Das Produktivitätsparadoxon der unternehmensbezogenen Dienstleistungen
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FORSCHUNGSERGEBNISSE Philip Flegler und Hagen Krämer* Das Produktivitätsparadoxon der unternehmensbezogenen Dienstleistungen IN KÜRZE hinweg sogar einen Rückgang der Arbeitsproduktivi- tät zu verzeichnen. Die freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen PRODUKTIVITÄTSRÜCKGANG TROTZ Dienstleistungen wiesen in Deutschland im Zeitraum von DIGITALISIERUNG 1991 bis 2018 im Vergleich zu allen anderen Wirtschaftsbe- Unter einem negativen Produktivitätswachstum wird reichen nicht nur das niedrigste Wachstum der Arbeitspro- hier verstanden, dass die geleistete reale Bruttowert- duktivität auf. Besonders erstaunlich ist, dass die Arbeits- schöpfung je Erwerbstätigen beziehungsweise je Er- produktivität dieses Wirtschaftsbereichs in diesem Zeitraum werbstätigenstunde zurückgeht. Dies ist vor allem sogar zurückging. Angesichts des technischen Fortschritts angesichts der Tatsache erstaunlich, dass die unter- muss dieser Befund erstaunen. In diesem Beitrag werden ei- nehmensbezogenen Dienstleister eine Vorreiterrolle nige mögliche Erklärungen für dieses Phänomen diskutiert. bei der Digitalisierung einnehmen. Jorgenson und Timmer (2011, S. 25) stellen in diesem Sektor eine im Vergleich zu anderen Branchen sehr intensive Nut- Die Digitalisierung ermöglicht den Unternehmen zung von IKT fest, und die OECD (2019, S. 181) klas- durch neue Informations- und Kommunikationstech- sifiziert den Abschnitt M als »high digital-intensive nologien (IKT) andersartige Formen der Kundeninter- sector«. Dies lässt den Befund negativer Wachstums- aktion und der Prozessorganisation. Dazu gehören raten der Arbeitsproduktivität bei den unternehmens- beispielsweise Real-time-Collaboration, Videokon- bezogenen Dienstleistungen in einem paradoxen Licht ferenzen, Systeme für das Enterprise Resource Plan- erscheinen. Diesem speziellen Produktivitätspara ning, das Customer-Relationship-Management oder doxon ist bisher erst wenig Beachtung geschenkt das E-Business. Man würde allgemein erwarten, dass worden. Genau wie beim allgemeinen Produktivitäts die freiberuflichen, wissenschaftlichen und techni- paradoxon besteht über seine Ursachen in der Lite- schen Dienstleister, die vom Statistischen Bundesamt ratur bisher keine Einigkeit.1 in der Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 2008) Dass innerhalb des gesamten Dienstleistungssek- in Abschnitt M (vgl. Tab. 1) zusammengefasst und im tors ein größtenteils sehr schwaches Produktivitäts- Folgenden verkürzend auch als »unternehmensbezo- wachstum gemessen wird, wird dagegen seit länge- gene Dienstleister« bezeichnet werden, Vorteile aus rem auch international intensiv beobachtet und ana- diesen Entwicklungen ziehen und ihre Tätigkeiten lysiert (z.B. Baily und Gordon 1988; Sorbe et al. 2018). und Prozesse produktiver gestalten würden. Dies gilt Auch in Deutschland wird diesem Thema eine große umso mehr, als dass hier zahlreiche höher qualifi- Aufmerksamkeit gewidmet (Ademmer et al. 2017; zierte, wissensintensive Dienstleistungstätigkeiten Falck und Wölfl 2018). Die Abbildungen 1 und 2 zeigen erbracht werden, die von den Möglichkeiten der Di- die Entwicklung der Arbeitsproduktivität seit 1991 gitalisierung eigentlich besonders profitieren sollten in ausgewählten Wirtschaftsbereichen in Deutsch- (Sorbe et al. 2018, S. 27 f.). Tatsächlich jedoch ist der land. Die Arbeitsproduktivität der wirtschaftsnahen Wirtschaftsabschnitt M nicht nur der Wirtschafts- Dienstleister (Abschnitte G bis N) ist zwischen 1991 zweig mit dem niedrigsten Wachstum der Arbeits- und 2018 um etwas mehr als 31% gewachsen. Da- produktivität zwischen 1991 und 2018 in Deutschland, mit lag ihr Wachstum unter dem Durchschnitt aller sondern er hatte darüber hinaus über längere Phasen 1 Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das auch in einigen anderen Ländern aufgetreten ist. Hartwig und Krämer (2019) stellen bei einer Untersuchung der G-7-Länder unter Verwendung von EU- * Philip Flegler (M.Sc., W.-Ing.) ist Referent für Technologieförde- KLEMS-Daten fest, dass bei den »Business Services« (NACE code M-N) rung im Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesent- neben Deutschland auch in Frankreich und in Italien das durch- wicklung und Energie. Der Autor vertritt seine persönliche Meinung. schnittliche jährliche Wachstum der totalen Faktorproduktivität im Prof. Dr. Hagen Krämer ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Zeitraum von 1981 bis 2015 negativ war. Zum Rückgang der Arbeits- Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Karlsruhe. produktivität bei den Unternehmensdienstleistungen in weiteren Wir bedanken uns bei Arno Brandt, Jochen Hartwig und Anita Wölfl europäischen Ländern im Zeitraum von 2000 bis 2007 siehe SVR für ihre hilfreichen Anmerkungen und Kommentare. (2015, S. 299). 38 ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021
