Christine Schindler Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 293 Christine Schindler Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 2020 Das DÖW ist Bibliothek und Archiv, Museum, Forschungsstätte und Bera- tungsstelle, Erinnerungs- und Begegnungsort. Kontinuierlich steigen die Zah- len an Besuchen, Führungen, Praktika, Anfragen und Beratungen. Dieser Trend setzte sich auch Anfang 2020 fort, bis er mit dem ersten Lockdown zur Eindäm- mung der Corona-Pandemie ab Mitte März 2020 jäh einbrach. Der Lockdown war – nach vereinzelten Regelungen und Aufrufen an die Bevölkerung zur Mi- nimierung sozialer Kontakte schon ein paar Tage zuvor – das erste umfassende und einschneidende Maßnahmenpaket der österreichischen Bundesregierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Es folgten laufende Adaptierungen, Monatelang erinnerten Kerzen an die Opfer des Terroranschlags in der Wiener Innenstadt Anfang November 2020. Minas Ramadan
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 294 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 Lockerungen insbesondere in den Sommer- und frühen Herbstmonaten, Ver- schärfungen, Regelungen, die sowohl den öffentlichen als auch den privaten Bereich betrafen – mit stetem Blick auf die Verordnungen der Bundesregierung und der Wiener Stadtregierung manövrierte das DÖW pragmatisch und konse- quent durch die Pandemie. Bei einer Bilanz des Jahres 2020 muss der Toten gedacht werden, die trotz all dieser Bemühungen und Maßnahmen an Covid-19 gestorben sind. Erinnert werden auch die Toten des Terroranschlags im Herzen von Wien. Am Vorabend des Herbstlockdowns fand am 2. November 2020 der Anschlag des islamisti- schen Extremisten statt, der vier Menschen ermordete und zwei Dutzend ver- letzte, bis er selbst von der Polizei getötet wurde. Das DÖW liegt in dem Ge- biet, das in etwa der Aktionsradius des Täters war. Zu dieser Uhrzeit und dank der verschärften Dienstregeln hielten sich nur wenige DÖW-MitarbeiterInnen im Gefahrenbereich auf, die wiederum fliehen konnten bzw. im Verlauf der Nacht aus verschiedenen Örtlichkeiten evakuiert wurden. Am Tag darauf war das DÖW wie die gesamte Wiener Innenstadt aus Sicherheitsgründen abgerie- gelt. Lange erinnerten Kerzen und Blumen an den nahen Tatorten an die Opfer des Anschlags, mittlerweile ist ein Gedenkstein am Desider-Friedmann-Platz errichtet. In den Lockdown-Phasen waren die Ausstellungen des DÖW geschlossen, der Benutzerbetrieb wurde auf virtuelle Servicierung umgestellt. In den Monaten der Lockerungen im Sommer und Herbst 2020 wurden strenge Regelungen für den Ausstellungsbetrieb, Veranstaltungen und die Tätigkeiten vor Ort erlassen. Hilfreich waren die regelmäßigen Informationsschreiben des Museumsbundes Österreich, der die relevanten Inhalte der einzelnen Verordnungen für Museen extrahierte, kommentierte und zeitnah zuschickte. Auch das Angebot des Ro- ten Kreuzes zur Schulung von Covid-Beauftragten, die die Autorin absolvierte, wurde genutzt. Christine Schindler erstellte ab Mitte März jeweils angepasste Konzepte zur Umsetzung der erforderlichen Schutzmaßnahmen, die dennoch den Betrieb des Hauses gewährleisteten. Ausgeklügelte Diensträder mit kleinen, festen Teams, Homeoffice, virtu- elle Sitzungen, Sitzpläne, Hygienemaßnahmen, erweiterte Serviceangebote, Umstrukturierung und Umstellung von Arbeiten u. v. a. m. sicherten 2020 die Vollauslastung des Hauses bei gleichzeitiger Reduzierung der Risiken. Nicht aufgefangen werden konnten die BesucherInnenzahlen in den Ausstellungen des DÖW. Mangels TouristInnen und Schulklassen schlugen sich die Beschrän- kungen in den Besuchszahlen nieder. Die Gedenkstätte Steinhof auf dem Areal
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 295 der Klinik Penzing ist – auf Spitalsgelände gelegen – seit Mitte März 2020 und bis auf Weiteres geschlossen. Die Beratung von Interessierten aber war das ganze Jahr hindurch möglich bzw. wurde ermöglicht, ob dies nun in den Monaten der Lockerungen persön- lich oder in den Lockdown-Phasen, aber auch in den Monaten beschränkter Benutzungsmöglichkeiten hindurch virtuell – telefonisch, per Mail und per Zoom oder Skype – erfolgte. Das DÖW intensivierte umgehend sein Ange- bot, sodass die MitarbeiterInnen für die Anfragenden Material recherchierten, scannten und kostenlos übermittelten, soweit das rechtlich und umfangmäßig möglich war. Während der Lockerungen, wenn BenutzerInnen unter Auflagen im Haus recherchieren durften, wurden hausinterne Regelungen beispielsweise in der Maximalaktenzahl aufgehoben, um die BenutzerInnen bestmöglich zu unterstützen. Ein großer Erfolg war im ersten und zweiten Lockdown die Gratisbuch aktion des DÖW, die auch viele SchülerInnen und Jugendliche nutzten, aber auch viele alte Menschen, die das Haus nicht verlassen konnten. Das DÖW ver- schickte die Erinnerungen von Josef Eisinger, dessen ungebrochener Lebens- mut die Menschen in der Unsicherheit der Beschränkungen bestärken sollte. Überraschend war das mediale Echo und große Interesse, das dem gedruckten Buch nach schon so wenigen Wochen verstärkt virtueller Angebote entgegen- gebracht wurde. Niemand von den MitarbeiterInnen hat bislang eine positive Corona-Dia gnose erhalten. Sowohl die BenutzerInnen als auch die MitarbeiterInnen haben sich vorbildlich an die jeweiligen Vorschriften gehalten. Trotz der Corona-Pandemie konnten 2020 17 Junior Fellows – 10 junge Frauen und 7 junge Männer aus Österreich und Deutschland – im DÖW ein Praktikum absolvieren. 12 davon brauchten es für ihre Ausbildung, 2 kamen im Rahmen einer AMS-Maßnahme, 1 Person absolvierte das Praktikum aus persönlichem Engagement. Sie wurden im Archiv, in der Bibliothek, bei Pro- jekten oder im EDV-Bereich eingesetzt. 6 junge Männer leisten jährlich ihren Zivildienst im DÖW ab. 2020 wurden abrüstende Zivildiener im Gesundheits- bereich eingesetzt, ihre Dienstzeit um 3 Monate verlängert. 15 ältere Menschen, teils Angehörige von Verfolgten, sind hier nach ihrer Berufslaufbahn ehrenamtlich tätig. Die ehrenamtliche Tätigkeit musste ab März 2020 fast gänzlich eingestellt werden, nur wenige KollegInnen konnten in den Sommermonaten und im Frühherbst ihre engagierte Tätigkeit für das DÖW ausüben. Derzeit 20 Angestellte – WissenschafterInnen, administratives Personal, ProjektmitarbeiterInnen – arbeiten in unterschiedlichem Beschäftigungsaus-
