Das Bild ist immer schon plural

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Christopher S. Wood

Das Bild ist immer schon plural

Das fabrizierte Bild (Gemälde, Statue, Fotografie, Film, Tanz) ist das Modell eines
generierten Bilds (Wahrnehmung, Erinnerung, Traum, Gespenst, Erscheinung). Das
generierte Bild ist emergent, dynamisch, aggregiert. Das fabrizierte Bild stabilisiert,
reduziert und rahmt das generierte Bild, das es insofern interpretiert. Die Matrix
von Dauer und Bewegung (Leben), Wahrnehmung und Affekt, die das generierte
Bild unterstützt, hinterlässt aber Spuren im fabrizierten Bild. Dieses Bild ist sich
seiner eigenen Fremdheit gegenüber der realen Bewegung bewusst; es signalisiert
seinen Wunsch, in einen mobilen Zustand zurückzukehren, indem es die Pluralität
in seine eigene Struktur integriert. Mein Projekt wäre, solche (zurückweisende)
Spuren und (vorwärtsweisende) Chiffren in Gemälden zu identifizieren, also die
anscheinend stabile Nichtpluralität des Bildes als ephemeren Zustand, oder viel-
leicht als Illusion aufzudecken.
In europäischen Gemälden des 14. und 15. Jahrhunderts erkennt man diese latente
oder versprochene Pluralität an instabilen internen Topologien wieder: also an
Verdoppelungen und Vervielfältigungen von Figuren, die die Asymmetrie schaffen
und so spiralförmige Bewegungen bzw. Rückkoppelungen in Gang zu setzen drohen:
Pulsationen von Erscheinen und Verschwinden, Verletzungen von systemischer
Hierarchie, die die Beobachter in Teilnehmer verwandeln und vice versa, und die
Vermehrung von aufeinander folgenden Szenen innerhalb eines fiktiven Einheits-
raums (Simultanbild). Solche Topologien modellieren die emergenten Prozesse,
die Wahrnehmungen und Erinnerungen generieren und sich – durch den Prozess
der künstlerischen Schöpfung –über den Körper hinaus in die fabrizierten Bilder
ausdehnen.

Die Bilder: Wenn wir von einer Pluralität von Bildern sprechen, sollten wir uns
in Wirklichkeit keine Sammlung von getrennten, vereinzelten Bildern vorstellen,
sondern eine unermessliche Fülle, ohne innere Differenzierung1 – genauso, wie wir
in so vielen Sprachen von Wassern, waters, les eaux sprechen. Denn im Fließen der
Erfahrung ist es ebenso wenig möglich, ein einzelnes Bild auszusondern wie ein
einzelnes ‚Wasser‘ für sich herauszugreifen. Die Wasser, so Roberto Calasso in seiner
genialen Meditation über die hindische Mythologie, Ka, symbolisieren den Strom,
fließend und reflektierend, von inneren Bildern, Phantomen und Simulacra, die das
Bewusstsein ausmachen. Diese sind im Mythos eine Pluralität von „weiblichen
10                                                                                  Christopher S. Wood

     Geschöpfen“2. Die Pluralität von Bildern ist in ihrer Weiblichkeit ein Zeichen für
     die Tendenz des Bewusstseins, sich zu vermehren und zu verzweigen.
        Dennoch ist das Bild nach den beständigsten Theorien, die über das Bild entwi-
     ckelt wurden – in der Theologie, der klassischen Epistemologie, der akademischen
     vormodernen sowie modernen Kunst, der Anthropologie – immer zugleich ruhig,
     eingerahmt und leicht greifbar. Das Bild steht für sich allein, außerhalb der Zeit.
     Wohingegen in der Erfahrung, die ein Fließen von Bildern in der Zeit ist, jedes Bild
     im Begriff ist, sich in ein anderes zu verwandeln, weil es sich hier um Wahrneh-
     mungen, Erinnerungen, Träume handelt: Bilder, die durch den Körper hervorgebracht
     und koordiniert werden. Nach Henri Bergson ist die Wirklichkeit nichts anderes als
     ein Aggregat von Bildern, das zu einem ganz bestimmten Bild in Beziehung steht:
     dem Körper.3 Der Körper ist insofern ein Bild, als er Bewegung aufnimmt und wie-
     derum selbst Bewegung produziert. Für das verkörperte Subjekt ist der Körper ein
     bevorzugtes Bild, denn er ist ein Bild, das von Innen heraus wahrgenommen wird.
     Der Körper filtert den Bilderstrom – und diese Filterung und Auswahl nennen wir
     Wahrnehmung. Das Ausfließen der Bilder ist die Erfahrung selbst. Man kann diesen
     Bilderfluss also nicht anhalten oder in einem bestimmten Bild isolieren.4
        Und doch bleibt das zeitlich einfache, isolierte Bild die Grundlage für die Bild-
     theorie. Das eingerahmte Bild ist das brauchbare Bild. Plato verortete Bilder im
     Geist, die die vollkommenen Urbildern im Ideenhimmel abbildeten. Er machte das
     geistige Bild fest, um es mit einer idealen Form vergleichen zu können; dieser Ver-
     gleich zielte auf Diskreditierung ab. Das feste geistige Bild ist tief in die Geschichte
     des westlichen Denkens eingewoben. Aber dieses Bild ist eine Fiktion, ein Artefakt
     des philosophischen Diskurses. Wir haben uns davon überzeugt, dass sich das Be-
     wusstsein an einem Repertoire gespeicherter Abbilder orientiert, das fortwährend
     durch neue Wahrnehmungen aufgestockt wird, durch das schöpferische Gedächtnis,
     durch die Einbildungskraft. John Locke hat den Verstand als eine dunkle, mit Bildern
     ausgefüllte Kammer beschrieben:

        Denn meines Erachtens ist der Verstand einem Kabinett gar nicht so unähnlich, das gegen das Licht
        vollständig abgeschlossen ist und in dem nur einige kleine Öffnungen gelassen wurden, um äußere,
        sichtbare Ebenbilder oder Ideen von den Dingen der Umwelt einzulassen. Wenn die in einen solchen
        dunklen Raum hineingelangenden Bilder nur dort bleiben würden und so geordnet lägen, dass man
        sie im gegebenen Fall auffinden könnte, so würde solch ein Kabinett hinsichtlich aller sichtbaren
        Objekte und ihrer Ideen dem menschlichen Verstande außerordentlich ähnlich sein.5

     Man könnte sich einen Haufen staubiger Leinwandbilder vorstellen, Portraits etwa
     von Peter Lely, oder schwache Werke der Bologneser Schule.
        Die Kunstgeschichte hat innerhalb dieser Geschichte eine Rolle zu spielen, da
     die philosophische Mär von in sich gefestigten Bildern nur bestärkt worden ist durch
     die materiellen Bilder; Bilder, wie wir sie außerhalb unseres Körpers, außerhalb
     unseres Geistes verfertigen. Das Herstellen von Gemälden ist eine unbeholfene
     Wiederholung, eine Pantomime jener Selektion, die der Körper schon durchgeführt
     hat – also eine massive Reduktion: vom Unendlichen zum bloßen Vielfachen, vom
     Vielfachen zum bloßen Singular. Das Gemälde, die Statue, das theatralische Bild,
Das Bild ist immer schon plural                                                             11

