Das Bild ist immer schon plural
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Christopher S. Wood Das Bild ist immer schon plural Das fabrizierte Bild (Gemälde, Statue, Fotografie, Film, Tanz) ist das Modell eines generierten Bilds (Wahrnehmung, Erinnerung, Traum, Gespenst, Erscheinung). Das generierte Bild ist emergent, dynamisch, aggregiert. Das fabrizierte Bild stabilisiert, reduziert und rahmt das generierte Bild, das es insofern interpretiert. Die Matrix von Dauer und Bewegung (Leben), Wahrnehmung und Affekt, die das generierte Bild unterstützt, hinterlässt aber Spuren im fabrizierten Bild. Dieses Bild ist sich seiner eigenen Fremdheit gegenüber der realen Bewegung bewusst; es signalisiert seinen Wunsch, in einen mobilen Zustand zurückzukehren, indem es die Pluralität in seine eigene Struktur integriert. Mein Projekt wäre, solche (zurückweisende) Spuren und (vorwärtsweisende) Chiffren in Gemälden zu identifizieren, also die anscheinend stabile Nichtpluralität des Bildes als ephemeren Zustand, oder viel- leicht als Illusion aufzudecken. In europäischen Gemälden des 14. und 15. Jahrhunderts erkennt man diese latente oder versprochene Pluralität an instabilen internen Topologien wieder: also an Verdoppelungen und Vervielfältigungen von Figuren, die die Asymmetrie schaffen und so spiralförmige Bewegungen bzw. Rückkoppelungen in Gang zu setzen drohen: Pulsationen von Erscheinen und Verschwinden, Verletzungen von systemischer Hierarchie, die die Beobachter in Teilnehmer verwandeln und vice versa, und die Vermehrung von aufeinander folgenden Szenen innerhalb eines fiktiven Einheits- raums (Simultanbild). Solche Topologien modellieren die emergenten Prozesse, die Wahrnehmungen und Erinnerungen generieren und sich – durch den Prozess der künstlerischen Schöpfung –über den Körper hinaus in die fabrizierten Bilder ausdehnen. Die Bilder: Wenn wir von einer Pluralität von Bildern sprechen, sollten wir uns in Wirklichkeit keine Sammlung von getrennten, vereinzelten Bildern vorstellen, sondern eine unermessliche Fülle, ohne innere Differenzierung1 – genauso, wie wir in so vielen Sprachen von Wassern, waters, les eaux sprechen. Denn im Fließen der Erfahrung ist es ebenso wenig möglich, ein einzelnes Bild auszusondern wie ein einzelnes ‚Wasser‘ für sich herauszugreifen. Die Wasser, so Roberto Calasso in seiner genialen Meditation über die hindische Mythologie, Ka, symbolisieren den Strom, fließend und reflektierend, von inneren Bildern, Phantomen und Simulacra, die das Bewusstsein ausmachen. Diese sind im Mythos eine Pluralität von „weiblichen
10 Christopher S. Wood Geschöpfen“2. Die Pluralität von Bildern ist in ihrer Weiblichkeit ein Zeichen für die Tendenz des Bewusstseins, sich zu vermehren und zu verzweigen. Dennoch ist das Bild nach den beständigsten Theorien, die über das Bild entwi- ckelt wurden – in der Theologie, der klassischen Epistemologie, der akademischen vormodernen sowie modernen Kunst, der Anthropologie – immer zugleich ruhig, eingerahmt und leicht greifbar. Das Bild steht für sich allein, außerhalb der Zeit. Wohingegen in der Erfahrung, die ein Fließen von Bildern in der Zeit ist, jedes Bild im Begriff ist, sich in ein anderes zu verwandeln, weil es sich hier um Wahrneh- mungen, Erinnerungen, Träume handelt: Bilder, die durch den Körper hervorgebracht und koordiniert werden. Nach Henri Bergson ist die Wirklichkeit nichts anderes als ein Aggregat von Bildern, das zu einem ganz bestimmten Bild in Beziehung steht: dem Körper.3 Der Körper ist insofern ein Bild, als er Bewegung aufnimmt und wie- derum selbst Bewegung produziert. Für das verkörperte Subjekt ist der Körper ein bevorzugtes Bild, denn er ist ein Bild, das von Innen heraus wahrgenommen wird. Der Körper filtert den Bilderstrom – und diese Filterung und Auswahl nennen wir Wahrnehmung. Das Ausfließen der Bilder ist die Erfahrung selbst. Man kann diesen Bilderfluss also nicht anhalten oder in einem bestimmten Bild isolieren.4 Und doch bleibt das zeitlich einfache, isolierte Bild die Grundlage für die Bild- theorie. Das eingerahmte Bild ist das brauchbare Bild. Plato verortete Bilder im Geist, die die vollkommenen Urbildern im Ideenhimmel abbildeten. Er machte das geistige Bild fest, um es mit einer idealen Form vergleichen zu können; dieser Ver- gleich zielte auf Diskreditierung ab. Das feste geistige Bild ist tief in die Geschichte des westlichen Denkens eingewoben. Aber dieses Bild ist eine Fiktion, ein Artefakt des philosophischen Diskurses. Wir haben uns davon überzeugt, dass sich das Be- wusstsein an einem Repertoire gespeicherter Abbilder orientiert, das fortwährend durch neue Wahrnehmungen aufgestockt wird, durch das schöpferische Gedächtnis, durch die Einbildungskraft. John Locke hat den Verstand als eine dunkle, mit Bildern ausgefüllte Kammer beschrieben: Denn meines Erachtens ist der Verstand einem Kabinett gar nicht so unähnlich, das gegen das Licht vollständig abgeschlossen ist und in dem nur einige kleine Öffnungen gelassen wurden, um äußere, sichtbare Ebenbilder oder Ideen von den Dingen der Umwelt einzulassen. Wenn die in einen solchen dunklen Raum hineingelangenden Bilder nur dort bleiben würden und so geordnet lägen, dass man sie im gegebenen Fall auffinden könnte, so würde solch ein Kabinett hinsichtlich aller sichtbaren Objekte und ihrer Ideen dem menschlichen Verstande außerordentlich ähnlich sein.5 Man könnte sich einen Haufen staubiger Leinwandbilder vorstellen, Portraits etwa von Peter Lely, oder schwache Werke der Bologneser Schule. Die Kunstgeschichte hat innerhalb dieser Geschichte eine Rolle zu spielen, da die philosophische Mär von in sich gefestigten Bildern nur bestärkt worden ist durch die materiellen Bilder; Bilder, wie wir sie außerhalb unseres Körpers, außerhalb unseres Geistes verfertigen. Das Herstellen von Gemälden ist eine unbeholfene Wiederholung, eine Pantomime jener Selektion, die der Körper schon durchgeführt hat – also eine massive Reduktion: vom Unendlichen zum bloßen Vielfachen, vom Vielfachen zum bloßen Singular. Das Gemälde, die Statue, das theatralische Bild,
Das Bild ist immer schon plural 11 die Fotografie, sogar das Bild in der Dichtung: bewegungslose Querschnitte von Erfahrung, die uns zeigen, was innere Bilder wohl zu sein haben. Das Nachdenken über Bilder hat diese Richtung eingeschlagen: vom verfertigten Bild in der Welt zum hervorgebrachten Bild im Körper. Das verfertigte Bild ist einfacher zu verstehen – wir haben es ja selbst hergestellt. Das innere Bild, die Wahrnehmung, der Traum, die Erinnerung sind da schon mysteriöser – sie werden nicht gemacht, sondern wie von selbst hervorgebracht, generiert. Sie tauchen sprichwörtlich auf, ihre Grenzen sind verschwommen: Sie haben weder Ursprung noch Endpunkt. Um das innere Bild brauchbar zu machen –für die Philosophie, für die Alltagssprache – muss es befestigt, eingerahmt und als geschlossenes Feld konzipiert werden, mit Rändern und einer planen Oberfläche. Das fabrizierte Bild ist ein so mächtiges Modell geworden, dass der Begriff Bild im Allgemeinen mittlerweile die Bedeutung von etwas Suspendiertem, Ange- haltenem, Stillhaltendem angenommen hat, einer Unterbrechung des Fließens und einer Ansammlung von zerstreuter Aufmerksamkeit. So spricht man in der Poetik zum Beispiel von einem Bild als einem Innehalten im Strom der Wörter, einem In- der-Schwebe-Halten der erzählerischen Dynamik zugunsten der Beschreibung oder der Evokation eines einzelnen fixierten Gegenstandes oder einer Konstellation. Bild, Konstellation, Kristallisation, Dialektik im Stillstand – all diese Begriffe bezeichnen eine