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 296 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 maß und -verhältnis. Die hauptamtlichen KollegInnen, die vielfach in For schungen und Publikationen eingebunden sind, konnten unkompliziert ver- stärkt in Homeofficetage wechseln. Auch die administrativen Arbeiten waren rasch umgestellt, die Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen der Stadt und des Bundes gestaltete sich von Anfang an unbürokratisch und effizient. Für die Zivildienstleistenden und die AusstellungsbegleiterInnen des DÖW wurden teilweise Erfassungsarbeiten und andere alternative Aufgaben gefun- den. Insbesondere die Digitalisierung der Bestände wurde 2020 weiter voran- gebracht. Temporärer Arbeitsplatz war das DÖW für diejenigen, die persönlich im Archiv nach Angehörigen forschten oder für schulische, wissenschaftliche, journalistische Arbeiten recherchierten. Trotz Corona verzeichnete das DÖW 2020 knapp 700 Recherche-Besuche von Personen, die das Archiv und die Bibliothek des DÖW im Rahmen individueller Beratung und Projektbespre- chungen frequentierten. Das ist nicht ganz die Halbierung persönlicher Anwe- senheiten, die aus der Schließung in den Lockdowns und den Abstandsregeln in den Phasen der Lockerungen resultierte. Allerdings konnte die BenutzerIn- nenbetreuung verstärkt ins Virtuelle verlegt werden, sodass in diesem Bereich weniger Abstriche zu machen waren, rechnet man die über 5.000 telefonischen und schriftlichen Anfragen und die intensivierte Servicierung hinzu. Nahezu alle MitarbeiterInnen sind mit Anfragen befasst. Das DÖW-Archiv war 2020 155 Tage planmäßig geöffnet, also in etwa drei Viertel der normalen Öffnungs- tage. Das DÖW betreibt selbst grundlegende Forschungen zur Geschichte des Natio- nalsozialismus, seiner Vorgeschichte und seinen Nachwirkungen und ist gleich- zeitig mit Archiv, Bibliothek und Expertise hoch frequentierte Beratungsstätte für Forschende und zeitgeschichtlich Interessierte. All diese Arbeiten wären ohne Gegenwartsbezug von wenig aktueller Relevanz. Jeglichen antidemokra- tischen Anfängen zu wehren ist in den Statuten des DÖW, das von der Repu- blik Österreich und der Stadt Wien getragen wird, festgeschrieben. Totalitäre, rassistische, antisemitische, rechtsextreme, neonazistische und islamistische Ideologien und Bewegungen jeglicher Provenienz zu erkennen und konkret zu benennen, ist daher ein wesentlicher Aufgabenbereich des DÖW. Das Über- einkommen der österreichischen Bundesregierung Aus Verantwortung für Ös- terreich. Regierungsprogramm 2020–2024 beinhaltet eine Stärkung des DÖW. Das Dokumentationsarchiv benötigt materielle Unterstützung vor allem bei Infrastruktur und Räumlichkeiten und personell insbesondere bei Ausweitung der Aufgaben.
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 297 Trotz der schwierigen und außergewöhnlichen Umstände war 2020 für das DÖW wieder ein außerordentlich arbeitsintensives Jahr. Gerade die hauseige nen Forschungsprojekte konnten grundsätzlich planmäßig vorangebracht wer- den. Das Projektmanagement des DÖW liegt in den Händen von Christine Schindler; die ordnungsgemäße Finanzgebarung des Hauses gewährleisten Judith Prem, Minas Ramadan und Halbwachs Schmitt & Partner Steuerbera- tung GmbH sowie die Aufsichtsgremien des DÖW. Die nachfolgend vorgestellten – ausgewählten – Tätigkeiten sollen einen Einblick in die Vielfalt und Dynamik der institutionellen Arbeiten und Auf- gaben geben. Mehr Informationen zu den Themen des DÖW und zum Institut selbst finden sich auf www.doew.at. Forschungsschwerpunkte und -projekte Österreich 1933–1938: Februarkämpfe 1934, Widerstand und Verfol- gung, Opfer von terroristischen Anschlägen der NSDAP Widerstand und politische Repression (aller politischen Lager und jeder Motivation) Namentliche Erfassung der österreichischen Opfer politischer Verfol- gung 1938–1945 NS-Justiz Verfolgungs- und Vernichtungspolitik Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, als „asozial“ Stigmatisierte, Homosexuelle, Kärntner SlowenInnen u. a. Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer Flucht, Vertreibung und Exil 1933–1938, 1938–1945 und Auswirkun- gen nach 1945 Medizin, Biopolitik, Euthanasieverbrechen sowie Medizin und Holo caust Restitution und Entschädigung der NS-Opfer Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik Entnazifizierung und Nachkriegsjustiz in Österreich und im internatio- nalen Kontext (Transitional Justice) Rechtsextremismus, Neonazismus, Antisemitismus, Rassismus nach 1945 Wesentlich in der Holocaustforschung wie in der Widerstandsforschung des DÖW ist die laufende Aktualisierung der Datenbanken, die auch auf
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 298 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 www.doew.at die Opfer des NS-Regimes auflisten, ihnen einen Namen geben und Grundlage aller größeren Gedenkinitiativen und Projekte zu den österreichi- schen Opfern sind. Forschenden bieten sie eine einfache Recherche- und Über- prüfungsmöglichkeit. Fritz Feiler wurde mit neun Jahren nach Auschwitz deportiert und ermordet. Screenshot https://www.memento.wien 2020 stellte das DÖW Daten für die Neugestaltung der Österreich-Ausstellung in Auschwitz bei. 2020/21 wurden die Daten für die Shoah-Namensmauern- Gedenkstätte in Wien vom DÖW – Wolfgang Schellenbacher und Gerhard Ungar – bearbeitet und bereitgestellt. Die Gedenkmauer soll die Namen aller in der NS-Zeit ermordeten Jüdinnen und Juden aus Österreich auflisten. Der 1930 in Wien geborene und nach dem „Anschluss“ geflohene österreichisch-kanadi- sche Künstler Kurt Tutter initiierte das Denkmal und setzte sich viele Jahre für seine Umsetzung ein. 2018 beschloss die österreichische Regierung die Finan- zierung und Errichtung des Mahnmals. In Zusammenarbeit mit der Stadt Wien wird das Denkmal im Ostarrichipark im 9. Wiener Gemeindebezirk realisiert. Auf Anregung von Gerhard Baumgartner wurde im Sommer 2020 noch einmal öffentlich zur Überprüfung der Namen für die geplante Shoah-Namensmauern-