FORSCHUNGSERGEBNISSE Tab. 1 Erbringung von freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen (Wirtschaftsabschnitt M) Klassifikation (WZ 2008) Wirtschaftszweige Anteil an der Bruttowert- Anteil an der Beschäftigung schöpfung von Abschnitt M von Abschnitt M (in %), 2017 (in %), 2017 MA WZ 69 Rechts- und Steuerberatung, Wirtschaftsprüfung WZ 70 Verwaltung und Führung von Unternehmen und 48,6 49,0 Betrieben, Unternehmensberatung WZ 71 Architektur- und Ingenieurbüros; technische, 23,8 26,3 physikalische und chemischen Untersuchung MB WZ 72 Forschung und Entwicklung 13,1 7,7 MC WZ 73 Werbung und Marktforschung 7,0 8,7 WZ 74 Sonstige freiberufliche, wissenschaftliche und technische Tätigkeiten 7,5 8,3 WZ 75 Veterinärwesen Quelle: Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen – Inlandsproduktberechnung, Detaillierte Jahresergebnisse: Endgültige Ergebnisse, Fachserie 18 Reihe 1.4, Wiesbaden 2019c; Berechnungen der Autoren. Wirtschaftsbereiche (etwa 44 %). Mit rund 86% nahm trifft wie die Abbildung zeigt mit einer Ausnahme alle dagegen die Arbeitsproduktivität im produzierenden Wirtschaftszweige dieses Wirtschaftsbereichs. Beson- Gewerbe in diesem Zeitraum deutlich stärker zu ders stark ist die Produktivität in den 1990er Jah- (vgl. Abb. 1). ren in den beiden Wirtschaftszweigen »Werbung und Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, ist die Arbeits- Marktforschung« sowie »freiberufliche, wissenschaftli- produktivität in den die Abschnitte G bis N umfas- che und technische Dienstleistungen, Veterinärwesen« senden Wirtschaftsbereichen des Dienstleistungs- geschrumpft. Eine Ausnahme stellt der Wirtschafts- sektors langsamer gewachsen als im Produzierenden zweig »Forschung und Entwicklung« dar, dessen Gewerbe. Die einzige Ausnahme hiervon stellt der Wirtschaftsbereich »Information und Kommunikation« Abb. 1 (Abschnitt J) dar, in dem die Arbeitsproduktivität Preisbereinigte Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde zwischen 1991 und 2018 um über 180% gestiegen Produzierendes Gewerbe (B-E) ist. Besonders aber sticht hervor, dass in zwei Wirt- Baugewerbe (F) Index 1991 = 100 schaftsbereichen ein Rückgang der preisbereinigten Wirtschaftliche Dienstleistungen (G-N) 200 Alle Wirtschaftsbereiche (A-T) Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde aufge- 180 treten ist: So war bei den in diesem Beitrag im Mit- telpunkt stehenden »freiberuflichen, wissenschaftli- 160 chen und technischen Dienstleistern« (Abschnitt M) 140 die Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde 120 im Jahr 2018 um mehr als ein Drittel kleiner als im Jahr 1991. Beim anderen Wirtschaftsbereich mit ei- 100 nem Rückgang der Arbeitsproduktivität handelt es 80 sich um den Abschnitt N (sonstige wirtschaftliche 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 Dienstleistungen), in dem der Rückgang mit etwa 13% Quelle: Statistisches Bundesamt (2019c); Berechnungen der Autoren. © ifo Institut jedoch längst nicht so hoch ausfiel wie in Abschnitt M. Hervorgehoben zu werden, verdient auch die Tat- Abb. 2 sache, dass die Arbeitsproduktivität in Abschnitt M Preisbereinigte Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde bis etwa zum Jahr 2009 relativ kontinuierlich ge- Wirtschaftsnahen Dienstleistungen schrumpft ist und dass das Produktivitätsniveau Handel (G) Finanz- und Versicherungsdienstleister (K) Verkehr, Gastgewerbe (H-I) Freiberufl., wiss. u. techn. Dienstleister (M) hier seitdem in etwa konstant blieb. Das Phäno- Information und Kommunikation (J) Sonstige wirtschaftl. Dienstleister (N) men, dass die Arbeitsproduktivität bei den unter- Index 1991 = 100 300 nehmensbezogenen Dienstleistungen fast zwei Jahr- zehnte lang trendartig gefallen ist und sich seitdem 260 nicht wieder erholt hat, ist ebenso ungewöhnlich wie 220 erklärungsbedürftig. 180 In einem ersten Schritt kann es hilfreich sein, die 140 verschiedenen Wirtschaftszweige im Abschnitt M ge- nauer zu betrachten. Dazu werden die unternehmens- 100 bezogenen Dienstleister innerhalb des Abschnitts M 60 in Abbildung 3 in sieben Wirtschaftszweige unterglie- 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 dert. Das Phänomen negativer Wachstumsraten be- Quelle: Statistisches Bundesamt (2019c); Berechnungen der Autoren. © ifo Institut ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021 39
