Mystik im Islam und die Frage des Friedens Muna Tatari
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Publikation der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft e.V.
Publication of the International Erich Fromm Society
Copyright © beim Autor / by the author
Mystik im Islam und die Frage des Friedens
Muna Tatari
Der nachfolgende Beitrag wurde bei der Herbsttagung 2006 der Internationalen Erich-Fromm-
Gesellschaft im Niels-Stensen-Haus bei Bremen, Oktober 2006, vorgetragen. Die Tagung hatte den
Titel: „Mystik und gesellschaftliche Verantwortung. Der spirituelle Kern der Weltreligionen“. Erst-
veröffentlichung als “Mystik im Islam und die Frage des Friedens,” in: Fromm Forum (Deutsche Aus-
gabe - ISBN 1437-0956) Sonderheft 11a / 2007, Tuebingen (Selbstverlag) 2007, pp. 29-35.
Copyright © 2007 by Muna Tatari, Grömitzer Weg 28 a, D-22147 Hamburg; E-Mail: munatata-
ri24[at-symbol]yahoo.de.
Einleitung riger Krieg, die Inquisition und als jüngstes Bei-
spiel der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, wo
Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass im Pro- eine ethnisch-religiös gemischte Argumentation
gramm der Tagung die Frage des Friedens vor zu beobachten war. Diese Erfahrungen führten,
dem Hintergrund des tagespolitischen Weltge- denke ich, zu einem besonderen Augenmerk auf
schehens besonders an die Religion des Islam ge- und Sensibilität für religiös begründete Gewalt.
stellt wird. Daraus folgt für viele, auf diese geschichtliche Er-
Ein auffälliges Phänomen in der aktuellen fahrung gegründet, dass Religionen an sich – und
Debatte zum Islam ist in der Tat, dass Muslime heute vor allem der Islam – eine Neigung zur
zunehmend unter dem Aspekt des Gewaltprob- Gewalt haben.
lems (innerhalb der eigenen Gemeinschaft und Es lässt sich fragen, ob diese These die Wirk-
gegen andere) dargestellt werden. Dies spiegelt lichkeit in angemessener Form erklärt. Ist die
zum einen eine real vorhandene Problematik in Welt nach der Aufklärung und mit zunehmender
Teilen von muslimischen Gesellschaften wieder – Säkularisierung tatsächlich friedlicher geworden?
ich nenne als Stichworte ‘Anschläge im Namen Und beschränken bzw. konzentrieren sich die zu
der Religion’ und ‘gewalttätiges Verhalten gegen beobachteten aggressiven Auseinandersetzungen
Frauen’. In ihrer besonderen Betonung wird auf Menschen und Länder mit muslimischem
aber meines Erachtens ein verzerrtes Bild der Hintergrund? Dies lässt sich meiner Ansicht nach
muslimischen Allgemeinheit gegeben, da vor- nicht unbedingt bejahen und würde meines Er-
handene und dokumentierte friedensfördernde achtens auch der Komplexität menschlichen
und de-eskalierende Haltungen und Aktionen Handels nicht gerecht.
von Muslimen ebenso wie das ganz normale un- Es ist allerdings festzustellen, dass die Sicht
spektakuläre Alltagsleben oft keinen Eingang in auf den Islam als ein Unsicherheitsfaktor in den
die mediale Berichterstattung erhalten und dem- 80er und 90er Jahren in den Mittelpunkt politi-
entsprechend nicht in die allgemeine Öffentlich- scher Analysen gerückt ist, und diese Religion
keit transportiert werden und darüber hinaus ei- vermehrt unter diesem Paradigma untersucht
ne Differenzierung zu den Motiven und Hinter- und dargestellt wurde.
gründen in religiöse, soziologische, politische
und wirtschaftliche Aspekte (usw.) eher selten 1. Ausgangspunkt:
erfolgt. Gedanken zum islamischen Menschenbild
Blickt man in die Geschichte Europas, so
sind den meisten Europäern noch religiös legiti- Ein Blick in innerislamische Quellen zu der Fra-
mierte Gewalt bis hin zu Religionskriegen nach- gestellung, wie sich Religionen zum Frieden ver-
drücklich im Gedächtnis wie z. B. der Dreißigjäh- halten, eröffnet folgende Orientierungspunkte:
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Am Anfang steht dabei das islamische Men- nimmt nur an von den Gottesfürchtigen,
schenbild, das drei Aspekte des Menschseins in wenn du auch deine Hand nach mir aus-
den Mittelpunkt stellt: der Mensch als Adam1 ist streckst, um mich zu erschlagen, so werde
zum einen ein unteilbares, in sich harmonisches ich doch nicht meine Hand nach dir ausstre-
Individuum; mit dem Begriff Insān liegt die Be- cken, um dich zu erschlagen. Ich fürchte
tonung auf dem Aspekt, dass der Mensch nach Gott, den Herren der Welten. Ich will, dass
islamischem Verständnis von seinem Wesen her du meine Sünden tragest zu den deinen und
nett und gesellig ist. Er braucht für sein physi- so unter den Bewohnern der Hölle seiest,
sches und psychisches Wohlbefinden die Gesell- und das ist der Lohn der Frevler.“
schaft anderer. Als Bašar wiederum braucht der Doch es trieb ihn, seinen Bruder zu tö-
Mensch die zwischenmenschliche Auseinander- ten: also erschlug er ihn und ward der Ver-
setzung (in der liebevollen Zuwendung und auch lorenen einer.