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 299 Gedenkstätte in Wien aufgerufen. Hunderte Menschen sind diesem Aufruf ge- folgt, sodass Schellenbacher und Ungar die umfassende Shoah-Datenbank des DÖW ergänzen konnten. DÖW-Leiter Baumgartner übergab die aktualisierte Datenbank am 17. September an Bundesministerin Karoline Edtstadler. Die nach dem Stichtag einlangenden bzw. in der Folge noch erforschten Opfer namen werden auf einer weiteren Stele der Gedenkstätte verewigt werden. Die Erfassung von Massendaten ist eine langwierige und komplexe Aufgabe der Grundlagenforschung, der sich das DÖW bereits seit Jahrzehnten widmet. Die Herausforderungen der Datenerfassung, des Datenabgleichs, der Katego- risierung, Aufnahme, Schreibweise, Identifizierung u. v. a. m. werden oftmals unterschätzt. Dabei sind folgende Parameter zu beachten und in Abertausenden Einzelfällen zu analysieren: Wie können die auf Dokumenten basierten Informationen mit den familien- geschichtlichen Erinnerungen verknüpft werden? Auf welche unterschiedlichen Daten kann bei dieser Arbeit zurückgegriffen und wie können diese verbunden werden? Welche Namen – Geburtsnamen, Aliasnamen, Namen von Verheirateten und Verwitweten, Künstlernamen u. v. a. m. – und Schreibweisen werden in die Datenbanken aufgenommen, welche können nicht eingefügt werden? Welche Dokumente und Quellen werden als zuverlässig eingeschätzt? Welche Schreibweise, welche Daten werden verwendet, wenn Informatio nen auf unterschiedlichen offiziellen Dokumenten voneinander abweichen? Detailfragen müssen in Tausenden Fällen gelöst werden: Ist Sara oder Israel der ursprüngliche zweite Vorname oder der von den Nationalsozialisten aufgezwungene? Korrigiert man einen offenbar phonetisch festgehaltenen Ort, der so nicht existiert, in einen bekannten Namen, den man aber nur vermuten kann? Seit 30 Jahren bearbeitet das DÖW in Kooperation mit ForscherInnen in den internationalen Gedenkstätten Massendaten zu den Verfolgten, baut Hin- weise von Angehörigen und Nachkommen ein, ergänzt Erkenntnisse aus Pro- jekten, bereinigt die Daten, ergänzt sie mit Informationen aus archiveigenen Beständen. So konnte zumindest bei den österreichischen Holocaustopfern und den ermordeten WiderstandskämpferInnen ein Annäherungswert erzielt wer- den, bei den Opfern der Militärjustiz und den ermordeten Roma und Sinti blei- ben die Namen, teilweise auch Zahlen im weit Ungewisseren. Was sich im Ergebnis wie eine einfache Liste mit wenigen Daten darstellt, wurde akribisch hinterfragt, analysiert, ergänzt, korrigiert. Aktuell befinden sich Informationen zu 77.677 NS-Opfern (Name, Geburtsdatum, Geburtsort,
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 300 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 letzte Wohnadresse, Deportationsdatum, Deportationsort, Sterbedatum, Sterbe- ort – nicht immer sind alle Parameter bekannt) in der Opferdatenbank, die unter www.doew.at öffentlich zugänglich ist und NutzerInnen gratis für wissenschaft- liche Recherchen und persönliche Nachforschungen zur Verfügung steht. Darü- ber hinaus verfügt das DÖW über ein Vielfaches an Daten, auch zu überleben- den Personen, die aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht werden können. Seit jeher pflegt das DÖW engen Kontakt zu den NS-Gedenkstätten und Forschungsinstituten in Europa, Israel und Übersee. 2020 wurde die Koopera- tion hinsichtlich Daten- und Dokumentenaustausch zwischen dem DÖW und den Arolsen Archives verstärkt. Der Abgleich umfangreicher Datenbestände zwischen den großen Forschungseinrichtungen ist eine Schlüsselaufgabe der bedeutenden Erfassungsprojekte der Grundlagenforschung. Sie dienen weiter führenden Forschungen und Gedenkprojekten. Ein Datenabgleich erfolgte bei spielsweise für die Jubiläumsausstellung 100 Jahre Burgenland in der Burg Schlaining, die unter der Leitung von Oliver Rathkolb erarbeitet wird. Die Online-Ausstellung des Institutes für Kulturwissenschaften und Theaterge- schichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien „Topo- graphie der Shoah in Währing: Orte, Häuser, Schicksale“ wurde vom DÖW unterstützt: https://www.oeaw.ac.at/ikt/shoah-in-waehring/. Seit Ende 2016 ist die Website www.memento.wien online. Das gemeinsam mit der Firma Braintrust von Wolfgang Schellenbacher erarbeitete Online-Tool, das Informationen zu den Opfern der NS-Diktatur in Wien bietet, macht über einen Stadtplan die letzten Wohnadressen von Opfern sowie eine Reihe von Archivdokumenten und Fotos zu Personen und Gebäuden in der Stadt sichtbar. Es kann auch auf Smartphones und Tablets genutzt werden. Memento Wien verweist aktuell auf mehr als 54.000 Ermordete in und aus Wien, verortet sind auch 140 Einrichtungen des NS-Terrors und andere thematisch wesentliche In- stitutionen. Knapp 18.000 EinzelbesucherInnen, im monatlichen Schnitt etwa 1.500, haben 2020 auf die Seite zugegriffen. Im Juli 2020 fand das GI_Forum (Geoinformatics-Forum) der Universität Salz- burg statt, eine Plattform für raumbezogene Forschung und Anwendung, wie es u. a. auf www.memento.wien realisiert ist. Im Rahmen des Symposiums orga- nisierte Wolfgang Schellenbacher – zusammen mit EHRI (European Holocaust Research Infrastructure) – die Special Session Remembrance and Geomedia. Für die Publikation verfasste er gemeinsam mit KollegInnen aus Prag den Bei- trag: Present and Absent: Exploring the Holocaust of Jews in Prague Using a Mobile Application.
