"Corona ist wie der Mauerfall oder 9/11" - Gerhard Pfister
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DAS GESPRÄCH GERHARD PFISTER „Corona ist Die Pandemie werde die Wirtschaftsordnung wie der nachhaltig verändern, sagt CVP-Präsident Gerhard Pfister. Das Soziale werde wieder wichtiger, der Wert der Arbeit müsse Mauerfall neu überdacht werden, und das naiv liberale Fortschrittsnarrativ sei am Ende. von FLORENCE VUICHARD oder 9/11” Foto: Alessandro della Valle / Keystone für BILANZ IM BUNDESHAUS Nach der Corona-Sperre gehen Gerhard Pfister und seine Parlamentskollegen hier wieder ein und aus. 82 BILANZ 09 | 2020 09 | 2020 BILANZ 83
D DAS GESPRÄCH GERHARD PFISTER Für die « NZZ » leben wir im Zeitalter des «Seuchen Ideen, Mentalitäten und Kulturen auf kleinem Raum, sozialismus», die Linke moniert, wir lebten vereint durch einen grossen Konsens in Bezug auf in einer Wirtschaftsordnung, von der nur wenige Rechtsstaat und Zivilgesellschaft. profitieren könnten. Was stimmt denn jetzt? Es stimmt eben beides nicht. Corona hat doch gezeigt, Auch mit dem Bundesrat scheinen Sie zufrieden dass die Staaten, welche die Krise am besten gemeis- zu sein. tert haben, sozial-marktwirtschaftlich orientierte Ja. Ich denke, die Regierung hat gute Arbeit geleistet. Gesell schaften sind, welche über einen resilienten Sie hat zielgerichtet interveniert und hat sich dann Staat verfügen. Ein besseres Wort fällt mir derzeit auch wieder zurückgezogen, als es möglich war. nicht ein dazu. Natürlich wird auch der Bundesrat Lehren aus der Krise ziehen müssen. Ebenso wie das Parlament. Und Was verstehen Sie denn unter einem die Bundesverwaltung. Der Stresstest Corona hat die «resilienten Staat»? Stärken, aber auch die Schwächen unseres Systems Einen Staat mit starken Institutionen, mit einem funk- gezeigt. Es ist wie im Zweite-Weltkriegs-Film «Das tionierenden Krisenmanagement, der in der Lage ist, Boot», wo das U-Boot – um den feindlichen Bomben Die Diskussion ist nicht neu, aber keiner hat sich so zielgerichtet zu intervenieren. Ein Staat, der zudem auszuweichen – immer wieder in Tiefen tauchen 44 weit vorgewagt wie Gerhard Pfister. Ausgerechnet er, fähig ist, mit der Privatwirtschaft zusammenzuarbei- muss, für das es nicht gebaut ist. Es gibt Risse, Wasser der in Bundesbern jahrelang als der konservativste, ten. Ein Staat, der organisiert, aber nicht alles selber dringt ein. Krisen zeigen, wo die schwächsten Stellen, rechteste Nationalrat der CVP-Familie galt, will nun machen muss. Ein Musterbeispiel dafür ist das Kredit- wo die Riss- und Bruchstellen sind – bei Staaten, das C abschaffen und die Partei umbenennen. Anfang programm für die Unternehmen, das der Bundesrat Organisationen, Ämtern und Menschen. «In der Krise September wird der definitive Vorschlag für den Mitglieder zählt mit den Banken auf die Beine gestellt hat. Hier von beweist sich der Charakter», wie schon Helmut neuen Namen, der um den Begriff «Mitte» modelliert heute die «Seuchensozialismus» zu sprechen, ist schlicht und Schmidt gesagt hat. werden dürfte, publiziert. Danach werden die 80 000 einfach dumm. Und aus dem staatlichen Hilfspro- Mitte-Fraktion, Parteimitglieder in einer Urabstimmung dazu auf gramm herauszulesen, dass die sozial-marktwirt- Sie behaupten, Corona werde unsere Welt nachhaltig bestehend aus gefordert, brieflich dazu Stellung zu nehmen. Pfister schaftliche Ordnung versagt hat, ist ebenso blöd. Die verändern. Aber wird nicht einfach alles wieder wie 38 CVP- sowie steht parteiintern ein heisser Herbst bevor, aber er ist Krise hat die Qualität und die Attraktivität des Euro- vorher, sobald ein Impfstoff vorliegt ? je 3 BDP- und