im Konflikt), um Mensch zu werden, und er ist Da sandte Gott einen Raben, der auf
darüber hinaus potentiell Träger froher Botschaft dem Boden scharrte, dass er ihm zeige, wie
von Gottes Anwesenheit. er den Leichnam seines Bruders verbergen
Wenn Konflikte nun – wie es der Gehalt des könne. Er sprach: „Weh mir! Bin ich nicht
qur’anischen Begriffes Bašar nahe legt – als zum einmal imstande, wie dieser Rabe zu sein
Leben unbedingt dazugehörende Situationen und den Leichnam meines Bruders zu ver-
verstanden werden, in denen der Mensch gefor- bergen?“ Und da wurde er reuig.
dert ist, Maß zu halten und gerecht zu sein – im Aus diesem Grunde haben Wir den Kin-
Zweifelsfall auch gegen sich selbst2 – also kon- dern Israels verordnet, dass wenn jemand
fliktfähig zu werden, so ist die Frage danach, einen Menschen tötet, der niemanden getö-
wann und wodurch in solchen konfliktreichen tet oder Unheil im Land gestiftet hat, es so
Situationen das Maß des Konstruktiven über- sein soll, als hätte er die ganze Menschheit
schritten wird, der nächste Schritt. getötet; und wenn jemand einem Menschen
Im Qur’an wird dies unter anderem an der das Leben erhält, es so sein soll, als hätte er
Kain- und Abelerzählung veranschaulicht: der ganzen Menschheit das Leben erhalten.
Verkünde ihnen wahrheitsgemäß die Ge- Und Unsere Gesandten kamen zu ihnen mit
schichte von den zwei Söhnen Adams, wie deutlichen Zeichen; dennoch, selbst nach
sie beide ein Opfer darbrachten und es ward diesem, begehen viele von ihnen Ausschrei-
angenommen von dem einen von ihnen tungen. (Sure 5:28-33)3
und ward nicht angenommen von dem an-
deren. Da sprach dieser: „Wahrhaftig, ich Gewalt ist eine Potenz des Menschen und Ge-
schlage dich tot.“ Jener erwiderte: „Gott walt geschieht zwischen Menschen unter ande-
rem in einer Eskalation von Missverständnissen,
1 Ein wichtiges hermeneutisches Mittel in der Anschuldigungen und Selbstgefälligkeit; Men-
Qur’aninterpretiation stellt die Benutzung von Beleg- schen können auch unverschuldet Gewalt er-
wörterbüchern dar, die den vor- und frühislamischen leiden.
Sprachgebrauch durch überlieferte Poesie und Prosa In dieser Erzählung gibt es die Polarität zwi-
dokumentieren. Durch sie erlangt man Aufschluss über schen ‘absolut gut’ und ‘absolut böse’ nicht, was
den Sinngehalt und die Komplexität der im Qur’an als Plädoyer für eine differenzierte Wahrneh-
verwendeter Bergriffe. Gängige Lexika sind in diesem mung des vermeintlichen Gegners verstanden
Gebiet: Ibn Manzūr: Lisān al-cArab. Bairut 1955 und werden kann. Hier wird auch der ‘Böse’ in sei-
az-Zabidī: Tag al-cArūs. Ägypten 1306 (h). Eine Über-
ner ganzen Schuld nicht verteufelt, also nicht
tragung ins Englische hat der Orientalist Lane geleistet:
Lane, Edward William: Arabic-English-Lexicon. Bairut entmenschlicht. Dieser Mechanismus der
1997. Auf sie nehme ich in den Begriffsklärungen ara- Schwarz-Weiß-Malerei ist aber ein wesentliches
bischer Schlüsselbegriffe Bezug.
2 Sure 4:136: „O die ihr glaubt, steht ein für die Ge-
rechtigkeit und seid Zeugen gegenüber Gott, auch 3Die Zitate aus dem Koran sind entnommen: Koran.
wenn es gegen euch selbst oder gegen Eltern oder Der Heilige Qur’an. Frankfurt am Main 1989, überar-
Verwandte sei [...].“ beitet von Muna Tatari.
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Element in der Konstruktion von Feindbildern. nicht gesagt: Ich weiß die Geheimnisse der
Der ethische Anspruch am Ende der Erzäh- Himmel und der Erde, und Ich weiß, was ihr
lung zeigt, dass ein menschliches Leben so hoch offenbart und was ihr verhehlt?“
ist wie die gesamte Menschheit zusammen ge- Und (gedenke der Zeit) da Wir zu den
schätzt ist und sein Schutz bzw. der Angriff dar- Engeln sprachen: „Gehorchet Adam“, und sie
auf dementsprechend verurteilt wird.4 alle gehorchten; nur Iblis nicht. Er weigerte
Aus diesen Aspekten lässt sich im Hinblick sich und war zu stolz, denn er war der
auf die paradigmatische Adamserzählung eine is- Ungläubigen einer.