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 301 Wolfgang Schellenbacher leitete am 21. und 22. September 2020 den interna- tionalen Workshop Persecution at Home: Eviction and Resettlement of Jews Within the City Space, 1938–1942. Die von Schellenbacher konzipierte Ver- anstaltung fand im DÖW und im Renner-Institut Wien statt. Die international angelegte Konferenz hatte mit den Reise- und Anwesenheitsbeschränkungen umzugehen und wurde daher mit virtuellen Vorträgen kombiniert. Die Tagung richtete sich an WissenschafterInnen aus unterschiedlichen Forschungsgebie- ten, die zur Umsiedlung und „Ghettoisierung“ der jüdischen Bevölkerung vor der Deportation in den Ländern Mittel- und Westeuropas forschen. Es referier- ten Benjamin Frommer (Evanston, Israel, USA), Solving the Housing Problem: The Eviction, Concentration, and Ghettoization of Jews in the Nazi Protecto- rate of Bohemia and Moravia; Maria Luft (Oldenburg/Dresden, Deutschland), Experiences of Persecution at Home in the „Judenhäuser“ of Breslau; Philipp Mettauer (St. Pölten, Österreich), Deregistered. Jewish Tenants in Vienna from Internationaler Workshop unter Corona-Bedingungen: Persecution at Home: Eviction and Resettlement of Jews Within the City Space, 1938 –1942. Von links nach rechts, stehend: Wolfgang Schellenbacher, Benjamin Frommer, sitzend Philipp Mettauer, Christoph Lind. Vorne im Bild: Michaela Raggam-Blesch DÖW
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 302 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 Eviction to Deportation; Renée Wagener (Luxemburg), „To meet the needs, we request the allocation of the following houses to the Jewish Community as homes for the elderly …“ The National Socialist „Judenhaus“-Politics and the Role of the Jewish Community in Luxembourg; Christoph Lind (St. Pölten, Österreich), The Eviction to Vienna. Austria’s „Provincial Jews“ after the „An- schluss“; Lennert Savenije (Nijmegen, Niederlande), Relocation before Depor- tation in the Netherlands. The Judenviertel of Amsterdam, Forced Displacement and Jewish Labour Camps; Dina Feldman (Jerusalem, Israel), Spatial and So- ciodemographic Aspects of Persecution – The Case Study of Ghetto Piotrków Trybunalski; Laurence Schram, Dorien Styven, Veerle Vanden Daelen (Meche- len, Belgien), Left Behind in Antwerp: Mapping the Fate of Jewish Families Affected by Forced Labour, 1942–1944; Aneta Plzáková (Prag, Tschechien), Integration and Segregation of Jews in the City Space in Prague; Elisabeth Pönisch (Freiburg, Deutschland), Spatial, Temporal and Social Order of the „Ju- denhaus“. The Sociology of a Coerced Community; Maximilian Strnad (Mün- chen Deutschland), The Forgotten Stage of Ghettoization: Resettlement of In- termarried Jews 1942/43 to 1945; Michaela Raggam-Blesch (Wien, Österreich), Eviction and Ghettoization of Intermarried Families in Vienna. Die Tagung bil- det den Schwerpunkt des Jahrbuches des DÖW 2022. Wolfgang Schellenbacher wirkt am Aufbau eines EHRI-AT Forschungs konsortiums mit dem DÖW als Partnerorganisation mit. Die European Holo caust Research Infrastructure (EHRI) der Europäischen Kommission ermög- licht es seit über 10 Jahren, verstreute Quellen zum Holocaust zusammenzufüh- ren, die Forschenden zu vernetzen und Material leichter zugänglich zu machen. Im Wiener Wiesenthal-Institut fand im Dezember 2019 auf Initiative des Wis- senschaftsministeriums ein erstes Treffen zum Aufbau des neuen nationalen Konsortiums für EHRI-AT statt, weitere Treffen und Vorbereitungsarbeiten wurden 2020 virtuell durchgeführt. Das DÖW ist mit Gerhard Baumgartner und Wolfgang Schellenbacher vertreten, das Konsortium soll bis Ende 2021 eingerichtet sein. Schellenbacher berät seit Sommer 2020 die Gedenkstätte Theresien - stadt / Památník Terezín bei der Neugestaltung der ständigen Ausstellungen im Ghetto Museum. 2020 führte er für das Kunstprojekt Guggenheim in Florids- dorf personenbezogene Recherchen durch und steuerte Bilder zum Projekt bei. Das Projekt zur Klärung des Schicksals der insgesamt rund 4.800 aus Wien, Mährisch-Ostrau, Prag und Kattowitz nach Nisko am San deportierten Män- ner startete unter der Leitung von Claudia Kuretsidis-Haider Anfang 2020. Im Herbst 2019 wurde hiezu eine Auftaktkonferenz in Wien mit Beteiligung ukrai
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 303 nischer und deutscher Forscherinnen – Andrea Löw (Zentrum für Holocaust- Studien am IfZ München), Olga Radchenko (Bohdan Khmelnytsky National University, Cherkasy, Ukraine) – durchgeführt, dessen Ergebnisse im Jahrbuch des DÖW 2020 veröffentlicht sind: Nisko 1939: Die Schicksale der Juden aus Wien. Der Band umfasst neue Erkenntnisse zu diesem Thema, insbesondere eine umfassende Darstellung von Winfried R. Garscha, biografische Skizzen von Claudia Kuretsidis-Haider und Informationen zum Schicksal der Depor- tierten in der Sowjetunion von Olga Radchenko. Das Projekt, an dem Wolfgang Schellenbacher, Dieter Hecht, Winfried Garscha u. a. mitarbeiten, hat die Er- stellung einer Online-Dokumentenedition zum Ziel, die wichtige Arbeiten wie von Johnny Moser mit neu erschlossenen Quellen ergänzt und das Schicksal der deportierten Männer aus Wien sichtbar macht. Die Nisko-Online-Edition wird in Zusammenarbeit mit der von der Europäischen Union finanzierten For- schungsinfrastruktur European Holocaust Research Infrastructure (EHRI) er- stellt. 