Das reversible zerebrale Vasokonstriktionssyndrom - Swiss Medical ...

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Das reversible zerebrale Vasokonstriktionssyndrom - Swiss Medical ...
DER BESONDERE FALL                                                                                                                                                                  232

Das aktuelle Konzept einer Krankheit mit vielen Namen

Das reversible zerebrale
­Vasokonstriktionssyndrom
Dr. med. Nicolas Beerle a , Dr. med. Claudia Hader b , Dr. med. Gian-Reto Kleger c ,
Dr. med. Georg Kägi d , Dr. med. Jochen Vehoff d
Kantonsspital St. Gallen
a
  Klinik für Allgemeine Innere Medizin/Hausarztmedizin; b Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin; c Klinik für Intensivmedizin; d Klinik für Neurologie

                                Hintergrund                                                                        auf eine aneurysmale Subarachnoidal­blutung gefunden
                                In der täglichen Praxis stellt der Patient mit heftigem,                           wurde. Die Kopfschmerzen waren unter symptomati­
                 a r tic le

                                akutem, neuartigem Kopfschmerz eine diagnostische                                  scher analgetischer Behandlung unvollständig regre­
Peer

                                und therapeutische Herausforderung dar, da das Spek­                               dient. Der arterielle Blutdruck normalisierte sich unter
     re
          v ie we
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                                trum möglicher Ursachen von benignen Konditionen                                   antihypertensiver Therapie mit Lisinopril, so dass die
                                bis zu potentiell letal verlaufenden Erkrankungen                                  Patientin nach Hause entlassen werden konnte.
                                reicht. Da das Krankheitsbild des reversiblen zerebra­                             Da am Abend des Entlassungstages die Kopfschmerzen
                                len Vasokonstriktionssyndroms (RCVS) in der Literatur                              aber erneut zunahmen und zudem verschwommenes
                                unter zahlreichen Synonymen zu finden ist, existieren                              Sehen, ein leichtes Taubheitsgefühls der rechten Körper­
                                viele Missverständnisse und fehlerhafte Krankheits­                                hälfte und Abgeschlagenheit auftraten, stellte sich die
                                konzepte. Der vorliegende Artikel soll dabei helfen, mit                           Patientin erneut vor. Es fand sich klinisch auch weiter­
                                diesen aufzuräumen und das aktuelle Krankheitskon­                                 hin ein unauffälliger Befund. Der arterielle Blutdruck
                                zept vermitteln.                                                                   zeigte sich aber mit systolischen Werten von über
                                                                                                                   200 mm Hg deutlich erhöht.
                                                                                                                   Für eine intensivierte Blutdruckbehandlung wurde die
                                Fallbericht
                                                                                                                   Patientin auf der Intensivstation aufgenommen. Auch
                                Anamnese                                                                           mittels sechsfacher medikamentöser Kombinations­
                                Wir berichten über den Fall einer 40-jährigen Frau, die                            therapie (Lisinopril, Hydrochlorothiazid, Spironolacton,
                                sich aufgrund eines neuartigen, akuten, starken und                                Doxazosin, Dihydralazin, Urapidil) konnte das zu diesem
                                episodisch-rezidivierenden Kopfschmerzes primär bei                                Zeitpunkt fixierte Behandlungsziel von
Das reversible zerebrale Vasokonstriktionssyndrom - Swiss Medical ...
der besondere fall                                                                                                                                                                233