FORSCHUNGSERGEBNISSE Abb. 3 Strukturerhebung im Dienstleistungsbereich im Jahr Preisbereinigte Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenᵃ 2000 und der Statistik der Erzeugerpreise für Dienst- Wirtschaftszweige des Abschnitts M leistungen im Jahr 2003 diesbezüglich große Fort- Freiberufl., wissenschaftl. u. techn. Dienstleister (M) Rechts- u. Steuerberatung, Unternehmensberatung (WZ 69, 70) schritte erbracht. Ein wichtiger Fortschritt ist, dass die Architektur- u. Ing.büros; techn. Untersuchung (WZ 71) jeweiligen Inputgrößen im Zuge der Weiterentwicklung Forschung und Entwicklung (WZ 72) Werbung und Marktforschung (WZ 73) der Messkonzepte weiter differenziert werden konn- Index 1991 = 100 120 Freiberufl., wiss., techn. DL a.n.g., Veterinärwesen (WZ 74, 75) ten. So werden diese nun nach IKT- und Nicht-IKT-An- lagen bzw. nach den Kategorien Ausrüstungen, Bauten 100 und sonstige Anlagen unterschieden. Dadurch lässt sich die Produktivität auch bei den »freiberuflichen, 80 wissenschaftlichen und technischen Dienstleistern« 60 besser als früher bestimmen. Zudem kann auch dank der Strukturerhebung im Dienstleistungsbereich und 40 der Erfassung der Erzeugerpreisindizes die reale Wert- 20 schöpfung genauer als zuvor gemessen werden. 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 Eine besondere Herausforderung für die Messung ᵃ Im Unterschied zu Abbildung 1 wurden in Abbildung 3 Angaben zur preisbereinigten Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigen verwendet, da auf der Ebene der Wirtschaftszweige keine disaggregier ten Daten zu Arbeitsstunden der Produktivität stellen neue Güter dar, die im Zuge vorliegen. Die entsprechenden Daten liegen aktuell bis 2017 vor. der Digitalisierung entstanden sind, und von denen et- Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen der Autoren. © ifo Institut liche als digitale Dienstleistungen kostenlos über das Internet angeboten werden. Diese sogenannten Free Produktivitätsniveau zwischen 1991 und 2018 unter Online Services umfassen beispielsweise Suchmaschi- gewissen Schwankungen weitgehend konstant geblie- nen, Vergleichsportale, soziale Netzwerke, Lexika, Na- ben ist.2 vigationssysteme, Lernvideos und vieles anderes mehr (vgl. Clement et al. 2019). Diese Dienste erhöhen in ZUR RELEVANZ VON MESSFEHLERN der Regel die Konsumentenrente, gehen aber nicht in die gemessene Wertschöpfung ein. Allerdings würde Zur Erklärung des Produktivitätsparadoxons bei gemäß einer Untersuchung von Nakamura et al. (2017) Dienstleistungen wurden zahlreiche Ansätze entwi- auch die Einbeziehung der hierdurch entstehenden ckelt, über die allerdings keine Einigkeit besteht. Eine Konsumentenrente das Bruttoinlandsprodukt allen- häufig genannte Ursache bezieht sich auf mögliche falls minimal erhöhen. Ademmer et al. (2017, S. 48–49) Fehler bei der Messung der Produktivität von Dienst- gehen ebenfalls nicht davon aus, dass die gesamt- leistungen (vgl. Oulton 1999; Hartwig 2008; Ahmad wirtschaftliche Produktivität in Deutschland durch et al. 2017; IMF 2018). Die Produktivitätsmessung ist das Aufkommen neuer digitaler Güter systematisch im Dienstleistungssektor schwieriger als in anderen nach unten verzerrt wird. Sektoren, was nicht zuletzt mit dem immateriellen Welchen Beitrag mögliche Messfehler bei der Er- Charakter der Dienstleistungsproduktion zu tun hat mittlung des Produktivitätsfortschritts von Dienstleis- (Wölfl 2005). Auch die häufig notwendige Interaktion tungen spielen, ist nach wie vor umstritten. Während zwischen Dienstleistungserbringer und Dienstleis- beispielsweise Oulton (2016, S. 72), den Rückgang der tungsempfänger erschwert die Zurechnung und damit totalen Faktorproduktivität von »Business Services«, die Messung der Wertschöpfung. Aufgrund geringe- den die EU-KLEMS-Daten ausweisen, im Wesentli- rer Standardisierungsmöglichkeiten ist die Dienstleis- chen auf Messfehler zurückführt, weisen Timmer et tungsproduktion häufig heterogen und die individuelle al. (2010, S. 87 ff.) auf weitere Faktoren hin, die grund- Ausprägung einer einzelnen Dienstleistung daher nicht sätzlich ebenfalls dazu führen können, dass sowohl immer leicht zu bestimmen. Dies erschwert es, Qua- das Wachstum der totalen Faktorproduktivität als lität und Quantität voneinander zu trennen und die auch das der Arbeitsproduktivität negativ wird. Dazu jeweiligen Einheiten der Dienstleistungsproduktion gehören kostenintensive organisatorische Umgestal- korrekt zu bepreisen. Fraglos steht daher die amtliche tungen in den Unternehmen, Veränderungen von nicht Statistik bei der Messung der preisbereinigten Wert- gemessenen Inputs (z.B. F&E), Abweichungen von der schöpfung von Dienstleistungen vor ungleich größeren neoklassischen Annahme, dass die Grenzkosten den Herausforderungen, als dies bei physischen Gütern Grenzerlösen entsprechen, Änderungen der Skalen der Fall ist. Eickelpasch und Erber (2015) zufolge hat erträge im Strukturwandel sowie die Umverteilung jedoch in Deutschland die Einführung der jährlichen von intrasektoralen Marktanteilen zwischen den Un- ternehmen. Für die USA zeigt eine Studie von Byrne, 2 Der Wirtschaftszweig »Forschung und Entwicklung« unterscheidet sich innerhalb des Abschnitts M in weiteren wichtigen Kenngrößen Fernald und Reinsdorf (2016), dass die gesamtwirt- von den anderen Wirtschaftszweigen dieses Bereichs. Dazu gehören schaftliche Abschwächung des Wachstums der Arbeits- sowohl die überdurchschnittliche Beschäftigtenzahl je Unterneh- men, die höheren Investitionen je Beschäftigten als auch das im Ver- produktivität tatsächlich aufgetreten ist und nicht gleich deutlich geringere Beschäftigungswachstum. Erwähnenswert etwa auf einer Zunahme von Messfehlern beruht. Auch ist ferner, dass sich die Methoden der Deflationierung aufgrund der besonderen Eigenschaften dieser Art von Dienstleistungen von de- Syverson (2017) weist die »mismeasurement hypo- nen in anderen Wirtschaftszweigen unterscheiden. thesis« für die USA nach einer gründlichen Prüfung 40 ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021