2018 startete die Kooperation mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu den österreichischen JudenretterInnen: Die Gedenkstätte gibt – in Zusammen- hang mit ihrer Dauerausstellung zu diesem Thema – die Buch-Reihe Stille Helden. Hilfe für verfolgte Juden heraus, im Zuge derer die Situation in den besetzten Ländern Europas dargestellt werden soll. Erschienen sind bereits die Arbeiten zu den besetzten Niederlanden, Norwegen, Weißrussland, Lettland und Bulgarien. Das DÖW hat den Band für Österreich übernommen, Manfred Mugrauer leitet das Redaktionsteam. Das Buch wird 2021 erscheinen. Die am 23. Oktober 2020 eröffnete Dauerausstellung der Berliner Gedenkstätte Stille Helden Widerstand gegen die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945 unter- stützte das DÖW mit Materialien. Zur coronabedingt virtuell durchgeführten Eröffnung sind Impressionen unter https://www.gedenkstaette-stille-helden.de/ ausstellung/ausstellungsvideos/ abrufbar. Seit Herbst 2020 ist das DÖW Partner im Projekt Jugend erinnert – Maly Trostinec der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft. Projektpartner sind weiters der Lern- und Gedenkort Jawne in Köln, Gedenkstätte und NS-Doku- mentationszentrum Bonn und das Jüdische Museum Prag. Im Zuge dieses Vor- habens des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerkes Dortmund und der Geschichtswerkstatt Minsk sind 2021 Workshops mit jungen Menschen aus Belarus, Deutschland und Österreich geplant, die bislang pandemiebedingt laufend verschoben werden mussten. Die ausgewählten ProjektmitarbeiterIn- nen aus den drei Ländern sollen aktiv an der Gestaltung einer transnationalen
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 304 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 Erinnerungskultur zur Vernichtungsstätte Maly Trostinec beitragen. Waltraud Barton und der Verein IM-MER Initiative Malvine – Maly Trostinec erin- nern sich seit vielen Jahren um diese Erinnerungsstätte bemühen. Sie wirkt auch beim geplanten Workshop in Wien mit, der von Christine Schindler und Claudia Kuretsidis-Haider für September 2021 organisiert wird. Das DÖW hat grundlegende Forschungen zu dieser Vernichtungsstätte vor- gelegt, zuletzt 2019 u. a. mit dem Jahrbuchschwerpunkt Deportation und Ver- nichtung – Maly Trostinec. Die Belarussische Staatliche Akademie der Künste in Minsk verwendete Texte und Materialien des DÖW zu Maly Trostinec für eine Veranstaltungsreihe zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges und für die Zeitschrift Artefakt, für die die Texte ins Russische übersetzt wur- den. Jakob Probst, geb. 1885, wurde 1942 nach Maly Trostinec deportiert und ermordet. Von den Tausenden nach Minsk und Maly Trostinec Verschleppten hat fast niemand überlebt. Screenshot https://www.memento.wien Im Auftrag der Winzergenossenschaft Krems rekonstruierten Robert Streibel und Bernhard Herrman unter Projektleitung des DÖW (Brigitte Bailer und
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 305 Gerhard Baumgartner) ab Oktober 2018 den Arisierungsvorgang und das Rückstellungsverfahren unter Berücksichtigung der relevanten Rechtsge schäfte betreffend den Arisierungskomplex „Paul Josef und Johanna Robitschek“ / Sandgrube 13, Krems. Das Projekt wurde im Frühjahr 2020 abgeschlossen. Auf www.doew.at befindet sich ein Überblickstext von Brigitte Bailer zum Thema: Die Sandgrube 13 und die Gründung der Winzergenossen- schaft Krems 1938. Anfang Juli 2019 wurde auf dem Gelände der Sandgrube 13 eine Gedenktafel enthüllt, die an Paul und Johanna Robitschek erinnert. 2021 wurden die im Zuge des Projektes eruierten Akten gescannt und die Originale dem Stadtarchiv Krems übergeben. Ein Ordner mit Fotos verblieb im DÖW. Begonnen und abgeschlossen wurde 2020 eine Vorstudie zur Verstrickung des oberösterreichischen Baukonzerns Swietelsky in das NS-Zwangsarbeitsregime. Nachdem der Historiker und DÖW-Projektmitarbeiter Rudolf Leo im Öster reichischen Staatsarchiv Unterlagen zu Wohnungsarisierungen entdeckt hatte, beauftragte der Konzern das DÖW mit Recherchearbeiten, um das Ausmaß vor- handener Akten in ganz Europa zu ermitteln. Am 5. November 2020 widmete das ORF-Wirtschaftsmagazin „Eco“ (ORF 2) diesem Thema einen Beitrag unter dem Titel „Straße der SS“ und interviewte Rudolf Leo und Claudia Kuretsidis- Haider zu ihren bisherigen Forschungsergebnissen. Nachdem die Ergebnisse der Vorstudie, die unter der Leitung von Gerhard Baumgartner durchgeführt wurde, vorlagen, hat der Konzern das DÖW mit der umfassenden historischen Recher- che beauftragt. Das Projekt startet im September 2021. Nachdem das DÖW dem 15. Wiener Gemeindebezirk die Namen der ermor- deten Jüdinnen und Juden des Bezirkes für die Errichtung einer Gedenktafel übermittelt hat, erstellt Manfred Mugrauer im Auftrag der Kulturkommission ein Manuskript zum Widerstand im 15. Wiener Gemeindebezirk. Die Arbei- ten werden im September 2021 abgeschlossen. Gemeinsam mit dem Historiker Christoph Benedikter (Ludwig Boltzmann-In- stitut für Kriegsfolgenforschung) und dem Kurator des Joanneums in Graz und Künstler Günther Holler-Schuster (Neue Galerie Graz) arbeitet das DÖW unter der Leitung von Ursula Schwarz 2020/21 seine Kunstsammlung auf. Es be- herbergt rund 230 Gemälde und Grafiken von etwas mehr als 100 Künstlern, darunter auch einige wenige Künstlerinnen. Die Arbeiten sind vielfach direkte Zeugnisse aus KZ-Haft, Kriegsgeschehen, Flucht und Exil. Die Werke bilde- ten ursprünglich keine konzipierte und mit System angelegte Kunstsammlung, vielmehr handelt es sich dabei im Wesentlichen um eine Ansammlung von im
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 306 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 Laufe der Zeit überbrachten Geschenken von Künstlern und Künstlerinnen, die damit dem DÖW ihre Wertschätzung zum Ausdruck bringen wollten. Ein Teil der Kunstwerke ist in mehr oder weniger umfangreichem Ausmaß zu restau- rieren, wie dies schon bei der 2015 und 2016 gezeigten Auswahl geschehen ist. 2015 bildeten die Wiener Festwochen den organisatorischen Rahmen der Präsentation, 2016 präsentierte das GrazMuseum die Bilder und Grafiken. Das Land Niederösterreich (Abteilung Wissenschaft und Forschung, St. Pölten) för- dert die Aufarbeitung dieses Bestandes. Das Projekt wurde ins Jahr 2021 ver- längert, da die Recherche in Archiven 2020 coronabedingt zeitweise nicht oder nur schwer möglich war. Eine erste Ausstellung ist 2022 in St. Pölten geplant. In der Kunstsammlung des DÖW befinden sich Zeichnungen der Breslauerin Elisabeth Argutinsky-Dolgorukow aus Theresienstadt,1943/1944. Sie überlebte und starb 1953 in Berlin. DÖW Das DÖW hat bereits für die letzte Ausstellung des Museums Niederösterreich mit dem Titel „Der junge Hitler“ zentrale Ausstellungstücke zur Verfügung ge- stellt, wie etwa ein Notenblatt zu einer von Hitler und seinem Jugendfreund August Kubizek geplanten Oper „Wieland der Schmied“, Teil einer von der