die Fotografie, sogar das Bild in der Dichtung: bewegungslose Querschnitte von
Erfahrung, die uns zeigen, was innere Bilder wohl zu sein haben. Das Nachdenken
über Bilder hat diese Richtung eingeschlagen: vom verfertigten Bild in der Welt zum
hervorgebrachten Bild im Körper. Das verfertigte Bild ist einfacher zu verstehen
– wir haben es ja selbst hergestellt. Das innere Bild, die Wahrnehmung, der Traum,
die Erinnerung sind da schon mysteriöser – sie werden nicht gemacht, sondern wie
von selbst hervorgebracht, generiert. Sie tauchen sprichwörtlich auf, ihre Grenzen
sind verschwommen: Sie haben weder Ursprung noch Endpunkt. Um das innere
Bild brauchbar zu machen –für die Philosophie, für die Alltagssprache – muss es
befestigt, eingerahmt und als geschlossenes Feld konzipiert werden, mit Rändern
und einer planen Oberfläche.
         Das fabrizierte Bild ist ein so mächtiges Modell geworden, dass der Begriff
Bild im Allgemeinen mittlerweile die Bedeutung von etwas Suspendiertem, Ange-
haltenem, Stillhaltendem angenommen hat, einer Unterbrechung des Fließens und
einer Ansammlung von zerstreuter Aufmerksamkeit. So spricht man in der Poetik
zum Beispiel von einem Bild als einem Innehalten im Strom der Wörter, einem In-
der-Schwebe-Halten der erzählerischen Dynamik zugunsten der Beschreibung oder
der Evokation eines einzelnen fixierten Gegenstandes oder einer Konstellation.
   Bild, Konstellation, Kristallisation, Dialektik im Stillstand – all diese Begriffe
bezeichnen eine Einschränkung, eine Eliminierung von Alternativen. Sie sind Wege,
das Chaos des Denkens und der Sprache in einzelnen Augenblicken zu erfassen, in
wirksamen Bündelungen von Bedeutung; wirksam, weil solche Augenblicke die
Chance für Neuanfänge zu bieten scheinen, für die Wiederaufnahme einer – bloß
neu geordneten – Handlung. Der ‚prägnante’ Augenblick ist eine Abstraktion und
eine Vereinfachung von Zeit. Er stellt den ‚Bildeffekt’ her, einen Effekt, der die mit
unseren eigenen Händen und Werkzeugen verfertigten Bilder strukturiert und ständig
neu formt. Das fixierte Bild ist die Grundlage der theologischen Dialektik von Ikono-
philie und Ikonophobie. Das Bild, das als Zeichen zu funktionieren vermag, ist das
Bild, das die Chance hat, eine wirkungsvolle Referenz gegenüber einem entfernten
oder abwesenden Gegenstand – gegebenenfalls einem Gott – zu erzielen, entweder
durch Ähnlichkeit oder Kodifizierung. Einige glauben an den ikonischen Bezug,
andere nicht. Dieser Gegensatz wurde in der Moderne weitgehend entschärft durch
die Institution des Kunstwerkes, eines bildlichen Zeichens, das keinen Anspruch auf
Referenz erhebt, sondern lediglich etwas zu erkennen gibt, und die Bedeutungsfindung
unabschließbar macht. Das Kunstwerk aber braucht das fixierte Bild als Folie. Das
Kunstwerk, das seine Wirkungen in der Zeit zu entfalten bereit ist, definiert sich selbst
durch Abgrenzung von der augenblicksbezogenen Wirkung, die das Bild bereithält. Die
gegenseitige Abhängigkeit des Bildes und des Kunstwerkes ist eine binäre Relation.
Dieser Binarismus strukturiert die kunstgeschichtliche Forschung zum Mittelalter und
zur Renaissance, indem er das vorherrschende Kriterium der Periodisierung vorgibt.
Der Binarismus wird zugleich im methodologischen Streit bewahrt, der unter der
Rubrik Bildwissenschaft vs. Kunstwissenschaft ausgetragen wird.
   In der Moderne besteht der strukturelle Binarismus darin, das Kunstwerk von der
Kopie abzuheben. Aber das Vielfache – die mechanisch produzierte Kopie – ist keine
12                                                                       Christopher S. Wood

     größere Bedrohung für das Kunstwerk als das Einzelbild. Das Vielfache ist keine
     wahre Pluralität, weil die Summe der Kopien auf eine neue Totalität hinausläuft.
     Alles will uns dazu zwingen, Bilder als Einheiten zu betrachten bzw. als Kopien
     jener Einheiten, die schließlich eine größere Einheit ausmachen. Die Reproduktion
     bestätigt also nur das Prinzip der Einheit und entfaltet nie in eine wahre Pluralität.
     Die Totalität des Vielfachen von x zweifelt nicht wirklich die Autorität von x an.
     Das Eine und das Vielfache stehen nach Gilles Deleuze und Félix Guattari in einer
     prädikativen Beziehung zueinander. Nur die Kategorie der Vielheit (multiplicité)
     kann Verhältnisse der Differenz bewahren, ohne unumgänglich und immer wieder
     auf eine ursprüngliche Totalität zu verweisen: “Vielheit (multiplicité), die das Viel-
     fältige nicht weniger als das Eine, die prädikative Beziehung des Vielfältigen und
     des Einen gleichermaßen überschreitet.”6 Der Unterschied zwischen dem mechanisch
     reproduzierten und dem einzelnen Bild ergibt sich durch reziprokes Definieren.
     Dieser Unterschied hält einen anderen stabilen Binarismus aufrecht.
         Ein Ausweg aus den beiden Binarismen, welche die frühmoderne und moderne
     Kunstgeschichtsforschung strukturiert haben – Kultbild vs. Kunstwerk einerseits,
     Kunstwerk vs. Replik andererseits – ergibt sich, wenn man das verfertigte Bild
     (das Gemälde, die Fotografie) nicht mit einem Referenten in der Welt vergleicht,
     sondern vielmehr mit einem im Inneren des Körpers generierten Bild. Innen/Außen:
     das Bild auf einer der beiden Seiten der Körpermembran – eine Vorstellung, die
     sich nicht mehr mit der Metaphysik oder mit der Semiotik des Bildes vereinbaren
     lässt. Inneres/äußeres Bild ist eine binäre Opposition von geringerer Stetigkeit als
     Bild/Kunstwerk, oder Kunstwerk/Replik, weil einer der Terme – das innere Bild
     – überhaupt nicht gedanklich erfasst werden kann. Es ist ein Wesen ohne Grenzen,
     ohne Form, ohne Zahl. Dennoch bleibt das Bild im Körper Quelle und Vorbild von
     allen außerhalb des Körpers fabrizierten Bildern. Die generierten Bilder vermitteln
     uns erst eine Ahnung davon, was ein gemaltes oder inszeniertes Bild sein könnte.
         Das Gemälde oder das theatralische Tableau wird als Wahrnehmung oder Erinne-
     rung erneut in den Strom der körperlichen Bilder aufgenommen. Aber der Strom läuft
     zunächst vom Körper zum Bild. Insofern die Kunstgeschichte das fabrizierte Bild als
     das Modell des innerlichen, körperlichen Bild annimmt, kehrt sie den Strom um.
         [Lässt sich genau hier ein Bild einfügen? Herr Wood möchte hier eine Leerzeile
     ohne Zwischenüberschrift, aber das ist ja in unserem System nicht vorgesehen]
         Stellen wir fürs erste solche Fragen bezüglich der Ontologie des Bildes und der
     Absicht, „das Schicksal der Bilder“7 vorauszusagen, beiseite und fangen stattdessen
     an, historisch zu denken. Die Natur der Bilder ist wesentlich plural, und nichtsdesto-
     trotz ermutigen uns Theorien und Geschichte(n) der Kunst, diese plurale Natur des
     Bildes zu vergessen. Aber gerade solche Gemälde, die gegen den Diskurs, der sie
     gesellschaftlich aufrecht erhält, ankämpfen, liefern Anhaltspunkte, die eine Anamnese
     in Bewegung setzen können.
         Das Forschungsprojekt „Bild im Plural“ zielt auf eine Neukonzeption des Bildes,
     die uns sehen lässt, was oft verborgen ist: dass vor den modernen Kulturen der Kunst
     das Bild sich immer innerhalb eines Kollektivs befand. Man bekam das Bild nie allein
     zu sehen, ohne Kontext, Unterstützung, Trabanten. Betrachten wir ein gemaltes, dem
Das Bild ist immer schon plural                                                            13

heiligen Andreas gewidmetes Retabel aus Katalonien, das in den ersten Jahrzehnten
des 15. Jahrhunderts entstand (Abb. 1).8 Das Retabel als ganzes ist ein Bild: Es enthält
die Pluralität von Bildern innerhalb seiner selbst: Bildnisse von Heiligen, Erzäh-
lungen, Bilder kreatürlichen Lebens. Das Ganze regiert und koordiniert die Teile.
Aber auch die Teile deuten das Ganze: Die hagiographischen Narrative erwecken
die Reliquien zum Leben, die das Retabel als Ganzes bewacht oder sogar beinhaltet.
Ein analoges Beispiel wäre die bebilderte Fassade einer romanischen oder gotischen
Kirche. Die institutionelle Legitimität der Kirche, die eschatologische Verheißung