FORSCHUNGSERGEBNISSE zurück und hält die Verlangsamung des Produktivi- Produktivitätsfortschritte zu generieren, könnte ein tätswachstums für real.3 Indiz für die herausragende Bedeutung komplemen- Wir schließen uns im Folgenden der auch von tärer Investitionen sein. Dies soll im Folgenden am Hartwig und Krämer (2017, S. 100–101) vertretenen Beispiel der Steuerberatungsbranche näher erläutert Auffassung an, dass das zentrale Problem nicht in der werden. systematischen Untererfassung von Wertschöpfung und Produktivität von Dienstleistungen liegt. Ohne EFFEKTE DER DIGITALISIERUNG AM BEISPIEL DER die Messproblematik grundsätzlich in Abrede stel- STEUERBERATUNGSBRANCHE len zu wollen, stellt die Messfehlerhypothese für uns keine in toto überzeugende Erklärung für das spezielle Investitionen in Organisationskapital, also in maßge- Produktivitätsparadoxon der unternehmensbezoge- schneiderte Geschäftsmodelle und interne Produkti- nen Dienstleistungen dar. Schließlich liegt die beson- onsprozesse, sind die Voraussetzung für eine effiziente dere Herausforderung – das sei an dieser Stelle noch und produktive Nutzung technologischer Möglichkei- einmal hervorgehoben – nicht bei der Analyse der ten für die Unternehmen (Cardona et al. 2013, S. 122). Ursachen für eine Abschwächung des Produktivitäts- Zimmer und Ziehmer (2019) zeigen am Beispiel der wachstums, sondern in einer Erklärung für den über Steuerberatungsbranche, vor welchen Schwierigkeiten einen längeren Zeitraum aufgetretenen Rückgang der die Unternehmen hierbei stehen. Arbeitsproduktivität. Daher ist es notwendig, andere Erstens besteht gerade bei den Kunden der un- Erklärungsansätze zu entwickeln. ternehmensbezogenen Dienstleister eine gewisse Erwartungshaltung, dass ihnen im Zuge der Digita- ERKLÄRUNGSANSÄTZE FÜR DAS lisierung neue technologiebasierte Dienstleistungen PRODUKTIVITÄTSPARADOXON angeboten werden. In der Steuerberatungsbranche gilt dies beispielsweise für die digitale Buchhaltung. Zunächst einmal ist es wichtig festzuhalten, dass auf Diese muss jedoch bereits beim Mandanten begin- die Produktivitätsentwicklung der unternehmens- nen, der die Belege elektronisch erfasst und in einem bezogenen Dienstleistungen verschiedene Faktoren Standardformat an den Steuerberater übermittelt. einwirken. Auf der einen Seite bietet die Digitalisie- Es gibt entsprechende Programme, die eine optische rung mit ihrem großen Potenzial für verschiedenar- Zeichenerkennung ermöglichen. Allerdings mangelt tige Produkt- und Prozessinnovationen zahlreiche es an der Bereitschaft mancher Kunden, die Belege neue Möglichkeiten für die Leistungserbringung und selbst elektronisch zu erfassen. Diehm und Benzinger für die Optimierung interner und externer Unterneh- (2018, S. 841) ermitteln insbesondere bei kleinen und mensprozesse. Auf der anderen Seite hat bei den un- mittelständischen Unternehmen einen großen Nach- ternehmensbezogenen Dienstleistern im Laufe der holbedarf bei der digitalen Belegverwaltung. In bis wirtschaftlichen Entwicklung die Breite ihres Dienst- zu 40% der Unternehmen werden Papierrechnungen leistungsangebots sowie generell die Nachfrage nach nicht gescannt, und in knapp 70% der Unternehmen ihren Dienstleistungen stark zugenommen. Bei den werden keine OCR-Technologien zur automatisierten neuen Dienstleistungsangeboten handelte es sich Erfassung der Rechnungsdaten verwendet. Zudem ver- jedoch vielfach um Leistungen, die sich durch eine arbeiten nur etwa 40% der Unternehmen elektronisch höhere Arbeitsintensität auszeichneten. So ermitteln eingehende Rechnungen vollständig digital weiter. Für Jorgenson und Timmer (2011, S. 23) für den Zeitraum diese Kunden muss weiterhin die herkömmliche Buch- von 1980 bis 2005 bei den unternehmensbezogenen haltung praktiziert werden. Somit ist es notwendig, Dienstleistern eine Zunahme des Faktors Arbeit an zusätzlich zu den bisherigen Leistungen noch digitale der Leistungserstellung, was im Branchenvergleich Prozesse zu implementieren, um keine Wettbewerbs- eine Ausnahmeerscheinung darstellt. Zu derartigen nachteile zu erleiden und alle Kundengruppen errei- neuen Dienstleistungsangeboten, die mit einer höhe- chen zu können. Aus diesem Grund werden zusätzliche ren Arbeitsintensität verbunden sind, gehören seit der Ressourcen benötigt, ohne dass damit zwangsläufig Verbreitung des Internets ab Mitte der 1990er Jahre höhere Umsätze generiert werden können. beispielsweise der Aufbau und die Pflege von Unter- Zweitens ändern sich im Zuge der Digitalisierung nehmenswebseiten und andere digitale Angebote für die Kundenanforderungen. Besonders für unterneh- Kunden und Zulieferer. Noch wichtiger scheint uns mensbezogene