COVID-19: HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE EUROPÄISCHE SICHERHEIT UND AUSGEWÄHLTE KRISENREGIONEN - FATT
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IFK LANDESVERTEIDIGUNGSAKADEMIE April 2020 | COVID-19 Spezial COVID-19: HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE EUROPÄISCHE SICHERHEIT UND AUSGEWÄHLTE KRISENREGIONEN Wenngleich das unmittelbare Krisenmanagement von COVID- 19 aktuell im Vordergrund steht und der Fokus auf den epidemiologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen liegt, so müssen auch die sicherheitspolitischen Folgen dieser Pandemie auf nationaler wie internationaler Ebene im Auge behalten werden. Diese sind noch nicht abschließend zu bewerten, sie dürften aber gravierend und langanhaltend sein. Die Experten des IFK versuchen in einer ersten Analyse verschiedene Szenarien, erste Trends und mögliche Auswirkungen der Pandemie auf das Internationale Krisen- und Konfliktmanagement in relevanten Regionen zu beschreiben. Trends und Fragestellungen für die Politikfelder mit negativen Konsequenzen internationale Sicherheit nach COVID-19 auch für das IKKM. Entscheidend für die weitere Entwicklung werden neben dem Die Folgen der Pandemie für die interna- konkreten weiteren Verlauf der Pandemie tionale Sicherheit und das Internationale (Dauer und Intensität) insbesondere das Krisen- und Konfliktmanagement (IKKM) politische Leadership der handelnden Ak- sind abhängig vom generellen Post-Corona- teure und die wirtschaftliche Erholung des Entwicklungsszenario, das grundsätzlich Westens sein. in drei Richtungen verlaufen kann: Das wahrscheinlichste strategische Szenario Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass ist die Fortsetzung jener Entwicklungen, unabhängig von COVID-19 die strukturel- die bereits vor dem Ausbruch der Pande- len Herausforderungen wie die global-stra- mie erkennbar waren. Das hieße eine an- tegische Konfrontation zwischen USA und haltende konfrontative Multipolarität, eine China, die regionalen Konflikte und auch weitere Schwächung internationaler Or- die innerstaatlichen Sicherheitsrisiken wie ganisationen und des Systems des Multi- Cyber, Blackout, Migration oder Terrorismus lateralismus sowie ein sicherheitspolitisch bestehen bleiben bzw. durch die Pandemie um seine Handlungsfähigkeit ringendes sogar noch verschärft werden könnten. Europa und eine Verschärfung der regiona- len Konflikte rund um Europa. Für den Fall, Noch finden die meisten internationalen dass COVID-19 zu einem Zusammenrücken Krisenmanagementeinsätze vornehmlich der internationalen Staatengemeinschaft an der Peripherie der Pandemie statt. Das führt, wäre in einem positiven Szenario von wird sich mit der erwarteten Ausbreitung einer kooperativen internationalen Ord- vom reichen Norden auf die Länder des nung mit gestärkten Institutionen und er- armen Südens ändern. Dann werden sich höhter Zusammenarbeitsbereitschaft auch auch die konkreten Auswirkungen auf die bei der Lösung internationaler Konflikte zu rechnen. Historische Erfahrungen spre- chen eher gegen zu viel Optimismus. Im Worst-Case käme es Post-Corona zu einem neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China sowie deren Verbündeten und einer massiven Re-Nationalisierung nahezu aller Hinweis: Der vorliegende Beitrag gibt ausschließlich die Meinung der Autoren wieder.
regionale Sicherheit und das IKKM zeigen. Erste erkennbare Trends weisen in nach- Dabei werden insbesondere nachstehende stehende Richtung: Aspekte zu beurteilen sein: • Es kommt zu einer Verlagerung des 1. Wird COVID-19 zu einer substantiellen Fokus der westlichen Staaten auf Erhöhung der Vulnerabilität in den kon- nationale Sicherheitsaufgaben bei fliktbehafteten Regionen und Staaten gleichzeitigem Versuch ihre laufenden infolge schwacher Institutionen, redu- internationalen Einsätze zumindest zierter grenzüberschreitender Koope- vorläufig auf möglichst hohem Niveau ration, hohem Verbreitungsrisiko in fortzusetzen. Flüchtlingscamps und geringer staatli- cher Handlungsfähigkeit führen? • Es werden unmittelbare Anpassungen in der Einsatzführung vor Ort und Maß- 2. Verändern sich Konfliktdynamiken vor nahmen zur Erhöhung des Truppen- Ort? Sind Versuche einer politischen schutzes und der Sicherstellung militä- Instrumentalisierung der Krise durch rischen Logistikketten angeordnet. regionale und externe Akteure zu er- kennen? • Erste Forderungen nach neuen Kon- zepten werden lanciert wie z. B. Re- 3. Werden lokale Akteure unter dem Prä- Aktivierung der Idee rasch verfügbarer text der Viruseindämmung versuchen, und hochspezialisierter „Weißhelm“- die Handlungsfreiheit internationaler Truppen für internationale humanitäre Kräfte und Mandatsimplementierung Einsätze aufzustellen, um das traditio- einzuschränken? nelle Blauhelm-Profil zu ergänzen. 4. Gibt es kurz-, mittel-, langfristig eine • Die Bedeutung der strategischen Kom- Änderung bei Bedarf, Konzeption und munikation seitens der internationalen Akzeptanz (etwa gegenüber Soldaten Truppen steigt und ein verstärktes Vor- aus COVID-Schwerpunktländern) von gehen gegen Desinformationskam-pa- IKKM-Einsätzen? gnen kann notwendig werden. 5. Wird es wegen der erhöhten Beitrags- Die letzten Treiber für ein verstärktes inter- leistungen auf nationaler Ebene und nationales Engagement waren der Kampf infolge der erwartbaren Kürzungen in gegen den Terrorismus sowie die Ursa- den Verteidigungsbudgets zu einer sub- chenbekämpfung von Migration. Zukünf- stantiellen Reduzierung in der Truppen- tig sollte die frühzeitige Suppression von bereitstellung durch westliche Staaten Pandemien durch Stärkung der Resilienz kommen? Werden andere Länder die- von Krisenstaaten und die Verbesserung se Lücken kompensieren? der humanitären und gesundheitlichen Krisenreaktionsfähigkeit im Rahmen der 6. Sind Anpassungen in der Mandatierung Weiterentwicklung des IKKM forciert wer- internationaler Einsätze erforderlich? den, denn es werden weitere Pandemien Soll etwa das Aufgabenprofil erweitert kommen. werden und verstärkt auch humanitä- re und sanitätsdienstliche Unterstüt- Vor dem Hintergrund dieser strategischen zungsleistungen umfassen? Rahmenbedingungen werden im Anschluss die aktuellen Entwicklungen in den für 7. Wie kann man durch kurzfristige An- Österreich relevanten Krisenregionen einer passungen in der Einsatzführung den ersten Analyse unterzogen. Truppenschutz erhöhen und gleichzei- tig die Mandatserfüllung zumindest in Generalmajor Dr. Johann Frank, den Kernbereichen sicherstellen? Leiter IFK IFK Monitor April 2020 | COVID-19 Spezial 2