Einschränkung, eine Eliminierung von Alternativen. Sie sind Wege, das Chaos des Denkens und der Sprache in einzelnen Augenblicken zu erfassen, in wirksamen Bündelungen von Bedeutung; wirksam, weil solche Augenblicke die Chance für Neuanfänge zu bieten scheinen, für die Wiederaufnahme einer – bloß neu geordneten – Handlung. Der ‚prägnante’ Augenblick ist eine Abstraktion und eine Vereinfachung von Zeit. Er stellt den ‚Bildeffekt’ her, einen Effekt, der die mit unseren eigenen Händen und Werkzeugen verfertigten Bilder strukturiert und ständig neu formt. Das fixierte Bild ist die Grundlage der theologischen Dialektik von Ikono- philie und Ikonophobie. Das Bild, das als Zeichen zu funktionieren vermag, ist das Bild, das die Chance hat, eine wirkungsvolle Referenz gegenüber einem entfernten oder abwesenden Gegenstand – gegebenenfalls einem Gott – zu erzielen, entweder durch Ähnlichkeit oder Kodifizierung. Einige glauben an den ikonischen Bezug, andere nicht. Dieser Gegensatz wurde in der Moderne weitgehend entschärft durch die Institution des Kunstwerkes, eines bildlichen Zeichens, das keinen Anspruch auf Referenz erhebt, sondern lediglich etwas zu erkennen gibt, und die Bedeutungsfindung unabschließbar macht. Das Kunstwerk aber braucht das fixierte Bild als Folie. Das Kunstwerk, das seine Wirkungen in der Zeit zu entfalten bereit ist, definiert sich selbst durch Abgrenzung von der augenblicksbezogenen Wirkung, die das Bild bereithält. Die gegenseitige Abhängigkeit des Bildes und des Kunstwerkes ist eine binäre Relation. Dieser Binarismus strukturiert die kunstgeschichtliche Forschung zum Mittelalter und zur Renaissance, indem er das vorherrschende Kriterium der Periodisierung vorgibt. Der Binarismus wird zugleich im methodologischen Streit bewahrt, der unter der Rubrik Bildwissenschaft vs. Kunstwissenschaft ausgetragen wird. In der Moderne besteht der strukturelle Binarismus darin, das Kunstwerk von der Kopie abzuheben. Aber das Vielfache – die mechanisch produzierte Kopie – ist keine
12 Christopher S. Wood größere Bedrohung für das Kunstwerk als das Einzelbild. Das Vielfache ist keine wahre Pluralität, weil die Summe der Kopien auf eine neue Totalität hinausläuft. Alles will uns dazu zwingen, Bilder als Einheiten zu betrachten bzw. als Kopien jener Einheiten, die schließlich eine größere Einheit ausmachen. Die Reproduktion bestätigt also nur das Prinzip der Einheit und entfaltet nie in eine wahre Pluralität. Die Totalität des Vielfachen von x zweifelt nicht wirklich die Autorität von x an. Das Eine und das Vielfache stehen nach Gilles Deleuze und Félix Guattari in einer prädikativen Beziehung zueinander. Nur die Kategorie der Vielheit (multiplicité) kann Verhältnisse der Differenz bewahren, ohne unumgänglich und immer wieder auf eine ursprüngliche Totalität zu verweisen: “Vielheit (multiplicité), die das Viel- fältige nicht weniger als das Eine, die prädikative Beziehung des Vielfältigen und des Einen gleichermaßen überschreitet.”6 Der Unterschied zwischen dem mechanisch reproduzierten und dem einzelnen Bild ergibt sich durch reziprokes Definieren. Dieser Unterschied hält einen anderen stabilen Binarismus aufrecht. Ein Ausweg aus den beiden Binarismen, welche die frühmoderne und moderne Kunstgeschichtsforschung strukturiert haben – Kultbild vs. Kunstwerk einerseits, Kunstwerk vs. Replik andererseits – ergibt sich, wenn man das verfertigte Bild (das Gemälde, die Fotografie) nicht mit einem Referenten in der Welt vergleicht, sondern vielmehr mit einem im Inneren des Körpers generierten Bild. Innen/Außen: das Bild auf einer der beiden Seiten der Körpermembran – eine Vorstellung, die sich nicht mehr mit der Metaphysik oder mit der Semiotik des Bildes vereinbaren lässt. Inneres/äußeres Bild ist eine binäre Opposition von geringerer Stetigkeit als Bild/Kunstwerk, oder Kunstwerk/Replik, weil einer der Terme – das innere Bild – überhaupt nicht gedanklich erfasst werden kann. Es ist ein Wesen ohne Grenzen, ohne Form, ohne Zahl. Dennoch bleibt das Bild im Körper Quelle und Vorbild von allen außerhalb des Körpers fabrizierten Bildern. Die generierten Bilder vermitteln uns erst eine Ahnung davon, was ein gemaltes oder inszeniertes Bild sein könnte. Das Gemälde oder das theatralische Tableau wird als Wahrnehmung oder Erinne- rung erneut in den Strom der körperlichen Bilder aufgenommen. Aber der Strom läuft zunächst vom Körper zum Bild. Insofern die Kunstgeschichte das fabrizierte Bild als das Modell des innerlichen, körperlichen Bild annimmt, kehrt sie den Strom um. [Lässt sich genau hier ein Bild einfügen? Herr Wood möchte hier eine Leerzeile ohne Zwischenüberschrift, aber das ist ja in unserem System nicht vorgesehen] Stellen wir fürs erste solche Fragen bezüglich der Ontologie des Bildes und der Absicht, „das Schicksal der Bilder“7 vorauszusagen, beiseite und fangen stattdessen an, historisch zu denken. Die Natur der Bilder ist wesentlich plural, und nichtsdesto- trotz ermutigen uns Theorien und Geschichte(n) der Kunst, diese plurale Natur des Bildes zu vergessen. Aber gerade solche Gemälde, die gegen den Diskurs, der sie gesellschaftlich aufrecht erhält, ankämpfen, liefern Anhaltspunkte, die eine Anamnese in Bewegung setzen können. Das Forschungsprojekt „Bild im Plural“ zielt auf eine Neukonzeption des Bildes, die uns sehen lässt, was oft verborgen ist: dass vor den modernen Kulturen der Kunst das Bild sich immer innerhalb eines Kollektivs befand. Man bekam das Bild nie allein zu sehen, ohne Kontext, Unterstützung, Trabanten. Betrachten wir ein gemaltes, dem
Das Bild ist immer schon plural 13 heiligen Andreas gewidmetes Retabel aus Katalonien, das in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts entstand (Abb. 1).8 Das Retabel als ganzes ist ein Bild: Es enthält die Pluralität von Bildern innerhalb seiner selbst: Bildnisse von Heiligen, Erzäh- lungen, Bilder kreatürlichen Lebens. Das Ganze regiert und koordiniert die Teile. Aber auch die Teile deuten das Ganze: Die hagiographischen Narrative erwecken die Reliquien zum Leben, die das Retabel als Ganzes bewacht oder sogar beinhaltet. Ein analoges Beispiel wäre die bebilderte Fassade einer romanischen oder gotischen Kirche. Die institutionelle Legitimität der Kirche, die eschatologische Verheißung Abb. 1: Meister von Roussillon, Retabel von St. Andrea, ca. 1420–1430. New York, Metropolitan Museum of Art, Cloisters Collection
14 Christopher S. Wood der Theologie, die Erzählungen, welche die Kirche in die lokale Geschichte oder den Altar in die Kirche einbinden kommen auf den Fassaden plakatartig, als Präsentation von Bildern zum Einsatz, genauso wie die Bilder, die Propaganda für den Kaiser machen, einst die Fassaden der Triumphbögen zierten. Sogar die Ritterszenen – in diesem Fall aus der Artussage – auf den Tafeln einer Elfenbeinschatulle des frühen 14. Jahrhunderts werden nicht nur physisch von der gesamten Schatulle getragen, sondern sogar semantisch (Abb. 2).9 Denn die Schatulle, die in ihrer Gesamtheit selbst ein Bild ist, symbolisiert die Prinzipien der Gefangenschaft und der Geheimhaltung, Abb. 2: Schatulle, Elfenbein, Paris, ca. 1310–1330. New York, Metropolitan Museum of Art welche die verborgene Dynamik ritualisierter Liebe antreiben. Das Ganze und der Teil befinden sich in einem Zustand des Gleichgewichts. Das plurale Bild entkommt nicht der Struktur. Schon die Erfahrung, die Matrix des Bildes, ist strukturiert. Die Pluralität der generierten Bilder organisiert der Körper. Jedes Bild setzt das Aggregat voraus, auch wenn das Aggregat verborgen ist. Das Bild bezieht die Bedeutung aus seinem Platz im System.
