DAS RHEINISCHE REVIER VON MORGEN DEN STRUKTURWANDEL GESTALTEN - ALBERT HANS BAUR & JULIAN SCHWARTZKOPFF REPORT Dezember 2015 - E3G

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DAS RHEINISCHE REVIER VON MORGEN DEN STRUKTURWANDEL GESTALTEN - ALBERT HANS BAUR & JULIAN SCHWARTZKOPFF REPORT Dezember 2015 - E3G
REPORT   Dezember 2015

DAS RHEINISCHE REVIER VON MORGEN
DEN STRUKTURWANDEL GESTALTEN

ALBERT HANS BAUR & JULIAN SCHWARTZKOPFF
DAS RHEINISCHE REVIER VON MORGEN DEN STRUKTURWANDEL GESTALTEN - ALBERT HANS BAUR & JULIAN SCHWARTZKOPFF REPORT Dezember 2015 - E3G
Danksagung
Dank gilt allen unabhängigen Experten für hilfreiche Hintergrundgespräche und ausführliche
Kommentare, die den vorliegenden Bericht durch Praxiserfahrungen bereichert haben,
insbesondere Dr. Mechthild Scholl, Konrad Adenauer Stiftung, Wibke Brehms, Grüne
Landtagsfraktion des Landtags Nordrhein-Westfalen und Boris Linden und Christian Wirth,
Innovationsregion Rheinisches Revier.

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2      Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
DAS RHEINISCHE REVIER VON MORGEN DEN STRUKTURWANDEL GESTALTEN - ALBERT HANS BAUR & JULIAN SCHWARTZKOPFF REPORT Dezember 2015 - E3G
REPORT       Dezember 2015

    DAS RHEINISCHE REVIER VON MORGEN
    DEN STRUKTURWANDEL GESTALTEN
    ALBERT HANS BAUR & JULIAN SCHWARTZKOPFF

3     Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
DAS RHEINISCHE REVIER VON MORGEN DEN STRUKTURWANDEL GESTALTEN - ALBERT HANS BAUR & JULIAN SCHWARTZKOPFF REPORT Dezember 2015 - E3G
INHALT
     Danksagung ...............................................................................................................2
     About E3G .................................................................................................................2
     Copyright ...................................................................................................................2
     Inhalt .........................................................................................................................4

KAPITEL 1 EINLEITUNG.....................................................................................................5

KAPITEL 2 DAS RHEINISCHE REVIER - EINE EINORDNUNG ..............................................6
     Nordrhein-Westfalen und das Rheinische Revier .....................................................6
     Die lokale Rolle der Braunkohle ................................................................................8
     Wachsender Druck auf die lokale Braunkohleindustrie..........................................10

KAPITEL 3 RWE - DIE GROßE UNBEKANNTE ..................................................................15

KAPITEL 4 EIN GEORDNETER STRUKTURWANDEL UND EIN FAIRER DEAL FÜR DAS
RHEINISCHE BRAUNKOHLEREVIER.................................................................................17
     Das Rheinische Revier im politischen Spannungsfeld .............................................17
     Die lokale Wirtschaft im Umbruch ..........................................................................19
     Umsetzung eines gerechten und geordneten Strukturwandels - Lehren aus dem
     Niedergang des lokalen Steinkohlebergbaus ..........................................................24
     Ein fairer Deal für das Rheinische Revier ................................................................27

KAPITEL 5 DAS RHEINISCHE REVIER BRAUCHT EINEN KOHLEKONSENS ........................31

4        Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
KAPITEL 1
EINLEITUNG
Im März 2015 legte Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel einen
Gesetzesvorschlag zur Erreichung der deutschen Klimaziele vor. Dieser löste eine
unerwartete Dynamik in der Diskussion um die Zukunft der Braunkohle in
Deutschland aus. Der beabsichtigte „Klimabeitrag“ hätte Strafzahlungen für CO2-
Emissionen von Kraftwerken ab einem bestimmten Grenzwert vorgesehen, was vor
allem ältere Braunkohlekraftwerke betroffen hätte. Neben dem zu erwartenden
Widerstand auf Seiten der Energiekonzerne RWE und Vattenfall zeigte die Debatte
auch die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen eines Braunkohleausstiegs auf.
Gewerkschaften fürchten um den Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen ohne
strukturpolitische Abfederung, und Landespolitiker in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-
Anhalt und Nordrhein-Westfalen sind besorgt über mögliche Strukturbrüche im
Nachgang der Schließung der Braunkohlereviere in ihren Bundesländern. Laut einer
Studie des Umweltbundesamtes1 hätte der Klimabeitrag zu einem Verlust von 4.700
Arbeitsplätzen geführt. Dies sind rund 22% aller in der Braunkohleindustrie
Beschäftigten.2

