätte Steinhof ist – da auf Spitalsgelände gelegen – seit
   März 2020 bis auf Weiteres geschlossen, da das Gelände nur in Ausnahmefäl-
   len betreten werden darf. Das ist umso bedauerlicher, als die Nachfrage unge-
   brochen hoch ist. Das gesamte Gelände des ehemaligen Otto-Wagner-Spitals
   wird in den kommenden Jahren umgewidmet und umgebaut – in erster Linie
   für die Central European University, die von Budapest nach Wien übersiedelt,
   aber auch für andere Kultureinrichtungen. Die vom DÖW errichtete und seit
   vielen Jahren betreute Gedenkstätte Steinhof ist in die Planungen mit einbezo-
   gen. Die Gespräche dazu stehen am Anfang.
       Die zahlreichen Anfragen zum Thema der NS-Medizinverbrechen, ins-
   besondere auch von Medien aus aller Welt (vor allem auch aus Japan), wer-
   den von Peter Schwarz, einem der Ausstellungsmacher der Gedenkstätte und
   ausgewiesenen Experten zum Thema, für das DÖW bearbeitet. Für die vielen
   Interessierten, die die Gedenkstätte aktuell nicht besuchen können, liegt der
   um­fassende Ausstellungskatalog vor. Die Inhalte sind auch auf https://www.ge­
   denkstaettesteinhof.at verfügbar.

   Im Bereich des Forschungsschwerpunkts der NS-Justiz ist 2020 das Projekt
   Nazifizierung der österreichischen Justiz 1938–1945: Biographien von Rich-
   tern und Staatsanwälten von Ursula Schwarz fortgeführt worden. Es wurde im
   Frühjahr 2021 abgeschlossen. Das Projekt hatte die sukzessive Nazifizierung
   der österreichischen Justiz sowohl im legistischen als auch im organisatori-
   schen Bereich zum Inhalt, insbesondere die personelle Seite dieses Vorgangs:
   Außerdienststellungen von für das NS-Regime „untragbaren“ Angehörigen der
   Justiz 1938, die Tätigkeit von Richtern und Staatsanwälten 1938–1945 sowie
   ihre Karriereverläufe in der Zweiten Republik. Das Projekt ergänzte die Ergeb-
   nisse des Projekts Zur Nazifizierung der Strafjustiz in Österreich 1938–1945,
   das in Kooperation des DÖW mit Wolfgang Form von der Universität Marburg
   durchgeführt worden war.

   Die seit ihrer Gründung 1998 am DÖW angesiedelte Zentrale österreichische
   Forschungsstelle Nachkriegsjustiz wird von Claudia Kuretsidis-Haider und
   Winfried R. Garscha geleitet, Siegfried Sanwald ist Projektmitarbeiter und be-
   treut die im DÖW verwahrten Sammlungen. Rudolf Leo ist für die Öffentlich­
   keitsarbeit zuständig. Die Forschungsstelle bildet den organisatorischen Rah-
   men für den Arbeitsschwerpunkt Nachkriegsjustiz des DÖW. Dieser umfasst
   neben der Akquisition von Aktenkopien österreichischer Gerichte und Strafver-
   folgungsbehörden, deren Auswertung und archivalischen Aufbereitung auch
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2021 (= Jahrbuch 2021)

                 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020                     313

   die Betreuung von BesucherInnen des DÖW, die sich über den Standort von
   Gerichtsakten informieren wollen und über die besonderen Bedingungen bei
   der Verwendung von Justizakten als Geschichtsquelle beraten werden. Siehe
   dazu und zu vielen anderen Themenfeldern: http://www.nachkriegsjustiz.at/.