Abb. 1: Meister von Roussillon, Retabel von St. Andrea, ca. 1420–1430. New York,
Metropolitan Museum of Art, Cloisters Collection
14                                                                        Christopher S. Wood

     der Theologie, die Erzählungen, welche die Kirche in die lokale Geschichte oder den
     Altar in die Kirche einbinden kommen auf den Fassaden plakatartig, als Präsentation
     von Bildern zum Einsatz, genauso wie die Bilder, die Propaganda für den Kaiser
     machen, einst die Fassaden der Triumphbögen zierten. Sogar die Ritterszenen – in
     diesem Fall aus der Artussage – auf den Tafeln einer Elfenbeinschatulle des frühen
     14. Jahrhunderts werden nicht nur physisch von der gesamten Schatulle getragen,
     sondern sogar semantisch (Abb. 2).9 Denn die Schatulle, die in ihrer Gesamtheit selbst
     ein Bild ist, symbolisiert die Prinzipien der Gefangenschaft und der Geheimhaltung,

     Abb. 2: Schatulle, Elfenbein, Paris, ca. 1310–1330. New York, Metropolitan Museum of Art

     welche die verborgene Dynamik ritualisierter Liebe antreiben. Das Ganze und der
     Teil befinden sich in einem Zustand des Gleichgewichts.
        Das plurale Bild entkommt nicht der Struktur. Schon die Erfahrung, die Matrix des
     Bildes, ist strukturiert. Die Pluralität der generierten Bilder organisiert der Körper.
     Jedes Bild setzt das Aggregat voraus, auch wenn das Aggregat verborgen ist. Das
     Bild bezieht die Bedeutung aus seinem Platz im System.
Das Bild ist immer schon plural                                                           15

    Die Pluralität der generierten Bilder ist also keine multiplicité, keine grenzlose
Differenzierung ohne Subordination. Diese müsste man erst entwerfen oder erschaf-
fen, was ein utopisches Projekt wäre. Es reicht nicht, einfach „Vive le multiple“ zu
rufen. „Il faut le faire“, sagen Deleuze und Guattari: Man muss die Vielheit schaffen,
sich darum bemühen, weil sie nicht natürlich ist.10
    Das plurale Bild ist kein „Körper ohne Organe“ im Sinn von Deleuze. Das
fabrizierte Bild – gerade weil es versucht, das generierte Bild wiederzugeben und
gerade weil es aus einer Spannung zwischen Pluralität und Einheit lebt – ist ein
Körper mit Organen.
    Die These dieses Aufsatzes aber ist, dass im Spätmittelalter und in der Frührenais-
sance ein neues Spannungsverhältnis zwischen dem Ganzen und dem Teil, zwischen
der beinhaltenden Struktur und dem einzelnen beinhalteten Bild entstand. Schließlich
bricht das Bild aus dem Kollektiv aus und behauptet seine Selbständigkeit unter
der Rubrik des Kunstwerks. Doch die ursprüngliche Verschachtelung des Bildes,
seine ursprüngliche Bedeutungslosigkeit außerhalb der Gesamtheit, ist immer noch
ablesbar als ein Muster von internen Bruchlinien.
    Die Spannung zwischen Gesamtheiten von Bildern und dem einzelnen Bild, der
dieser Sammelband nachspürt, kann weder mit den Begriffen erfasst werden, welche
die Unterscheidung von Kultbild/Kunstwerk vorgibt; noch durch die Unterscheidung
zwischen referentiellen Bildern und poetischen oder frei bedeutenden Bildern, nämlich
Kunstwerken. Ebenso wenig hilfreich ist die Unterscheidung zwischen einzelnen Bil-
dern und ihren Repliken.11 Stattdessen wird es ergiebiger sein, über das Leben des Bil-
des innerhalb von Kollektiven nachzudenken als eine Art, wie die mittelalterliche und
frühneuzeitliche Kultur mit dem Gewahrwerden dessen umging, dass die physischen
Grenzen des verfertigten Bildes keiner Realität innerhalb des Körpers entsprachen.
Die Einzigartigkeit des hergestellten Bildes kann nicht mit der wahren Pluralität des
hervorgebrachten, d.h. generierten Bildes der Wahrnehmung oder der Erinnerung
versöhnt werden. Und dennoch benötigt die Gesellschaft eingegrenzte Bilder. Wo wird
sie diese Grenzen ziehen? Wohin wird sie den Rahmen setzen? Unsicherheit über den
Rahmen – eine völlig legitime Unsicherheit – ist die Quelle des Ungemachs.
    Wenn wir eine Mehrdeutigkeit im Verhältnis zwischen dem Kollektiv der Bilder
und dem einzelnen Bild, das darin eingenistet ist, aufspüren, wenn wir nicht sicher
sind, wohin der Rahmen fällt oder welche Rahmen ernster genommen werden müs-
sen als andere, dann werden wir feststellen, dass die Institution des Kunstwerkes
im Mittelalter und der Frührenaissance stets im Vollzug begriffen ist, dass sich der
Vertrag zwischen dem Kunstwerk und der Welt jenseits des Kunstwerkes stets noch
in einem Verhandlungsstadium befindet.
    Das Bild war als Kunstwerk für uns schon einsatzbereit, als sein Rahmen für
seine Bedeutung nicht mehr konstitutiv war. Der Rahmen wurde zum redundanten
Verweis darauf, dass sich das Kunstwerk von allem unterschied, was Nicht-Kunst
war, und war nicht mehr dafür verantwortlich, das Bild zusammen zu halten. Als die
innere Einheit und die Homogenität des Werkes ausreichend festgemacht war, der
Rahmen jegliche Form annehmen oder ersetzt oder sogar entfernt werden konnte,
ohne im Wesentlichen dem entgegen zu stehen, was das Bild jeweils tat.
16                                                                        Christopher S. Wood

         Ein Bild wie die Pietà aus dem frühen 15. Jahrhundert im Louvre, bekannt als
     das Kleine Tondo, eine Pariser oder burgundische Arbeit, möglicherweise von Jean
     Malouel, wirkt dicht komponiert (Abb. 3). Dieses Gemälde ist jedoch weniger
     eindeutig verwoben, als es den Anschein hat. Die Körper der nach innen, dem Mit-
     telpunkt zugewandten, Figuren, suchen den Leib und die Wunde Christi. Der in den
     Bildträger integrierte Rahmen jedoch und die konzentrischen Ringe auf goldenem
     Grund treiben die Figuren ebenso nach innen. Das Gemälde bittet seinen eigenen
     Rahmen um Einheit. Dies ist im Grunde immer noch eine Versammlung von ver-

     Abb. 3: Pariser oder Burgundischer Meister (Jean Malouel?), Pietà (Kleiner Tondo), ca.
     1400. Paris, Musée du Louvre
     Abb. 4: Anton van Dyck, Rinaldo und Armida, 1629. Baltimore Museum of Art

     einzelten Charakter-Repräsentationen – Portraits heiliger Persönlichkeiten, bekannt
     von unzähligen Bildern der Beweinung Christi, Bilder, die durch eine machtvolle
     Annahme von Redlichkeit und Rechtschaffenheit an die Referenten der Überlieferung
     gebunden sind. Die maßgebliche Konzeption, die hinter dem Bild steht, ist ebenso
     sehr die eines Sammlers wie die eines Schöpfers. Die Bande, welche die Figuren
     zusammenhalten, sind relativ schwach.
         Das Bild wird erst dann zum tableau, zum bildlichen ‚Text‘, wenn die gesamte
     Bildfläche zugleich als integrale Einheit erfasst wird und die Figuren ihre Bedeutung
     in ihrem Beitrag zum Ganzen finden: Ihre ‚vertikalen‘ referentiellen Verbindungen
     zur Vergangenheit verlieren an Gewicht zugunsten von ‚horizontalen‘ Verbindungen
     zu anderen Figuren und Dingen, zur Landschaft.
Das Bild ist immer schon plural                                                          17