Entwicklungen am Westbalkan geführt. In BuH könnte sich die starke De- zentralisierung der staatlichen Verwaltung Im Vergleich zu Österreich verbreitete sich (zwei Entitäten, ein Sonderdistrikt, zehn COVID-19 in den Westbalkanstaaten mit Kantone) mit getrenntem Krisenmanage- ein- bis zweiwöchiger Verspätung. Mitte ment und schwacher Koordinierung im März wurde die Krankheit von allen sechs Falle eines exponentiellen Anstiegs der Ländern als hohes Risiko eingestuft. Die Infizierten zu einem wesentlichen Hindernis meisten Regierungen riefen deshalb den bei der Krisenbewältigung entwickeln. Eine Ausnahmezustand aus, um ein „italieni- weitere Herausforderung stellen 2.500 sches Szenario“ zu verhindern. Die getroffe- Migranten dar, die sich in BuH außerhalb nen Maßnahmen umfassen umfangreiche der Flüchtlingszentren aufhalten und kei- Reisebeschränkungen, Grenzschließun- ner Pandemiekontrolle unterliegen. Als gen, Ausgangssperren, Versammlungs- direkte Auswirkung von COVID-19 werden verbote, Quarantänemaßnahmen sowie die für April angesetzten Parlamentswah- die temporäre Schließung von Schulen, len in Serbien und Nordmazedonien auf Universitäten und nicht lebensnotwen- unbestimmte Zeit verschoben. Zivilgesell- digen Geschäften. Vermehrte Sozialaus- schaftliche Gruppen befürchten, dass die gaben und finanzielle Unterstützungen derzeitigen Notstandsmaßnahmen autori- stellen eine schwere Belastung für die täre Tendenzen auch nach der Krise stär- ohnehin schwach dotierten Staatshaus- ken werden. halte dar. Verstöße gegen die Maßnah- men werden mit hohen Geldstrafen und Im Kosovo haben regierungsinterne Kon- in gravierenden Fällen mit Gefängnis flikte über den Umgang mit COVID-19 zu geahndet. Serbien sowie Bosnien und einem erfolgreichen Misstrauensvotum ge- Herzegowina (BuH) setzen die Streitkräfte gen die knapp zwei Monate alte Regierung für den Aufbau von Quarantänelagern ein. von Albin Kurti geführt. Die Bevölkerung re- agiert auf diese politische Krise mit Unver- Anfang April waren etwa 4.000 der rund ständnis und großer Verunsicherung. Auf- 17 Mio. Einwohner des Westbalkans infi- fällig ist, dass die Abstimmung von der EU ziert. Über hundert Personen sind bisher kritisiert, von Vertretern der US-Regierung, verstorben. Am stärksten waren Serbien und die in Kurti ein Hindernis für einen „schnel- BuH von COVID-19 betroffen. Die gerings- len Deal mit Belgrad“ sehen, aber begrüßt ten Infektionszahlen wiesen Kosovo und wurde. Dieser Umstand verdeutlicht wie un- Montenegro auf. Aufgrund der geringen eins „der Westen“ noch immer in zentralen Zahl an Testungen muss aber durchwegs Fragen der Balkankonsolidierung ist. von einer hohen Dunkelziffer und schnellen Verbreitung des Virus ausgegangen wer- Es überrascht folglich nicht, dass der Prä- den. Die staatlichen Kontrollmaßnahmen sident des EU-Kandidatenlands Serbien, beschränken sich überwiegend auf die ur- Aleksandar Vučić, öffentlich die Solidari- banen Gebiete, während ländliche Gebiete tät innerhalb der EU zunächst als „Mär- von den Maßnahmen zur Bekämpfung des chen auf dem Papier“ bezeichnete und im Virus kaum oder gar nicht erfasst sind. Kampf gegen COVID-19 hauptsächlich auf chinesische Unterstützung setzt. Einer sol- Auswirkungen im regionalen Kontext chen negativen Perzeption versuchte die EU mit dem „grünen Licht“ für die Beitritts- Die Vorkehrungen für das Virus haben die verhandlungen mit Albanien und Nordma- ohnehin schwierige regionale Kooperation zedonien (25.3.) entgegenzutreten. Erwei- fast vollends zum Erliegen gebracht. Ins- terungskommissar Olivér Várhelyi kündigte besondere die rigorose Grenzschließung 38 Mio. Euro als Soforthilfe für die Pande- Serbiens für den gesamten Personenver- miebekämpfung am Westbalkan an. Weite- kehr hat die Rückkehr eigener Staatsbür- re 374 Mio. Euro sind für die erwartbaren ger erschwert und zu internationaler Kritik ökonomischen Verluste vorgesehen. IFK Monitor 3 COVID-19 Spezial | April 2020
Die Friedenstruppen EUFOR und KFOR in Entwicklungen in Osteuropa, BuH und Kosovo erfüllen auch weiterhin Schwarzmeerraum und Südkaukasus das volle Spektrum ihrer operativen Aufga- ben bei Einhaltung verstärkter Vorsichts- In Russland wurden Maßnahmen gegen maßnahmen. Dazu gehört die Einhaltung COVID-19 ab Ende Februar schrittweise von Quarantänebestimmungen bei der lau- und regional unterschiedlich verschärft. fenden Rotation von 200 österreichischen Am 12.3. erließ Moskaus Bürgermeister KFOR-Soldaten Ende März/Anfang April. Sergej Sobjanin Einschränkungen des öffentlichen Lebens, während Präsident Ableitungen Putin ähnliche Maßnahmen für ganz Russ- land erst am 19.3. ankündigte. Ende März • Es muss am Westbalkan von steigen- wurden schließlich in fast allen Regionen den Zahlen an COVID-19-Infektionen Ausgangsbeschränkungen angeordnet. Um ausgegangen werden, welche die fra- diese Maßnahme zu unterstützen, erklärte gilen Gesundheits- und Sozialsysteme Putin am 27.3. eine Woche landesweiten, ernsthaft gefährden könnten. bezahlten Urlaubs und verlängerte diesen bereits bis Ende April. Am 6.4. wurden • Aus humanitären Gründen, aber auch über 6.300 