Das Bild ist immer schon plural 15 Die Pluralität der generierten Bilder ist also keine multiplicité, keine grenzlose Differenzierung ohne Subordination. Diese müsste man erst entwerfen oder erschaf- fen, was ein utopisches Projekt wäre. Es reicht nicht, einfach „Vive le multiple“ zu rufen. „Il faut le faire“, sagen Deleuze und Guattari: Man muss die Vielheit schaffen, sich darum bemühen, weil sie nicht natürlich ist.10 Das plurale Bild ist kein „Körper ohne Organe“ im Sinn von Deleuze. Das fabrizierte Bild – gerade weil es versucht, das generierte Bild wiederzugeben und gerade weil es aus einer Spannung zwischen Pluralität und Einheit lebt – ist ein Körper mit Organen. Die These dieses Aufsatzes aber ist, dass im Spätmittelalter und in der Frührenais- sance ein neues Spannungsverhältnis zwischen dem Ganzen und dem Teil, zwischen der beinhaltenden Struktur und dem einzelnen beinhalteten Bild entstand. Schließlich bricht das Bild aus dem Kollektiv aus und behauptet seine Selbständigkeit unter der Rubrik des Kunstwerks. Doch die ursprüngliche Verschachtelung des Bildes, seine ursprüngliche Bedeutungslosigkeit außerhalb der Gesamtheit, ist immer noch ablesbar als ein Muster von internen Bruchlinien. Die Spannung zwischen Gesamtheiten von Bildern und dem einzelnen Bild, der dieser Sammelband nachspürt, kann weder mit den Begriffen erfasst werden, welche die Unterscheidung von Kultbild/Kunstwerk vorgibt; noch durch die Unterscheidung zwischen referentiellen Bildern und poetischen oder frei bedeutenden Bildern, nämlich Kunstwerken. Ebenso wenig hilfreich ist die Unterscheidung zwischen einzelnen Bil- dern und ihren Repliken.11 Stattdessen wird es ergiebiger sein, über das Leben des Bil- des innerhalb von Kollektiven nachzudenken als eine Art, wie die mittelalterliche und frühneuzeitliche Kultur mit dem Gewahrwerden dessen umging, dass die physischen Grenzen des verfertigten Bildes keiner Realität innerhalb des Körpers entsprachen. Die Einzigartigkeit des hergestellten Bildes kann nicht mit der wahren Pluralität des hervorgebrachten, d.h. generierten Bildes der Wahrnehmung oder der Erinnerung versöhnt werden. Und dennoch benötigt die Gesellschaft eingegrenzte Bilder. Wo wird sie diese Grenzen ziehen? Wohin wird sie den Rahmen setzen? Unsicherheit über den Rahmen – eine völlig legitime Unsicherheit – ist die Quelle des Ungemachs. Wenn wir eine Mehrdeutigkeit im Verhältnis zwischen dem Kollektiv der Bilder und dem einzelnen Bild, das darin eingenistet ist, aufspüren, wenn wir nicht sicher sind, wohin der Rahmen fällt oder welche Rahmen ernster genommen werden müs- sen als andere, dann werden wir feststellen, dass die Institution des Kunstwerkes im Mittelalter und der Frührenaissance stets im Vollzug begriffen ist, dass sich der Vertrag zwischen dem Kunstwerk und der Welt jenseits des Kunstwerkes stets noch in einem Verhandlungsstadium befindet. Das Bild war als Kunstwerk für uns schon einsatzbereit, als sein Rahmen für seine Bedeutung nicht mehr konstitutiv war. Der Rahmen wurde zum redundanten Verweis darauf, dass sich das Kunstwerk von allem unterschied, was Nicht-Kunst war, und war nicht mehr dafür verantwortlich, das Bild zusammen zu halten. Als die innere Einheit und die Homogenität des Werkes ausreichend festgemacht war, der Rahmen jegliche Form annehmen oder ersetzt oder sogar entfernt werden konnte, ohne im Wesentlichen dem entgegen zu stehen, was das Bild jeweils tat.
16 Christopher S. Wood Ein Bild wie die Pietà aus dem frühen 15. Jahrhundert im Louvre, bekannt als das Kleine Tondo, eine Pariser oder burgundische Arbeit, möglicherweise von Jean Malouel, wirkt dicht komponiert (Abb. 3). Dieses Gemälde ist jedoch weniger eindeutig verwoben, als es den Anschein hat. Die Körper der nach innen, dem Mit- telpunkt zugewandten, Figuren, suchen den Leib und die Wunde Christi. Der in den Bildträger integrierte Rahmen jedoch und die konzentrischen Ringe auf goldenem Grund treiben die Figuren ebenso nach innen. Das Gemälde bittet seinen eigenen Rahmen um Einheit. Dies ist im Grunde immer noch eine Versammlung von ver- Abb. 3: Pariser oder Burgundischer Meister (Jean Malouel?), Pietà (Kleiner Tondo), ca. 1400. Paris, Musée du Louvre Abb. 4: Anton van Dyck, Rinaldo und Armida, 1629. Baltimore Museum of Art einzelten Charakter-Repräsentationen – Portraits heiliger Persönlichkeiten, bekannt von unzähligen Bildern der Beweinung Christi, Bilder, die durch eine machtvolle Annahme von Redlichkeit und Rechtschaffenheit an die Referenten der Überlieferung gebunden sind. Die maßgebliche Konzeption, die hinter dem Bild steht, ist ebenso sehr die eines Sammlers wie die eines Schöpfers. Die Bande, welche die Figuren zusammenhalten, sind relativ schwach. Das Bild wird erst dann zum tableau, zum bildlichen ‚Text‘, wenn die gesamte Bildfläche zugleich als integrale Einheit erfasst wird und die Figuren ihre Bedeutung in ihrem Beitrag zum Ganzen finden: Ihre ‚vertikalen‘ referentiellen Verbindungen zur Vergangenheit verlieren an Gewicht zugunsten von ‚horizontalen‘ Verbindungen zu anderen Figuren und Dingen, zur Landschaft.