                                                                                                                   An den Extremitäten fanden sich eine tonische Beugung
                                                                                                                   der Arme und eine Streckung der Beine. Eine ungezielte
                                                                                                                   Reaktion auf Schmerzreize war gegeben. Die Muskel­
                                                                                                                   eigenreflexe und das Zeichen nach Babinski waren auf­
                                                                                                                   grund der starken tonischen Muskelaktivität nicht
                                                                                                                   konklusiv beurteilbar.
                                                                                                                   Die Patientin musste für die weitere Diagnostik und
                                                                                                                   zum Schutz vor einer Aspiration intubiert werden.
                                                                                                                   Das durchgeführte Schädel-CT zeigte im Vergleich zu
                                                                                                                   den Voruntersuchungen eine zunehmende Resorption
                                                                                                                   der Subarachnoidalblutung frontal links. Zudem war
                                                                                                                   nun ein diskretes parietookzipitales Hirnödem erkenn­
                                                                                                                   bar. CT-angiographisch zeigten sich generalisierte
                                                                                                                   ­Kaliberirregularitäten der intrakraniellen Arterien, ak­
                                                                                                                   zentuiert in der posterioren arteriellen Strombahn, gut
                                Abbildung 2: Magnetresonanztomographie des Neurokra­niums                          vereinbar mit Vasospasmen. Passend dazu fand sich in
                                nach Symptomverschlechterung mit flauer T
                                                                        ­ 2-hyperintenser                          der CT-Perfusion beidseits eine verzögerte/vermin­
                                Marklagerveränderung links parietal.
                                                                                                                   derte Durchblutung parietookzipital sowie entlang der
                                                                                                                   gesamten Mantelkante. Hinweise für eine Hirnvenen-/
                                ­okzipital links (Abb. 2), weshalb an ein posteriores                              Sinusthrombose fanden sich nicht (Abb. 3).
                                ­reversibles Enzephalopathie-Syndrom (PRES) gedacht                                Während eines Sedationsstopps am Folgetag öffnete
                                wurde.                                                                             die Patientin spontan ihre Augen. Die Pupillen waren
                                Drei Tage später zeigte die Patientin neu eine psycho­                             mittelweit und nicht lichtreagibel. Es bestand eine
                                motorische Verlangsamung, Kopfschmerzexazerbation,                                 konjugierte Kopf- und Blickwendung nach links oben.
                                bilaterale Sehstörungen und tonische Verkrampfungen                                Die Kornealreflexe waren beidseitig, der okulozephale
                                aller Extremitäten, weshalb eine Verlegung in unser                                Reflex gut auslösbar. Die Patientin kaute auf dem Tu­
                                Spital erfolgte.                                                                   bus und hustete. Es bestand kein Meningismus. Unver­
                                                                                                                   ändert konnten eine starke tonische Beugung der
                                Status und Befunde                                                                 Arme und Streckung der Beine beobachtet werden. Die
                                Hier zeigte sich bei Eintritt klinisch-neurologisch eine                           Patientin wurde deshalb erneut sediert.
                                wache, unruhige, psychomotorisch verlangsamte Pa­                                  Ein weiteres Schädel-CT zeigte ein progredientes supra­
                                tientin, die nicht sprach und keine Aufforderungen                                 tentorielles Hirnödem. Das Kaliber der intrakraniellen
                                ­befolgte. Die Hirnnerven waren soweit prüfbar intakt,                             Arterien, insbesondere der Arteriae cerebri anteriores
                                die Patientin zeigte jedoch eine tonische Blickwendung                             und mediae war weiterhin deutlich vermindert. Es be­
                                nach oben und dystone Mund- und Zungenbewegungen.                                  standen allenfalls gering regrediente, jedoch weiterhin

                                Abbildung 3: A) CT-Angiographie bei Eintritt in unser Spital. B) Im Vergleich dazu eine CT-Angiographie aus einer früheren Bild-
                                gebung derselben Patientin mit Zeichen einer deutlichen diffusen Vasokonstriktion. C) CT-Perfusion zum Eintrittszeitpunkt (von
                                oben links nach unten rechts: zerebraler Blutfluss (CBF), zerebrales Blutvolumen (CBV), «time to drain» (TTD) und «mean transit
                                time» (MTT) mit Darstellung einer ausgeprägten Hypoperfusion parietookzipital und frontal beidseits.

SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM                       2019;19(13–14):232–236
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.        See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Das reversible zerebrale Vasokonstriktionssyndrom - Swiss Medical ...
der besondere fall                                                                                                                                                                234

                                ausgedehnte Perfusionsminderungen in den anterioren                                Elektroenzephalogramm (EEG) wurde bei schlüssiger
                                und posterioren Stromgebieten. Vor diesem Hinter­                                  Erklärung und fehlender therapeutischer Konsequenzen
                                grund wurde die klinische Symptomatik der Patientin                                (tiefe Analgosedation) nicht durchgeführt.
                                als kortikale Dezerebrationshaltung interpretiert. Ein
                                                                                                                   Therapie
                                                                                                                   Wir entschieden uns zur Einlage einer intrakraniellen
                                                                                                                   Druckmesssonde («intracranial pressure»[ICP]-Sonde),
                                                                                                                   um bei klinisch-neurologisch wegen der analgo-sedie­
                                                                                                                   renden Medikation nicht beurteilbaren Patientin eine
                                                                                                                   Zielwert-gesteuerte Hirndrucktherapie (
Das reversible zerebrale Vasokonstriktionssyndrom - Swiss Medical ...
der besondere fall                                                                                                                                                                235