Infizierte, davon fast 4.500 in wegen der Glaubwürdigkeit der europä- Moskau, und 47 Todesfälle gemeldet. ischen Integrationspolitik ist eine voll- umfängliche Einbeziehung des West- Die Ukraine setzte bereits Ende Februar balkans in das EU-Krisenmanagement auf Präventionsmaßnahmen. Die Regie- gegen COVID-19 unbedingt notwendig. rung verfügte schließlich am 12.3. erste Einschränkungen des öffentlichen Lebens. • BuH benötigt die Unterstützung der Kiew suchte um internationale Hilfe an. Am EU zur Bewältigung der Migrationspro- 17.3. wurden die Ausgangsbeschränkun- blematik unter gefährlichen COVID-19- gen verschärft und kurz darauf die Über- Bedingungen. gänge entlang der Kontaktlinie im Donbass geschlossen. Auch die Separatisten schlos- • Die aktuelle Regierungskrise im Kosovo sen ihre Checkpoints und verhängten erste erfordert ein proaktives Engagement Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. der EU und eine abgestimmte Kosovo- Anfang April gab es in der Ukraine über Politik der EU und der USA. 1.300 Infizierte und 38 Tote. Auch die Se- paratisten meldeten die ersten Infektionen. • Mit der Aufhebung von Handelstarifen für Waren aus BuH und Serbien durch Mit Ausnahme von Georgien, das bereits die kosovarische Übergangsregierung seit Februar ein effektives Krisenmanage- könnten Anfang April bessere Voraus- ment gegen die Ausbreitung von COVID-19 setzungen für spätere politische Ver- unternimmt, wurden in Moldau/Transnist- handlungen zw. Belgrad und Prishtina/ rien und im Südkaukasus annähernd zeit- Priština geschaffen worden sein. Aller- gleich mit anderen EU-Ländern die gängi- dings wird ein freier Warenverkehr von gen Schutzmaßnahmen getroffen. Die sehr kosovarischer Seite von einem „rezi- restriktiven Maßnahmen trugen bis dato proken“ Verhalten Serbiens abhängig dazu bei, die Situation unter Kontrolle zu gemacht. halten. Dennoch führte Abchasien noch am 22.3. die vorgezogenen „Präsidentschafts- Predrag Jureković wahlen“ durch und in Berg-Karabach rief man noch am 31.3. auf, „Präsident“ bzw. „Parlament“ zu wählen. Nach offiziellen An- gaben vom 5.4. lag die Zahl der Infizierten in Moldau im höheren dreistelligen Bereich und im Südkaukasus bei rund 1.500. IFK Monitor April 2020 | COVID-19 Spezial 4
Der Zustand der Gesundheitssysteme in Die Rückkehr von zahlreichen Arbeitsmig- der Schwarzmeerregion und im Südkau- ranten erhöht das Risiko von Armut, sozia- kasus ist, insbesondere in den ländlichen lem Unfrieden sowie Kriminalität in Moldau Regionen, als sehr fragil zu bezeichnen. In und kann die politisch ohnehin instabile Transnistrien, Abchasien und Südossetien Situation weiter befeuern. Die abgeschotte- sowie Berg-Karabach ist die medizinische te Wirtschaft Armeniens wird wohl stärker Versorgung durch die jahrelange Isolation leiden als die anderer Kaukasusländer. Die stark eingeschränkt. EU kündigte am 30.3. an, die sechs Länder der Östlichen Partnerschaft mit insgesamt Auswirkungen im regionalen Kontext 140 Mio. Euro zu unterstützen. Die ökonomischen Folgen werden alle Län- In Transnistrien zeigten sich auch positi- der der Region hart treffen. Das russische ve Tendenzen, indem trotz mangelnden Budget kann einen Ölpreis unter 30 USD Vertrauens und eines stockenden Streit- kurz- bis mittelfristig gut verkraften, trotz- beilegungsprozesses manche Schritte im dem wird für das Jahr 2020 eine deutliche Krisenmanagement koordiniert wurden. Rezession prognostiziert. Trotz der Staats- Die georgischen Hilfsangebote an Abchasi- reserven von über 570 Mrd. USD kann Prä- en und Südossetien sowie die Aufnahme sident Putin Experten zufolge wegen der von COVID-19-Verdachtsfällen können als westlichen Sanktionen keine so umfangrei- vertrauensbildende Maßnahme gesehen chen wirtschaftlichen Unterstützungsleis- werden. Im militärisch geführten Konflikt tungen wie z. B. Österreich setzen. um Berg-Karabach musste die OSZE ihre temporären Monitorings wegen diverser Auch das ukrainische Wirtschaftsministe- Reisebeschränkungen einstellen. Insbe- rium erwartet für 2020 eine Schrumpfung sondere im nördlichen Sektor der arme- der Wirtschaft von -3,9% des BIP. Von den nisch-aserbaidschanischen Grenze kam humanitären Auswirkungen der Krise ist vor es zu mehreren Zwischenfällen, bei denen allem der Donbass betroffen. Die medizini- auch Zivilisten verwundet wurden. Unmit- sche Versorgung ist durch die andauernden telbare Auswirkungen durch COVID-19 auf Kämpfe beiderseits der Kontaktlinie stark die genannten Konflikte sind jedoch derzeit eingeschränkt. Kiew kündigte daher Hilfs- wohl nicht zu erwarten. lieferungen nach Donezk und Luhansk an, denn man wolle seine „Verantwortung für Ableitungen alle Bürger“ wahrnehmen. Die Sonderbe- obachtermission der OSZE führt ihre Arbeit • Bis dato gelang es den einzelnen Regi- bestmöglich fort. Ihre Bewegungsfreiheit men die unmittelbare Krise unter Kont- wird aber durch geschlossene Checkpoints rolle zu halten. Inwiefern die wirtschaft- an der Kontaktlinie und in den „Volksrepu- lichen Folgen die politischen Systeme bliken“ wesentlich eingeschränkt. Am 11.3. belasten werden, bleibt abzuwarten. beschlossen Vertreter der Ukraine und der Separatisten in Minsk erste Schritte zu • Um die humanitären Folgen in der direkten Gesprächen über eine Konfliktlö- Ukraine, insbesondere im Donbass, zu sung. Durch COVID-19 war die innenpoliti- reduzieren, braucht es mehr interna- sche Reaktion zunächst weniger heftig als tionale Unterstützung für bestehende anzunehmen, trotzdem musste Kiew zu- Programme des UN Office for the Coor- rückrudern und verschiebt den Abschluss dination of Humanitarian Affairs. der Gespräche bis auf Weiteres. • Die Vorstöße des ukrainischen Präsi- In Moldau sind einschneidende Folgen für denten Selenski zu einer direkten Kon- die wirtschaftliche und soziale Situation fliktlösung mit den Separatisten wer- der Bevölkerung zu erwarten, die Abschot- den nach der Krise wohl verstärkten tung trifft Transnistrien jedoch noch härter. innenpolitischen Gegenwind erfahren. IFK Monitor 5 COVID-19 Spezial | April 2020