Das Bild ist immer schon plural 17 Anton van Dycks Rinaldo und Armida (1629) in Baltimore ist hingegen homogen und semantisch dicht (Abb. 4). Keiner seiner Teile ist bedeutender als der andere, alles leistet einen Beitrag, genauso wie jedes einzelne Wort eines Gedichtes glei- chermaßen zum Gedicht gehört. Keiner der Bestandteile gehört enger zum Werk als ein anderer – es ist über seine ganze Fläche hinweg ein Kunstwerk. Das Bild wird nicht von seinem Rahmen zusammengehalten, sondern von seinen inneren Saiten, die aus seinen formalen und semantischen Reimen, seinen Homologien und Spannungen bestehen. In seinem Buch L’ Instauration du tableau (deutsch: Das selbstbewusste Bild) spürt Victor Stoichita Signalen der Diskontinuität in Gemälden aus dem 17. Jahrhun- dert nach, welche sogar das festeste bildliche Konstrukt als zerbrechlich erweisen.12 Rembrandts Heilige Familie (1646) in Kassel z.B., mit seinem gemalten, illusorischen Rahmen und Vorhang, ist kein Gemälde, sondern die Repräsentation eines Gemäl- des, die in Anführungszeichen gesetzt ist; Anführungszeichen, die nach außen auf einen Kontext rekurrieren, der Häuslichkeit und wahrscheinlich auch andere Bilder einschließt. Willem van Haecht stellt in seinem Bild der Kunstsammlung von Cor- nelis van der Geest (1628, Antwerpen, Rubenshaus) mehr als vierzig Gemälde in einem Zusammenhang von Konversation und kunsthistorischer Reflexion dar – da die Aufmerksamkeit sich auf der unteren linken Seite auf eine Madonna mit Kind von Quentin Metsys konzentriert, dem Begründer der Antwerpener Schule. Verein- zelte Werke finden ihre Bedeutung in größeren Ensembles, realen und solchen in übertragenem Sinne. Obwohl hervorragend analysiert, sind Stoichitas Beispiele von Reflexivität und Verschachtelung aus dem 17.Jahrhundert eher selbstverständlich. Die historiogra- phische Faszination für Reflexivität in früher moderner Kunst, die zur Zeit vielleicht ein bisschen übertrieben wird, ist meist nur eine Projektion moderner Poetiken, die Autonomie zurück projizieren. Im Spätmittelalter und in der Frührenaissance aber sind die Zeichen eines Prozesses der Selbstregulierung dem Blick oft verborgen. Hier- archien zwischen Pluralität und Singularität auszumachen heißt nach frühen Zeichen der Selbstregulierung und Eigendefinition des Kunstwerks Ausschau zu halten. Eine solche Vorgeschichte der Reflexivität wäre vielleicht so etwas wie ein erster Entwurf einer Naturgeschichte der Reflexivität, wobei sich Reflexivität als eine Modalität der Spannung zwischen Singularität und Pluralität des Bildes herausstellt. Vor dem 16. Jahrhundert ist nicht eindeutig, wo die Grenzen des Kunstwerkes liegen.13 Die Kölner Tafel mit den Heiligen Drei Königen eignet sich als ein wei- teres Beispiel, gerade weil sie nicht sehr bekannt ist (Abb. 5).14 Eigentlich handelt es sich um eine gemalte Repräsentation einer als Skulptur gearbeiteten Epiphanie, mit gemalten Statuen auf den Seitentafeln. Das Altargemälde stammt von kabinett- artigen Schreinen ab, die Reihen von Heiligenskulpturen enthielten, in die wiederum vielleicht Reliquien eingeschlossen waren. Die kleinen Nischen am unteren Rand der Tafel mögen einst Reliquien oder Halbedelsteine enthalten haben. Die Figuren darüber sind zweidimensional abgeflacht. Paradoxerweise beginnen sie erst, sich im Raum zu bewegen und einander gewahr zu werden. Die Heiligenpaare auf den Seitentafeln – nun aus ihren räumlichen Nischen befreit – verändern ihre Haltung
18 Christopher S. Wood und fangen an, einander überlappende Kulissen zu formen. Sie scheinen sich des zentralen Geschehens nur trübe bewusst zu sein. Wo ist die Grenze des Bildes? Innerhalb der Fiktion ist das wichtigste Bild natürlich der Leib Christi. Aus einer außerszenischen Perspektive löst sich die Fün- fergruppe jedoch in ein Meta-Bild auf: eine Epiphanie. Ist dies dann im Grunde das Bild einer Epiphanie, vorsichtig eingerahmt und eingeklammert durch vergoldetes geschnitztes Holz und repräsentative Zeugen? Oder ist das gesamte Altargemälde das eigentliche Bild? Es ist nicht klar, ob wir uns hier eine Ebene weiter nach oben bewegt Abb. 5: Kölner Meister, Die Heiligen Drei Könige, 1. Viertel des. 15. Jahrhunderts. Detroit, Institute of Fine Arts haben, ob das Altärchen ein Meta-Bild zweiten Grades darstellt und so vielleicht zum Werk wird. Diesen Anschein mag es haben, wenn es im Museum hängt, aber dieser Anschein ist irreführend. Braucht das eingebettete Bild ein einbettendes Bild? Gibt es da eine Hierarchie? Das heißt: Leitet oder regiert die größere Struktur das eingeschachtelte Bild, überträgt sie etwa Bedeutung an die Bilder, die sie enthält? Im 14. und 15. Jahrhundert waren die Grenzen zwischen Werk und Nicht-Werk, innen und außen, sakral und profan hochgradig ungenau, da man erst noch dabei war, sie fest- zulegen. Dies stellte für die Kreativität kein Hindernis, sondern eher eine Chance dar.