Aufgrund der vielfältigen Opposition wurde der Klimabeitrag schließlich zu Gunsten
einer Einigung gekippt, die den Stromsektors zu sehr viel geringeren
Emissionseinsparungen bis 2020 verpflichtet und die Schließung von
Braunkohlekraftwerken nicht durch Strafzahlungen, sondern über eine „Klimareserve“
sicherstellt. Dieses Modell sieht vor, dass Braunkohleblöcke im Umfang von 2,7 GW ab
2017 nur noch im Notfall hochgefahren und ab 2020 stillgelegt werden.3 Für die
bereitgestellte Kapazität werden die Kraftwerksbetreiber großzügig finanziell
vergütet. Dies stellt jedoch höchstens eine Übergangslösung dar. Die Debatte hat
dazu geführt, dass eine Abkehr von der Braunkohleverstromung in Deutschland zum
ersten Mal ernsthaft auf bundespolitischer Ebene diskutiert wird.

Speziell das Rheinische Revier, heute noch eines der größten Braunkohleabbaugebiete
Europas, wird hiervon stark betroffen sein. Die vormals starke Montanindustrie sieht
sich unter zunehmendem wirtschaftlichen Druck und muss sich auf einen
Transformationsprozess der regionalen Wertschöpfungsketten einstellen. Auch wenn
Nordrhein-Westfalen eines der wenigen Bundesländer ist, die bereits ein
Klimaschutzgesetz und einen Klimaschutzplan verabschiedet haben, sehen sich
Landes- und Kommunalpolitiker immer noch in einem Konflikt zwischen dem Erhalt
herkömmlicher Wirtschaftszweige und der Etablierung moderner Branchen gefangen.

1
 Umweltbundesamt (2015) Klimabeitrag für Kohlekraftwerke: Wie wirkt er auf Stromerzeugung, Arbeitsplätze und
Umwelt?
2
    Statistik der Kohlewirtschaft e.V. (2015) Braunkohle
3
    Bundesministerium für Wirtschaft (2015) Eckpunkte für eine erfolgreiche Umsetzung der Energiewende

5           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Dabei bieten sich im Rheinischen Revier vergleichsweise gute Möglichkeiten, diese
Wirtschaftstransformation erfolgreich durchzuführen. So spielen vor allem die lokale
demographische Entwicklung, regionale Standortfaktoren, und historische
Erfahrungen eine wesentliche unterstützende Rolle. Wenn es gelingt, diese Stärken zu
nutzen und einen sukzessiven Übergang hin zu einer modernen lokalen Wirtschaft zu
meistern, kann das Rheinische Revier zum Vorbild für viele andere Kohlereviere in
Europa und weltweit werden.

Es gilt nun, den Rückgang der lokalen Braunkohlewirtschaft strukturpolitisch zu
begleiten, um soziale Verwerfungen im Zuge eines Kohleausstiegs zu vermeiden und
die wirtschaftliche Zukunft der Region aktiv zu gestalten.