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 307 Familie Kubizek im DÖW deponierten Sammlung an Bildern, Manuskripten und Autografen von Hitlers Jugendfreund August Kubizek. Den Themen Flucht, Vertreibung und Exil 1933–1938, 1938–1945 und Auswirkungen nach 1945 sind mehrere Beiträge im Jahrbuch 2021 gewid- met: Christine Kanzler, Flucht nach Albanien, Andrea Hurton, Verfolgung und Rettungswiderstand. Untergetauchte Wiener Juden und Jüdinnen in Belgien 1940–1945: drei Familiengeschichten und Peter Steinbach, „Wahnfrei auf sich selber stehen“. Exil und Widerstehen – Selbstbehauptung im Gegensatz. Wolfgang Schellenbacher sprach am 16. Dezember 2020 im Linzer Dorf TV zum Thema Tönende Ohnmacht – Kinder auf der Flucht. Unter der Leitung von Franjo Steiner (IZ Wien) und Gerhard Baumgartner (DÖW) startete Anfang 2020 das von der Europäischen Union im Rahmen von Interreg Austria–Hungary bewilligte Projekt border(hi)stories. Erin- nern – Gedenken – der Grenze entlang, das vom IZ Wien in Zusammenarbeit mit dem Land Burgenland, dem DÖW und ungarischen Partnern durchgeführt wird. Es befasst sich in zweieinhalb Jahren mit der 100-jährigen Geschichte der Grenzregion zwischen Ungarn und Österreich. Als Ergebnisse entstehen ein digitales Inventar der Gedächtnisorte, auf dem Dokumente, Fachliteratur und Bildmaterial öffentlich zugänglich und abrufbar gemacht werden, sowie eine interaktive Landkarte der Gedächtnisorte auf beiden Seiten der Grenze. Eine gemeinsame Wanderausstellung wird an verschiedenen Orten der Region ge- zeigt, Diskussionsveranstaltungen und Projekte an Schulen durchgeführt. The- ma ist – unter vielen anderen – beispielsweise der Bau des sogenannten Süd- ostwalls, bei dem Tausende ungarisch-jüdische ZwangsarbeiterInnen zu Tode gebracht wurden. In den Nachkriegsjahrzehnten wiederum prägte der „Eiserne Vorhang“ das Gebiet. 1956 konnten Hunderttausende Ungarn in den Westen flüchten, im historischen Jahr 1989 wurde die Grenze geöffnet. Auf österreichischer Seite sind das IZ Wien, das DÖW, das Land Burgen- land (Abteilung 7 – Bildung, Kultur und Gesellschaft, Referat Wissenschaft, Eisenstadt) beteiligt, auf ungarischer Seite Vas Megyei Önkormányzati Hivatal, Szombathely, Nyugat-Pannon Terület- és Gazdaságfejlesztési Szolgáltató Köz- hasznú Nonprofit Kft, Szombathely, Györ-Moson-Sopron Megyei Önkormá- nyzat, Györ. Strategische ProjektpartnerInnen sind: Bildungsdirektion für Wien, Bildungsdirektion für Burgenland, Soproni Tankerületi Központ, Gyori Tankerületi Központ, Sárvári Tankerületi Központ, Szombathelyi Tankerületi Központ, Verein Gedenkinitiative RE.F.U.G.I.U.S., Burgenländische Volks- hochschulen, Burgenländische Forschungsgesellschaft.
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 308 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 Ende 2019 hatte das DÖW die deutsche Ausgabe der Autobiografie von Josef Eisinger Flucht und Zuflucht. Erinnerungen an eine bewegte Jugend her- ausgegeben. Christine Schindler und Claudia Kuretsidis-Haider haben gemein- sam mit Kitty Weinberger die Bearbeitung der Übersetzung besorgt. Eisinger war mit einem Kindertransport nach England entkommen, wurde später nach Kanada verbracht und machte dort bzw. in den USA eine steile wissenschaftli- che Karriere. Das Buch bietet vielerlei Einblicke in das Leben und die Gefühls- welt eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings. Um die Menschen zuhause im ersten strengen Lockdown zu unterstützen, die virtuelle Angebote nicht nutzen konnten oder wollten, wurde die Auto- biografie, deren nahezu druckfrische Auflage noch fast vollständig im Haus vorhanden war, gratis zugeschickt. Josef Eisinger schilderte seine Erlebnis- se in Wien, auf der Flucht und in seiner neuen Heimat auf eine so mensch- liche Weise, dass sein ungebrochener Lebensmut junge wie alte Menschen in der Unsicherheit der Beschränkungen bestärken konnte. Die kleine, für DÖW-Mitglieder gedachte Gratisbuchaktion erhielt ein riesiges Echo, als die Redakteurin Gabi Hassler zusammen mit Christine Schindler im ORF (Wien heute am Karfreitag und ZIB um 9 am Karsamstag) über diese Aktion berich- teten. Die Reaktionen gingen in die Abertausende, tagelang verpackten und versendeten DÖW-Mitarbeiterinnen die Bücher. Die Anfragen kamen auch von sehr jungen interessierten Menschen und viele Töchter und Söhne frag- ten für ihre alten Eltern an. Die Rückmeldungen waren selbst dann noch po- sitiv, als die Bücher vergriffen waren. Auch der Nachdruck im Herbstlock- down, der ebenfalls kostenlos versendet wurde, konnte die Nachfrage nicht decken. Das Buch ist als kostenloser Online-Download auf www.doew.at verfügbar. Zum Themenbereich Aufarbeitung, Restitution und Entschädigung nach 1945 arbeitet vor allem die ehemalige wissenschaftliche Leiterin Brigitte Bailer seit vielen Jahren. Sie war im Sommersemester 2020 an der Ringvor- lesung von Ilse Reiter-Zatloukal Juden und Judenheit(en) in Österreich. Eine Rechtsgeschichte beteiligt und referierte zu Vertriebene sind wir. Die aus Ös- terreich vertriebenen Jüdinnen und Juden in Opferfürsorge und Rückstellung. Sie hält immer wieder Seminare am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien ab, arbeitet aber auch mit SchülerInnen und Jugendlichen. Am 27. Januar 2020 chattete sie im Rahmen einer Veranstaltung der Demokratiewerkstatt zum Thema Holocaust mit der 1. Klasse der HLW Horn (Niederösterreich) und der 4. Klasse des BG/BRG Rahlgasse (Wien) (https://www.demokratiewebstatt.at/ thema/thema-holocaust-shoah/chat-mit-expertin).