lamischen Perspektive auf die Natur des Men- Und Wir sprachen: „O Adam, weile du
schen an sich ableiten. und dein Weib in dem Garten, und esset
Und als dein Herr zu den Engeln sprach: „Ich reichlich von dem Seinigen, wo immer ihr
will einen Statthalter auf Erden einsetzen“, wollt; nur nahet nicht diesem Baume, auf
sagten sie: „Willst Du denn dort solche Wesen dass ihr nicht Frevler seiet.“
haben, die darauf Unfrieden stiften und Blut Doch Satan ließ beide daran straucheln
vergießen? – und wir loben und preisen Dich und trieb sie von dort, worin sie waren. Und
und rühmen Deine Heiligkeit.“ Er antwortete: Wir sprachen: „Gehet hinweg, einige von
„Ich weiß, was ihr nicht wisst.“ euch sind Feinde der andern, und für euch ist
Und Er lehrte Adam alle Namen; dann eine Wohnstatt auf Erden und ein Nießbrauch
stellte Er (die Benannten) vor die Engel hin für eine Weile.“
und sprach: „Nennt Mir ihre Namen, wenn Dann empfing Adam von seinem Herrn
ihr im Recht seid.“ gewisse Worte (des Gebets). So kehrte Er Sich
Sie sprachen: „Heilig bist Du! Wir haben gnädig zu ihm; wahrlich, Er ist der oft gnädig
kein Wissen außer dem, was Du uns gelehrt Sich Wendende, der Barmherzige.
hast; wahrlich, Du allein bist der Allwissende, Wir sprachen: „Gehet hinaus, ihr alle,
der Allweise.“ von hier. Und wer, wenn zu euch Weisung
Er sprach: „O Adam, nenne ihnen ihre von Mir kommt, dann Meiner Weisung folgt,
Namen“; und als er ihnen ihre Namen auf die soll keine Furcht kommen, noch sollen
genannt hatte, sprach Er: „Habe Ich euch sie trauern.“ (Sure: 2:30-39)
Der Mensch ist also ambivalent und trägt zum
einen die Potenz zum zerstörerischen Handeln
4 Der malikitische Rechtsgelehrte al-Qurt ubī (gest. sich. Zum anderen ist er ausgezeichnet mit den
1172) schreibt in seinem Qur’ankommentar dazu, dass Fähigkeiten zum Guten, Kreativen und Schönen,
Kain und Abel als Prototypen der Menschheit ver- verbunden mit einer dem Menschen eigenen
standen werden können und es sich hier um eine Fähigkeit zu lieben. Der Mensch ist hier begleitet
Lerngeschichte handelt, in der es um Eifersucht, Neid,
von Gott als seinem Schöpfer und Erzieher und
Missgunst und grenzüberschreitendes Verhalten geht.
Da jeder Mensch ein feststehendes Recht auf Leben begleitet von Seinem Vertrauen in das gute Po-
hat, so al-Qurt ubī, ist die Tötung eines Menschen ein tential.
Übergriff auch auf das Lebensrecht an sich, an dem al- Es erscheint mit wichtig, sich diese Ambiva-
le Menschen einen Anteil haben. Wichtig ist für al- lenz – aber auch die Unterstützung Gottes – als
Qurt ubī auch der Rabe, der für ihn als Zeichen der grundsätzlich zum Menschen dazugehörig einzu-
Kommunikation steht, die Gott Kain nach seiner gestehen, und zwar zu jedem Menschen, da
verbrecherischen Tat anbietet und die Kain einsichts- sonst der Gefahr, eigene Unzulänglichkeiten und
und reuevoll annimmt. Al-Qurt ubī schließt diesen Schlimmeres auf andere zu projizieren, Tür und
Abschnitt, indem er sagt, dass einen Menschen zu tö-
Tor geöffnet wäre.
ten heißt, eine gesamte Menschheit zu töten, weil
man mit dem Tod auch Ideale, Werte und Prinzipien,
die Leben an sich schützen, es gut und gerecht ma- 2. Problematisierung:
chen, „tötet“. Deswegen wiegt die Rettung eines Gewalt und das Wesen von Religionen
Menschen so wie die Rettung der gesamten Mensch-
heit, da man implizit auch die gemeinschaftstragenden Nun gibt es in der Analyse des norwegischen
Werte rettet und sie durch den eigenen Einsatz zur Konflikt- und Friedensforschers Johann Galtung
Existenz bringt und mit Leben füllt.
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verschiedene Gesichter von Gewalt: schen Perspektive ist festzuhalten, dass dabei die
- die körperliche konkrete Gewalt, die, wenn Menschen in ihrer Verschiedenheit gleich – da
man Zeuge wird (durch Berichte im Fernse- vom gleichen Ursprung – sind:
hen, in Reportagen oder in der unmittelba- „O ihr Menschen, Wir haben euch von
ren Begegnung... ) zumeist eine instinktive, Mann und Frau erschaffen und euch zu Völ-
energische Ablehnung hervorruft kern und Stämmen gemacht, dass ihr einan-
- und die strukturelle abstrakte Gewalt, die in der (an)erkennen möchtet. Wahrlich, der
Form von unausgeglichen strukturierten po- Ehrenvollste von euch ist vor Gott der, der
litischen, wirtschaftlichen, sozialen oder bil- unter euch am stärksten im Bewusstsein von
dungstechnischen Systemen wirken kann Gottes Gegenwart lebt und handelt.“ (Sure:
und auf den ersten Blick weniger spektakulär 49:14 – Übersetzung: Muna Tatari).