KAPITEL 2
DAS RHEINISCHE REVIER - EINE
EINORDNUNG
Nordrhein-Westfalen und das Rheinische Revier
Das Bundesland Nordrhein-Westfalen nimmt eine Schlüsselrolle in Deutschland ein.
Mit seinen 17,5 Mio. Einwohnern ist es nicht nur das am dichtesten besiedelte
deutsche Flächenland. Es ist auch die bedeutendste Industrieregion Deutschlands, in
der 2013 rund 22% des deutschen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet, aber auch
etwa ein Drittel der nationalen CO2-Emissionen produziert wurden.4,5,6

Heute bilden vor allem 765.000 kleine und mittelständische Unternehmen das
wirtschaftliche Rückgrat des Bundeslandes. Sie repräsentieren 99,5% aller
Unternehmen und beschäftigen ca. 80% aller sozialversicherungspflichtigen
Arbeitnehmer.7 Gleichzeitig finden sich 16 der 50 umsatzstärksten Unternehmen
Deutschlands in Nordrhein-Westfalen. Vor allem Unternehmen der Branchen
Maschinenbau und Chemie produzieren hier, 8 was eine diverse Zulieferindustrie
hervorgebracht hat. Dies ist auch der Grund dafür, dass 27,5% aller deutschen
unternehmensnahen Dienstleistungsumsätze in Nordrhein-Westfalen erwirtschaftet
werden.5 Insgesamt trug der Dienstleistungssektor 70,8%, die Industrie 28,7% und die
Landwirtschaft 0,5% zur gesamten landesweiten Bruttowertschöpfung im Jahr 2013
bei.7

4
    Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2004) Deutschland 2020. Die demografische Zukunft der Nation
5
    Hessische Landesbank (2014) Helaba-Studie: Nordrhein-Westfalen- Wachstum im Strukturwandel
6
    Stromtipp.de (2013) CO2-Emissionen in NRW wieder angestiegen
7
    MWEIMH Nordrhein-Westfalen (2015) Industriepolitik
8
    NRW.INVEST GmbH (2015) Spitzenstandort für Produzenten und Zulieferer

6           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Abbildung 1 gibt eine geographische Übersicht über Nordrhein-Westfalen. Aufgrund
ihrer Relevanz, sind vor allem die beiden Regionen Ruhrgebiet (heute auch Metropole
Ruhr genannt) und Rheinisches Revier farblich hervorgehoben.
Abbildung 1: Übersichtskarte Nordrhein-Westfalens mit Ruhrgebiet (rote
Umgrenzung) und Rheinischem Revier (gelbe Umgrenzung)

Quelle: ETN (2013) REK Regionen NRW

Speziell das Ruhrgebiet spielt seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine entscheidende
wirtschaftliche Rolle für Nordrhein-Westfalen.9 Auch wenn diese Bedeutung mit dem
Niedergang der Steinkohleindustrie seit Mitte des 20. Jahrhunderts stark
abgenommen hat, ist es noch immer das wirtschaftliche Zentrum des Bundeslandes.

Mit ca. 2,1 Mio. Einwohnern und 628.403 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
beheimatet das Rheinische Revier ca. 12% der Gesamtbevölkerung und 10% aller
Beschäftigten Nordrhein-Westfalens. 10 Hier werden ca. 11% der landesweiten
Bruttowertschöpfung erwirtschaftet; die Arbeitslosenquote lag 2013 mit 7,4% unter
den durchschnittlichen 8,3% in Nordrhein-Westfalen. Die Einwohnerdichte ist mit 497
Einwohnern/km² geringer als die des umliegenden Bundeslandes mit seinen 523
Einwohner/km².13 Insgesamt wird davon ausgegangen, dass sich die Bevölkerung im
Revier bis 2030 um ca. 2,1% verkleinern wird. Dies wäre ein etwas langsamerer
Bevölkerungsrückgang als im gesamten Bundesland (-3,7%), wobei sich die
Bevölkerungsgröße und -dichte sehr kreisspezifisch entwickeln wird.13
9
    Metropole Ruhr (2010) Regionalkunde Ruhrgebiet- Aufstieg und Rückzug der Montanindustrie
10
  Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2014) Daten und Fakten (bezieht sich auf die Innovationsregion Rheinisches
Revier)

7           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Die lokale Rolle der Braunkohle
Nordrhein-Westfalens Strom wurde 2013 noch zu ca. 40% aus Braunkohle und zu 25%
aus Steinkohle gewonnen, wobei deren langfristige Bedeutung für die
Energiegewinnung jedoch stetig abnimmt. 11 Die Verwendung von Erdgas zur
Stromproduktion ist in den letzten Jahren wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit stark
eingebrochen und der Anteil der Erneuerbaren Energien (Photovoltaik, Wasser-, und
Windkraft) im nordrhein-westfälischen Strommix lag 2013 bei knapp 5%, der von
Biomasse bei knapp 3%.