    Anton van Dycks Rinaldo und Armida (1629) in Baltimore ist hingegen homogen
und semantisch dicht (Abb. 4). Keiner seiner Teile ist bedeutender als der andere,
alles leistet einen Beitrag, genauso wie jedes einzelne Wort eines Gedichtes glei-
chermaßen zum Gedicht gehört. Keiner der Bestandteile gehört enger zum Werk
als ein anderer – es ist über seine ganze Fläche hinweg ein Kunstwerk. Das Bild
wird nicht von seinem Rahmen zusammengehalten, sondern von seinen inneren
Saiten, die aus seinen formalen und semantischen Reimen, seinen Homologien und
Spannungen bestehen.
    In seinem Buch L’ Instauration du tableau (deutsch: Das selbstbewusste Bild)
spürt Victor Stoichita Signalen der Diskontinuität in Gemälden aus dem 17. Jahrhun-
dert nach, welche sogar das festeste bildliche Konstrukt als zerbrechlich erweisen.12
Rembrandts Heilige Familie (1646) in Kassel z.B., mit seinem gemalten, illusorischen
Rahmen und Vorhang, ist kein Gemälde, sondern die Repräsentation eines Gemäl-
des, die in Anführungszeichen gesetzt ist; Anführungszeichen, die nach außen auf
einen Kontext rekurrieren, der Häuslichkeit und wahrscheinlich auch andere Bilder
einschließt. Willem van Haecht stellt in seinem Bild der Kunstsammlung von Cor-
nelis van der Geest (1628, Antwerpen, Rubenshaus) mehr als vierzig Gemälde in
einem Zusammenhang von Konversation und kunsthistorischer Reflexion dar – da
die Aufmerksamkeit sich auf der unteren linken Seite auf eine Madonna mit Kind
von Quentin Metsys konzentriert, dem Begründer der Antwerpener Schule. Verein-
zelte Werke finden ihre Bedeutung in größeren Ensembles, realen und solchen in
übertragenem Sinne.
    Obwohl hervorragend analysiert, sind Stoichitas Beispiele von Reflexivität und
Verschachtelung aus dem 17.Jahrhundert eher selbstverständlich. Die historiogra-
phische Faszination für Reflexivität in früher moderner Kunst, die zur Zeit vielleicht
ein bisschen übertrieben wird, ist meist nur eine Projektion moderner Poetiken, die
Autonomie zurück projizieren. Im Spätmittelalter und in der Frührenaissance aber
sind die Zeichen eines Prozesses der Selbstregulierung dem Blick oft verborgen. Hier-
archien zwischen Pluralität und Singularität auszumachen heißt nach frühen Zeichen
der Selbstregulierung und Eigendefinition des Kunstwerks Ausschau zu halten. Eine
solche Vorgeschichte der Reflexivität wäre vielleicht so etwas wie ein erster Entwurf
einer Naturgeschichte der Reflexivität, wobei sich Reflexivität als eine Modalität
der Spannung zwischen Singularität und Pluralität des Bildes herausstellt.
    Vor dem 16. Jahrhundert ist nicht eindeutig, wo die Grenzen des Kunstwerkes
liegen.13 Die Kölner Tafel mit den Heiligen Drei Königen eignet sich als ein wei-
teres Beispiel, gerade weil sie nicht sehr bekannt ist (Abb. 5).14 Eigentlich handelt
es sich um eine gemalte Repräsentation einer als Skulptur gearbeiteten Epiphanie,
mit gemalten Statuen auf den Seitentafeln. Das Altargemälde stammt von kabinett-
artigen Schreinen ab, die Reihen von Heiligenskulpturen enthielten, in die wiederum
vielleicht Reliquien eingeschlossen waren. Die kleinen Nischen am unteren Rand
der Tafel mögen einst Reliquien oder Halbedelsteine enthalten haben. Die Figuren
darüber sind zweidimensional abgeflacht. Paradoxerweise beginnen sie erst, sich
im Raum zu bewegen und einander gewahr zu werden. Die Heiligenpaare auf den
Seitentafeln – nun aus ihren räumlichen Nischen befreit – verändern ihre Haltung
18                                                                          Christopher S. Wood

     und fangen an, einander überlappende Kulissen zu formen. Sie scheinen sich des
     zentralen Geschehens nur trübe bewusst zu sein.
        Wo ist die Grenze des Bildes? Innerhalb der Fiktion ist das wichtigste Bild
     natürlich der Leib Christi. Aus einer außerszenischen Perspektive löst sich die Fün-
     fergruppe jedoch in ein Meta-Bild auf: eine Epiphanie. Ist dies dann im Grunde das
     Bild einer Epiphanie, vorsichtig eingerahmt und eingeklammert durch vergoldetes
     geschnitztes Holz und repräsentative Zeugen? Oder ist das gesamte Altargemälde das
     eigentliche Bild? Es ist nicht klar, ob wir uns hier eine Ebene weiter nach oben bewegt

     Abb. 5: Kölner Meister, Die Heiligen Drei Könige, 1. Viertel des. 15. Jahrhunderts.
     Detroit, Institute of Fine Arts

     haben, ob das Altärchen ein Meta-Bild zweiten Grades darstellt und so vielleicht
     zum Werk wird. Diesen Anschein mag es haben, wenn es im Museum hängt, aber
     dieser Anschein ist irreführend. Braucht das eingebettete Bild ein einbettendes Bild?
     Gibt es da eine Hierarchie? Das heißt: Leitet oder regiert die größere Struktur das
     eingeschachtelte Bild, überträgt sie etwa Bedeutung an die Bilder, die sie enthält?
        Im 14. und 15. Jahrhundert waren die Grenzen zwischen Werk und Nicht-Werk, innen
     und außen, sakral und profan hochgradig ungenau, da man erst noch dabei war, sie fest-
     zulegen. Dies stellte für die Kreativität kein Hindernis, sondern eher eine Chance dar.
Das Bild ist immer schon plural                                                       19

   Dabei ergibt sich allerdings eine ‚Hierarchie-Störung‘. Die Bilder entstehen als
Kunstwerke aus der Störung, aus dem Ungemach heraus. Die Störung wurde noch
nicht erkannt oder wurde ungenügend erkannt oder auch falsch benannt. Dieses
Ungemach in der Hierarchie zu benennen, wie wir es hier tun, heißt anzufangen die
historischen Differenzierungen, aus denen die Institution des Kunstwerkes in seiner
modernen Form entstanden ist, zu erfassen.
   Es liegt auf der Hand, dass solche Bilder heterogen und zellulär aufgefächert
sind. Sie sind nicht leicht dem Ideal des singulären Bildes anzugleichen, das die

                                         Abb. 6: Andrea Mantegna, Madonna della
                                         Vittoria, 1496. Paris, Musée du Louvre

Kunstproduktion zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert im Großen und Ganzen
bestimmt hat. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt überlebt haben.
    Aber dieselbe Mehrdeutigkeit oder Spannung zwischen den Ganzen und den Teilen
kann auch jene Bilder strukturieren, die den Anschein von Einheit erwecken. Andrea
Mantegnas Madonna della Vittoria (1496) ist sicher ein Paradigma des integrierten
Kunstwerks, das auf ein individuelles schöpferisches Bewusstsein zurück geht (Abb.
6). Wenn dem nicht so wäre, hinge es nicht in der Grande Galerie des Louvre unter
den Poussins und Guido Renis. Doch historisch ist das Bild die Verdichtung einer
20                                                                        Christopher S. Wood