Dienstleister, die häufig in einem en- allerdings zu sein, dass die neuen digitalen Angebote gen Kontakt mit ihren Kunden stehen, ist das mit be- komplementäre Investitionen in Geschäftsmodelle trieblichen Veränderungen verbunden, die zumindest und Infrastruktur nötig machen, die kurzfristig offen- teilweise Produktivitätsnachteile mit sich bringen kön- bar negative Effekte auf die Arbeitsproduktivität aus- nen. Eine zentrale Rolle spielt in dieser Hinsicht der üben. Dass die unternehmensbezogenen Dienstleis- sogenannte »Always-on«-Aspekt (Egner, 2018, S. 9). ter nicht vom technischen Fortschritt profitieren, um Viele Kunden setzen die ständige Erreichbarkeit auf unterschiedlichen digitalen Kanälen und die Präsenz 3 »The empirical burdens facing the mismeasurement hypothesis are heavy, and more likely than not, much if not most of the produc- auf Social-Media-Plattformen voraus. Wenn derartige tivity slowdown since 2005 is real« (Syverson 2017, S. 184). Kommunikationswege von den Kunden genutzt wer- ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021 41
FORSCHUNGSERGEBNISSE Abb. 4 STRUKTURELLE FAKTOREN Entwicklung der Beschäftigung nach Wirtschaftsabschnitten Produzierendes Gewerbe o. Baugewerbe (B-E) Finanz- und Versicherungsdienstleister (K) Ein weiterer Ansatz für die Erklärung des Rückgangs Baugewerbe (F) Freiberufl., wiss. und tech. Dienstleister (M) der Arbeitsproduktivität bei den unternehmensbezo- Handel, Verkehr, Gastgewerbe (G-I) Sonstige Unternehmensdienstleister (N) Information und Kommunikation (J) genen Dienstleistern liegt in bestimmten strukturellen Index 1991 = 100 Alle Wirtschaftsbereiche (A-T) Veränderungen, die sich in diesem Wirtschaftsbereich 300 in den letzten Jahrzehnten vollzogen haben. Paral- 260 lel zu den Umwälzungen durch den digitalen Wandel 220 ist in Abschnitt M die durchschnittliche Bruttowert- schöpfung je Unternehmen deutlich zurückgegangen. 180 Im Zeitraum von 2006 bis 2017 erhöhte sich zwar die 140 Anzahl an Unternehmen in diesem Wirtschaftsbereich. 100 Doch während die Anzahl an Unternehmen um 13,7% 60 wuchs, stieg die reale Bruttowertschöpfung dieses 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 Wirtschaftsbereichs im selben Zeitraum nur um 8,1%. Quelle: Statistisches Bundesamt (2019c). © ifo Institut Damit hat sich die durchschnittliche Wertschöpfung je Unternehmen um 5,1% reduziert (Statistisches Bun- den, erwarten diese in kürzester Zeit informative und desamt 2019b, 2019c). Erklärt werden kann dies durch kompetente Antworten. Dies erfordert einerseits eine die zahlreichen Neugründungen bzw. Neueintritte in Ausweitung des Dienstleistungsangebots, andererseits diesen Wirtschaftsbereich, die in Reaktion auf die kann jedoch der erhöhte Aufwand angesichts des ho- stark gestiegene Nachfrage nach unternehmensbe- hen Wettbewerbsdrucks und aufgrund bestimmter Re- zogenen Dienstleistungen erfolgten. Offenbar wiesen gulierungsvorschriften häufig nicht in höheren Preisen die neuen Unternehmen jedoch ein im Vergleich zu weitergegeben werden. Ähnlich wie es die Erfahrung den bereits existierenden Unternehmen geringeres mit produktbegleitenden Dienstleistungen in der In- Produktivitätsniveau auf, wodurch die durchschnittli- dustrie gezeigt hat (Lay und Jung Erceg 2002), ist es che Produktivität im Abschnitt M zurückgegangen ist.4 den unternehmensbezogenen Dienstleistern in der Hierzu könnten auch Auslagerungen von unterdurch- Praxis kaum möglich, digitale Services, die von vie- schnittlich produktiven Dienstleistungsfunktionen aus len Kunden schlicht als »Add-on« angesehen werden, dem Verarbeitenden Gewerbe beigetragen haben. gesondert in Rechnung zu stellen. Auf die Herausforderungen des digitalen Wandels Drittens erfordert der technische Fortschritt eine und den Nachfrageanstieg reagierten die unterneh- Anpassung interner Produktionsprozesse. Dabei spielt mensbezogenen Dienstleister zudem mit einer kräf- nicht nur die zeitliche Flexibilität der Beschäftigten tigen Ausweitung der Beschäftigung. Wie Abbildung 4 eine immer größere Rolle, sondern auch die Neuorga- zeigt, stieg die Beschäftigtenzahl in den Wirtschafts- nisation der Arbeitsprozesse. Die zeitliche und räum- abschnitten M und N im Zeitraum von 1991 bis 2018 liche Entkopplung der Arbeit bedarf einer stärkeren um mehr als das 2,5-fache. In keinem anderen Wirt- Formalisierung der Arbeitsprozesse, die bei der klassi- schaftsabschnitt in Deutschland ist in diesem Zeit- schen Arbeitsorganisation, in der die Beschäftigten in raum ein auch nur annähernd so großes Beschäfti- zeitlicher und räumlicher Präsenz arbeiten, in dieser gungswachstum aufgetreten. Laut Sachverständigen- Form nicht notwendig ist (Zimmer und Ziehmer 2019, rat (SVR 2019, S. 118) fand »im Zuge der zunehmenden S. 94). Während unter den klassischen Rahmenbedin- Bedeutung der Dienstleistungen der Beschäftigungs- gungen informelle Abstimmungen leichter möglich aufbau in den vergangenen Jahren zu großen Teilen sind, muss bei zeitlich entkoppelten Arbeitsprozessen in