Die zur Stromproduktion benötigte Braukohle kommt zu großen Teilen aus dem
Rheinischen Revier (Abbildung 2) in unmittelbarer räumlicher Nähe zu den großen
industriellen Energieverbrauchern im Ruhrgebiet und im Rheinischen Revier
(Abbildung 1).

Abbildung 2: Rheinisches Revier: Revierkarte mit Tagebauen (TB) und
Kraftwerken (KW)12

Quelle: Energiestatistik-NRW.de (2015) Bruttostromerzeugung und Primärenergiegewinnung

Im Rheinischen Revier wird seit etwa 1870 Braunkohle gefördert.13 1995 wurde der
Braunkohleplan für das Abbaugebiet Garzweiler II genehmigt, für das das Bergamt
Düren 1997 eine Zulassung des Rahmenbetriebsplans für den Braunkohleabbau bis
2045 erteilte. Seit 2006 wird hier durch die Rheinisch-Westfälische Elektrizitäts AG
(RWE AG) Kohle abgebaut.14

11
     Energiestatistik-NRW.de (2015) Bruttostromerzeugung und Primärenergiegewinnung
12
     DIW (2014) Braunkohleausstieg- Gestaltungsoptionen im Rahmen der Energiewende
13
     Wikipedia (2015) Rheinisches Braunkohlerevier
14
     Bundesverband Braunkohle (2015) Rheinisches Braunkohlerevier 1978-2014

8           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Insgesamt existieren auf der rund 9.000 ha umfassenden Betriebsfläche derzeit drei
Großtagebaue, die sowohl Kraftwerke, als auch Veredelungsbetriebe über ein RWE-
eigenes Bahn- und Förderbandsystem mit jährlich 100 Mio. Tonnen Rohbraunkohle
versorgen. Somit gilt das Revier als das größte Braunkohleabbaugebiet Europas. Die
1997 durch das Bergamt Düren bis 2045 zum Abbau freigegebenen Vorräte umfassen
ca. 35 Mrd. Tonnen wirtschaftlich gewinnbarer Kohlevorräte.15,16 Laut einer von RWE
in Auftrag gegebenen Studie, wurde der Beitrag der Braunkohleindustrie zur
gesamten Bruttowertschöpfung des Rheinischen Reviers im Jahr 2008 auf ca. 13%
geschätzt.17

Heute beschäftigt die RWE AG über ihre Tochterfirmen 10.146 Arbeitnehmer.18 Wenn
man einen Beschäftigungsmultiplikator von 1,7 zu Grunde legt, hängen weitere 7.248
Arbeitsplätze indirekt von der der rheinischen Braunkohleindustrie ab.19 Insgesamt
stellt die Braunkohle somit 2,77% aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze im
Rheinischen Revier.

Die Braunkohleindustrie ist für das Rheinische Revier also eine wichtige und
strukturprägende Branche. Dabei gerät sie jedoch zunehmend unter Druck und hat
keine gesicherte Zukunftsperspektive in einer dekarbonisierten Wirtschaft. Das hat
direkte Implikationen für die lokale Wertschöpfung, speziell im Rheinischen Revier.
Das Risiko einer zumindest teilweisen lokalen Deindustrialisierung durch den
Niedergang der Braunkohleindustrie besteht dabei durchaus, ist aber nicht
unausweichlich.

Gleichzeitig erscheinen die Botschaften von Industrie und Gewerkschaften zu
möglichen Arbeitsplatzverlusten im Falle einer Reduktion oder Beendigung des
Braunkohleabbaus stark verzerrt, was zu einer Verunsicherung der Bevölkerung
beiträgt. So verkündete RWE beispielsweise im März 2015, dass durch den
Klimabeitrag in Deutschland 100.000 Arbeitsplätze in Gefahr seien.20 Eine Studie des
Umweltbundesamtes ergab jedoch, dass der Klimabeitrag lediglich 4.700
Arbeitsplätze gefährdet hätte.21 Ebenso sind viele der indirekten Arbeitsplätze so
wenig spezialisiert (beispielsweise in Bereichen der Mitarbeiterversorgung), dass sie
nicht unbedingt von der Braunkohlewirtschaft abhängen und sich frühzeitig auf eine
Wertschöpfung jenseits der Braunkohle vorbereiten könnten.