• Die in der EU-Globalstrategie 2016 an- zuwiesen, weil sich westliche Firmen sank- gestrebte Stärkung der Resilienz des tionsbedingt scheuen, dringend benötig- EU-Umfeldes wird nun mehr denn je te medizinische Güter zu verkaufen. Das unter Beweis gestellt werden müssen. halbherzige Verhalten der EU in dieser humanitären Krise irritierte Regierung und • Das Internationale Krisenmanagement iranische Öffentlichkeit gleichermaßen und fokussiert derzeit auf zwei vordringli- schwächt die Position der EU-Mitglieds- che Aufgaben: Konfliktprävention und staaten gegenüber Teheran. Ob der Iran Linderung der humanitären Auswirkun- mit der Krise schlechter umging als ande- gen der COVID-19 Krise. Die diversen re Staaten, wird sich aufgrund staatlicher Gesprächsformate können vorerst nur Intransparenz und internationaler Polemik digital fortgeführt werden. kaum klären lassen. Christoph Bilban, Hans Lampalzer Auswirkungen im regionalen Kontext Irans innenpolitische Schwächen kontras- Entwicklungen im Iran, Irak tieren mit seinem Engagement in der Re- und in der Türkei gion. Teheran betrachtet seine Präsenz in Syrien, Libanon und im Irak und den Kur- Die COVID-19 Pandemie traf die Türkei, dengebieten als in ideologischer und in den Irak sowie den Iran zu unterschiedli- strategischer Hinsicht so essenziell, dass chen Zeitpunkten, sodass das Ausmaß der trotz der Coronakrise keine Veränderung Erkrankungen in den beiden Staaten noch zu erwarten ist. Besonders kritisch ist die nicht verglichen werden kann. Sehr wohl Lage im Irak, der eine schwere Systemkri- lassen sich aber die Art und Weise, wie die se durchlebt, die das Land beinahe unre- Machthaber in Ankara und Teheran mit der gierbar macht. Erschwert wird die dortige Krise umgehen, gegenüberstellen. Situation durch die iranisch-amerikanische Konkurrenz. Es zerschlug sich nämlich die Die Islamische Republik Iran wurde Anfang Hoffnung, dass die lose Anti-IS-Kooperation 2020 zu einem Zeitpunkt von der Pande- zwischen US-geführten Truppen, irakischer mie getroffen, als sie eine ihrer größten Kri- Armee, KRG-Peshmergas und den vom sen durchmachte. Innenpolitisch scheiter- Iran unterstützten Volksmobilisierungsein- te die Reformpolitik Ruhanis, die durch die heiten (VME) zu einem deeskalierenden Integration des Irans in die Weltwirtschaft Neben- oder gar Miteinander pro-iranischer hätte finanziert werden sollen, an den US- Kräfte mit den USA führen könnte. Viel- Sanktionen. Dadurch verlor Ruhanis politi- mehr sind die laufenden Maßnahmen zur sches Lager Ansehen in der Bevölkerung Ertüchtigung der irakischen Armee im Zuge und Einfluss im politischen System des der Operation Inherent Resolve gegen die Landes. Die desaströse Katastrophenhilfe geschätzt 140.000 Mann starken VMEs ge- durch die Revolutionsgarden bei Natur- und richtet und unübersehbar Teil eines Plans, Umweltkatastrophen, Korruptionsskandale den Iran aus der Region zurückzurollen. und vor allem der irrtümliche Abschuss der Allgemein ist eine Konfrontation zwischen Fluges PS 752 am 8.1. verstärkten den all- VME und amerikanischen Kräften möglich, gemeinen Ansehens- und Legitimitätsver- hängt aber letztendlich vom Willen der ame- lust des Regimes. Letzten Endes reagier- rikanischen Entscheidungsträger ab, aufs ten die Behörden zu spät mit der Sperrung Ganze zu gehen. Das Coronavirus scheint des öffentlichen Lebens. So sollte die weitere Eskalationen vorerst aufgeschoben Durchführung der Revolutionsfeierlichkei- zu haben. So kündigten einige schiitische ten und der iranischen Parlamentswahlen Elemente der VME die Errichtung von Feld- Normalität suggerieren. Kritik wurde von spitälern an, während einige europäische den Behörden zurückgewiesen, indem Re- Staaten den Abzug ihrer Truppen aus dem gierungsvertreter den USA eine Teilschuld Irak erwägen. IFK Monitor April 2020 | COVID-19 Spezial 6
Ähnliches kann für die Türkei und ihr Enga- Erst als die oppositionellen Bürgermeister gement in Syrien, Irak und Libyen postuliert in Istanbul und Ankara in Sachen Corona werden. Zum einen, weil das Gros der mi- aktiv wurden, konterte der Präsident mit litärischen Dislozierung gegen die PKK ge- einer populistischen Spendenkampagne richtet ist, zum anderen, weil die Situation unter dem Titel „wir genügen uns selbst“ in Idlib und in Libyen weniger als Machtpro- (biz bize yeteriz). Mit den so eingesammel- jektion, sondern als Management der zuvor ten Geldern sollen aufgrund von COVID-19 selbst geförderten dschihadistischen Grup- in Not geratene Bürger unterstützt werden. pen zu verstehen ist. Aus europäischer Sicht ist vor allem das türkische Engagement in Ableitungen Libyen kritisch zu sehen – einerseits, weil die Absichten Ankaras nicht klar sind, an- • Grundsätzliche Kursänderungen durch dererseits, weil die europäische Uneinig- Ankara und Teheran sind weder keit in Libyen der Türkei in die Hände spielt: außen- noch innenpolitisch zu erwar- es existieren Interessenskonvergenzen mit ten. In beiden Ländern ist die politische einem Mitgliedsstaat (Italien) und schar- Lagerbildung zu festgefahren und der fe Konkurrenz zu einem anderen (Frank- Handlungsspielraum der Opposition zu reich). Damit können weder Ankara noch gering, als dass sie in Sachen Corona- Teheran – selbst bei vorhandenem politi- Management punkten könnte. Zwar schen Willen – ihre Positionen nicht ohne werden die eigentlichen Machthaber großen Prestigeverlust aufgeben. Erdoğan und Khamenei angesichts der befürchteten hohen Todeszahlen unter Ähnlich wie im Iran traf das Coronavirus in Druck geraten, doch beide haben die der Türkei auf ein System, das zusehends Medien und den Staatsapparat fest im an