Das Bild ist immer schon plural 19 Dabei ergibt sich allerdings eine ‚Hierarchie-Störung‘. Die Bilder entstehen als Kunstwerke aus der Störung, aus dem Ungemach heraus. Die Störung wurde noch nicht erkannt oder wurde ungenügend erkannt oder auch falsch benannt. Dieses Ungemach in der Hierarchie zu benennen, wie wir es hier tun, heißt anzufangen die historischen Differenzierungen, aus denen die Institution des Kunstwerkes in seiner modernen Form entstanden ist, zu erfassen. Es liegt auf der Hand, dass solche Bilder heterogen und zellulär aufgefächert sind. Sie sind nicht leicht dem Ideal des singulären Bildes anzugleichen, das die Abb. 6: Andrea Mantegna, Madonna della Vittoria, 1496. Paris, Musée du Louvre Kunstproduktion zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert im Großen und Ganzen bestimmt hat. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt überlebt haben. Aber dieselbe Mehrdeutigkeit oder Spannung zwischen den Ganzen und den Teilen kann auch jene Bilder strukturieren, die den Anschein von Einheit erwecken. Andrea Mantegnas Madonna della Vittoria (1496) ist sicher ein Paradigma des integrierten Kunstwerks, das auf ein individuelles schöpferisches Bewusstsein zurück geht (Abb. 6). Wenn dem nicht so wäre, hinge es nicht in der Grande Galerie des Louvre unter den Poussins und Guido Renis. Doch historisch ist das Bild die Verdichtung einer
20 Christopher S. Wood komplexen Folge gewalttätiger Ereignisse, Wechsel, ritueller Darreichungen. Die Bruchlinien zwischen Bild und Bild, innerhalb des Bildes, sind vollkommen ablesbar, sobald wir aufmerksam die Geschichte des Bildes verfolgen. Francesco Gonzaga erfüllte ein Gelübde, indem er das Bild 1496 der Kirche S. Maria della Vittoria in Mantua überreichte: Er hatte sich von der Jungfrau Beistand in der Schlacht gegen die Franzosen erbeten und diesen auch erhalten. Francesco ist sowohl außerhalb des Bildes als sein Stifter und eigentlicher Betrachter als auch innerhalb des Bildes zu verorten: in steter Huldigung der Jungfrau wird seine Anwesenheit simuliert. Seine Rüstung wurde sowohl im Bild dargestellt als auch nahe des Bildes in der Kapelle aufgestellt. Die Kirche war an der Stelle erbaut worden, an der zuvor das Haus eines Juden gestanden hatte, der an dessen Außenwand der Schändung des Gemäldes der Jungfrau beschuldigt worden war. Damit hatte er die Jungfrau zum Eingriff in das lokale Geschehen provoziert. Die gemalte Jungfrau innerhalb des Bildes ist sowohl das Bild der Jungfrau selber als auch das Bild eines Bildes, des zerstörten Kultbildes, das den Prozess in Gang brachte. Innerhalb von nur drei Stunden, in denen das Bild in der Kirche angebracht wurde, begannen örtliche Verehrer Wachsabbildungen von Körperteilen und silberne Augen darzubringen. Galten diese Gaben der Jungfrau, deren gelegentliche Anwesenheit in Mantua Mantegnas Gemälde symbolisierte? Galten sie Mantegnas Bild des zerstörten, vermutlich alten Kultbildes? Die Verehrer brachten ihre Geschenke nicht dem Bild, würde man meinen – aber es ist auffällig, dass die Installation des Bildes diese Darreichungen provoziert hat.15 Zeit, Wandel, Wechsel, Furcht und Hoffnung sind alle innerhalb des Werkes aufgewickelt. Das Vorindividuelle und das Transindividuelle sind sogar dann an- wesend, wenn das Bild äußerst integriert wirkt. Es handelt sich hier um Werke, in denen dieser Prozess der Integration unvollendet bleibt; Werke, die durch Relationen der Typologie, der Parataxe, der Verschachtelung, des Itinerars zerstreut sind.16 Hier möchte ich mich dem Beitrag Wolfram Pichlers anschließen, der die Pluralität der Bilder topologisch denkt. Vielleicht ist der Prozess der Integration nie vollendet, in keinem Werk. Es gibt im spätmittelalterlichen und frühmodernen Kunstwerk eine besonders scharfe Spannung zwischen Einheit und Vielheit. Man begegnet Werken, in denen die Hierarchie von Bild-Einheiten unklar ist oder solchen, die die freie Wahl zwischen mehreren Blickpunkten thematisieren. Jan van Eycks Drei Marien am Grabe Christi in Rotterdam enthüllt die ganze Matrix der Kunstproduktion im 15. Jahrhundert (Abb. 7).17 Es ist um drei numerische Kategorien herum angelegt: Kopie (viele als dasselbe – doch schließlich als Einheit), Singularität (nur Eines) und Pluralität (mehr als Eins, weniger als das Mehrfache). Obwohl es dadurch den Anschein einer Einheit erweckt, ist es eigentlich ein Haus mit vielen Kammern, ein Hyper-Bild.18 Das Sujet ist alt, im Grunde eines der ältesten überhaupt. Man findet es bereits vor 235 in Dura Europos. Dieser Umstand ist Teil der Bedeutung dieses Gemäldes: Jan van Eyck, Historiker christlicher Kunst, hat das Sujet ausgegraben. In unvergleich- licher Weise trennt van Eyck die Szene vom narrativen Umfeld und ihre Beförderung ins physisch Selbständige. Es ist jedoch möglich, dass diese Tafel, die 71,5 x 90 cm misst, ursprünglich kein selbständiges Bild war. Manche Forscher glauben, dass
Das Bild ist immer schon plural 21 das Original von zwei Seitentafeln flankiert wurde. Womöglich war das Original größer. Es gibt keinen Malrand, d.h. die erhabene Kante eines gesso, die auf eine Verbindung mit einem (verlorenen) Rahmen hinweisen und somit beweisen würde, dass das heutige Gemälde vollständig ist. Das Wappen in der unteren rechten Ecke ist ein Verweis darauf, dass der Eigentümer Philippe de Commines war, jedoch erst wenige Jahrzehnte später, wahrscheinlich um 1470. Lassen Sie uns aber vorläufig annehmen, dass das vorliegende Bild vollständig ist. Abb. 7: Jan van Eyck, Drei Marien am Grabe, ca. 1433. Rotterdam, Museum Boymans-van Beuningen Am Ostermorgen, nach der Sabbat-Unterbrechung von 24 Stunden, kommen drei Frauen zur Grabstätte Christi, die den Leichnam mit Gewürzen salben wollen. Die Geschichte, die in allen vier Evangelien berichtet wird, erzählt Matthäus (28, 5-7) wie folgt:
22 Christopher S. Wood Der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Mit dem steil nach unten gekippten Grabdeckel und der ausgestreckten Hand der sprechenden Frau zitiert Jan van Eyck nicht nur früheste Vorbilder, sondern auch solche wie Duccios Maesta aus dem Jahrhundert zuvor. Die alten Gebärden belebt er jedoch dadurch wieder, dass er sie psychologisch einsetzt, um die Verwunderung der Frauen sichtbar zu machen. Van Eyck gibt die Grundstruktur der Szene wieder, aber er revidiert sie auch, dehnt sie in einen simulierten Raum und in einen psy- chologischen Raum aus. Das Bild kommuniziert aus diesem Spalt zwischen zwei Vorstellungen von der sakralen Kunst: zwischen einer Kunst der Wiederholung einerseits und einer Kunst der Differenz andererseits. Einerseits ist es eine sakrale Kunst, die ihre Autorität von einer angeblichen Kette von äquivalenten, wechselseitig ersetzbaren Darstellungen bezieht, einer Kette, deren erstes Glied das authentische Urbild selbst sein soll; andererseits eine sakrale Kunst, die den früheren Darstellungen eher misstrauisch gegenübersteht, also eine Kunst, die es vorzieht, durch kreative Performanz direkt zur Wahrheit zu springen. Van Eyck hat das Thema Zweifel hervorgehoben, das – anders als in den Texten der Evangelien – in christlichen Bildern für gewöhnlich unterdrückt wird. Die Frauen sahen und hörten das Zeugnis des jungen Mannes, und außer ihnen tat es niemand. Sie fanden nicht Christus, sondern eine Miniaturausgabe, einen Doppelgänger vor: einen jungen Mann in Weiß, der ihnen eine unglaubliche Geschichte erzählt. Bald werden die Menschen beginnen, Christus zu sehen. Die Bezeugungen werden von dem Zeugnis der Frauen, die die Erklärung des Engels gehört haben, beglaubigt. Die gesamte Religion wird auf diesem Punkt beruhen: Wer glaubt an die Wirklichkeit – statt an den symbolischen Charakter – der Auferstehung? Das Bild ist eine Allegorie des Vertrauens in Bilder, denn was werden die Apostel sehen, wenn nicht ein Bild, eine Erscheinung? Und was sehen die Frauen, wenn nicht eine Erscheinung? Um zu glauben, muss man an die Echtheit dieser Erscheinungen glauben, ebenso an das Zeugnis der Erfahrung dieser Bilder. Beide Bilder sind ein Doppel für Christus, Substitute. In dieser Episode wandelt sich das Christentum von einem gewöhnlichen Grabeskult zu einer mystisch offenbarten Religion. Die Ungewissheit der Evangelientexte hinsichtlich der Anzahl der Frauen könnte die ganze Sache in Zweifel ziehen. Denn die Besucher werden verschieden beschrie- ben als die „Drei Marien“, die „Zwei Marien“, „Magdalena und die andere Maria“ und „die Frauen“. Gleichzeitig sind das, was bei Matthäus und Markus „der junge Mann in Weiß“ ist, bei Lukas und Johannes zwei junge Männer. Es gibt Ungewissheit und Zweifel: Ungewissheit über die referentielle Zuverläs- sigkeit der Bilder entsteht an der Horizontalachse des Bildes entlang, während die Vertikalachse absolute Verlässlichkeit innerhalb der Tradition vermittelt. Im virtuellen Raum dieser Szene beschreibt der Maler eine Landschaft, die fel- sige Umgebung Jerusalems, die er mit seinen eigenen Augen gesehen haben mag. Der Raum ist tief und doch an einer vertikalen Linie in ein historisch-theologisches