und oft erst im zweiten Hinsehen erkennbar Es kann demnach keine aufs Ganze betrachteten
ist. Hier ist jeder von uns aus den postindus- ‘Qualitätsunterschiede’ in den verschiedenen re-
triellen Ländern auf indirekte Art ein Mittä- ligiösen Traditionen geben, da sie zu einem so
ter, da Profiteur, dieser Art von Gewalt. Sie großen Teil von Menschen gemacht sind. Näh-
ist trotz ihres abstrakten und bisweilen ano- me man dies an, liefe man Gefahr, in rassistische
nymen Charakters vom Menschen gemacht Denkstrukturen abzugleiten, welche manchmal
und hat unter anderem fehlende wirtschaft- auch unter dem Stichwort der ‘kulturellen Diffe-
liche Chancengleichheit und damit Armut, renz’ hier und da zum Tragen kommen können.
Unterentwicklung bis hin zum Sterben der Welche Umstände befördern es jetzt, dass
Menschen in Ländern der Dritten Welt zur Menschen einer religiösen Tradition in Phasen,
Folge. in verschiedenen Umständen mal mehr und mal
Es stellt sich im Hinblick auf das Thema meines weniger friedensfördernd handeln? Politische,
Vortrages die Frage, ob es religiöse Systeme gibt, wirtschaftliche und soziale Strukturen sind nicht
die eher geneigt sind, Gewalt zu befördern bzw. nur Außenfaktoren, auf die man die alleinige
zu schwach sind, diese abzuwehren. Hier lässt Schuld schieben könnte, da sie in einer engen
sich die These aufstellen, dass im Kern der Ent- Wechselbeziehung zu religiös-philosophischen
stehung von Religionen allgemein eine Erfah- Anschauungen einer Gesellschaft stehen und sie
rung von Gott – oder neutraler formuliert: von religiöse Anschauungen und die Entwicklung
dem Ursprung allen Seins – steht und im An- ganzer theologischer Systeme prägen können,
schluss daran menschliche Interpretationen und z.B. in Form von Abgrenzungstheologien wie in
Systematiken diese Erfahrungen in einen raum- Ägypten und Pakistan zu Beginn des 20. Jahr-
zeitlichen Kontext setzen.5 Wichtig in der islami- hunderts (gegen die koloniale Erfahrung) oder
einer dezidierten Befreiungstheologie wie in
5 Der Theologe und Rechtsgelehrte Mehdi Razvi for- Südafrika (gegen die Apartheid). Aber es scheint,
muliert dies so: „Wie der große Jurist und dass in der Verwobenheit von religiösen Quellen
Qur’anexeget al-Qurtubi […] in seinem monumentalen mit geschichtlichen Erfahrungen und aktuellen
Qur’ankommentar 16:10-14 deutlich macht, spricht der Lebenssituationen interpretationsoffene Texte
heilige Qur’an an dieser Stelle von einer einzigen aus allen religiösen Traditionen auch zur Recht-
transzendenten Religion (Din) und mehreren, einander fertigung von grenzüberschreitendem Verhalten
folgenden, aber auch gleichzeitig existierenden Schari- und sogar Gewalt herangezogen wurden und
cahs, oder immanenten Religionen, z.B. neben der is-
werden.6
lamischen auch jüdische, christliche, sowie vor-, nach-, Es ist allgemein zu beobachten, dass der
und außerqur’anische Glaubensgemeinschaften. Alle
Mensch eine Legitimation für Gewalt braucht, in
diese Scharicahs haben ähnliche Prinzipien und Zielset-
zungen, auch wenn sie in den wörtlichen Formulierun-
gen und Detailtragen voneinander stark abweichen sellschaft anzustreben.“ (Razvi, Mehdi: Die Bedeutung der
und sich sogar widersprechen können. Diese Einsicht Glaubensfreiheit aus islamischer Sicht, in: Friedman, Michel
über die vielfältige Entwicklung der transzendenten (u.a.) (Hg.): Religionsfreiheit. Heidelberg, 1996, S. 38.)
göttlichen Leitung in einem raumzeitlichen Ablauf der 6 Siehe hierzu: Christoph Schwöbel und Dorothee von
menschlichen Geschichte hat die Muslime dazu geführt, Tippelskirch (Hg.): Die religiösen Wurzeln der Tole-
eine multikulturelle, multireligiöse und pluralistische Ge- ranz. Freiburg im Breisgau 2002.