     komplexen Folge gewalttätiger Ereignisse, Wechsel, ritueller Darreichungen. Die
     Bruchlinien zwischen Bild und Bild, innerhalb des Bildes, sind vollkommen ablesbar,
     sobald wir aufmerksam die Geschichte des Bildes verfolgen. Francesco Gonzaga
     erfüllte ein Gelübde, indem er das Bild 1496 der Kirche S. Maria della Vittoria in
     Mantua überreichte: Er hatte sich von der Jungfrau Beistand in der Schlacht gegen
     die Franzosen erbeten und diesen auch erhalten. Francesco ist sowohl außerhalb des
     Bildes als sein Stifter und eigentlicher Betrachter als auch innerhalb des Bildes zu
     verorten: in steter Huldigung der Jungfrau wird seine Anwesenheit simuliert. Seine
     Rüstung wurde sowohl im Bild dargestellt als auch nahe des Bildes in der Kapelle
     aufgestellt. Die Kirche war an der Stelle erbaut worden, an der zuvor das Haus eines
     Juden gestanden hatte, der an dessen Außenwand der Schändung des Gemäldes der
     Jungfrau beschuldigt worden war. Damit hatte er die Jungfrau zum Eingriff in das
     lokale Geschehen provoziert. Die gemalte Jungfrau innerhalb des Bildes ist sowohl
     das Bild der Jungfrau selber als auch das Bild eines Bildes, des zerstörten Kultbildes,
     das den Prozess in Gang brachte. Innerhalb von nur drei Stunden, in denen das Bild
     in der Kirche angebracht wurde, begannen örtliche Verehrer Wachsabbildungen von
     Körperteilen und silberne Augen darzubringen. Galten diese Gaben der Jungfrau,
     deren gelegentliche Anwesenheit in Mantua Mantegnas Gemälde symbolisierte?
     Galten sie Mantegnas Bild des zerstörten, vermutlich alten Kultbildes? Die Verehrer
     brachten ihre Geschenke nicht dem Bild, würde man meinen – aber es ist auffällig,
     dass die Installation des Bildes diese Darreichungen provoziert hat.15
         Zeit, Wandel, Wechsel, Furcht und Hoffnung sind alle innerhalb des Werkes
     aufgewickelt. Das Vorindividuelle und das Transindividuelle sind sogar dann an-
     wesend, wenn das Bild äußerst integriert wirkt. Es handelt sich hier um Werke, in
     denen dieser Prozess der Integration unvollendet bleibt; Werke, die durch Relationen
     der Typologie, der Parataxe, der Verschachtelung, des Itinerars zerstreut sind.16 Hier
     möchte ich mich dem Beitrag Wolfram Pichlers anschließen, der die Pluralität der
     Bilder topologisch denkt. Vielleicht ist der Prozess der Integration nie vollendet, in
     keinem Werk. Es gibt im spätmittelalterlichen und frühmodernen Kunstwerk eine
     besonders scharfe Spannung zwischen Einheit und Vielheit. Man begegnet Werken,
     in denen die Hierarchie von Bild-Einheiten unklar ist oder solchen, die die freie Wahl
     zwischen mehreren Blickpunkten thematisieren.
         Jan van Eycks Drei Marien am Grabe Christi in Rotterdam enthüllt die ganze
     Matrix der Kunstproduktion im 15. Jahrhundert (Abb. 7).17 Es ist um drei numerische
     Kategorien herum angelegt: Kopie (viele als dasselbe – doch schließlich als Einheit),
     Singularität (nur Eines) und Pluralität (mehr als Eins, weniger als das Mehrfache).
     Obwohl es dadurch den Anschein einer Einheit erweckt, ist es eigentlich ein Haus
     mit vielen Kammern, ein Hyper-Bild.18
         Das Sujet ist alt, im Grunde eines der ältesten überhaupt. Man findet es bereits vor
     235 in Dura Europos. Dieser Umstand ist Teil der Bedeutung dieses Gemäldes: Jan
     van Eyck, Historiker christlicher Kunst, hat das Sujet ausgegraben. In unvergleich-
     licher Weise trennt van Eyck die Szene vom narrativen Umfeld und ihre Beförderung
     ins physisch Selbständige. Es ist jedoch möglich, dass diese Tafel, die 71,5 x 90 cm
     misst, ursprünglich kein selbständiges Bild war. Manche Forscher glauben, dass
Das Bild ist immer schon plural                                                      21

das Original von zwei Seitentafeln flankiert wurde. Womöglich war das Original
größer. Es gibt keinen Malrand, d.h. die erhabene Kante eines gesso, die auf eine
Verbindung mit einem (verlorenen) Rahmen hinweisen und somit beweisen würde,
dass das heutige Gemälde vollständig ist. Das Wappen in der unteren rechten Ecke
ist ein Verweis darauf, dass der Eigentümer Philippe de Commines war, jedoch erst
wenige Jahrzehnte später, wahrscheinlich um 1470. Lassen Sie uns aber vorläufig
annehmen, dass das vorliegende Bild vollständig ist.

Abb. 7: Jan van Eyck, Drei Marien am Grabe, ca. 1433. Rotterdam,
Museum Boymans-van Beuningen

   Am Ostermorgen, nach der Sabbat-Unterbrechung von 24 Stunden, kommen
drei Frauen zur Grabstätte Christi, die den Leichnam mit Gewürzen salben wollen.
Die Geschichte, die in allen vier Evangelien berichtet wird, erzählt Matthäus (28,
5-7) wie folgt:
22                                                                                   Christopher S. Wood

        Der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten,
        sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo
        er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den
        Toten.

     Mit dem steil nach unten gekippten Grabdeckel und der ausgestreckten Hand der
     sprechenden Frau zitiert Jan van Eyck nicht nur früheste Vorbilder, sondern auch
     solche wie Duccios Maesta aus dem Jahrhundert zuvor. Die alten Gebärden belebt
     er jedoch dadurch wieder, dass er sie psychologisch einsetzt, um die Verwunderung
     der Frauen sichtbar zu machen. Van Eyck gibt die Grundstruktur der Szene wieder,
     aber er revidiert sie auch, dehnt sie in einen simulierten Raum und in einen psy-
     chologischen Raum aus. Das Bild kommuniziert aus diesem Spalt zwischen zwei
     Vorstellungen von der sakralen Kunst: zwischen einer Kunst der Wiederholung
     einerseits und einer Kunst der Differenz andererseits. Einerseits ist es eine sakrale
     Kunst, die ihre Autorität von einer angeblichen Kette von äquivalenten, wechselseitig
     ersetzbaren Darstellungen bezieht, einer Kette, deren erstes Glied das authentische
     Urbild selbst sein soll; andererseits eine sakrale Kunst, die den früheren Darstellungen
     eher misstrauisch gegenübersteht, also eine Kunst, die es vorzieht, durch kreative
     Performanz direkt zur Wahrheit zu springen.
         Van Eyck hat das Thema Zweifel hervorgehoben, das – anders als in den Texten
     der Evangelien – in christlichen Bildern für gewöhnlich unterdrückt wird. Die Frauen
     sahen und hörten das Zeugnis des jungen Mannes, und außer ihnen tat es niemand.
     Sie fanden nicht Christus, sondern eine Miniaturausgabe, einen Doppelgänger vor:
     einen jungen Mann in Weiß, der ihnen eine unglaubliche Geschichte erzählt. Bald
     werden die Menschen beginnen, Christus zu sehen. Die Bezeugungen werden von
     dem Zeugnis der Frauen, die die Erklärung des Engels gehört haben, beglaubigt. Die
     gesamte Religion wird auf diesem Punkt beruhen: Wer glaubt an die Wirklichkeit
     – statt an den symbolischen Charakter – der Auferstehung?
         Das Bild ist eine Allegorie des Vertrauens in Bilder, denn was werden die Apostel
     sehen, wenn nicht ein Bild, eine Erscheinung? Und was sehen die Frauen, wenn nicht
     eine Erscheinung? Um zu glauben, muss man an die Echtheit dieser Erscheinungen
     glauben, ebenso an das Zeugnis der Erfahrung dieser Bilder. Beide Bilder sind ein
     Doppel für Christus, Substitute. In dieser Episode wandelt sich das Christentum von
     einem gewöhnlichen Grabeskult zu einer mystisch offenbarten Religion.
         Die Ungewissheit der Evangelientexte hinsichtlich der Anzahl der Frauen könnte
     die ganze Sache in Zweifel ziehen. Denn die Besucher werden verschieden beschrie-
     ben als die „Drei Marien“, die „Zwei Marien“, „Magdalena und die andere Maria“
     und „die Frauen“. Gleichzeitig sind das, was bei Matthäus und Markus „der junge
     Mann in Weiß“ ist, bei Lukas und Johannes zwei junge Männer.
         Es gibt Ungewissheit und Zweifel: Ungewissheit über die referentielle Zuverläs-
     sigkeit der Bilder entsteht an der Horizontalachse des Bildes entlang, während die
     Vertikalachse absolute Verlässlichkeit innerhalb der Tradition vermittelt.
         Im virtuellen Raum dieser Szene beschreibt der Maler eine Landschaft, die fel-
     sige Umgebung Jerusalems, die er mit seinen eigenen Augen gesehen haben mag.
     Der Raum ist tief und doch an einer vertikalen Linie in ein historisch-theologisches
Das Bild ist immer schon plural                                                         23