Das Bild ist immer schon plural 23 Diagramm abgeflacht: Sie führt vom Tempel, dem Zentralbau, der den Horizont beherrscht, hinunter bis zum Grab, dem Nukleus des Gebäudekomplexes, der den Tempel wiederholen und ersetzen wird, die Anastasis oder Rotunde des Heiligen Grabes. Und entlang dieser Linie entwickelt sich ein ganzer Diskurs des Herstellens und Erbauens: über Wiederholung und Ersetzung als Stabilisatoren der Zeit, über Ketten des Bilder-Machens und Erbauens, die der Historie Ordnung auferlegen. Die Hand des Engels liegt auf einer Linie mit dem Tempel und führt unseren Blick aufwärts und zeitlich zurück zum Tempel, den Salomon 960 v.Chr. erbaute. Danach wurde er etliche Male wiederaufgebaut und ersetzt, zuletzt durch Herodes 37–34 v.Chr. Diese ‚Wiederholungen‘ des Tempels sollten schließlich durch das Grab Christi ein letztes Mal angehalten und ersetzt werden, das ihn zum neuen Zentrum des Glaubens machte. Die Ädikula wird sich über dem Grab erheben. In der frühchristlichen Kunst wur- den die drei Frauen schon bei der Ankunft an einer Ädikula gezeigt (siehe z. B. das italienische Elfenbeinrelief von ca. 400 im Bayrischen Nationalmuseum München). Doch sogar Darstellungen wie die von van Eyck, welche die Frauen nicht bei der Ankunft an einer Ädikula, sondern bei einem Sarkophag zeigen, vollziehen bereits die Ersetzung des Tempels durch die Kirche. Denn wenn die Frauen keine Höhle im Felsen besuchen, wie es der Text beschreibt, sondern ein sauber in den Stein geschla- genes Grab mit einem Deckel, dann weist dies voraus auf den konstantinischen Bau im Jahre 335: sowohl auf die Ädikula über dem Grab als auch auf die stolze Kuppel oder Rotunde, auf die Anastasis, auf verschachtelte Strukturen, die zusammen als Modelle für ein endloses, räumlich und zeitlich erweitertes Gewebe von Kirchen, Ädikulen, Reliquiaren und Altären dienen werden. In van Eycks Bild nehmen verspätete Ankunft und Verwunderung der Frauen den verblüfften Betrachter vorweg, der sich diesem Bild auf der Suche nach dem Ursprung christlichen Bauens nähert, hier aber kein Fundament, sondern nur eine Wiederholung findet. Es ist sogar noch komplizierter. Denn indem van Eyck den Tempel portraitiert, portraitiert er ebenso den Felsendom, den oktogonalen Schrein, der vom fünften Umayyaden-Kaliph Abd-al-Malik 691 an der Stätte des Abraham-Felsens auf dem Tempelberg erbaut wurde, und damit auch an dem Ort, so war zumindest der Glaube, an dem einst der Salomonische Tempel gestanden hatte. Trotz der Autorität der Schrift und der exegetischen Tradition, die einen rechte- ckigen Archetypen beschreiben und trotz des Wissens, dass der Tempel durch Kaiser Titus 70 v.Chr. zerstört worden war, beschreiben viele christlichen Besucher des Mit- telalters den Felsendom mit seinem zylindrischen Kuppelunterbau (fälschlicherweise polygonal in van Eycks Darstellung) und seinem hemisphärischen Kuppelgewölbe als den biblischen Tempel. Während der Kreuzfahrerbesetzung Jerusalems, die bis 1187 anhielt, wurde der Felsendom zum Pilgerziel und als Templum Christi ange- priesen, als Stätte der Darstellung Christi, der Beschneidung, des Disputs mit den Schriftgelehrten, der Austreibung der Wechsler etc. Es war die Stätte dieser Ereig- nisse. John Mandevilles Reisen aus dem 14. Jahrhundert machten im Felsendom den Wiederaufbau des jüdischen Tempels „in derselben Art, wie Salomon ihn erbaute“
24 Christopher S. Wood aus, der von Kaiser Hadrian (!) unternommen worden sein soll. Van Eyck war nicht der erste, der den Unterschied zwischen der Moschee und dem Salomonischen Tempel verschwimmen ließ. Er wollte einen Eindruck von Treue gegenüber uralten Traditionen vermitteln. Die ursprüngliche Geste des Bildes, seine Wiederentdeckung alter Ikonographie, ist eine der Aufmerksamkeit gegenüber einer bildlichen Tradition mit starken Ansprüchen auf Echtheit und Alter. Das verankert die neuere Malerei wieder in halbvergessenen Traditionen. Der historische Kontext von van Eycks Hinweis auf Alter und Wiederholung ist im späten 14. und frühen 15.Jahrhundert die Entwicklung der mechanisierten und halbmechanisierten Reproduktion von Bildern: Fließbandproduktionen von Tafelbil- dern; Abformen und Gießen von Statuen; auf Papier gedruckte Bilder aus Tinte. Diese neuen Technologien stellten Versuche dar, jene Prozesse der Überlieferung und des Ersetzens zu rationalisieren, die die christliche Bildsprache zusammenhielt und sie an ihre Ursprünge band. Die Herstellung eines Vielfachen bedeutete im Prinzip nicht die Destabilisierung des sakralen Bildes. Die mechanische Reproduktion des Bildes erweiterte bloß die Verweisketten, und das zuverlässiger als es manuelle Anfertigung vermocht hätte.19 Van Eyck war selbst interessiert an der Behauptung einer Stabilität trotz Wandels, die die östliche Ikone erhoben hatte. Er malte Bilder des Heiligen Antlitzes, deren Geste mit ihrer Unterdrückung des individuellen Schöpfertums des Künstlers auf die byzantinische Tradition der Bilderschaffung verwies. Der Druck, der Guss, die nachgemachte Ikone bildeten in jenen Jahrzehnten den vorherrschenden Kontext, in dem über das sakrale Bild nachgedacht wurde. Die Tiefenachse des Bildes – also von vorn nach hinten – ist das Diagramm eines Arguments: Es ist das singuläre, handgemachte Bild als Erwiderung auf die Kopie, das Produkt des Künstler-Autors als eine neue Art von Einheit. Van Eyck entwickelte eine die Sinne täuschende Rhetorik der Simulation von Wahrnehmungen, mit dreifachem Effekt: erstens, das Bild schien wirklicher als die erlebte Wirklichkeit und versuchte so vielleicht eine Ahnung des Wesens der Dinge, des Aussehens der himmlischen Wirklichkeit anzubieten; zweitens, die Rhetorik des treuen Abschreibens der Wirklichkeit schien mit der Sorge um die erfolgreiche Übertragung der Urbilder kompatibel zu sein; drittens, gerade der Erfolg der Bilder bei der Verschleierung des Prozesses der eigenen Produktion wird schließlich van Eyck selbst zugeschrieben und wird die Basis seines Ruhms. Entlang einer Achse des Bildes (der vertikalen) wird die Reproduktion figuriert, entlang einer zweiten Achse (der frontalen) wird die singuläre künstlerische Perfor- manz figuriert, aber gleichzeitig als Reproduktion verhüllt. In beiden Fällen geht es um die numerische Kategorie des Einen. Die architektonische Ersetzung, die Kopie, das Vielfache sind alle völlig verein- bar mit der traditionellen Obsession der Echtheit und des korrekten Verweisens. Im Vielfachen werden wir aber nicht die Pluralität vorfinden, nach der wir suchen. Die ganze Herausforderung – und das Konzept dieses Buches macht dies klar – ist: Wie kann man durch die ‚falsche‘ Pluralität des Vielfachen zu jener ‚wahrhaftigeren‘ Pluralität gelangen, die durch Kunstgeschichte und Kunsttheorie unterdrückt wird (aber auch nicht unbedingt die multiplicité von Deleuze ist?