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dem Moment, wo er sie als solche erkennt, da einer Haltung, in der es zunehmend schwerer
er sie scheinbar natürlicherweise als unrecht fällt, sich gegen andere aus einem Gefühl der
wahrnimmt (keiner legitimiert sich in der Regel Überlegenheit oder aus einem Gefühl der Ohn-
für schönes und gutes Tun). Diese Legitimation macht abzugrenzen: friedensstiftendes Verhalten
kann nun geschehen unter anderem im Namen kann so möglich werden.11
Gottes, aber auch im Namen der Aufklärung
und auch im Namen der freien Marktwirtschaft,
denn Globalisierungskritiker christlicher und is- 4. Tragende Innerlichkeit:
lamischer Herkunft nehmen in ihren Analysen Das Wesen islamischer Mystik –
zunehmend religiöse Elemente in der Markt- eine allgemeine Einführung
gläubigkeit vieler Menschen war, die darauf auf-
bauend ihre gesellschaftspolitischen und gegebe- Erste Stichwörter aus dem Feld der Mystik sind
nenfalls auch ihre wirtschaftlich-außenpolitischen bereits genannt: Selbsterkenntnis, Gotteser-
Aktionen gestalten.7 kenntnis und Selbsterziehung.12 In diesem Zu-
sammenhang ist besonders der Theologe und
Mystiker al-Ġazzalī zu nennen, der die Verbin-
3. Alternative Optionen: dung von Ethik und Recht mit Mystik neu belebt
Gangbare Wege zum Besseren hat, unter anderem mit dem Argument, dass
wahrer Glaube und darauf aufbauendes ethi-
Wie in allen Religionen zu finden, hat auch die sches Handeln nicht über eine intellektuelle An-
islamische Tradition ihre spezifischen Wege ent- eignung oder gar kritiklose Übernahme von
wickelt, die aus dem Wirkzusammenhang zwi- Lehrmeinungen entstehen kann, sondern nur
schen destruktivem Potential im Menschen an durch die eigene Erfahrung gespeist sein soll, die
sich und von ihm entwickelten Legitimierungs- dann mit den Mitteln der Vernunft reflektiert
mechanismen heraus führen können. Im Mittel- wird und seine Wirkung im täglichen Leben
punkt steht dabei das Bemühen um Selbster- zeigt.13
kenntnis und einer damit einher gehenden An-
strengung um Selbsterziehung. Nach einer Über- (u.a.) 1999, S. 116 -129.
lieferung von Muhammad, sind Selbsterkenntnis 11 Als klassische Felder islamischer Gelehrsamkeit gel-
und Gotteserkenntnis eng miteinander verbun- ten gemeinhin: Ethik bzw. Recht, Theologie, Philoso-
den.8 Selbsterkenntnis führt demnach zu einem phie und Mystik.
12 Die These, dass die islamische Mystik genuin aus is-
klareren Gottesverständnis, da der Einfluss eige-
ner Ängste, Wünsche und auch Projektionen in lamischen Quellen entwickelt wurde, ist immer wie-
Bezug auf das jeweilige Gottesbild bewusst wer- der kontrovers diskutiert worden. Sicherlich kann man
zum einen davon ausgehen, dass keine religiösen oder
den.9
philosophischen Traditionen in einem geistesgeschicht-
Die Verbindung von Selbsterkenntnis und lichen Niemandsland entstanden sind und zum ande-
Selbsterziehung mit Ethik10 wiederum führen zu ren gleichzeitig das jeweils Originäre einer bestimmten
Anschauung erkennen. Die Islamwissenschaftlerin
7 Vgl. Esack, Farid: In Search of Progressive Islam Bey- Schimmel stellt dazu fest: „Tholuck [19.Jahrhundert],
ond 9/11, in Omid Safi (ed.): Progressive Muslims. ein guter Protestant und daher durchaus anti-mystisch
Oxford 2003, S. 87-91. eingestellt, verstand immerhin, dass „die Sufi-Lehre
8 Dies geht zurück auf eine Prophet Muhammad zuge- aus der eigenen Mystik Muhammads entsprang und
schriebene Überlieferung: „Wer sich selbst erkennt, aus ihr erklärt werden kann“, und „Doch wusste Ni-
erkennt seinen Herrn.“ cholson wohl, dass die frühen asketischen Bewegun-
9 Mehdi Razvi in Zusammenarbeit mit Halima Krau- gen innerhalb des Islam ohne Schwierigkeiten aus is-
sen und Pia Köppel: Entdeckungsreisen im Koran. lamischen Wurzeln erklärt werden können und das
Zwölf Lehrgespräche. Hamburg 2001, S. 45, Kapitel 9: daher die ursprüngliche Form des Sufismus ‚ein eige-
Mystik im Islam: S. 126-142. borenes Produkt des Islam’ ist.“ Aus: Schimmel, An-
10 Vgl. Krausen, Halima: Befreiungstheologie im Islam. nemarie: Mystische Dimensionen des Islam. Aalen
In: Thorsten Knauth und Jaochim Schroeder (Hg.): 1979, S. 9f.
Über Befreiung. Befreiungspädagogik, Befreiungsphi- 13 Vgl. Zakzouk, Mohmoud: Abū H amīd
losophie und Befreiungstheologie im Dialog. Münster Muh ammad al Ghazalī (1058-1111). In: Friedrich
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Schon einige Jahrhunderte früher wurde abzubauen16, bisweilen ein mühsamer Weg und
nicht nur die Verbindung von ethischem Han- mit viel Geduld sich selbst gegenüber verbunden
deln und Gottesverbindung thematisiert sondern ist, spricht man in diesem Kontext in der islami-
auch die Stufen der Motivationen zum Guten schen Tradition vom großem Ğihād17, der gro-
diskutiert, wie folgende Überlieferung der gro-
ßen Mystikerin Rabī’a al-Adawiyya (gest. 801)
zeigt:
16 Der Weg, der zu gehen ist, führt durch verschiedene
Stufen der Entwicklung: von der treibenden Psyche,
Einmal wurde sie in einer Straße Basras ge-
über die belastete, klagende, gereinigte, beruhigte, zu-
fragt, warum sie eine Fackel in der einen Hand friedene und in Gottes Zufriedenheit seiende Psyche.
und einen Eimer Wasser in der anderen Hand Vgl. u.a. Corbin, Henry: Die Smaragdene Vision. Der
trage, und sie antwortete: „Ich will Feuer ans Licht-Mensch im persischen Sufismus. München 1989,
Paradies legen und Wasser in die Hölle gießen, S. 93-94. Hier führt Corbin in Aspekte der Lehre
damit diese beiden Schleier verschwinden und es Nağmudīn Kubras (13. Jahrhundert) ein.