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 309 Bailer ist Mitglied des Stiftungsrates des DÖW, ebenso der österreichischen Delegation zur International Holocaust Remembrance Association (IHRA), wo sie an Publikationen zu Holocaust Distortion sowie am Projekt zu Memory Laws arbeitet. Sie ist Mitglied in der Academic Working Group und im Com- mittee on Antisemitism and Holocaust Denial. Sie wurde auch in die ExpertIn- nenkommission für Straßennamen Graz berufen und ist Mitglied im Wissen- schaftlichen Beirat von erinnern.at. Zu ihren Fachgebieten gibt sie regelmä- ßig Interviews, so im Mai 2020 in der ORF-Reihe Menschen und Mächte zum Kriegsende 1945. Insbesondere nimmt sie immer wieder zu Entnazifizierung und Umgang mit den Opfern des NS-Regimes Stellung. Bei der Internationalen Konferenz der Polish Academy of Science, Vienna, Juridification of history – between collective memory, historiography and poli- tics of memory am 18. 12. 2020 referierte sie zu From denazification to banning of Holocaust denial – the Austrian law against Nationalsocialist acitivities. Das DÖW fungierte als Projektpartner dieser Konferenz. Der Forschungsschwerpunkt des wissenschaftlichen Leiters des DÖW, Gerhard Baumgartner, ist die Geschichte der österreichischen Roma und Sinti. Als Experte zu dieser Thematik ist er ein viel gefragter Referent im In- und Aus- land, von Medien, Bildungseinrichtungen, Fachtagungen. 2020 erschien die von Gerhard Baumgartner und Herbert Brettl erarbei- tete, reich bebilderte Publikation „Einfach weg!“ Romasiedlungen im Bur- genland. Das Buch thematisiert die Zerstörung der über 120 burgenländischen Romasiedlungen durch die Nationalsozialisten. Über 400 historische Bildquel- len und Dokumente aus österreichischen und ungarischen Archiven sowie Privatsammlungen dokumentieren die Geschichte dieser Siedlungen seit dem 18. Jahrhundert bis zur Situation der Überlebenden nach 1945. Von zahlrei- chen angesetzten Buchpräsentationen vor allem im Burgenland musste ein Teil coronabedingt verschoben werden. Im Jahrbuch des DÖW 2021 skizziert Herbert Brettl Aspekte zur Genese und Struktur des „Zigeunerlagers“ Lackenbach. Gerhard Baumgartner ist Mitglied des Kuratoriums der Bundesanstalt Mauthausen Memorial. Weiterhin fungiert er u. a. als Vorstandsmitglied im Wiener Wiesenthal-Institut. Er ist Mitglied der Südostdeutschen Historischen Kommission für die Geschichte der Deutschen in Südost- und Mitteleuropa sowie ständiges Mitglied des Committee on the Genocide of the Roma der IHRA – International Holocaust Remembrance Alliance und Mitglied im Wis- senschaftlichen Beirat des internationalen Projektes Digital Archive of the Roma. Baumgartner wurde in das Kuratorium des Nationalfonds der Republik
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 310 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 Österreich kooptiert und durch Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner für die Dauer von drei Jahren als Fachbeiratsmitglied für die Erarbeitung von Vor- schlägen für die Verleihung der Wissenschaftspreise des Landes Niederöster- reich bestellt, ebenso ist er Jurymitglied des Kultursonderpreises 2020 „Prä- sentation und Vermittlung von Zeitgeschichte in Niederösterreich“. Gerhard Baumgartner ist Jurymitglied des Irene-Harand-Preises der Marktgemeinde Wiener Neudorf und des NÖ P.E.N.-Clubs. Gerhard Baumgartner und Herbert Brettl publizierten 2020 einen umfassenden und reich bebilderten Band zu den zerstörten Romasiedlungen des Burgenlandes. new academic press Baumgartner war Mitglied der Evaluierungskommission zum Heeresgeschicht- lichen Museum, die von Bundesministerin Klaudia Tanner eingesetzt wurde und unter der Leitung des Österreichischen Museumsbundes Anfang 2021 ihren Endbericht präsentierte. Neben einem bereits vorher erstellten Bericht über die vielfach kritisierten Mängel im Ausstellungsbereich „Republik und Diktatur“ beschäftigte sich der Endbericht mit der Gesamtausrichtung des Mu- seums und seiner Sammlungen. Aufgrund seiner Expertise für grundbücherliche Arisierungsverfahren wur- de Gerhard Baumgartner in die Unabhängige ExpertInnenkommission – Ge-
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 311 schichte der Nathaniel Freiherr von Rothschildʼschen Stiftung berufen, die im September 2020 von der Stadt Wien eingesetzt wurde, die Vorwürfe rund um die nach 1945 wiedererrichtete Nathaniel-Rothschild-Stiftung zu unter- suchen. Seit dem Sommer 2020 ist das DÖW mit Gerhard Baumgartner in der vom Bundesministerium für Inneres eingerichteten Arbeitsgruppe zur Erörterung der in der Entschließung 81/E des Nationalrats gestellten Fragen betreffend Untersagung der Feier im Gedenken an das „Massaker von Bleiburg“ (AG Bleiburg) vertreten, welche die zeitgeschichtlichen Hintergründe sowie die politischen Implikationen der jährlich vom Verein Bleiburger Ehrenzug in Kärnten abgehaltenen kroatischen Gedenkfeier für die ehemalige Armee des Ustascha-Staates untersuchen soll. Die erste Sitzung fand am 19. September 2020 im BMI statt, weitere Sitzungen virtuell. Die Gedenkfeier hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem der größten Treffen rechtsextremer Aktivisten aus ganz Europa entwickelt, weswegen das DÖW in den letzten Jahren – in Zusam- menarbeit vor allem mit Mathias Lichtenwagner und dem Mauthausen Komi- tee Österreich – wiederholt Sachverhaltsdarstellungen wegen Verstößen gegen das Verbotsgesetz und das Abzeichengesetz eingebracht hat. Nach einer Vor- sprache des Stiftungsratsvorsitzenden BM a.D. Rudolf Edlinger bei Kardinal Schönborn hat sich auch die Katholische Kirche von der Kooperation der Ver- anstaltung in Bleiburg zurückgezogen. Die umfangreichen Dokumentationen der Experten des DÖW sowie der Österreichischen Akademie der Wissenschaf- ten wurden von der Kommissionsleitung mit großem Interesse aufgenommen. 2020 entfiel das Bleiburger Treffen im Zuge der Corona-Maßnahmen. Im Juli 2020 brachten ÖVP, SPÖ, Grüne und Neos einen gemeinsamen Antrag im Par- lament gegen das Bleiburger Ustascha-Treffen ein. Unter Berücksichtigung der Grundrechtecharta, der Menschenrechtskonvention sowie verfassungsrechtli- cher Vorgaben sollen die rechtlichen Möglichkeiten geprüft werden, um die ul- tranationalistisch-faschistische Gedenkfeier ab dem Jahr 2021 zu unterbinden. Gerhard Baumgartner hielt im Sommersemester 2020 eine Lehrveranstaltung an der Donauuniversität Krems zum Thema „Migration in Europa“. Nach den Forschungen der Projektmitarbeiterin Sabine Schweitzer zu Dezen- trale nationalsozialistische „Zigeunerlager“ auf dem Gebiet des ehemaligen Österreich 1938–1945 und Internierung und Zwangsarbeit von Roma und Sinti auf dem Gebiet des heutigen Österreich unter der Leitung von Gerhard Baumgartner wurde die Publikation zu den Roma-Lagern in der NS-Zeit vor- bereitet. Sie erscheint 2021 in Kooperation mit dem Kulturverein österreichi- scher Roma und deren Obmann Andreas Sarközi.