Diagramm abgeflacht: Sie führt vom Tempel, dem Zentralbau, der den Horizont
beherrscht, hinunter bis zum Grab, dem Nukleus des Gebäudekomplexes, der den
Tempel wiederholen und ersetzen wird, die Anastasis oder Rotunde des Heiligen
Grabes. Und entlang dieser Linie entwickelt sich ein ganzer Diskurs des Herstellens
und Erbauens: über Wiederholung und Ersetzung als Stabilisatoren der Zeit, über
Ketten des Bilder-Machens und Erbauens, die der Historie Ordnung auferlegen.
    Die Hand des Engels liegt auf einer Linie mit dem Tempel und führt unseren
Blick aufwärts und zeitlich zurück zum Tempel, den Salomon 960 v.Chr. erbaute.
Danach wurde er etliche Male wiederaufgebaut und ersetzt, zuletzt durch Herodes
37–34 v.Chr. Diese ‚Wiederholungen‘ des Tempels sollten schließlich durch das Grab
Christi ein letztes Mal angehalten und ersetzt werden, das ihn zum neuen Zentrum
des Glaubens machte.
    Die Ädikula wird sich über dem Grab erheben. In der frühchristlichen Kunst wur-
den die drei Frauen schon bei der Ankunft an einer Ädikula gezeigt (siehe z. B. das
italienische Elfenbeinrelief von ca. 400 im Bayrischen Nationalmuseum München).
    Doch sogar Darstellungen wie die von van Eyck, welche die Frauen nicht bei der
Ankunft an einer Ädikula, sondern bei einem Sarkophag zeigen, vollziehen bereits
die Ersetzung des Tempels durch die Kirche. Denn wenn die Frauen keine Höhle im
Felsen besuchen, wie es der Text beschreibt, sondern ein sauber in den Stein geschla-
genes Grab mit einem Deckel, dann weist dies voraus auf den konstantinischen Bau
im Jahre 335: sowohl auf die Ädikula über dem Grab als auch auf die stolze Kuppel
oder Rotunde, auf die Anastasis, auf verschachtelte Strukturen, die zusammen als
Modelle für ein endloses, räumlich und zeitlich erweitertes Gewebe von Kirchen,
Ädikulen, Reliquiaren und Altären dienen werden.
    In van Eycks Bild nehmen verspätete Ankunft und Verwunderung der Frauen
den verblüfften Betrachter vorweg, der sich diesem Bild auf der Suche nach dem
Ursprung christlichen Bauens nähert, hier aber kein Fundament, sondern nur eine
Wiederholung findet.
    Es ist sogar noch komplizierter. Denn indem van Eyck den Tempel portraitiert,
portraitiert er ebenso den Felsendom, den oktogonalen Schrein, der vom fünften
Umayyaden-Kaliph Abd-al-Malik 691 an der Stätte des Abraham-Felsens auf dem
Tempelberg erbaut wurde, und damit auch an dem Ort, so war zumindest der Glaube,
an dem einst der Salomonische Tempel gestanden hatte.
    Trotz der Autorität der Schrift und der exegetischen Tradition, die einen rechte-
ckigen Archetypen beschreiben und trotz des Wissens, dass der Tempel durch Kaiser
Titus 70 v.Chr. zerstört worden war, beschreiben viele christlichen Besucher des Mit-
telalters den Felsendom mit seinem zylindrischen Kuppelunterbau (fälschlicherweise
polygonal in van Eycks Darstellung) und seinem hemisphärischen Kuppelgewölbe
als den biblischen Tempel. Während der Kreuzfahrerbesetzung Jerusalems, die bis
1187 anhielt, wurde der Felsendom zum Pilgerziel und als Templum Christi ange-
priesen, als Stätte der Darstellung Christi, der Beschneidung, des Disputs mit den
Schriftgelehrten, der Austreibung der Wechsler etc. Es war die Stätte dieser Ereig-
nisse. John Mandevilles Reisen aus dem 14. Jahrhundert machten im Felsendom den
Wiederaufbau des jüdischen Tempels „in derselben Art, wie Salomon ihn erbaute“
24                                                                       Christopher S. Wood

     aus, der von Kaiser Hadrian (!) unternommen worden sein soll. Van Eyck war nicht
     der erste, der den Unterschied zwischen der Moschee und dem Salomonischen
     Tempel verschwimmen ließ. Er wollte einen Eindruck von Treue gegenüber uralten
     Traditionen vermitteln. Die ursprüngliche Geste des Bildes, seine Wiederentdeckung
     alter Ikonographie, ist eine der Aufmerksamkeit gegenüber einer bildlichen Tradition
     mit starken Ansprüchen auf Echtheit und Alter. Das verankert die neuere Malerei
     wieder in halbvergessenen Traditionen.
         Der historische Kontext von van Eycks Hinweis auf Alter und Wiederholung ist
     im späten 14. und frühen 15.Jahrhundert die Entwicklung der mechanisierten und
     halbmechanisierten Reproduktion von Bildern: Fließbandproduktionen von Tafelbil-
     dern; Abformen und Gießen von Statuen; auf Papier gedruckte Bilder aus Tinte. Diese
     neuen Technologien stellten Versuche dar, jene Prozesse der Überlieferung und des
     Ersetzens zu rationalisieren, die die christliche Bildsprache zusammenhielt und sie
     an ihre Ursprünge band. Die Herstellung eines Vielfachen bedeutete im Prinzip nicht
     die Destabilisierung des sakralen Bildes. Die mechanische Reproduktion des Bildes
     erweiterte bloß die Verweisketten, und das zuverlässiger als es manuelle Anfertigung
     vermocht hätte.19 Van Eyck war selbst interessiert an der Behauptung einer Stabilität
     trotz Wandels, die die östliche Ikone erhoben hatte. Er malte Bilder des Heiligen
     Antlitzes, deren Geste mit ihrer Unterdrückung des individuellen Schöpfertums des
     Künstlers auf die byzantinische Tradition der Bilderschaffung verwies. Der Druck,
     der Guss, die nachgemachte Ikone bildeten in jenen Jahrzehnten den vorherrschenden
     Kontext, in dem über das sakrale Bild nachgedacht wurde.
         Die Tiefenachse des Bildes – also von vorn nach hinten – ist das Diagramm
     eines Arguments: Es ist das singuläre, handgemachte Bild als Erwiderung auf die
     Kopie, das Produkt des Künstler-Autors als eine neue Art von Einheit. Van Eyck
     entwickelte eine die Sinne täuschende Rhetorik der Simulation von Wahrnehmungen,
     mit dreifachem Effekt: erstens, das Bild schien wirklicher als die erlebte Wirklichkeit
     und versuchte so vielleicht eine Ahnung des Wesens der Dinge, des Aussehens der
     himmlischen Wirklichkeit anzubieten; zweitens, die Rhetorik des treuen Abschreibens
     der Wirklichkeit schien mit der Sorge um die erfolgreiche Übertragung der Urbilder
     kompatibel zu sein; drittens, gerade der Erfolg der Bilder bei der Verschleierung des
     Prozesses der eigenen Produktion wird schließlich van Eyck selbst zugeschrieben
     und wird die Basis seines Ruhms.
         Entlang einer Achse des Bildes (der vertikalen) wird die Reproduktion figuriert,
     entlang einer zweiten Achse (der frontalen) wird die singuläre künstlerische Perfor-
     manz figuriert, aber gleichzeitig als Reproduktion verhüllt. In beiden Fällen geht es
     um die numerische Kategorie des Einen.
         Die architektonische Ersetzung, die Kopie, das Vielfache sind alle völlig verein-
     bar mit der traditionellen Obsession der Echtheit und des korrekten Verweisens. Im
     Vielfachen werden wir aber nicht die Pluralität vorfinden, nach der wir suchen. Die
     ganze Herausforderung – und das Konzept dieses Buches macht dies klar – ist: Wie
     kann man durch die ‚falsche‘ Pluralität des Vielfachen zu jener ‚wahrhaftigeren‘
     Pluralität gelangen, die durch Kunstgeschichte und Kunsttheorie unterdrückt wird
     (aber auch nicht unbedingt die multiplicité von Deleuze ist?
Das Bild ist immer schon plural                                                           25