17 „Die Bemühung im Lebenskampf, darunter die Be-
deutlich wird, wer Gott aus Liebe, nicht aus Höl-
lenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbete.“14 mühung, auf rechtmäßige Weise den Lebensunterhalt
Wenn der Mystiker Ğunaid (gest. 910) sagt, zu verdienen und sich gegen Tyrannei und Unterdrü-
ckung durchzusetzen, ist durchaus ein Aspekt des Ji-
dass Sufismus verinnerlichte und praktiziert Ethik
had. Ein großes befreiungstheologisches Gewicht liegt
ist, gespeist aus einer persönlichen Gotteserfah- in der Aussage des Propheten (...): ‚Der vorzüglichste
rung, dann zeigt sich hier, dass zum einen der Jihad ist ein gerechtes Wort gegenüber einem un-
Läuterung des Herzens und zum anderen der Er- gerechten Herrscher.’ Dazu bedarf es der Aufrichtig-
ziehung der Psyche (nafs) als Sitz des Willens keit, Geduld und Zivilcourage. Aber nicht alle Aspekte
und der Kraft des Menschen ein wichtiger Raum von Jihad werden so deutlich nach außen sichtbar,
gegeben werden sollte, um dieses Ziel zu errei- vor allem, wenn es um ethische Werte geht. Ein Bei-
chen.15 Da dieser Weg, sich in beidem, seinen spiel ist das Streben nach Wissen. Wissen ist ein islami-
Schwächen und Stärken zu erkennen und die scher Grundwert, denn es ist verbunden mit Îman,
Glauben im Sinne von Vertrauen und Gewissheit. In
Stärken zu vervollkommnen und die Schwächen
der islamischen Welt war es lange Zeit Tradition, zum
Erwerb von Wissen auf persönliche Annehmlichkeiten
Niewöhner (Hrsg.): Klassiker der Religionsphiloso- zu verzichten und zu reisen – durchaus nicht nur für
phie. Von Platon bis Kierkegaard. München 1995, S. religiöses Wissen im engeren Sinne und der Reisende
112-125. galt als mujâhid, sozusagen als Kämpfender. Wissen ist
14 Vgl. Schimmel, Annemarie: Mystische Dimensionen wiederum die Voraussetzung für etwas anderes, näm-
des Islam. Aalen 1979, S. 43. In diesem Zusammen- lich Ijtihâd, wörtl. harte Arbeit, Fleiß, nämlich bei der
hang ist es wichtig vor Augen zu haben, dass in der is- Entwicklung zeitgemäßer rechtlicher und theologischer
lamischen Theologie der Dienst an Gott nicht nur den Aussagen. Das bedeutet nicht nur die gründliche
Dienst an Seiner Schöpfung und Seinen Geschöpfen Kenntnis der Quellen, auf denen sie aufbauen, in die-
umfasst, sondern dieser im Zweifelsfall auch Vorrang sem Falle des Quran und der Sunna (Lebenspraxis des
hat. Propheten und der Urgemeinde), sondern selbstver-
15 In der islamischen Philosophie sind verschiedene ständlich die Kenntnis des jeweiligen Sachverhalts so-
Konzepte von der Innerlichkeit des Menschen entwi- wie sorgfältige, gewissenhafte Arbeit. Bei der Unmen-
ckelt worden, die in einem Konzept von der äußeren ge von Informationen, die heute zu berücksichtigen
Gestalt über die diese erhaltende innere Struktur, die sind, wird immer mehr Teamarbeit notwendig sein.
Psyche, das Herz ,die Vernunft, der Geist bis zum Ebenso ist es notwendig, viele der bisher gewachse-
Licht die Ebenen im Menschen benennen. Hier ist die nen Vorstellungen in Verbindung mit neuen wissen-
Verknüpfung von Philosophie, Psychologie und Mys- schaftlichen Erkenntnissen aufzuarbeiten. Dies erfor-
tik gut zu erkennen. Erste Systematiken hierzu finden dert Disziplin und hohe Einsatzbereitschaft. Insofern
sich im 8. Jahrhundert u.a. bei Ğacfar as -S ādiq, der werden traditionell die nach außen gerichteten Bemü-
sich in seiner Arbeit auf den qur’anischen Text beruft hungen als kleinerer Jihad bezeichnet. Der größere Ji-
und bei Hwaja Mir Dard (18. Jahrhundert). Siehe had ist der innere Kampf gegen eigennützige Regun-
hierzu auch Schimmel, Annemarie: Mystische Dimen- gen aller Art und das Ringen nach Lauterkeit und Auf-
sionen des Islam. Aalen 1979, S. 212-214 und 423, richtigkeit. Jihâd ist also ein umfassender Begriff.“
Rahman, Fazlur: Islam. Chicago1979, S.128-149 und (Aus: Krausen, Halima: Gibt es einen „Heiligen
Corbin, Henry: Die Smaragdene Vision. Der Licht- Krieg“? Ein muslimischer Standpunkt. Abgerufen un-
Mensch im persischen Sufismus. München 1989. ter: /www.tibet.de/tib/tibu/2002-
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ßen Anstrengung. nächsten, der am besten von Mir denkt.