       Werner Schad (hintere Reihe, rechts außen) aus Bregenz, geb. 11. 1. 1914, wurde ins
       KZ Mauthausen deportiert und im September 1944 in der Tötungsanstalt Hartheim
       ermordet.
       Hans Mäser / DÖW

   Seit 2011 führt Siegfried Sanwald für die Zentrale österreichische Forschungs-
   stelle Nachkriegsjustiz in Kooperation mit Yad Vashem und dem USHMM das
   Digitalisierungsprojekt Ermittlungen wegen NS-Verbrechen durch die ös-
   terreichische Justiz 1956–2008 durch. Ziel ist eine Kompletterfassung aller
   nach 1956 in Österreich geführten Verfahren wegen nationalsozialistischer Ver-
   brechen, und, soweit rechtlich möglich, deren Digitalisierung.
        Nach der Abschaffung der Volksgerichte im Dezember 1955 oblag die
   strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen den Landes- und
   Kreisgerichten. Seit 1956 erhoben Staatsanwaltschaften in 35 Fällen Anklage,
   von 1956 bis 1975 ergingen 20 Schuld- und 23 Freisprüche. Diese Verfahren
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2021 (= Jahrbuch 2021)

   314           Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020

   waren Gegenstand der zeitgenössischen Medienberichterstattung, aber auch
   rechtsgeschichtlicher und politikwissenschaftlicher Publikationen. Über einige
   Prozesse gibt es zudem Dokumentar- und Spielfilme.
        Wenig bekannt ist hingegen die Einleitung weiterer, mehr als 1.000 straf-
   rechtlicher Verfahren. Diese wurden allerdings – oft nach mehrjährigen, in-
   tensiven polizeilichen bzw. staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen – eingestellt
   und nur in Ausnahmefällen öffentlich bekannt. Auch wenn kein Urteil ergangen
   ist, stellen auch diese Akten mit ihren zahlreichen Querverweisen, Dokumenten
   und Zeugenaussagen eine bedeutende historische Quelle dar.
        Folgende Gerichtsstandorte sind komplett digitalisiert: Wien, Eisenstadt,
   Graz, Leoben, Feldkirch und Ried im Innkreis. Derzeit ist der Gerichtsstandort
   Klagenfurt in Arbeit. Hinsichtlich der bereits von den Landesarchiven über-
   nommenen Akten der Gerichtsstandorte Innsbruck, Salzburg, Linz, Steyr, Wels,
   St. Pölten, Krems, Wiener Neustadt und Korneuburg ist die Frage der rechtli-
   chen Möglichkeiten der Digitalisierung noch zu klären.

   Durch das Programm Curriculum Justiz- und Zeitgeschichte ist die For-
   schungsstelle Nachkriegsjustiz seit 2009 in die Ausbildung österreichischer
   Rich­ terInnen und StaatsanwältInnen (RichteramtsanwärterInnen, „RiAAs“)
   ein­
      gebunden. Das von Winfried Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider
   gemein­  sam mit dem Vorsteher des Bezirksgerichts Wien-Meidling, Oliver
   Scheiber, konzipierte Programm mit den Schwerpunkten Strafjustiz, Straf- und
   Maßnahmenvollzug sowie Richterkarrieren vor und nach 1945, Justizreformen
   der 1970er Jahre und „Transitional Justice“ (Entschädigung von NS-Opfern,
   justizieller und gesellschaftspolitischer Umgang mit Menschheitsverbrechen in
   der Gegenwart) wird in jeweils zwei Modulen durchgeführt, bei denen auch
   die Gedenkstätten Steinhof und Mauthausen besucht werden. Unter dem Ti-
   tel Curriculum Justiz- und Zeitgeschichte wurde das Programm 2017 von
   Justizminister Wolfgang Brandstetter zum verpflichtenden Bestandteil der
   Ausbildung gemacht und in die Kompetenz der Oberlandesgerichte übertra-
   gen. Das Curriculum fand von 23. bis 25. November 2020 als Zoom-Meeting
   statt. Neben Claudia Kuretsidis-Haider und Winfried Garscha haben Rechtsan-
   walt Rudolf Vouk und die ehemalige Volksanwältin Terezija Stoisits, Markus
   Drechsler (Obmann der Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmen-
   vollzug), Gabriele Fischer (Leiterin der Drogenambulanz, Suchtforschung und
   -therapie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie), der Künst-
   ler Nikolaus Habjan, die Kulturwissenschafterin Judith Kohlenberger (Wirt-
   schaftsuniversität Wien), Harald Lipphart-Kirchmeir (Leiter der JA Eisenstadt)
   sowie Oliver Scheiber referiert.
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