Das Bild ist immer schon plural 25 Diese Pluralität werden wir auf der dritten, horizontalen Achse des Bildes finden. Diese Pluralität problematisiert die eins-zu-eins- oder referentielle Grundlage für die Theorie des Bildes, denn sowohl ersetzende Bau- als auch Reproduktionstechnolo- gien waren mit dem Ziel der Bekräftigung entworfen. Sie problematisiert ebenso das System der Zeugenschaft, das Martyrologium, auf dem das Christentum errichtet ist: Denn ein System der Zeugenschaft oder Überlieferung spricht gegen eine wahre Pluralität der Bilder. Die Bezeugung bezeichnet genau den Zwang zur Stabilisierung und Minimierung des Drehs, welcher der Vermittlung innewohnt. Entlang der horizontalen Achse von links nach rechts folgen wir keiner verläss- lichen Kette von Wiederholungen, sondern einem unsicheren Pfad von Beobach- tungen und Berichten. Entlang dieser Achse finden sich genügend Gelegenheiten zum Irrtum – und zur Kreativität. Der Künstler van Eyck berichtet über das ganze Geschäft. Sein Gemälde ist ein Bericht über eine Beobachtung. Er tut uns kund, dass die Frauen durch das, was sie hören, verwundert sind. Sie vergleichen den Bericht des Engels mit möglichen rationalen Erklärungen für das Verschwinden des Leibes: eine Grabesplünderung durch Fremde, die auf der Suche nach Wertgegenständen waren oder ein Diebstahl des Leibes durch die Anhänger Christi, entweder um der Entweihung des Grabes durch Fremde vorzukommen oder um eine Wiederauferste- hung vorzutäuschen. Der Engel ist ein Phantom; es ist schwer an seine Wirklichkeit zu glauben, noch schwieriger an die Wahrheit seiner Worte. Es wird keine Reliquie Christi geben, sagt der junge Mann, keinen Leichnam, um die Geschichten zu stützen, die von ihm erzählt werden. Der Leichnam wäre das Bild, das jeder will – physisch, unwiderlegbar. Die einzigen legitimen christlichen Bilder waren die allerersten: der Leichnam am Kreuz, der Leichnam auf dem Schoße der Jungfrau Maria. Seitdem haben wir nichts als unzuverlässige Phantome – und gemalte Ikonen, die möglicher- weise noch unzuverlässiger sind. Der phantomhafte Engel – und die Bibel zerstreut jeden Zweifel, indem sie ihn als „jungen Mann“ beschreibt – berichtet von einem ins Leben zurückgekehrten Leichnam – einem belebten Bild! – der selbst umherwandern und die Menschen davon überzeugen muss, dass er wirklich ein Leib und nicht bloß ein Phantom ist. Der junge Mann steht für Christus ein – er hält einen Stab aufrecht wie der aufer- standene Christus. Er ist ein ‚Engel‘, wortwörtlich ein Botschafter. Van Eyck bietet den Engel als seine wahrscheinlich vorherrschende Metapher für das Kunstwerk an: Das Werk wird nun der Botschafter sein, dessen Aufgabe es ist, für die fehlende Reliquie der Christusreliquie einzustehen und davon zu berichten; ein Botschafter, der erklärt und voraussagt. Dieses Bild hat seine Arbeit zu leisten in der Zeit, es erkennt die Dimension der Zeit als Wagnis an, auf eine Art, wie es die vollkommene Wiederholung, die von der Achse Tempel/Felsendom/Grab/Rotunda figuriert wurde, nicht vermochte. Der Engel stellt einen Entzug des religiösen Bildes in die Eigenge- setzlichkeit, in die Autonomie hinein dar, in Mehrdeutigkeit oder Kryptologie. Die drei Frauen setzen sich mit dem Engel auseinander. Dies ist die Pluralität, nach der wir suchen. Das Gemälde ähnelt einer einheit- lichen Tafel, einem bildhaften Text aus einer späteren Periode. In der Tat ist es eine Ansammlung verschachtelter Bilder: das Bild Christi verschachtelt im Bericht des
26 Christopher S. Wood Engels, welcher der Welt kundgetan wird durch den Bericht der Frauen; alle darge- stellt durch ein Bild, ausgedacht vom Künstler, der aus einer Familie historischer Bilder zusammengetragen und ausgewählt hat. Dies ist die Hierarchie-Störung, die Mehrdeutigkeit der Rahmen, die wir zuvor ausgemacht haben. Die Hierarchie des Einen und Vielen ist zwar nicht so deutlich schematisch dargestellt wie in einem mehrfach getafelten Retabel, aber die Struktur ist dieselbe. Eigentlich wissen wir gar nicht, wo das Bild aufgehört hat und wohin der Rahmen fiel. In der unteren rechten Ecke sind Ausläufer von goldenen Strahlen zu sehen, Abb. 8: Filippo Lippi, Gastmahls des Herodes, ca. 1460. Prato, Dom von denen man erwarten würde, dass sie von einem auferstandenen Heiland aus- gingen, der zur Rechten stand.20 Die Speere und Felsen reimen sich gleichsam auf die Strahlen. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Bild beschnitten wurde und dass die Szene am Grab ursprünglich die Bildfläche und den fiktiven Raum mit dem Auferstandenen zu teilen hatte, nur dass die Strahlen und das Wappen sich auf einer Firnisschicht befinden. Es ist verwirrend. Wenn der Auferstandene denn in der Tat weiter rechts stand, dann gehört dieses Bild zu der wenig verstandenen Kategorie der Simultanbilder des 15. Jahrhunderts: Hans Memling in den Niederlanden; Fra Angelico, Benozzo Gozzoli, Sandro Botticelli, Piero della Francesca, und Filippo Lippi in Italien; z.B. das Fresko des Gastmahls des Herodes des letztgenannten Künstlers, im Dom von Prato, in dem Salome dreimal erscheint (Abb. 8).21 Das Simultanbild wurde durch die lineare Perspektive ermöglicht, mit ihrer Kontrolle über den bildlichen Raum. Aber zugleich untergräbt es die Logik der Per- spektive: Denn Perspektive impliziert Vereinigung von Zeit und Raum. Die Frauen teilen sich einen fiktiven Raum und eine fiktive Zeit mit dem Auferstandenen, aber
Das Bild ist immer schon plural 27 aus irgendeinem Grund sind sie nicht dazu in der Lage, über die Nische des bildlichen Raumes, die sie mit dem Grabmal und dem Engel teilen, hinauszuschauen und Ihn zu sehen. Van Eyck konstruiert einen Erfahrungsraum und füllt diesen mit einem Narrativ, das nicht mehr erfahrbar ist. Die Künstler des 15.Jahrhunderts, die – wider den Strom ihrer Zeit – mit dem Simultanbild experimentieren, so wie Memling und Antoniazzo Romano, sind oft Künstler mit einem ambivalenten Verhältnis zu Urheberschaft und Autorschaft. Indem sie ein archaisches Modell der Bildherstellung aufnehmen oder besser simulieren, verdecken sie ihren eigenen Willen und ihr Handeln als Urheber. Und doch erwecken ihre Simultanbilder paradoxerweise ein starkes Gefühl, dass ‚jemand da ist‘, dass ein Strippenzieher außerhalb und über der Pluralität der Bilder steht und Entscheidungen trifft, und dabei die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, alles auf einmal, klar im Blick hat.22 Das Simultanbild reaktiviert die vormoderne Struktur vom Ganzen und den Teilen, vom Enthalten des Rahmenwerkes und von der darin enthaltenen Pluralität von Bildern. Die Perspektive ‚ikonisierte‘ den Komplex des Bildes, verstrickte ihn mit dem einzelnen Bild; das