Bereichen statt (…), die eine relativ geringe Arbeits- stärker antizipiert, formalisiert und durch geeignete produktivität aufweisen«. Die starken Zuwächse in der IKT unterstützt werden. Dies gilt sowohl für die Ar- Beschäftigung sowie das Sinken des Wachstums der beitsprozesse an sich als auch für die Kommunikation Arbeitsproduktivität deuten nach Ansicht des Sach- zwischen den Beschäftigten – eine Entwicklung, die verständigenrats zusätzlich auch auf eine kurzfristige auch als »Informatisierung von Arbeit« bezeichnet wird Änderung der Arbeitskräftezusammensetzung zuguns- (Kleemann und Matuschek 2008, S. 44 ff.). Allerdings ten weniger qualifizierter Beschäftigter im Abschnitt M besteht selbst bei einer idealtypischen Strukturierung hin. Dies betrifft auch die mit einem Arbeitsanteil von der Arbeitsprozesse eine »Formalisierungslücke«, die 40–50% an der Wertschöpfung ohnehin bereits recht nur durch das implizite Wissen der Beschäftigten ge- arbeitsintensiven freiberuflichen, wissenschaftlichen schlossen werden kann (Simon et al. 2008, S. 258). und technischen Dienstleister, die zu den wenigen In Folge dieser Entwicklung werden weitere Ressour- 4 Neugegründete Unternehmen weisen anfangs typischerweise eine cen gebunden. So sind zum einen Beschäftigte, die niedrigere Produktivität auf, da sie in den ersten Jahren nach der Gründung noch keine großen Umsätze erwirtschaften. Etablieren sie sich stärker informell abstimmen müssen, nicht di- sich später erfolgreich am Markt, werden sie auch produktiver. Das rekt wertschöpfend, und zum anderen verursachen allmähliche Abebben des starken Gründungsgeschehens könnte möglicherweise mit dazu beigetragen haben, dass sich der Rückgang IKT-Systeme, die diese Abstimmungsprozesse ermög- der Arbeitsproduktivität in Abschnitt M seit dem Ende der lichen, zusätzliche Kosten. 2000er-Jahre nicht weiter fortgesetzt hat. 42 ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021
FORSCHUNGSERGEBNISSE Branchen gehören, in denen der Anteil des Faktors auch bei den »Professional Services«5 durch eine im Arbeit an der Leistungserstellung in den vergangenen internationalen Vergleich überdurchschnittlich große Jahren noch weiter gewachsen ist (Jorgenson und Regulierung aus (vgl. SVR 2015, S. 299 f.; OECD 2021). Timmer 2011, S. 23). Vor allem bei den unternehmensbezogenen Dienstleis- Hinzu kommt, dass der Sektor der unternehmens- tungen in Deutschland sieht der Sachverständigen- bezogenen Dienstleister von eher kleinen Unterneh- rat Anzeichen für eine unzureichende Markteffizienz men geprägt ist. Mit 3,9 Beschäftigten je Unterneh- und empfiehlt daher den Abbau von Marktzutritts- men steht dieser Wirtschaftsbereich an drittletzter barrieren und Produktmarktregulierungen. Da sich Stelle im Branchenvergleich (Statistisches Bundesamt jedoch auch in Ländern, die in diesen Sektoren laut 2019a). Grundsätzlich gilt, dass kleinere Unternehmen OECD-Index weniger Regulierungen aufweisen, das im Allgemeinen über eine geringere Kapitalausstat- Produktivitätswachstum bei den unternehmensbezo- tung je Beschäftigten verfügen und durchschnittlich genen Dienstleistungen trendmäßig verlangsamt hat geringer qualifizierte Mitarbeiter haben (Dienes et bzw. teilweise ebenfalls negativ war, kann von Dere- al. 2019, S. 37 f.; Saam et al. 2016). Auch diese struk gulierungen in diesem Wirtschaftsbereich kein allzu turellen Eigenschaften könnten einen Nachteil für die großer Beitrag zur Trendumkehr beim Produktivitäts- Produktivitätsentwicklung bedeutet haben. Selbst wachstum erwartet werden. Hinzu kommt, dass der wenn die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) gesamtwirtschaftliche Produktmarktregulierungsindex des Abschnitts M im Vergleich zu KMUs in anderen für Deutschland seit Mitte der 2000er-Jahre rückläu- Branchen überdurchschnittlich gut mit modernen fig ist (SVR 2019, S. 113) und in dieser Zeit auch im und digitalen Technologien ausgestattet sind, kön- Dienstleistungsbereich Regulierungen eher ab- als nen sie diese meist weniger effizient einsetzen als ausgebaut wurden, so dass dieser Faktor auch aus Großunternehmen. Denn Kleinunternehmen sind nur diesem Grund wenig zur Erklärung der zwischen 1991 bedingt in der Lage, die größeren Skalenerträge, die und 2009 rückläufigen Produktivität bei den unter- neue Technologien ermöglichen, auszunutzen (Autor nehmensbezogenen Dienstleistungen beitragen kann. et al. 2020). So weist auch der Sachverständigenrat (SVR 2019, S. 112) zu Recht darauf hin, dass in der OUTSOURCING VON UNTERNEHMENS- Vergangenheit IKT-Innovationen meist größeren Un- DIENSTLEISTUNGEN ternehmen zugutekamen. Für die Bedeutung des Grö- ßeneffekts für die Produktivität spricht auch, dass in Der Anstieg der Dienstleistungsvielfalt und der Kun- Großbritannien und vor allem in den USA die durch- denanforderungen steht auch mit einem verstärkten schnittliche Anzahl von Mitarbeitern der wirtschafts- Outsourcing unternehmensbezogener Dienstleistun- nahen Dienstleistungsunternehmen (NACE code M-N) gen aus