zuversichtlich, dass die Basis ihm letztlich folgen pean Way of Life aufgezeigt – gerade im Vergleich zu Das glaube ich nicht. Dass es einmal eine Pandemie wird. Immerhin verspricht die Einverleibung der EVP-Politikern. den USA, wo das Fehlen eines nationalen, für alle zu- geben könnte, wussten wir zwar. Aber jetzt haben wir kleineren BDP bei den nächsten Wahlen mehr Wähler Die Mitte stellt gänglichen Gesundheitssystems die Menschen zwingt, es erlebt. Und das ist eine fundamental andere Situa- anteile und mehr Sitze. Und dann würde die so oft damit nach SVP nur für sich selbst zu schauen. Oder etwa im Vergleich tion. Anders als die Finanzkrise, die nicht alle Teile der schon totgeschriebene CVP plötzlich zu den Gewin- und SP die dritt- zu China, das autoritär einfach seine Bevölkerung Wirtschaft und vor allem auch nicht alle Teile der Welt nern zählen. stärkste Fraktion. einsperren kann und damit vielleicht das Virus in den erfasst hatte, sind diesmal wirklich alle betroffen. Die Griff bekommt, aber einen sehr hohen gesellschafts- Folge ist eine weltweite, schwere Rezession, der Inter- Herr Pfister, zweifeln Sie an den christlichen politischen Preis zahlt. Europäische Staaten haben nationale Währungsfonds rechnet bis Ende Jahr mit Werten? eine grössere Resilienz als andere Weltgegenden – einem BIP-Rückgang von rund fünf Prozent. So etwas Überhaupt nicht! Ich persönlich habe kein Problem dank der Kombination von sozial-marktwirtschaftli- Ich rede von Europa, nicht von der EU, die hat in die- SOZIALE FRAGE geht auch an der Schweiz nicht spurlos vorbei. Und: mit dem C. Unsere Werte werden sich mit dem neuen chen Prinzipien mit starken staatlichen Institutionen. ser Krise tatsächlich keine grosse Rolle gespielt. Und Gerhard Pfister macht Wir werden auch in Zukunft vor pandemischen sich Sorgen um den Parteinamen nicht ändern. ehrlich gesagt, Grenzschliessungen können in einer Zusammenhalt in der Herausforderungen stehen. Sie schwärmen vom European Way of Life. Aber Pandemie durchaus ein probates Mittel sein wie Gesellschaft. Wieso wollen Sie dann riskieren, Ihre traditionelle Europa hat doch gerade in dieser Corona-Krise grundsätzlich nationale Lösungen. Das grosse Kapital Was wird sich denn Ihrer Meinung nach Wählerschaft zu vergraulen? gezeigt, dass im Ernstfall jedes Land nur für sich von Europa ist doch gerade seine enorme Vielfalt an konkret ändern? Die Leute werden sich sehr schnell an den neuen Na- schaut. Grenzen wurden geschlossen, kontinentale Es gibt evidente, oberflächliche Veränderungen, wie men gewöhnen. Entscheidend ist die Wahrnehmung Zusammenarbeit geht anders. etwa den Digitalisierungsschub. Früher haben wir viel der Partei durch potenzielle neue Wählerinnen und über die Digitalisierung geredet, nun haben etliche Wähler. Wir wollen, dass jene Leute, die unsere Politik Der Philosoph Firmen in ein paar Wochen umgesetzt, was zuvor im Grundsatz unterstützen, für die wir heute aber zu katholisch oder zu religiös daherkommen, uns in Zukunft wählen. Und ich glaube, es wird nach Corona „Das grosse Kapital Gerhard Pfister (57) wuchs mit drei Geschwistern in einer CVP-Familie in Oberägeri ZG auf, wo er heute während Jahren nicht möglich war. Oder wie es der Soziologe Roberto Simanowski jüngst gesagt hat: «Jetzt, wo es nicht mehr anders geht, sehen wir, dass noch wichtiger, dass die Mitte gestärkt aus den nächs- ten Wahlen geht. von Europa ist doch Foto: Alessandro della Valle / Keystone für BILANZ noch mit seiner Frau lebt. Nach der Matura an der Klosterschule Disentis ging Pfister an die Uni Frei es auch anders geht.» Wir werden auch eine Verän derung der bis heute einseitig