Simultanbild reißt die Bilder wieder auseinander. Die Simultanbilder sind ideale Beispiele für die Hierarchie-Störung: Das Bild befindet sich im Vollzug; es ist daran, sich als eine neue Einheit zu konstituieren, deren perspektivische Verdichtung von Raum und Zeit das eigentliche Symbol des textuellen Status des Bildes ist, die semantische Homogenität und die Dichte, die wir als das Kriterium des modernen Kunstwerkes ausgemacht haben. Indem es Szenen, die an verschiedenen Stellen in Raum und Zeit stattfinden, in einer einzigen Nische von Zeit und Raum darstellt – was unmögliche Verdopplungen der Charaktere nach sich zieht – signalisiert das Bild seine eigene Weigerung, sich der einen oder anderen Fassung seiner selbst zu verpflichten. Es weigert sich zu zeigen, wohin der Rahmen fällt, ob die wesentliche Einheit die Episode ist, oder das gesamte Bild. Van Eycks Gemälde vertritt die Position, dass alle Bilder Christi aus dem Gedächtnis hervorgebracht wurden, nicht aus dem Leben; und dass Bilder ohnehin, auch wenn sie nach dem Leben gearbeitet sind, nur einen Standpunkt reflektieren, einen Gesichtspunkt zu diesem Thema. Die Perspektive, die man gegenüber Christus einnahm, war alles. Sie hing vom Zufall ab, von einem bedingten Erspähen des auferstandenen Leibes. Nur die Engel erfreuen sich am unbedingten, nicht kontingenten Anblick der Dinge. Viele Bilder jener Epoche thematisieren den Unterschied zwischen dem Vielfa- chen, in der Tat dem Unendlichen, des menschlichen Standpunktes einerseits und der Einheit der Engelsperspektive andererseits: die ‚Kreuzigung mit Gedräng’ zum Beispiel. Denken wir über den Kalvarienberg des Meisters der hl. Veronica nach, mit seinen hektisch querschlagenden Blicken, pulsierenden Vektoren des Bewusstseins, dem Zusammenbruch von Gemeinschaft und Harmonie (Abb. 9). Ein Mann ist’s zufrieden, ein anderer schmerzverzerrt und wieder ein anderer gleichgültig. Das Bild bietet alle seine ordnenden Kräfte auf, um genau dieses Vielfache an Meinungen zu relativieren, das es so brillant zur Schau stellt: Das Bild will von seinem Betrachter, dass er ob der Versuchung zu divergieren ins Taumeln gerät und diese schließlich doch überwindet.
28 Christopher S. Wood Die assunzione, die Himmelfahrt der Jungfrau, ein Thema, das in Florenz und Siena im späten Trecento sehr prominent ist, thematisiert ebenfalls die Opposition zwischen dem Vielfachen und dem Einen. Das Mittelbild des Retabels von Taddeo di Bartolo in Montepulciano ist ein schönes und bekanntes Beispiel, nicht zuletzt wegen des bemer- kenswerten Selbstportraits des Malers unter der Aposteln (Abb. 10). Jene Apostel, die angesichts des leeren Grabes sinnieren, sind verwirrt und um eine Erklärung verlegen. Die Verwirrung ist der generelle Lebenszustand unter den Menschen. Die Engel oben sind angeordnet in symmetrischen Reihen und können nichts als die Wahrheit sehen. Abb. 9: Meister der Hl. Veronica, Der kleine Kalvarienberg, ca. 1400. Köln, Wallraf-Richartz-Museum
Das Bild ist immer schon plural 29 Abb. 10: Taddeo di Bartolo, Polyptych mit Mariä Himmelfahrt,ca. 1400, Detail. Montepulciano, Duomo
30 Christopher S. Wood Malerei ist hier das Ringen, jene ungestüme Kaskade der generierten Bilder, die Erfahrung ausmacht, zu versammeln. Malerei – allgemeiner: das verfertigte oder externe Bild – offenbart hier ihre eigenen Grenzen. Ein Gemälde kann nie alle verschiedenen Ansichten der Dinge abbilden. Es kann nur die Menschen darstellen, die unterschiedliche Ansichten der Dinge hegen, es stellt die Tatsache der endlosen Pluralität dar. Zuletzt wird das Bild, ein künstlich abgeschlossenes und gestilltes Wesen, immer für Einheit plädieren. Im Spätmittelalter und der Frührenaissance baut es dieses Plädoyer auf der Mär des integrierten Bewusstseins und der vorgefassten Erwartungshaltung des Betrachters auf. Das Gemälde bietet seine fest verzahnte Form als ein Symbol und als ein Modell einer heldenhaft erarbeiteten und vereinten andächtigen Aufmerksamkeit an, und einer theologischen Orthodoxie. Das Selbst, welches das Gemälde betrachtet, erfreut sich einer klaren Sicht auf alles: den Himmel, die Erde, die Engel und die Mitmenschen mit ihren verfehlten Perspektiven. Der Betrachter des Bildes ist der Beobachter der Beobachter, er ist der Meta-Beobachter, der seinerseits dem neuen Gemälde seine Integrität und seine Unabhängigkeit vom Kontext verleiht. Aber wenn wir wissen, wo wir zu nachzuspüren haben, werden wir die verbor- genen Nähte des Bildes ertasten und so ein Nachbild des ursprünglichen Lebens des europäischen Bildes inmitten der Kollektive der Bilder zutage fördern. Anmerkungen 1 Die deutsche Fassung dieses Aufsatzes ist überwiegend die Leistung von Marc Petersdorff und den Herausgebern. 2 Roberto Calasso, Ka, New York 1998, 259. 3 Vgl. Henri Bergson, Matter and Memory, New York 1988, 17–19, 25 und 35-38; Mark B. N. Hansen, New Philosophy for New Media, Cambridge, Mass. 2004, 3–13. 4 Benedetto Croce, Breviario di estetica: Quattro lezioni (1913), Bari 1969, 35: “ciò che si chiama immagine è sempre nesso d’immagini, non esistendo immagini-atomi, come non esistono pensieri- atomi.” 5 “The understanding is not much unlike a closet wholly shut from light, with only some little openings left, to let in external visible resemblances, or ideas of things without: would the pictures coming into such a dark room but stay there, and lie so orderly as to be found upon occasion, it would very much resemble the understanding of a man, in reference to all objects of sight, and the ideas of them.“ John Locke, Essay on Human Understanding (1690), II. xi. 17. Zitiert nach: John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, übers. von C. Winckler, 4. Aufl., Hamburg 1981, Bd. 1, 185 6 „La multiplicité dépassant le multiple non moins que l’Un, dépassant la relation prédicative de l’Un et du multiple.“ Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Oedipe, Paris 1972, 50, dt. Übersetzung zitiert nach: Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, übers. von Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1974, 54. Deleuze/Guattari fahren fort: „La production désirante est multiplicité pure, c’est-à-dire affirmation irréducible à l’unité.“ (ebd.). 7 Jacques Rancière, Le destin des images, Paris 2003. 8 New York, Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr. 06.1211.1-9. 9 New York, Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr. 17.190.173a, b. 10 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Mille Plateaux, Paris 1980, 13: „Il faut le faire, non pas en ajoutant toujours une dimension supérieure, mais au contraire le plus simplement, à force de sobriété, au
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