dem Verarbeitenden Gewerbe in Verbindung. deutlich größer ist als in Deutschland und Frankreich. Gerade in den 1990er Jahren haben sich die Vorleis- So haben die US-Unternehmen in diesen Wirtschafts- tungsquoten der Industrie deutlich erhöht und sich bereichen im Durchschnitt etwa drei bis vier Mal so anschließend auf einem hohen Niveau eingependelt viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie deutsche 5 Zu den Professional Services werden hier Anwälte, Notare, Buch- bzw. französische Unternehmen. Gleichzeitig wies halter, Architekten, Bauingenieure und Immobilienmakler gezählt. dieser Wirtschaftsbereich in Großbritannien und in den USA im Zeitraum von 1999 bis 2015 eine signi- Abb. 5 Anteil der jeweiligen Bruttowertschöpfungᵃ 2015 fikant bessere Produktivitätsentwicklung auf als die entsprechenden Wirtschaftsbereiche in Deutschland Wissensintensives Verarbeitendes Gewerbe (WZ 20-21, 26-30) Weniger wissensintensives Verarbeitendes Gewerbe (WZ 10-19, 22-25, 31-34) und in Frankreich (vgl. Hartwig und Krämer 2019, S. 470 f.). Dienstleistungsbereiche (WZ 45-98) In Unternehmensbefragungen werden in Deutsch- Unternehmensnahe Dienstleistungen (WZ 45-53, 58-66, 69-82) land als ein weiteres strukturelles Hemmnis für Inno- Wissensintensive Dienstleistungen vationen und Produktivitätswachstum immer wieder (WZ 58-66, 69-75) Freiberufliche, wissenschaftliche und die existierende Bürokratie und die vielfältigen Regu- technische Dienste (WZ 69-75) lierungen genannt (Bardt und Grömling 2017, S. 897), Dienstleistungen der Rechts-, Steuer- und Unternehmensberatung(WZ 69-70) denen auch Dienstleistungsunternehmen unterliegen. Dienstleistg. v. Architektur- u. Ing.büros u.d. Auch der Sachverständigenrat (SVR 2019, S. 112 f.) be- techn., physik. U.suchung (WZ 71) Werbe- und Marktforschungsleistungen tont in seiner Eigenschaft als nationaler Ausschuss (WZ 73) für Produktivität, dass diverse Produkt- und Arbeits- Sonst. freiberuf., wiss., techn. u. veterinärmedizinische Dienstleistg. (WZ 74-75) marktregulierungen Rigiditäten verursachen, wodurch Weniger wissensintensive Dienstleistungen Einschränkungen der Reallokationsdynamik begüns- (WZ 45-53, 77-82) tigt, der (internationale) Wettbewerb gehemmt und 0 10 20 30 40 50 60 die Produktivitätsentwicklung geschwächt werden. Anteil in %, der als Vorleistung an das Verarbeitende Gewerbe ging Laut dem OECD-Index zur Produktmarktregulierung ᵃ Der Wirtschaftszweig 72, der Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen umfasst, ist hier nicht aufgeführt, da dieser in der VGR als Produzent von Investitionen und nicht als Hersteller von intermediären Dienstleistungen zeichnet sich Deutschland sowohl im Bereich der klassifiziert wird. Wirtschaftszweigabgrenzung analog zu Edler und Eickelpasch (2013). Unternehmensdienstleistungen (NACE code M-N) als Quelle: Statistisches Bundesamt (2019c); Berechnungen der Autoren. © ifo Institut ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021 43
FORSCHUNGSERGEBNISSE (Eickelpasch 2015, S. 76). Abbildung 5 verdeutlicht, wie SCHLUSSBEMERKUNGEN sehr die Wirtschaftsbereiche inzwischen miteinander verflochten sind. Insbesondere Werbe- und Marktfor- Die Arbeitsproduktivität ist heute bei den freiberufli- schungsdienstleistungen sowie Dienstleistungen von chen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleis- Architektur- und Ingenieurbüros gehen zu rund 51% tungen in Deutschland deutlich geringer als noch vor bzw. zu etwa 39% als Vorleistungen in das Verarbei- etwa 25 Jahren. Dieser Befund mutet vor allem bei tende Gewerbe ein. einem Wirtschaftsbereich, der von der Digitalisierung Produktivitätsverschiebungen zwischen den Wirt- besonders profitieren müsste, paradox an und ver- schaftsbereichen könnten daher durchaus auch eine langt nach Erklärungen. Wir haben in diesem Beitrag Rolle für das Sinken des Produktivitätsniveaus im einige uns plausibel erscheinende Einflussfaktoren Abschnitt M gespielt haben. Auch der Sachverstän- dargestellt. Eine unserer zentralen Thesen ist, dass digenrat hält Outsourcing für einen »bedeutenden die organisatorischen Anforderungen des technischen Faktor für die Produktivitätsentwicklung« (SVR 2019, Wandels kurzfristig tendenziell negative Auswirkungen S. 119). Seit den 1990er Jahren wurden insbeson- auf die Produktivität der unternehmensbezogenen dere »arbeitsintensive und wenig produktive Stufen Dienstleister hatten. Die komplementären Investitio- der Wertschöpfungsketten […] ausgelagert« (ebd.). nen in neue Prozesse und Geschäftsmodelle, die die Dies betraf auch zahlreiche unternehmensbezogene Digitalisierung erfordert, werden erst langfristig pro- Dienstleister. Wertschöpfung und Beschäftigung im duktivitätssteigernd wirken. Der digitale Wandel setzt Abschnitt M erfuhren in diesem Zeitraum ein starkes teilweise durchgreifende organisatorische Anpassun- Wachstum. Fixler und Siegel (1999) sprechen in die- gen voraus. Die industriesoziologische Forschung stellt sem Zusammenhang von einem »Nachfrageschock« unter anderem