Ein Grundgedanke, der in der islamischen Meine Diener machen sich eine Vorstellung von
Mystik gepflegt wird, ist die Idee des Reisens. Mir, und Ich begegne ihnen entsprechend ihrer
Der Mensch macht sich bewusst auf den Weg zu Vorstellung.“19
Gott, um die Entfernung, die durch das irdische
Dasein erst mal gegeben ist, wieder aufzuheben 5. Äußere Form und gesellschaftliche Konzeption
und durchläuft dabei verschiedene Zustände und
Stationen, in deren Verlauf sich auch die eigene a) Vision einer islamischen Theologie
Gottesvorstellung bzw. die Erfahrung von Ihm Wenn es in der islamischen Mystik um die Be-
immer neu gestaltet, verändert oder vertieft. mühung (Ğihād) zur Entfaltung des eigenen po-
Wenn Gott zum einen als der transzendent sitiven Potentials geht und darum, seine indivi-
Unverfügbare verstanden ist und unabhängig duelle Vollkommenheit zu erreichen, so spiegelt
von der Schöpfung existiert, so ist Er auch der sich dies auch als Vision in dem Begriff Islām
immanent mit der Schöpfung Verbundene und wieder. Es ist oft nicht passend mit ‘Unterwer-
hier Wahrnehmbare. In dem Reichtum, den die fung’ übersetzt, auch die Formulierung ‚Hingabe
islamische Tradition mit den 99 Schönsten Na- an Gott’ fasst die sprachliche Weite des Begriffes
men Gottes bereitstellt, ist ein Wesenszug Gottes nicht ganz. Seine Grundbedeutung geht auf die
als grundlegend eingestuft: Seine Barmherzigkeit, Wortfamilie von salima zurück, was frei, ganz,
Liebe und Zärtlichkeit.18 Eine Erfahrung dieser heil und gesund sein/werden bedeutet. Salām
oder anderer Eigenschaften Gottes kann eine heißt demnach Frieden, und ein Muslim ist je-
Quelle sein, aus der der Mensch Kraft, Geduld, mand, der diesen Weg zum inneren Frieden, der
Mut und Freude schöpfen kann und einen inne- nach außen wirkt, geht20. Dies ist auch der Maß-
ren Reichtum erlebt, der nach außen als Frieden stab, an dem sich jede von Muslimen entwickel-
strahlt und Menschen verbindend wirkt. te Theologie messen lassen sollte: Inwieweit un-
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die terstützt sie die Menschen auf ihrem Weg, frei,
eigene Erfahrung zum einen wertzuschätzen und ganz heil und gesund zu werden und der damit
gleichzeitig ihre Vorläufigkeit und persönliche verbunden Befähigung zu einer inneren Haltung,
Färbung im Bewusstsein zu haben wie die fol- die im Qur’an so beschrieben wird:
gende Lehrgeschichte zeigt: „Gut und Böse sind nicht gleich. Wehre [das
„Man sagt, dass Jesus viel lachte und Johan- Böse] mit dem ab, was das Beste ist. Und
nes der Täufer viel weinte, und dabei waren sie siehe, wenn Feindschaft zwischen dir und
doch Vettern und führten dasselbe enthaltsame einem anderen war, so wird der wie ein
Leben. Johannes sagte zu Jesus: „Du bist dir warmer Freund werden. Dies wird aber nur
wohl der Barmherzigkeit Gottes sehr sicher, dass denen gewährt, die mutig geduldig sind;
du soviel lachst, und denkst nicht daran, dass Er und es wird nur dem Besitzer großen See-
dich auch mit Schwierigkeiten heimsuchen kann lenadels gewährt.“ (Qur’an: 41: 35-36)
und Rechenschaft von dir verlangt!“
Jesus erwiderte: „Du übersiehst wohl die
feinen Gnadenerweise Gottes und die Herrlich- b) Mystik und das Konzept der gesellschaftlichen
keit, die Er offenbart, dass du soviel weinst!“ Verantwortung
Einer der Gottesfreunde jener Zeit hörte das Diese Anstrengung und Verwirklichung von
Gespräch und fragte: „Wer von den beiden steht Frieden geht wiederum nicht im Ausschließlich-
Gott wohl näher?“ Gott sprach: „Derjenige steht
Mir am 19 Nach Rumi. Fihi ma Fihi, in: Halima Krausen.
Grundstudium Islam. Ethisch-rechtlicher Teil. Fasten
/tibu60/60jihad.html. und Selbsterziehung. Texte zur Veranschaulichung.
18 In Sure 6:13 beschreibt Gott Sich Selbst durch Seine Unveröffentlichtes Manuskript. Siehe auch: Schimmel,
Barmherzigkeit, die vor allem Anderen Sein Wesen Annemarie: Rumi: Von Allem und vom Einen. Fihi ma
ausmacht. Zur Wortbedeutung von Rahima, meist mit fihi. München 1995, S. 113.