                                nicht objektiviert werden konnte. Bei schwerer Dys­                                dotheliale Dysfunktion, oxidativer Stress, individuelle
                                phagie musste zur Ernährung eine perkutane enterale                                Suszeptibilität. Die genaue Häufigkeit in der Bevölke­
                                Gastrostomie angelegt werden. Die Patientin zeigte                                 rung ist unbekannt. Die verfügbaren Daten stammen
                                eine Reaktion auf verbale und taktile Stimuli sowie teils                          aus insgesamt sechs publizierten Fallserien weltweit.
                                gezielte motorische Bewegungen der Arme sowie un­                                  Frauen dürften etwa viermal häufiger betroffen sein als
                                gezielte Bewegungen der Beine. Es bestand ein deut­                                Männer. Für die Postpartalphase wird eine Häufigkeit
                                liches pyramidales Syndrom. Vasospasmen waren zu­                                  von 1 auf 900 Geburten genannt. Der Erkrankungsgipfel
                                letzt nicht mehr nachweisbar.                                                      liegt etwa zwischen 40 und 45 Jahren. Zumeist ist die
                                Ungefähr drei Monate später, befand sich die Patientin                             Kopfschmerzanamnese zuvor leer (55–75%).
                                noch immer in stationärer neurologischer Rehabilita­                               Der klinische Verlauf des RCVS ist in den meisten Fäl­
                                tionsbehandlung. Dort war sie wach, orientiert und es                              len rein zephalgisch (60–92%). Dabei tritt meist ein re­
                                war eine adäquate verbale Kommunikation möglich. Es                                zidivierender TCH für ein bis vier Wochen Dauer auf
                                lagen eine kortikale Blindheit und eine hochgradige                                (75–94%), der typische Trigger hat (70–80%; körperli­
                                spastische Tetraparese vor, wobei rechts wenig Kon­trolle                          che Anstrengung, Emotionen, Valsalvamanöver, auch
                                über die Hand bestand. Die Patientin konnte schlucken.                             Duschen und Baden). Häufig treten Blutdruckkrisen
                                Sie wies schwere Wahrnehmungsstörungen auf.                                        auf (34–46%). Fokale neurologische Zeichen sind in
                                                                                                                   8–43% der Fälle beschrieben, epileptische Anfälle in
                                Diagnose                                                                           1–17% [4–12]. Der Verlauf ist meistens günstig (mRS 0–1
                                Aufgrund der Anamnese, des klinischen Verlaufs sowie                               86%), selten jedoch schwerwiegend und gelegentlich
                                der Ergebnisse der paraklinischen Untersuchungen                                   auch letal (mRS 6, 2,5%, insbesondere Frauen) [4, 13]. Ur­
                                konnte die Diagnose eines RCVS gestellt werden.                                    sächlich für einen schweren Verlauf ist meistens das
                                                                                                                   Auftreten eines Hirnschlags. Das RCVS kann jedwede
                                                                                                                   Form einer intrakraniellen Blutung verursachen, wo­
                                Diskussion
                                                                                                                   bei eine kortikale Subarachnoidalblutung (kSAB) die
                                Der Fallbericht illustriert viele typische Elemente des                            häufigste Form darstellt. Ein RCVS ist insbesondere bei
                                RCVS. Es wird heute als vereinheitlichender Begriff                                unter 60-jährigen Patienten die häufigste Ursache
                                für eine Gruppe von Krankheitsbildern gebraucht, die                               ­einer kSAB (60%; insgesamt 0–38%). Ein ischämischer
                                ty­pische angiographische und klinische Eigenschaf­                                Hirninfarkt tritt seltener auf (4–33%) und ist in Regis­
                                ten (reversible, segmentale und multifokale Vasokon­                               terdaten in 1–13% der ischämischen Hirninfarkte bei
                                striktion intrazerebraler Arterien; akute, schwere                                 jungen Patienten Folge eines RCVS. In der Postpartal­
                                Kopfschmerzen mit oder ohne fokale neurologische                                   phase ist ein RCVS die häufigste Ursache eines ischämi­
                                Zeichen) teilen und früher unter vielen verschiede­                                schen Hirninfarktes (24%). Rezidive des RCVS sind in
                                nen Bezeichnungen in der Literatur zu finden waren                                 ungefähr 5% innerhalb von 3 ± 2 Jahren nach dem Erst­
                                (s. Tab. S1 der Online-Appendix). Das wichtigste Ele­                              ereignis beschrieben [8].
                                ment ist der akute, intensive Kopfschmerz, der häu­                                Der klinische Verlauf nach Auftreten eines typischen
                                fig die Kriterien eines Donnerschlagkopfschmerzes                                  TCH folgt einem charakteristischen Muster. Dabei
                                («thunderclap headache» [TCH]) erfüllt. Eine Definition                            kommt es in der ersten Woche zu Blutungen und zere­
                                des TCH findet sich in der Klassifikation der Kopf­                                bralen Ischämien etwa um den zwölften Tag. Die Kopf­
                                schmerzen der internationalen Kopfschmerzgesell­                                   schmerzen enden meistens nach einer Woche. Der Ver­
                                schaft (www.ichd-3.org [1]).                                                       lauf der Erkrankung ist per definitionem monophasisch
                                Die Ursachen des RCVS sind multipel und lassen sich in                             ohne neue klinische Zeichen nach einem Monat. In der
                                primäre/spontane und sekundäre Formen unterteilen                                  Literatur sind mindestens 104 Fälle von Patienten ohne
                                [2]. In Europa und Amerika sind dabei mehrheitlich                                 TCH beschrieben. Danach können progressive, nur
                                ­sekundäre Formen anzutreffen, wobei an den ersten                                 leichte bis mittelschwere Kopfschmerzen vorkommen,
                                beiden Stellen Drogen- und Medikamenten-assoziierte                                möglich ist auch kein Kopfschmerz zum Zeitpunkt der
                                Formen und an dritter Stelle die Postpartalphase ste­                              Diagnose.
                                hen. Es können auch mehrere Auslöser gleichzeitig                                  Ein RCVS ist bei Patienten mit TCH auf der Notfallsta­
                                vorhanden sein ([3–6], Daten präsentiert von Ducros                                tion mindestens so häufig wie eine aneurysmale Sub­
                                am EAN 2017 in Amsterdam [nicht publiziert]). Die                                  arachnoidalblutung.
                                Liste beschriebener Ursachen ist lang (s. Tab. S2 der On­                          Für das RCVS wurden Diagnose­k riterien [6] publiziert
                                line-Appendix).                                                                    (Tab. 1). In den meisten Fällen wird die Anamnese auf
                                Pathophysiologisch werden verschiedene Mechanis­                                   das Krankheitsbild hinweisend sein. Wichtig sind der
                                men diskutiert, etwa sympathische Überaktivität, en­                               angiographische Nachweis des Auftretens und Ver­

SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM                       2019;19(13–14):232–236
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission.        See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Das reversible zerebrale Vasokonstriktionssyndrom - Swiss Medical ...
der besondere fall                                                                                                                                                                     236

                                                                                                                   handlung. Möglicherweise auslösende Substanzen und
Korrespondenz:
                                Tabelle 1: Diagnosekriterien des zerebralen Vasokonstrik­
Dr. med. Jochen Vehoff                                                                                             Triggerfaktoren sollten sofern möglich gestoppt/eli­
                                tionssyndroms (RCVS) (nach [6]). Alle Punkte müssen erfüllt
Kantonsspital St. Gallen
                                sein).                                                                             miniert werden. Nimodipin kann per os/enteral zur
Rorschacherstrasse 95
CH-9007 Sankt Gallen
                                                                                                                   symptomatischen Behandlung des Kopfschmerzes ein­
                                Akuter, heftiger Kopfschmerz (oft «thunderclap headache»)
jochen.vehoff[at]kssg.ch
                                mit oder ohne fokale neurologische Zeichen oder epileptische                       gesetzt werden, verhindert aber keine ischämischen
                                Anfälle                                                                            Ereignisse und verbessert nicht die Prognose. Der Ein­
                                Monophasischer Verlauf ohne neue klinische Zeichen nach                            satz von Steroiden sollte vermieden werden, da diese
                                einem Monat
                                                                                                                   das Behandlungsergebnis verschlechtern können [4].
                                Nachweis einer segmentalen Vasokonstriktion der intrazere­
                                bralen Arterien mittels Computertomographie, Kernspintomo-                         Schweren Einzelfällen mit zerebralen Ischämien bleibt
                                graphie oder digitaler Subtraktionsangiographie                                    die intraarterielle Behandlung mittels Papaverin und/
                                Kein Nachweis einer aneurysmatischen Subarachnoidal­                               oder perkutaner transluminaler Angioplastie (PTA) vor­
                                blutung
                                                                                                                   behalten. Zere­brovaskuläre Komplikationen werden
                                 Normaler oder annähernd normaler Liquor (
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