die zentrale Bedeutung heraus, die die bei den unternehmensbezogenen Dienstleistern, was Unterstützung der Belegschaft für die Digitalisierung zumindest in den 1990er Jahren zu Reallokationen haben muss, damit sie Früchte tragen kann (Boes et der Produktionsfaktoren mit entsprechend negati- al. 2015). Dies erfordert den Aufbau und die Etablie- ven Auswirkungen auf das Produktivitätswachstum in rung von neuen Kooperations- und Kommunikations- diesem Dienstleistungsbereich geführt haben könnte. plattformen und dementsprechend auch eine andere Vor dem Hintergrund der sehr unterschiedlichen Pro- Managementkultur, um den Austausch von Wissen und duktivitätsniveaus, die noch Anfang der 1990er Jahre Know-how in den Unternehmen voranzubringen (Boes geherrscht haben, könnte dieser Effekt durchaus be- et al. 2015, S. 65). Des Weiteren haben wir herausge- deutsam gewesen sein. Während das Niveau der Er- stellt, dass die Produktivitätsentwicklung bei den un- werbstätigenproduktivität des Abschnitts M im Jahr ternehmensnahen Dienstleistern in der Vergangenheit 1991 mit 67 Euro je Stunde noch mehr als doppelt so von einer gestiegenen Kundennachfrage nach neuen, hoch wie im produzierenden Gewerbe war, lag es im teilweise recht arbeitsintensiven Angeboten für den Jahr 2018 mit 43 Euro je Stunde weit darunter. digitalen Markt und nach weniger wertschöpfenden Durch das Outsourcing hat damit eine Verschie- Dienstleistungen beeinflusst wurde. Auch administ- bung von weniger produktiven Tätigkeiten des pro- rative Regelungen verschiedener Art erschweren so- duzierenden Gewerbes hin zu den unternehmensbe- wohl jungen als auch etablierten Unternehmen den zogenen Dienstleistern stattgefunden (ten Raa und digitalen Wandel. Wolff 2001). Im letzten Jahrzehnt hat sich jedoch das Neben der Nutzung des technischen Fortschritts Tempo des Outsourcings von arbeitsintensiven und ist die Erhöhung der Kapitalintensität einer der Wege, wenig produktiven Stufen der Wertschöpfungskette, damit es den freiberuflichen, wissenschaftlichen und das von etwa Mitte der 1990er Jahre an ein bedeu- technischen Dienstleistungsunternehmen gelingt, ihre tender Trend in der deutschen Wirtschaft war, deut- Produktivität in Zukunft zu steigern. Dazu sind wei- lich abgeschwächt (vgl. SVR 2015, S. 291 f.; SVR 2019, tere Investitionen in IKT-Kapital sowie die Anpassung S. 120 f.). Auffällig ist, dass seitdem auch der Rückgang der Geschäftsprozesse erforderlich, die die Unter- der Arbeitsproduktivität in Abschnitt M zum Stillstand nehmen stärker standardisieren und konsolidieren gekommen ist. Das vergleichsweise große Wachstum sollten. Die zunehmende Digitalisierung bietet dafür der Arbeitsproduktivität, das vor allem in der deut- neue Möglichkeiten. Da die unternehmensbezogenen schen Automobilindustrie aufgetreten ist, könnte Dienstleister bereits heute zu den intensivsten Nut- daher in einem gewissen Umfang zu Lasten der Pro- zern von IKT gehören, besitzen sie dafür auch die not- duktivität der unternehmensbezogenen Dienstleister wendigen Voraussetzungen. Angesichts einer häufig erfolgt sein. Es wäre es sicher wert, der Frage genauer ausgeprägten Interaktion mit ihren Kunden müssen nachzugehen, welche kausalen Zusammenhänge hier allerdings auch dort die entsprechenden Vorausset- im Einzelnen bestehen.6 zungen geschaffen werden und die Akzeptanz für den Einsatz digitaler Technologien vorhanden sein. Der 6 Wie groß der Outsourcing-Effekt für die Produktivitätsentwicklung auf der Ebene der Unternehmen oder Wirtschaftsbereiche ist, ist Digitalisierungsschub und die Verbreitung digitaler nach wie vor nicht abschließend geklärt. Während Ademmer et al. (2017) in Deutschland keinen Einfluss feststellen konnten, kommen duktivitätswachstums zwischen Industrie- und Dienstleistungssektor Fixler und Siegel (1999) für die USA zu dem Ergebnis, dass die Zunah- erklärt. Es besteht offenkundig noch empirischer Forschungsbedarf me des Outsourcings einen Teil der wachsenden Divergenz des Pro- zu möglichen Outsourcing-Effekten auf die Produktivität. 44 ifo Schnelldienst 3 / 2021 74. Jahrgang 17. März 2021
FORSCHUNGSERGEBNISSE Geschäftsprozesse im Zuge der Coronakrise könnten Hartwig, J. und H. Krämer (2019), »The ›Growth Disease‹ at 50 – Baumol after Oulton«, Structural Change and Economic Dynamics 51, 463–471. treibende Faktoren für entsprechende Prozessverbes- IMF (2018), Measuring the Digital Economy, International Monetary Fund, serungen werden. Washington D.C. Das Produktivitätsparadoxon bei den unterneh- Jorgenson, D. W. und M. P. Timmer (2011), »Structural Change in Ad- mensbezogenen Dienstleistungen ist ein vielschichti- vanced Nations: A New Set of Stylised Facts«, Scandinavian Journal of Economics 113(1), 1–29. ges Problem, für das hier keine abschließende Erklä- rung gegeben werden kann. Die genauen Gründe für Kleemann, F. und I. Matuschek (2008), »Informalisierung als Komple- ment der Informatisierung von Arbeit«, in: C. Funken und I. 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