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 312 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 Zum Themenbereich der NS-Medizinverbrechen ressortiert die Gedenkstätte Steinhof. Die Gedenkstätte Steinhof ist – da auf Spitalsgelände gelegen – seit März 2020 bis auf Weiteres geschlossen, da das Gelände nur in Ausnahmefäl- len betreten werden darf. Das ist umso bedauerlicher, als die Nachfrage unge- brochen hoch ist. Das gesamte Gelände des ehemaligen Otto-Wagner-Spitals wird in den kommenden Jahren umgewidmet und umgebaut – in erster Linie für die Central European University, die von Budapest nach Wien übersiedelt, aber auch für andere Kultureinrichtungen. Die vom DÖW errichtete und seit vielen Jahren betreute Gedenkstätte Steinhof ist in die Planungen mit einbezo- gen. Die Gespräche dazu stehen am Anfang. Die zahlreichen Anfragen zum Thema der NS-Medizinverbrechen, ins- besondere auch von Medien aus aller Welt (vor allem auch aus Japan), wer- den von Peter Schwarz, einem der Ausstellungsmacher der Gedenkstätte und ausgewiesenen Experten zum Thema, für das DÖW bearbeitet. Für die vielen Interessierten, die die Gedenkstätte aktuell nicht besuchen können, liegt der umfassende Ausstellungskatalog vor. Die Inhalte sind auch auf https://www.ge denkstaettesteinhof.at verfügbar. Im Bereich des Forschungsschwerpunkts der NS-Justiz ist 2020 das Projekt Nazifizierung der österreichischen Justiz 1938–1945: Biographien von Rich- tern und Staatsanwälten von Ursula Schwarz fortgeführt worden. Es wurde im Frühjahr 2021 abgeschlossen. Das Projekt hatte die sukzessive Nazifizierung der österreichischen Justiz sowohl im legistischen als auch im organisatori- schen Bereich zum Inhalt, insbesondere die personelle Seite dieses Vorgangs: Außerdienststellungen von für das NS-Regime „untragbaren“ Angehörigen der Justiz 1938, die Tätigkeit von Richtern und Staatsanwälten 1938–1945 sowie ihre Karriereverläufe in der Zweiten Republik. Das Projekt ergänzte die Ergeb- nisse des Projekts Zur Nazifizierung der Strafjustiz in Österreich 1938–1945, das in Kooperation des DÖW mit Wolfgang Form von der Universität Marburg durchgeführt worden war. Die seit ihrer Gründung 1998 am DÖW angesiedelte Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz wird von Claudia Kuretsidis-Haider und Winfried R. Garscha geleitet, Siegfried Sanwald ist Projektmitarbeiter und be- treut die im DÖW verwahrten Sammlungen. Rudolf Leo ist für die Öffentlich keitsarbeit zuständig. Die Forschungsstelle bildet den organisatorischen Rah- men für den Arbeitsschwerpunkt Nachkriegsjustiz des DÖW. Dieser umfasst neben der Akquisition von Aktenkopien österreichischer Gerichte und Strafver- folgungsbehörden, deren Auswertung und archivalischen Aufbereitung auch
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 313 die Betreuung von BesucherInnen des DÖW, die sich über den Standort von Gerichtsakten informieren wollen und über die besonderen Bedingungen bei der Verwendung von Justizakten als Geschichtsquelle beraten werden. Siehe dazu und zu vielen anderen Themenfeldern: http://www.nachkriegsjustiz.at/. Werner Schad (hintere Reihe, rechts außen) aus Bregenz, geb. 11. 1. 1914, wurde ins KZ Mauthausen deportiert und im September 1944 in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet. Hans Mäser / DÖW Seit 2011 führt Siegfried Sanwald für die Zentrale österreichische Forschungs- stelle Nachkriegsjustiz in Kooperation mit Yad Vashem und dem USHMM das Digitalisierungsprojekt Ermittlungen wegen NS-Verbrechen durch die ös- terreichische Justiz 1956–2008 durch. Ziel ist eine Kompletterfassung aller nach 1956 in Österreich geführten Verfahren wegen nationalsozialistischer Ver- brechen, und, soweit rechtlich möglich, deren Digitalisierung. Nach der Abschaffung der Volksgerichte im Dezember 1955 oblag die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen den Landes- und Kreisgerichten. Seit 1956 erhoben Staatsanwaltschaften in 35 Fällen Anklage, von 1956 bis 1975 ergingen 20 Schuld- und 23 Freisprüche. Diese Verfahren
www.doew.at – Christine Schindler (Hrsg., im Auftrag des DÖW), Verfolgung und Ahndung, Wien 2021 (= Jahrbuch 2021) 314 Bilanz eines (außer)gewöhnlichen Jahres: DÖW 2020 waren Gegenstand der zeitgenössischen Medienberichterstattung, aber auch rechtsgeschichtlicher und politikwissenschaftlicher Publikationen. Über einige Prozesse gibt es zudem Dokumentar- und Spielfilme. Wenig bekannt ist hingegen die Einleitung weiterer, mehr als 1.000 straf- rechtlicher Verfahren. Diese wurden allerdings – oft nach mehrjährigen, in- tensiven polizeilichen bzw. staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen – eingestellt und nur in Ausnahmefällen öffentlich bekannt. Auch wenn kein Urteil ergangen ist, stellen auch diese Akten mit ihren zahlreichen Querverweisen, Dokumenten und Zeugenaussagen eine bedeutende historische Quelle dar. Folgende Gerichtsstandorte sind komplett digitalisiert: Wien, Eisenstadt, Graz, Leoben, Feldkirch und Ried im Innkreis. Derzeit ist der Gerichtsstandort Klagenfurt in Arbeit. Hinsichtlich der bereits von den Landesarchiven über- nommenen Akten der Gerichtsstandorte Innsbruck, Salzburg, Linz, Steyr, Wels, St. Pölten, Krems, Wiener Neustadt und Korneuburg ist die Frage der rechtli- chen Möglichkeiten der Digitalisierung noch zu klären. Durch das Programm Curriculum Justiz- und Zeitgeschichte ist die For- schungsstelle Nachkriegsjustiz seit 2009 in die Ausbildung österreichischer Rich terInnen und StaatsanwältInnen (RichteramtsanwärterInnen, „RiAAs“) ein gebunden. Das von Winfried Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider gemein sam mit dem Vorsteher des Bezirksgerichts Wien-Meidling, Oliver Scheiber, konzipierte Programm mit den Schwerpunkten Strafjustiz, Straf- und Maßnahmenvollzug sowie Richterkarrieren vor und nach 1945, Justizreformen der 1970er Jahre und „Transitional Justice“ (Entschädigung von NS-Opfern, justizieller und gesellschaftspolitischer Umgang mit Menschheitsverbrechen in der Gegenwart) wird in jeweils zwei Modulen durchgeführt, bei denen auch die Gedenkstätten Steinhof und Mauthausen besucht werden. Unter dem Ti- tel Curriculum Justiz- und Zeitgeschichte wurde das Programm 2017 von Justizminister Wolfgang Brandstetter zum verpflichtenden Bestandteil der Ausbildung gemacht und in die Kompetenz der Oberlandesgerichte übertra- gen. Das Curriculum fand von 23. bis 25. November 2020 als Zoom-Meeting statt. Neben Claudia Kuretsidis-Haider und Winfried Garscha haben Rechtsan- walt Rudolf Vouk und die ehemalige Volksanwältin Terezija Stoisits, Markus Drechsler (Obmann der Selbst- und Interessensvertretung zum Maßnahmen- vollzug), Gabriele Fischer (Leiterin der Drogenambulanz, Suchtforschung und -therapie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie), der Künst- ler Nikolaus Habjan, die Kulturwissenschafterin Judith Kohlenberger (Wirt- schaftsuniversität Wien), Harald Lipphart-Kirchmeir (Leiter der JA Eisenstadt) sowie Oliver Scheiber referiert.
Sie können auch lesen