Ansehen in der eigenen Bevölkerung Griff. verliert. Dieser Trend setzt sich aufgrund innenpolitischer Schwierigkeiten, z. B. der • Eine Konfrontation zwischen den USA durch Eigenverschulden kränkelnden tür- und iranischen Verbündeten im Irak kischen Wirtschaft, dem Mangel an Demo- bleibt möglich. Daher wäre es aus kratie und dem Umgang mit der Corona- europäischer Sicht notwendig, die ei- Pandemie, fort. Außerdem wurden gleich gene Haltung zur de-facto Mandats- wie im Iran notwendige Maßnahmen wie verschiebung weg vom Kampf gegen der Aufruf zur sozialen Distanzierung zu den IS hin zum strategischen Roll-Back spät getroffen. Verärgert zeigte sich die Teherans in der Region zu überdenken. türkische Öffentlichkeit über den Umgang Damit einhergehend wird die EU nicht der Behörden mit rückkehrenden Pilgern umhin kommen, ihr Verhältnis zum aus Mekka, die ohne medizinische Unter- Iran und zur amerikanischen Iranpolitik suchung ungehindert in ihre Provinzen einer Neubeurteilung zu unterziehen. weiterfliegen konnten. Die Schließung von Moscheen fand dann doch ohne größere • Die Inflexibilität der beiden halbauto- Probleme statt. Die türkische Zivilgesell- ritären Staaten zeigt sich am Umgang schaft befürwortet zwar die Maßnahmen mit den Gefängnissen: politische Ge- der Regierung, ist sich jedoch der Ironie fangene wie Salahettin Demirtaş in der der Situation angesichts der Beschrän- Türkei oder die zahlreichen Doppel- kung der sozialen Kontakte bewusst. Das staatsbürger im Iran bleiben weiterhin Verhängen von Ausgangssperren wird näm- in Haft, während Kriminelle vorzeitig lich gemeinhin als Teil der militaristischen entlassen werden. In Krisenzeiten zei- Vergangenheit des Landes wahrgenom- gen solche Regierungen immer wessen men. Das dürfte auch Erdoğan so sehen, Geistes Kind sie sind. der bisher auf den Einsatz des Militärs im Rahmen der Coronakrise verzichtet. Davon Walter Posch abgesehen zeigte Erdoğan wenig Initiative. IFK Monitor 7 COVID-19 Spezial | April 2020
Entwicklungen in der Golfregion Eigennutz. Korruptionsvorwürfe werden in und der Levante den Hintergrund gedrängt und die fehlende politische Mehrheit seiner Fraktion in der COVID-19 betrifft seit einigen Wochen Knesset kaschiert. Dies brachte Bewegung auch die Staaten des Nahen- und Mittleren in die Koalitionsverhandlungen. Die Bildung Ostens. Im Golfraum sind vor allem die Ver- der Regierung mit seinem Herausforderer einigten Arabischen Emirate (VAE), Katar, ist klar dem Notstand geschuldet. Dies steht Bahrain und Saudi-Arabien betroffen. Die diametral zur Lage in den Palästinenser- VAE setzten dabei als erste zu Österreich gebieten. Dort sind politische Führung und analoge Maßnahmen, die übrigen Staaten administrative Strukturen ungenügend auf zogen nach. Als besonderes Risiko gilt die COVID-19 vorbereitet. hohe Zahl an ausländischer Arbeitnehmer. Katar geht besonders restriktiv mit seinen Ableitungen vorwiegend indischen und pakistanischen Arbeitskräften um. Wegen rigoroser Aus- • In den Golfstaaten sind aktuell vorran- gangssperren sind dort etwa zwei Millionen gig Gastarbeiter, die nur eingeschränkt Gastarbeiter in 32 Großlagern für mehrere Zugang zu den Gesundheitssystemen Wochen interniert. In Bahrain wurden rund haben, betroffen. COVID-19 wirkt sich 800 Arbeiter unter Quarantäne gestellt. vor allem wirtschaftlich massiv aus. Saudi-Arabien öffnete sein Gesundheits- Zusätzlich zum von Saudi-Arabien her- system für ausländische Fachkräfte. vorgerufenen Ölpreisverfall verschärft Corona die Wirtschaftskrise durch den In der Levante reagierte Israel, wo aufgrund Ausfall des Tourismus und die vollstän- der internationalen Vernetzung seiner Ge- dige Einstellung der Bautätigkeiten. sellschaft früh die ersten Erkrankungen verzeichnet wurden, besonders schnell. • In Israel kalkuliert Netanyahu bei Fort- Es verhängte neben international üblichen dauer der Krise mit einer Popularitäts- Einschränkungen v. a. Einreiseverbote aus steigerung. COVID-19 hat daher beson- betroffenen Staaten und veröffentlichte ders eine innenpolitische Dimension. eine Vielzahl an Indikatoren, gemäß denen Israels Gesundheitssystem beherrscht eine Selbstquarantäne notwendig ist. grundsätzlich die Problematik. Syrien meldete am 29.3. den ersten Todes- • In der Westbank und im Gaza-Streifen fall wegen COVID-19. Aufgrund der schlech- ist hingegen mit hohen Fallzahlen zu ten Gesamtlage ist es nur eine Frage der rechnen. Eine Verschärfung der allge- Zeit, bis sich steigende Infektionszahlen meinen Lage im israelisch-palästinen- konkret auf die Bevölkerung auswirken. In sischen Konflikt ist bei Zunahme der den regierungstreuen Provinzen wurde vor- Fallzahlen in den Palästinensergebie- erst mit Schulschließungen und Einschrän- ten erwartbar. kungen im öffentlichen Verkehr reagiert. • In Syrien wird es in den umkämpften Auswirkungen im regionalen Kontext Gebieten, den Flüchtlingslagern und im türkisch-syrischen Grenzgebiet zu Der Nahe und Mittlere Osten ist überwie- massiven Auswirkungen auf die Bevöl- gend nicht ausreichend auf COVID-19 vor- kerung kommen. Wie diese Situation bereitet, die exponentielle Ausbreitung da- die militärischen Aktivitäten beeinflus- her nur eine Frage der Zeit. Die Golfstaaten sen wird, ist zurzeit nicht absehbar. Mit sind aber grundsätzlich besser gerüstet als Konzentration der Sicherheitskräfte die arabischen Staaten der Levante. auf die zivilen medizinischen Einrich- tungen und der damit verbundenen In Israel erfolgt Ministerpräsident Netan- Fokussierung der staatlichen Ordnung yahus entschlossenes Handeln nicht ohne auf die Ballungszentren ist eine Be- IFK Monitor April 2020 | COVID-19 Spezial 8