    Diese Pluralität werden wir auf der dritten, horizontalen Achse des Bildes finden.
Diese Pluralität problematisiert die eins-zu-eins- oder referentielle Grundlage für die
Theorie des Bildes, denn sowohl ersetzende Bau- als auch Reproduktionstechnolo-
gien waren mit dem Ziel der Bekräftigung entworfen. Sie problematisiert ebenso das
System der Zeugenschaft, das Martyrologium, auf dem das Christentum errichtet
ist: Denn ein System der Zeugenschaft oder Überlieferung spricht gegen eine wahre
Pluralität der Bilder. Die Bezeugung bezeichnet genau den Zwang zur Stabilisierung
und Minimierung des Drehs, welcher der Vermittlung innewohnt.
    Entlang der horizontalen Achse von links nach rechts folgen wir keiner verläss-
lichen Kette von Wiederholungen, sondern einem unsicheren Pfad von Beobach-
tungen und Berichten. Entlang dieser Achse finden sich genügend Gelegenheiten
zum Irrtum – und zur Kreativität. Der Künstler van Eyck berichtet über das ganze
Geschäft. Sein Gemälde ist ein Bericht über eine Beobachtung. Er tut uns kund, dass
die Frauen durch das, was sie hören, verwundert sind. Sie vergleichen den Bericht
des Engels mit möglichen rationalen Erklärungen für das Verschwinden des Leibes:
eine Grabesplünderung durch Fremde, die auf der Suche nach Wertgegenständen
waren oder ein Diebstahl des Leibes durch die Anhänger Christi, entweder um der
Entweihung des Grabes durch Fremde vorzukommen oder um eine Wiederauferste-
hung vorzutäuschen. Der Engel ist ein Phantom; es ist schwer an seine Wirklichkeit
zu glauben, noch schwieriger an die Wahrheit seiner Worte. Es wird keine Reliquie
Christi geben, sagt der junge Mann, keinen Leichnam, um die Geschichten zu stützen,
die von ihm erzählt werden. Der Leichnam wäre das Bild, das jeder will – physisch,
unwiderlegbar. Die einzigen legitimen christlichen Bilder waren die allerersten: der
Leichnam am Kreuz, der Leichnam auf dem Schoße der Jungfrau Maria. Seitdem
haben wir nichts als unzuverlässige Phantome – und gemalte Ikonen, die möglicher-
weise noch unzuverlässiger sind.
    Der phantomhafte Engel – und die Bibel zerstreut jeden Zweifel, indem sie ihn
als „jungen Mann“ beschreibt – berichtet von einem ins Leben zurückgekehrten
Leichnam – einem belebten Bild! – der selbst umherwandern und die Menschen
davon überzeugen muss, dass er wirklich ein Leib und nicht bloß ein Phantom ist.
    Der junge Mann steht für Christus ein – er hält einen Stab aufrecht wie der aufer-
standene Christus. Er ist ein ‚Engel‘, wortwörtlich ein Botschafter. Van Eyck bietet
den Engel als seine wahrscheinlich vorherrschende Metapher für das Kunstwerk
an: Das Werk wird nun der Botschafter sein, dessen Aufgabe es ist, für die fehlende
Reliquie der Christusreliquie einzustehen und davon zu berichten; ein Botschafter,
der erklärt und voraussagt. Dieses Bild hat seine Arbeit zu leisten in der Zeit, es
erkennt die Dimension der Zeit als Wagnis an, auf eine Art, wie es die vollkommene
Wiederholung, die von der Achse Tempel/Felsendom/Grab/Rotunda figuriert wurde,
nicht vermochte. Der Engel stellt einen Entzug des religiösen Bildes in die Eigenge-
setzlichkeit, in die Autonomie hinein dar, in Mehrdeutigkeit oder Kryptologie. Die
drei Frauen setzen sich mit dem Engel auseinander.
    Dies ist die Pluralität, nach der wir suchen. Das Gemälde ähnelt einer einheit-
lichen Tafel, einem bildhaften Text aus einer späteren Periode. In der Tat ist es eine
Ansammlung verschachtelter Bilder: das Bild Christi verschachtelt im Bericht des
26                                                                        Christopher S. Wood

     Engels, welcher der Welt kundgetan wird durch den Bericht der Frauen; alle darge-
     stellt durch ein Bild, ausgedacht vom Künstler, der aus einer Familie historischer
     Bilder zusammengetragen und ausgewählt hat. Dies ist die Hierarchie-Störung, die
     Mehrdeutigkeit der Rahmen, die wir zuvor ausgemacht haben. Die Hierarchie des
     Einen und Vielen ist zwar nicht so deutlich schematisch dargestellt wie in einem
     mehrfach getafelten Retabel, aber die Struktur ist dieselbe.
         Eigentlich wissen wir gar nicht, wo das Bild aufgehört hat und wohin der Rahmen
     fiel. In der unteren rechten Ecke sind Ausläufer von goldenen Strahlen zu sehen,

     Abb. 8: Filippo Lippi, Gastmahls des Herodes, ca. 1460. Prato, Dom

     von denen man erwarten würde, dass sie von einem auferstandenen Heiland aus-
     gingen, der zur Rechten stand.20 Die Speere und Felsen reimen sich gleichsam auf
     die Strahlen. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Bild beschnitten wurde
     und dass die Szene am Grab ursprünglich die Bildfläche und den fiktiven Raum mit
     dem Auferstandenen zu teilen hatte, nur dass die Strahlen und das Wappen sich auf
     einer Firnisschicht befinden. Es ist verwirrend.
         Wenn der Auferstandene denn in der Tat weiter rechts stand, dann gehört dieses
     Bild zu der wenig verstandenen Kategorie der Simultanbilder des 15. Jahrhunderts:
     Hans Memling in den Niederlanden; Fra Angelico, Benozzo Gozzoli, Sandro
     Botticelli, Piero della Francesca, und Filippo Lippi in Italien; z.B. das Fresko des
     Gastmahls des Herodes des letztgenannten Künstlers, im Dom von Prato, in dem
     Salome dreimal erscheint (Abb. 8).21
         Das Simultanbild wurde durch die lineare Perspektive ermöglicht, mit ihrer
     Kontrolle über den bildlichen Raum. Aber zugleich untergräbt es die Logik der Per-
     spektive: Denn Perspektive impliziert Vereinigung von Zeit und Raum. Die Frauen
     teilen sich einen fiktiven Raum und eine fiktive Zeit mit dem Auferstandenen, aber
Das Bild ist immer schon plural                                                            27