preisgetriebenen Glo Wieso nach Corona? gerade seine enorme burg, studierte Germanistik und Philosophie, pro movierte über Peter Handke und die Literaturkritik balisierung erleben, andere Faktoren werden wieder wichtiger. Es ist nicht beliebig viel auslagerbar. Teile Vielfalt an Kulturen Corona ist wie der Mauerfall von 1989 oder 9/11. Co- und arbeitete als Lehrer, bevor er das vom Gross der Wertschöpfung müssen wieder repatriiert wer- rona ist ein Game Changer, löst einen Paradigmen- vater gegründete Institut Dr. Pfister übernahm, das den, das heisst nicht unbedingt renationalisiert, aber wechsel aus. Was unverrückbar war, wird verrückt. er 2014 ins Institut Montana Zugerberg überführte. zumindest re-europäisiert. Das Kriterium des kosten- Die Welt wird danach eine andere sein. Neue Her ausforderungen kommen auf uns zu, neue Fragen und Mentalitäten auf 2006 gründete Pfister die Tagesschule Elementa, die er heute noch präsidiert. Pfister ist seit 2003 günstigsten Standorts darf nicht mehr allein gelten. Kriterien wie die Stabilität von Wertschöpfungs- und müssen beantwortet werden. Dafür brauchts eine starke Mitte. kleinem Raum.” Nationalrat, 2016 übernahm er das Parteipräsidium. Lieferketten kommen dazu. Die bisherige Globalisie- rung funktioniert nur unter der Voraussetzung, • 84 BILANZ 09 | 2020 09 | 2020 BILANZ 85
DAS GESPRÄCH GERHARD PFISTER • dass die räumliche Distanz zugunsten des tiefst- möglichen Preises vernachlässigt werden kann. In „Ich stelle einfach Deswegen ist das Instrument noch lange nicht falsch. Es ist eine zielgenaue Intervention des Staates bei fest: Der Faktor Pandemien zeigen sich die Grenzen dieses Konzepts. einem tatsächlich bestehenden Problem. Und es Social D istancing zwischen Menschen, Grenzen zwi- wird auch in Zukunft immer wieder punktuellen schen Nationen, ja sogar das Konzept des National- Korrekturbedarf geben. Die soziale Frage wird wie- staats sind Kategorien, die neu gedacht werden müssen. Vor Veränderungen stehen wohl auch Le- Kapital wird wichtiger der wichtiger. bens- und Arbeitskonzepte der extremen Urbanität auf engem Raum, für die beispielsweise Städte wie New York oder Singapur stehen. als der Faktor Arbeit.” Wie haben Sie eigentlich als Parteipräsident diese Lockdown-Zeit erlebt ? Lesend, spazierend. Der zeitaufwendigste Anteil der Arbeit als Parteipräsident fiel plötzlich weg – von Wieso? Was muss sich in Bezug auf die Arbeit konkret ändern? einem Tag auf den anderen. Denn sämtliche Abend Aus Mangel an Fläche wurde dort vor allem in die Das kann ich so nicht beantworten. Aber klar ist, dass veranstaltungen in Ortssektionen oder bei Verbänden Höhe gebaut. Jetzt, in der Pandemie, wird ganz kon- wir mit dem Entweder-oder-Rezept nicht mehr wei- wurden abgesagt. kret und banal nur schon der Lift zum natürlichen terkommen. Es geht nicht um den Ausbau des Sozial- Engpass. Mir hat neulich der Chef eines Unterneh- staates und auch nicht um dessen Abbau. Vielmehr Klingt erholsam. mens mit Sitz in New York gesagt, sie könnten gar muss der Staat lernfähig bleiben und dort zielgerich- Ja, das war es. Und ein Privileg, im Vergleich zur nicht mehr alle zurückkommen ins Büro, weil die tet eingreifen oder Korrekturen anbringen, wo diese Situation vieler anderer. Dennoch habe ich mit der Verteilung der Menschen über den Lift eingeschränkt auch wirklich nötig sind. Ein gutes Beispiel sind die Zeit den direkten Kontakt zu den Menschen vermisst. sei. Um ins Büro zu gehen, müsste man sich zuvor ei- Überbrückungsleistungen für die älteren Ausgesteuer- Man kann vieles mit Zoom und Co. erledigen, zum nen Lift-Slot reservieren. Das wird zu einer verstärkten ten, die auf