Barmherzigkeit übersetzt, vgl. Ibn Manzūr: Lisān al- 20 Vgl. Ibn Manzūr: Lisān al-cArab. Bairut 1955, das
cArab. Bairut 1955. Wortfeld salima.
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Tatari, M., 2007
Mystik im Islam und die Frage des FriedensPublikation der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft e.V.
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keitsverfahren, denn die Schöpfung und alle Ge- gemeinsamen Gestaltung der Zukunft hin:
schöpfe sind eng miteinander verwoben. Es gibt „Die Natur der Welt, in der wir heute le-
demnach also keinen Königsweg für eine beson- ben, und das Potential unserer Zerstö-
dere Gemeinschaft. rungswaffen bedeuten, dass das Schicksal al-
Dīn als 5-gliedriges Beziehungsgeflecht mit ler Menschen unlösbar miteinander verbun-
den Schlüsselbegriffen von Ha qq (Pflicht und den ist. Es gibt keine selektive Existenz für
Recht) und Ta qwā21 (Bemühen, andere als Ge- irgendeine spezifische Gemeinschaft, denn
schöpfe Gottes nicht zu verletzten) wird mit sei- der Kuchen der Menschheit kann nicht mehr
nen Implikationen u.a. in der Sure Macūn 107: 2- entbacken werden. Wir können jetzt nicht
8 veranschaulicht: mehr den Zucker vom Mehl oder Wasser
„Hast du nicht den gesehen, der die Religion trennen. Wir gehen unter oder schwimmen
unglaubwürdig macht? Das ist der, der die zusammen. Für Leute, die sich dem Edelsten
Waise verstößt und nicht zur Speisung der in unserem religiösen Erbe verpflichtet ha-
Armen antreibt. So wehe denen, die Gebete ben, geht es jedoch nicht nur um das Über-
sprechen, doch ihres betens uneingedenk leben unserer eigenen Traditionen. Heute
sind, die nur gesehen werden wollen und hängt unser Überleben vom Überleben des
die zwischenmenschlichen Dienste verwei- Anderen ebenso ab wie das Überleben der
gern.“ (Übersetzung: Halima Krausen) Menschheit vom Überleben des Ökosystems
Wenn man sich mit seinen Schwächen und Stär- abhängt. Über den Satz: „Kein Mensch ist
ken kennt, kann man gut und sinnvoll seinen eine Insel“ hinaus sind wir zu dem Satz:
Platz in diesem Beziehungsgeflecht erkennen und „Keine Art ist eine Insel“ gelangt. Ein un-
im Sinne einer Lebensaufgabe auch ausfüllen. deutliches und sentimentales Gefühl der
Diese Ansicht des Miteinanderverwoben- Sippenzusammengehörigkeit wird uns nicht
Seins spiegelt sich auch in der klassischen islami- durch die turbulente Zukunft einer Welt
schen Philosophie, in der immer wieder folgen- hindurchhelfen, die durch ein allmähliches
de Erkenntnis diskutiert wurde: Im Menschsein Wiederauftauchen des Nazismus, Umwelt-
gibt es den ganz und gar Anderen nicht, eine zerstörung, eine auf der wirtschaftlichen
mehr an Kenntnis von Anderen ist auch immer Ausbeutung der Dritten Welt basierten tri-
ein mehr an Erkenntnis von mir selbst. Und hat umphalistischen Neuen Weltordnung be-
der Andere erst mal ein Gesicht bekommen, fällt droht ist, einer Welt, in der Frauen weiter-
es schwer, sich ihm gegenüber grenzüberschrei- hin am Rande der Würde gerade eben über-
tend zu verhalten.22 leben. [...] Es gibt viele Arten zu sterben. Es
gibt jedoch nur eine Art zu leben; durch die
Zusammenfassung Entdeckung dessen, worum es beim Selbst
und beim Anderen wirklich geht, um zu
Schließen möchte ich meine Ausführungen mit verstehen, wie viel von dem Anderen wirk-
Worten von Farid Esack. Sie sind ein Plädoyer lich in uns reflektiert wird, und herauszufin-
für die gegenseitige Wertschätzung und Aner- den, was uns gemeinsam ist im Kampf für
kennung der Verschiedenheit der Menschen und die Wiedererschaffung einer Welt der Ge-
ihrer religiösen und a-religiösen Anschauungen rechtigkeit, einer Welt der Würde für alle
und weisen auf die Verantwortung aller in der Bewohner der Erde.“23
21 Vgl. Rahman, Fazlur: Major Themes of the Qur’an.
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Man and Society. Chicago 1980, S. 37-64. Grömitzer Weg 28 a, D-22147 Hamburg
22 Vgl. u.a.: Khatami, Seyed Mohammad: Über den
E-Mail: munatatari24[at-symbol]yahoo.de.
Dialog der Kulturen. Vortrag im Rahmen einer Diskus-
sionsveranstaltung zum Dialog der Zivilisationen in
Weimar am 12. Juli 2000. In: Al-Fadschr. Die Mor-
gendämmerung. Zeitschrift für Muslime und interkul- 23Vgl. Esack, Farid: Herausforderung der Freiheit. Aus
turelle Kommunikation, Jg. 2000, Nr. 99-100/2000, der Perspektive eines Muslim. In: Al-Fadschr, Nr. 87,
S. 32 Mai-Juni 1998, S. 30-33.
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