wegungsfreiheit für dschihadistische Auswirkungen im regionalen Kontext Gruppen in den übrigen Landesteilen erneut möglich. Dies wird u. a. konflikt- Länder mit Erfahrung im Umgang mit Epi- verschärfend wirken. demien wie Ebola haben relativ rasch Maßnahmen zur Eindämmung (Informa- • Das internationale Krisenmanagement tionskampagnen, Testungen, Ausgangs- und die damit in der Region engagier- beschränkungen) gesetzt. Neben innova- ten internationalen Institutionen (VN, tiven Ideen wie dem Einsatz von Drohnen u. Ä.) werden mit einem zunehmend zur Gesundheitsversorgung im ländlichen volatileren Missionsumfeld bei gleich- Ruanda, verfügen andere Staaten über zeitiger Verschärfung der humanitären kaum belastbare Gesundheitssysteme. Lage konfrontiert sein. Letztere stellt So verfügt z. B. Zimbabwe landesweit über möglicherweise einen Auslöser für eine nur ca. 15 funktionierende Beatmungsge- neuerliche Migrationswelle dar. räte. Abgesehen davon, haben weite Teile der Bevölkerung keinen oder nur sehr ein- Stephan Reiner geschränkten Zugang zu medizinischen Einrichtungen. Besonders am Land fehlt es häufig an adäquater Sanitär- und Gesund- heitsversorgung. Selbst wenn Informations- kampagnen erfolgreich wären, macht es ein limitierter Zugang zu Wasser für viele Menschen schwierig, einfache Verhaltens- Entwicklungen in Afrika regeln wie Händewaschen zu befolgen. Zu- sätzlich verschärfen Faktoren wie Mangel- Die Anzahl der COVID-19 Fälle steigt in ernährung, Grunderkrankungen (z. B. HIV, den meisten afrikanischen Staaten an, von Tuberkulose, Malaria, Lassafieber) oder denen Daten zur Verfügung stehen. Nach Ernteausfälle (z. B. durch Heuschrecken derzeitiger Datenlage liegen diese bei der am Horn von Afrika) die Lage. Anzahl der Infektionen in etwa 10 bis 14 Tage hinter Österreich. Allerdings sind für Mehrere Länder beschlossen bereits wirt- Länder, die sich in Krisen- oder Konflikt- schaftliche Unterstützungsmaßnahmen. situationen befinden, wie Libyen, Mali oder Ein sehr hoher Prozentsatz der Bevölke- Südsudan nur sehr begrenzt valide und rung in Afrika ist allerdings im informel- reliable Daten verfügbar. Mit Stand 5.4. len Sektor der Wirtschaft tätig und/oder haben 43 der 55 Mitgliedstaaten der betreibt Subsistenzwirtschaft. Deshalb Afrikanischen Union (AU) ihre Grenzen ge- werden auch Maßnahmen wie Ausgangs- schlossen, sieben die internationalen Flü- beschränkungen oder das Schließen von ge eingestellt, drei Beschränkungen bei der Geschäften zum Eindämmen physischer Ein- und Ausreise und zwei weitere Einrei- Kontakte kaum Wirkung zeigen. In Krisen- sebeschränkungen für Reisende aus spezi- und Konfliktgebieten, wo der Staat ohnehin fischen Staaten erlassen. nur über eingeschränkte Handlungsmög- lichkeiten verfügt und seine Autorität nicht Aufgrund der sich dynamisch entwickeln- im gesamten Staatsgebiet ausüben kann, den Situation werden auch in Afrika dras- dürfte ebenfalls die Versorgung der Bevöl- tische Maßnahmen zur Beschränkung des kerung äußerst schwierig werden. öffentlichen Lebens gesetzt. Besonders jene Staaten, die von den Einnahmen aus Zudem wird soziale Sicherheit oft nicht Tourismus und dem Export von Erdöl oder durch den Staat, sondern durch die Edelmetallen abhängig sind, befinden Familie oder religiöse Gruppen gewährleis- sich in einer prekären Situation. Alleine in tet. Falls religiöse Führer nicht vermitteln, Nigeria sollen Einnahmen von über 15 Mrd. dass die Menschen zueinander physische US-Dollar aus dem Ölverkauf fehlen. Distanz halten sollen, werden die meisten IFK Monitor 9 COVID-19 Spezial | April 2020
ihrer Anhänger dies auch nicht tun. Das lichen Institutionen bzw. auf instituti- Zusammenleben in großen Familien mit onelles Versagen in Konfliktregionen eingeschränktem Wohnraum wird die Lage schließen. Selbst Staaten, die Daten zusätzlich zuspitzen. zur Verfügung stellen, haben vielfach nicht die Kontrolle über alle Landes- Repressive Maßnahmen der Regierungen teile. Dies gilt besonders für Staaten, könnten zunehmen, indem z. B. Ausgangs- in denen Rebellen oder terroristische verbote mit Gewalt durchgesetzt werden. Gruppierungen aktiv sind. Ein Vorgehen gegen Flüchtlinge, intern Vertriebene (IDPs), ethnische und andere • Umfassende Grenzkontrollen sind in Minderheiten oder soziale Randgruppen der Regel schwierig. Es ist kaum davon könnte die Situation verschärfen und die auszugehen, dass sich das jetzt ändern Zivilgesellschaft nahezu ausschalten. wird. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus in diesem Bereich sind daher Es gibt Befürchtungen, dass parlamen- nur so gut, wie die Grenzregime schon tarisch eingeführte Zwangsmaßnahmen davor gewesen sind. Außerdem wird die nach der Krise nicht wieder zurückgenom- Ausbreitung in Megacities mit einem men werden. Lokale Eliten könnten ver- hohen Anteil an informellen Siedlun- suchen, ihre Machtpositionen zu festigen gen wie Lagos, Kairo oder Nairobi nur oder ihre Amtsperioden zu verlängern. schwer einzudämmen sein. Daher ist Ausgangs- und Versammlungsverbote wer- von einer beträchtlichen Dunkelziffer den aufgrund des fehlenden Vertrauens bei Infektionen auszugehen. Zusätzlich als Maßnahme gegen Protestbewegungen wird die bereits begonnene Flucht von (wie in Algerien) wahrgenommen. Inter- den Städten aufs Land die Verbreitung nationalen NGOs wird durch die Reisebe- beschleunigen. schränkungen ihre zivilgesellschaftliche Arbeit erschwert, das Engagement bei • Im Sahelraum könnten nomadische humanitärerer Hilfe und im Internationalen Gruppen das Virus verbreiten und Vor- Krisen- und Konfliktmanagement könnte urteile gegen sie verstärken. Mit einer sich deutlich verringern. Kontingentswech- raschen Ausbreitung des Virus entlang sel werden erschwert bzw. verschoben und klassischer Handels-/Migrationsrouten verstärkt präventive Maßnahmen, wie eine wird zudem ein Anstieg an Korruption, Einschränkung physischer Kontakte, in den organisierter Kriminalität und Schmug- laufenden EU- und UN-Missionen einge- gelaktivitäten einhergehen. führt. Auch die Ausbildungsaktivitäten