aus irgendeinem Grund sind sie nicht dazu in der Lage, über die Nische des bildlichen
Raumes, die sie mit dem Grabmal und dem Engel teilen, hinauszuschauen und Ihn
zu sehen. Van Eyck konstruiert einen Erfahrungsraum und füllt diesen mit einem
Narrativ, das nicht mehr erfahrbar ist.
    Die Künstler des 15.Jahrhunderts, die – wider den Strom ihrer Zeit – mit dem
Simultanbild experimentieren, so wie Memling und Antoniazzo Romano, sind oft
Künstler mit einem ambivalenten Verhältnis zu Urheberschaft und Autorschaft. Indem
sie ein archaisches Modell der Bildherstellung aufnehmen oder besser simulieren,
verdecken sie ihren eigenen Willen und ihr Handeln als Urheber.
    Und doch erwecken ihre Simultanbilder paradoxerweise ein starkes Gefühl, dass
‚jemand da ist‘, dass ein Strippenzieher außerhalb und über der Pluralität der Bilder
steht und Entscheidungen trifft, und dabei die Vergangenheit, die Gegenwart und
die Zukunft, alles auf einmal, klar im Blick hat.22 Das Simultanbild reaktiviert die
vormoderne Struktur vom Ganzen und den Teilen, vom Enthalten des Rahmenwerkes
und von der darin enthaltenen Pluralität von Bildern. Die Perspektive ‚ikonisierte‘
den Komplex des Bildes, verstrickte ihn mit dem einzelnen Bild; das Simultanbild
reißt die Bilder wieder auseinander.
    Die Simultanbilder sind ideale Beispiele für die Hierarchie-Störung: Das Bild
befindet sich im Vollzug; es ist daran, sich als eine neue Einheit zu konstituieren,
deren perspektivische Verdichtung von Raum und Zeit das eigentliche Symbol des
textuellen Status des Bildes ist, die semantische Homogenität und die Dichte, die wir
als das Kriterium des modernen Kunstwerkes ausgemacht haben. Indem es Szenen,
die an verschiedenen Stellen in Raum und Zeit stattfinden, in einer einzigen Nische
von Zeit und Raum darstellt – was unmögliche Verdopplungen der Charaktere nach
sich zieht – signalisiert das Bild seine eigene Weigerung, sich der einen oder anderen
Fassung seiner selbst zu verpflichten. Es weigert sich zu zeigen, wohin der Rahmen
fällt, ob die wesentliche Einheit die Episode ist, oder das gesamte Bild.
    Van Eycks Gemälde vertritt die Position, dass alle Bilder Christi aus dem Gedächtnis
hervorgebracht wurden, nicht aus dem Leben; und dass Bilder ohnehin, auch wenn sie
nach dem Leben gearbeitet sind, nur einen Standpunkt reflektieren, einen Gesichtspunkt
zu diesem Thema. Die Perspektive, die man gegenüber Christus einnahm, war alles.
Sie hing vom Zufall ab, von einem bedingten Erspähen des auferstandenen Leibes.
Nur die Engel erfreuen sich am unbedingten, nicht kontingenten Anblick der Dinge.
    Viele Bilder jener Epoche thematisieren den Unterschied zwischen dem Vielfa-
chen, in der Tat dem Unendlichen, des menschlichen Standpunktes einerseits und
der Einheit der Engelsperspektive andererseits: die ‚Kreuzigung mit Gedräng’ zum
Beispiel. Denken wir über den Kalvarienberg des Meisters der hl. Veronica nach, mit
seinen hektisch querschlagenden Blicken, pulsierenden Vektoren des Bewusstseins,
dem Zusammenbruch von Gemeinschaft und Harmonie (Abb. 9). Ein Mann ist’s
zufrieden, ein anderer schmerzverzerrt und wieder ein anderer gleichgültig. Das Bild
bietet alle seine ordnenden Kräfte auf, um genau dieses Vielfache an Meinungen zu
relativieren, das es so brillant zur Schau stellt: Das Bild will von seinem Betrachter,
dass er ob der Versuchung zu divergieren ins Taumeln gerät und diese schließlich
doch überwindet.
28                                                                           Christopher S. Wood

        Die assunzione, die Himmelfahrt der Jungfrau, ein Thema, das in Florenz und Siena
     im späten Trecento sehr prominent ist, thematisiert ebenfalls die Opposition zwischen
     dem Vielfachen und dem Einen. Das Mittelbild des Retabels von Taddeo di Bartolo in
     Montepulciano ist ein schönes und bekanntes Beispiel, nicht zuletzt wegen des bemer-
     kenswerten Selbstportraits des Malers unter der Aposteln (Abb. 10). Jene Apostel, die
     angesichts des leeren Grabes sinnieren, sind verwirrt und um eine Erklärung verlegen.
     Die Verwirrung ist der generelle Lebenszustand unter den Menschen. Die Engel oben
     sind angeordnet in symmetrischen Reihen und können nichts als die Wahrheit sehen.

     Abb. 9: Meister der Hl. Veronica, Der kleine Kalvarienberg, ca. 1400.
     Köln, Wallraf-Richartz-Museum
Das Bild ist immer schon plural                                                            29

                   Abb. 10: Taddeo di Bartolo, Polyptych mit Mariä Himmelfahrt,ca. 1400,
                   Detail. Montepulciano, Duomo
30                                                                                     Christopher S. Wood

        Malerei ist hier das Ringen, jene ungestüme Kaskade der generierten Bilder,
     die Erfahrung ausmacht, zu versammeln. Malerei – allgemeiner: das verfertigte
     oder externe Bild – offenbart hier ihre eigenen Grenzen. Ein Gemälde kann nie alle
     verschiedenen Ansichten der Dinge abbilden. Es kann nur die Menschen darstellen,
     die unterschiedliche Ansichten der Dinge hegen, es stellt die Tatsache der endlosen
     Pluralität dar. Zuletzt wird das Bild, ein künstlich abgeschlossenes und gestilltes
     Wesen, immer für Einheit plädieren. Im Spätmittelalter und der Frührenaissance baut
     es dieses Plädoyer auf der Mär des integrierten Bewusstseins und der vorgefassten
     Erwartungshaltung des Betrachters auf. Das Gemälde bietet seine fest verzahnte
     Form als ein Symbol und als ein Modell einer heldenhaft erarbeiteten und vereinten
     andächtigen Aufmerksamkeit an, und einer theologischen Orthodoxie. Das Selbst,
     welches das Gemälde betrachtet, erfreut sich einer klaren Sicht auf alles: den Himmel,
     die Erde, die Engel und die Mitmenschen mit ihren verfehlten Perspektiven. Der
     Betrachter des Bildes ist der Beobachter der Beobachter, er ist der Meta-Beobachter,
     der seinerseits dem neuen Gemälde seine Integrität und seine Unabhängigkeit vom
     Kontext verleiht.
        Aber wenn wir wissen, wo wir zu nachzuspüren haben, werden wir die verbor-
     genen Nähte des Bildes ertasten und so ein Nachbild des ursprünglichen Lebens des
     europäischen Bildes inmitten der Kollektive der Bilder zutage fördern.

     Anmerkungen

      1 Die deutsche Fassung dieses Aufsatzes ist überwiegend die Leistung von Marc Petersdorff und
        den Herausgebern.
      2 Roberto Calasso, Ka, New York 1998, 259.
      3 Vgl. Henri Bergson, Matter and Memory, New York 1988, 17–19, 25 und 35-38; Mark B. N.
        Hansen, New Philosophy for New Media, Cambridge, Mass. 2004, 3–13.
      4 Benedetto Croce, Breviario di estetica: Quattro lezioni (1913), Bari 1969, 35: “ciò che si chiama
        immagine è sempre nesso d’immagini, non esistendo immagini-atomi, come non esistono pensieri-
        atomi.”
      5 “The understanding is not much unlike a closet wholly shut from light, with only some little openings
        left, to let in external visible resemblances, or ideas of things without: would the pictures coming
        into such a dark room but stay there, and lie so orderly as to be found upon occasion, it would very
        much resemble the understanding of a man, in reference to all objects of sight, and the ideas of
        them.“ John Locke, Essay on Human Understanding (1690), II. xi. 17. Zitiert nach: John Locke,
        Versuch über den menschlichen Verstand, übers. von C. Winckler, 4. Aufl., Hamburg 1981, Bd. 1,
        185
      6 „La multiplicité dépassant le multiple non moins que l’Un, dépassant la relation prédicative de l’Un
        et du multiple.“ Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Oedipe, Paris 1972, 50, dt. Übersetzung zitiert
        nach: Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, übers. von
        Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1974, 54. Deleuze/Guattari fahren fort: „La production désirante
        est multiplicité pure, c’est-à-dire affirmation irréducible à l’unité.“ (ebd.).
      7 Jacques Rancière, Le destin des images, Paris 2003.
      8 New York, Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr. 06.1211.1-9.
      9 New York, Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr. 17.190.173a, b.
     10 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Mille Plateaux, Paris 1980, 13: „Il faut le faire, non pas en ajoutant
        toujours une dimension supérieure, mais au contraire le plus simplement, à force de sobriété, au
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