dem Arbeitsmarkt einfach keine Stelle Teil ist es sogar effizienter. Zum Beispiel Sitzungen, Dezentralisierung der Arbeit führen. Mit Corona müs- mehr finden. wo alle Dokumente vorliegen, wo alle informiert sind sen grundlegende Parameter unseres Wirtschafts- und es nur noch einen Entscheid braucht. Hingegen: und Arbeitslebens geändert werden. Wenn die wirt- Das ist eher ein Entgegenkommen an die Linke, Wenn es darum geht, Grundlagen zu erarbeiten, schaftliche Ordnung nicht sozialer wird, dann damitsie den bilateralen Weg und vor allem die wozu Kreativität gefordert ist, braucht es auch riskieren wir Identitätsprobleme, gefolgt von einer Personenfreizügigkeit weiter mitträgt. menschliche Nähe. • Polarisierung und letztlich dem Zerfall der Gesell- schaft. Hier teile ich die Analyse, die der britische Ökonom Paul Collier in seinem Buch «Sozialer Kapi ANZEIGE talismus» beschrieben hat. Diese Analyse ist nicht neu. SIEGESSICHER aufzusteigen und reich zu werden, hat ausgedient. Das Nein, aber Corona hat gezeigt, wie wichtig der gesell- Gerhard Pfister will stimmt einfach nicht mehr. In der Geschichte der De- seine CVP mit der schaftliche Zusammenhalt ist. Und wie recht Collier BDP fusionieren. mokratie gab es wohl nur ein ganz enges Zeitfenster, hat. Das naiv liberale Fortschrittsnarrativ, wonach es in dem Menschen allein durch ihre Arbeit sozial auf- jedem möglich sein soll, durch Leistung und Arbeit steigen konnten: von den 1950er bis in die 1990er Jahre. Dennoch koppeln wir die Würde des Menschen sehr stark an seine Arbeitsleistung. Und das wird zum Problem für unsere Gesellschaft, denn die traditio- nelle Mittelschicht wird enttäuscht. Heute ist der Schwarz oder weiss, Herr Pfister? soziale Aufstieg vor allem durch Erben oder durch die Vermehrung von Kapital möglich. Oder vielleicht ★ Buch oder Fernsehen? Buch! Und Netflix. Dort gibts Produktionen, durch eine bahnbrechende Innovation, die man dann die literarische Qualitäten haben. an Facebook oder Google verkaufen kann. Aber das ist ★ Doris Leuthard oder Viola Amherd? Viola Amherd. Sie ist an der Macht. der Lucky Punch. Das ist für einen Parteipräsidenten in so einer Dilemma-Situation entscheidend. ★ EV Zug oder Ambri-Piotta? EV Zug. Aber Fussball interessiert mich eigent- Das heisst: Die Linken haben recht, wenn sie sagen, lich noch mehr als Eishockey – auch wenn ich bald der letzte GC-Fan bin. dass die Reichen immer reicher werden? Foto: Alessandro della Valle / Keystone für BILANZ ★ Beatles oder Rolling Stones? Rolling Stones. Ich stelle einfach fest: Der Faktor Kapital wird wichti- ★ Franziskus oder Benedikt? Benedikt. Ich bin benediktinisch erzogen ger als der Faktor Arbeit. Früher ist der Bankdirektor worden. Und ich fand Benedikt XVI. theologisch spannender. morgens um sieben mit Krawatte aus dem Haus und ★ Venedig oder Paris? Venedig. abends um acht wieder nach Hause gekommen. Heute ★ Peter Handke oder Olga Tokarczuk? Peter Handke. Er ist einer meiner fallen mir in gehobenen Wohngegenden die vielen Lieblingsschriftsteller. Männer auf, die deutlich jünger sind als ich und unter ★ Auto oder öffentlicher Verkehr? Auto. der Woche im Ferienmodus mit dem Hund spazierend ★ Sokrates oder Diogenes? Diogenes. Diogenes ist mein Vulgo in der oder dem Bike unterwegs sind. Diese «neuen Rei- Studentenverbindung, und seine Radikalität finde ich sehr spannend. chen» gehen nicht mehr ins Büro, sondern sitzen ★ Pluto oder Snoopy? Snoopy. Er ist ein grossartiger Philosoph. vielleicht ein paar Stunden vor ihrem Computer, sind mit der Welt vernetzt und lassen ihr Kapital arbeiten. 86 BILANZ 09 | 2020
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