der EU-Trainingsmission in Mali wurden vorü- • Auswirkungen auf politische Systeme bergehend ausgesetzt. Ziel aller Missionen und Konflikte sind nicht abschätzbar. in Afrika ist es, die Ansteckungsgefahr für Allerdings dürften sowohl totalitäre das Personal zu minimieren und zugleich Regime als auch demokratische Oppo- essentielle Aufgaben, wie den Schutz und sitionsbewegungen aus unterschied- die Versorgung der Bevölkerung, weiterhin lichen Gründen unter Druck geraten. zu gewährleisten. Inwieweit dies aufrecht- Gesteigerte Gewalt könnte zu einem erhalten werden kann, werden die weitere Anstieg an IDPs, Flüchtlingen und Ausbreitung von COVID-19 und damit ein- Migranten führen. Auswirkungen auf hergehende Maßnahmen zeigen. Eine ers- Österreich und die Europäische Union te Infektion innerhalb von MINUSMA, der dürften sich allerdings erst mit einem UN Mission in Mali, wurde bereits bestätigt. gewissen Verzögerungseffekt zeigen. Ableitungen • Politische Auswirkungen in Form von schlechteren Beziehungen mit afrika- • Unvollständige Daten lassen auf fehlen- nischen Staaten zeichnen sich ab, weil den oder mangelnden Zugang zu staat- afrikanischen Quellen zufolge einige IFK Monitor April 2020 | COVID-19 Spezial 10
europäische Staaten versuchen, Ge- Zudem ist die Arbeit im Gesundheitsbe- sundheitspersonal abzuwerben. reich mit einem hohen Sicherheitsrisiko verbunden, was Maßnahmen erschwert. • Die weitere Ausbreitung des Virus in So wurden 2019 über 50 medizinische den Krisenregionen, aber auch inner- Fachkräfte getötet und viele mehr verletzt. halb der Truppen stellenden Nationen und deren Personals, wird sich zuneh- Bis 4.4. gab es 337 bestätigte Infektionen, mend nachteilig auf die Auftragserfül- die meisten davon in der Provinz Herat, lung und Handlungsoptionen der lau- die unmittelbar an den Iran grenzt. Diese fenden EU- und UN-Missionen in Afrika niedrige Zahl zeigt den eklatanten Mangel auswirken. Auch Auswirkungen auf die an Testkapazitäten auf, die es aktuell nur Status of Forces Agreements (SOFA) in Kabul, sowie in Herat (Westen) und Nan- sind möglich. garhar (Osten) gibt. Landesweit konnten bisher im besten Fall maximal 600 Tests Gerald Hainzl, Nicole Gruber pro Tag durchgeführt werden. Neue Testkits fehlen, weil die meisten Fluggesellschaften die Hauptstadt Kabul nicht mehr bedienen. Die Dunkelziffer der Infektionen dürfte so- mit deutlich höher liegen. Auch der internationale Ausbildungs-, Trai- Auswirkungen auf Friedenseinsätze nings- und Beratungseinsatz Resolute Sup- Österreichs am Beispiel Afghanistan port Mission (RSM) der NATO, nach wie vor einer der größten Einsätze europäischer Die Regierung der Islamischen Republik Truppensteller, ist bereits von COVID-19 Afghanistan wird nach der umstrittenen betroffen. Das österreichische Kontingent, Präsidentschaftswahl 2019 faktisch von das in Kabul und Mazar-i Sharif stationiert zwei Präsidenten geführt (Ashraf Ghani ist, meldete bisher keine COVID-19-Fälle. und Abdullah Abdullah), ist tief gespalten Als erste Maßnahmen wurden die Ausbil- und kaum handlungsfähig. Parallel dazu dungsaktivitäten für die afghanische Ar- ist die Taliban-Bewegung aktiv, die „halb- mee reduziert; Konferenzschaltungen wer- staatliche Strukturen“ aufweist und als po- den verstärkt genutzt. Auch der Zugang zu litischer Akteur in die Regierung drängt. Um Stützpunkten wird restriktiver gehandhabt. COVID-19 zu bekämpfen, wurden vorerst für Kabul und Städte an der Grenze zum Auswirkungen im regionalen Kontext Iran eine Ausgangssperre verhängt und Desinfektionsteams aktiviert. Die Taliban Vieles spricht für eine massive Ausbreitung haben in den von ihnen kontrollierten Re- von COVID-19 in Afghanistan. Vor allem in gionen Aufklärungskampagnen gestartet, den Ballungszentren hat das Virus aufgrund weil COVID-19 ihre Position bei möglichen der Menschenmassen und Großfamilien innerafghanischen Friedensgesprächen leichtes Spiel. Es fehlt zudem an Testmög- schwächen könnte. Vorerst bleibt offen, ob lichkeiten und Budgets. Dazu kommt die COVID-19 für eine gewisse Annäherung der kaum medizinisch kontrollierbare Rück- Konfliktparteien sorgen könnte, steht man kehr tausender Afghanen aus dem Iran doch einem „gemeinsamen Feind“ gegen- und die massive Abhängigkeit von interna- über. Mittlerweile wird kaum mehr am run- tionalen Gebern. Die Streichung von Hilfs- den Tisch, sondern über Skype verhandelt. geldern der USA in der Höhe von einer Mrd. USD im März 2020 wird den Kampf gegen Das Gesundheitssystem in Afghanistan ist COVID-19 zusätzlich erschweren. durch den jahrzehntelangen Konflikt stark geschwächt. Die Fähigkeit des Landes, Die Pandemie könnte kurz- bis mittelfris- COVID-19 zu bekämpfen, ist daher gering. tig ein „Einfrieren“ der Verhandlungen IFK Monitor 11 COVID-19 Spezial | April 2020
zwischen den USA, den Taliban und der Weitere Planungsparameter für das afghanischen Regierung bewirken und die europäische Engagement sind die mög- militärische Pattsituation verlängern. Der liche Umsetzung bzw. Absicherung des bewaffnete Konflikt geht jedoch weiter. Seit Doha-Abkommens der USA mit den Tali- Februar ist die Zahl sicherheitsrelevanter ban und die Begleitung innerafghanischer Vorfälle gegenüber dem Vorjahreszeitraum Friedensverhandlungen, die unter Umstän- zwar zurückgegangen, ein angestrebter den mehr diplomatische, zivile und medizi- Waffenstillstand ist jedoch vorerst unwahr- nische Kräfte erfordern werden. scheinlich. Speziell in Nordafghanistan finden Anschläge und bewaffnete Ausei- Es wurde verlautbart, dass die RSM dem nandersetzungen nach wie vor statt. Dort Auftrag auch mit deutlich weniger Personal und in vielen weiteren Regionen findet ein nachkommen kann. Daher wird Deutsch- Machtkampf um den Opiumanbau statt, der land bereits bis Sommer 2020 sein Kon- Milizenführern und Taliban (unabhängig von tingent (bisher max. 1.300 Soldaten) sub- COVID-19) lukrative Einnahmen bringt. stanziell reduzieren. Auch eine Verlegung der Ausbildungsaktivitäten von Mazar-i Das Abkommen von Doha vom Februar Sharif nach Kabul wird angedacht, was 2020 zwischen den USA und den Taliban österreichische Soldaten betreffen würde. sieht eine deutliche Reduzierung von US- COVID-19 dürfte Entscheidungen in diese und anderen internationalen Truppen vor. Richtung beschleunigen. War der Rückzug bereits 2019 deutlich zu erkennen, so erfährt dieser Prozess Trotz der Rückzugsdynamiken ist nicht zu nunmehr durch COVID-19 eine Beschleu- erwarten, dass die USA wegen COVID-19 nigung. Die politische Agenda und die ihre geopolitischen und geostrategischen Interessen der Truppensteller haben sich Interessen und Basen in Afghanistan auf- wegen COVID-19 auf das Krisenmanage- geben werden. Eine Truppenreduktion ment im eigenen Land verlagert, was auch steht dem nicht entgegen: Der Einsatz von die Verteidigungsressorts bindet. Internati- Drohnen und Spezialkräften benötigt wenig onales Konfliktmanagement und Friedens- Personal, weil die Bodenoperationen groß- prozesse sind dadurch vorerst ins Hinter- teils von der afghanischen Armee durch- treffen geraten – sowohl für die USA als geführt werden. Die Kosten des längsten auch für europäische Truppensteller. Krieges der USA sind dennoch enorm und werden seit 2001 mit bis zu zwei Billionen Auswirkungen für Resolute Support USD beziffert. US-Präsident Trump würde schon ein teilweiser Rückzug für seine Eine Reduzierung von Truppen der RSM mögliche Wiederwahl nützen. steht immer mehr zur Debatte, nicht zu- letzt auch deshalb, weil das medizinische Die Unsicherheiten über den Verbleib der und damit auch politische Risiko durch USA in Afghanistan und COVID-19 haben COVID-19 gestiegen ist. So stehen etwa wesentliche Auswirkungen auf das zukünf- 1.500 Ende März in Kabul angekommene tige Engagement europäischer Streitkräfte multinationale Soldaten, zivile Mitarbei- in Afghanistan, weil diese logistisch und ter und Vertragspersonal unter Quarantä- sicherheitstechnisch auf die US-Truppen ne, was die Einsatzführung und Logistik angewiesen sind und die Einsatzführung deutlich erschwert. Die Finalisierung oder aller präsenten Akteure durch COVID-19 Weiterführung der RSM hängt jedoch – un- negativ beeinflusst wird. Trotzdem ist es abhängig von COVID-19 – eng mit der wei- aus europäischer Sicht auch in Zukunft teren Präsenz der US-Truppen zusammen. wichtig, Afghanistan zivil und militärisch Bereits Ende Februar 2020 beendeten die nicht im Stich zu lassen (z. B. wegen des USA ihre Operation Freedom's Sentinel zur Migrationsaspektes) und den Erhalt von Terrorismusbekämpfung in Afghanistan, Lebensgrundlagen für die Bevölkerung zu die parallel zur RSM im Einsatz stand. unterstützen. IFK Monitor April 2020 | COVID-19 Spezial 12
Ableitungen für Österreichs Auslands- z. B. auch bei der EUTM Mali. Auch eine engagements im Bereich Resilienzaufbau Verlängerung bzw. Ausdehnung der Einsatzrotationen erscheint in diesem • Obwohl Unterstützungs-, Trainings-, Kontext sinnvoll, um Reserven bilden Ausbildungs- und Beratungsmaßnah- und Positionen nachbesetzen zu kön- men für lokale Sicherheitskräfte und nen, sollten sich Soldaten vor Ort infi- staatliche Administrationen im inter- zieren. Die zusätzliche Belastung für nationalen Krisenmanagement immer die Truppe ist dabei einzukalkulieren. relevanter werden (siehe neben Die Nutzung aller technologischen Afghanistan z. B. die Missionen in Mali, Möglichkeiten für Ausbildungs- und im Libanon oder am Westbalkan), Beratungsaktivitäten auf taktischer stehen Schutzmaßnahmen und die Ebene, die in der Regel eine sehr enge Erhaltung des Durchhaltevermögens Interaktion mit lokalen Streitkräften er- der eigenen Soldaten wegen COVID-19 fordern, sind zu verstärken. im Vordergrund. Es gilt somit, den Ein- satzauftrag im Sinne des Mandates mit • Für das ÖBH, das rund 800 Soldaten in der Einsatzfähigkeit der Soldaten best- 16 Auslandseinsätzen stationiert und möglich abzuwägen. weitere Reservekräfte für Friedensope- rationen bereitzustellen hat, ergeben • Sowohl die Einsatzvorbereitung der sich durch COVID-19 große Herausfor- Truppe als auch die Rückholmöglich- derungen. Der Nachschub an Soldaten keiten sind an das neue pandemische und Material ist durch coronabedingte Umfeld anzupassen. Lange Vor- und Einschränkungen der Logistikketten Nachlauflaufzeiten durch allfällige deutlich erschwert. Laufende Inlands- Quarantänemaßnahmen sind dabei einsätze und die Teilmobilmachung we- einzukalkulieren. Das bedeutet auch, gen COVID-19 ab Mai 2020 benötigen dass die intensivmedizinische Ver- ebenfalls entsprechendes Personal sorgung der Truppe im Hinblick auf und Ressourcen. Trotzdem ist beab- COVID-19 umfassend sicherzustel- sichtigt, Österreichs militärisches Aus- len ist, um das Ansteckungsrisiko von landsengagement auf dem aktuellem allen Seiten (sowohl durch internatio- Niveau zu halten. nale als auch auszubildende Soldaten und die lokale Bevölkerung) so gering Markus Gauster wie möglich zu halten. Es würde die Akzeptanz von Missionen massiv be- einträchtigen, würden internationale Soldaten das Virus weiterverbreiten (ähnliches war z. B. bereits in Haiti bei MINUSTAH der Fall). Die Akzeptanz der Mission könnte durch die Errichtung von COVID-19-Testzentren für lokale Streitkräfte, aber auch für die Bevölke- rung vor Ort erhöht werden. • Anpassungen bei Einsatzrotationen wären wegen COVID-19 zu prüfen, so Impressum: Medieninhaber/Herausgeber/Hersteller: Republik Österreich/BMLV, Roßauer Lände 1, 1090 Wien Redaktion: Landesverteidigungsakademie Wien/IFK, Stiftgasse 2a, 1070 Wien Periodikum der Landesverteidigungsakademie www.facebook.com/lvak.ifk IFK Monitor 13 COVID-19 Spezial | April 2020
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