Zudem schrumpft bzw. altert die deutsche Braunkohlebelegschaft kontinuierlich. So
waren im Jahr 1984 17.182 Arbeitnehmer direkt durch die rheinische Braunkohle
beschäftigt; 1990 war diese Zahl bereits auf 15.316 gesunken, und 2013 waren es nur
noch 7.910,22 was einer Abnahme von 48% gegenüber 1990 entspricht.23 Gleichzeitig
15
     Bundesverband Braunkohle (2013) Kapazitäten der Braunkohlereviere in Deutschland in Mio. t/a
16
     RWE (2015) Rheinisches Braunkohlerevier
17
     EEFA (2010) Bedeutung der Braunkohleindustrie in Deutschland- sektorale Produktions- und Beschäftigungseffekte
18
     Bereits inklusive aller Kraftwerke der allgemeinen Versorgung in 2014
19
     EEFA (2010) Bedeutung der Braunkohleindustrie in Deutschland- sektorale Produktions- und Beschäftigungseffekte
20
     WDR (2015) Arbeitsplätze in der Braunkohle-Industrie: Wie viele Jobs sind wirklich in NRW gefährdet?, 25.03.2015
21
     UBA (2015) Klimabeitrag für Kohlekraftwerke: Wie wirkt er auf Stromerzeugung, Arbeitsplätze und Umwelt?
22
     Jahresbericht 2013 der Bergbehörden des Landes Nordrhein-Westfalen

9           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
werden immer weniger junge Arbeiter angestellt; im Jahr 2014 waren es lediglich 653.
Das Durchschnittsalter der deutschen Braunkohlebeschäftigten lag 2014 bei 46,3
Jahren und das der rheinischen Braunkohlebeschäftigten sogar bei 49 Jahren (Stand
2015).24 Somit werden viele der potentiell von einem Braunkohleausstieg betroffenen
Beschäftigten in den kommenden Jahren das Rentenalter erreichen, was eine sozial
verträgliche Gestaltung erleichtert.

Nichtsdestotrotz wird das Rheinische Revier mit dem langfristig unvermeidbaren
Braunkohleausstieg einen wichtigen Wirtschaftszweig und viele Arbeitsplätze
verlieren. Dieser Ausstieg wird jedoch weniger gravierende Einschnitte nach sich
ziehen als das Einbrechen des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet in den 1960er
Jahren. In der heutigen Situation haben Wirtschaft und Politik noch die Möglichkeit,
aus den Lehren dieser Erfahrung zu lernen und den kommenden Strukturwandel aktiv
anzupacken anstatt ihn so lange wie möglich hinauszuzögern.

Wachsender Druck auf die lokale Braunkohleindustrie
Es zeichnen sich schwierige Zeiten für die Braunkohleindustrie ab. Obwohl die
Stromgestehungskosten der Braunkohle derzeit deutlich unter denen anderer fossiler
Energieträger liegen,25 ist die Braunkohleverstromung gesamtwirtschaftlich betrachtet
eine      Verlustrechnung,        sobald    gesundheitliche  Folgekosten        durch
Schadstoffemissionen sowie Kosten von Naturschäden wie Grundwasserabsenkungen
und Fließgewässerverschmutzungen einberechnet werden. Diese externen Kosten
werden auf ca. €80-100/MWh geschätzt, was ein Mehrfaches des Strompreises
beträgt.26

Außerdem sind nicht alle Braunkohleblöcke gleich wirtschaftlich. 40% der deutschen
Braunkohleblöcke sind älter als 35 Jahre.27 Schätzungen auf Basis von Daten der
Energieversorger, die im Rahmen einer IG BCE-Studie zum Klimabeitrag veröffentlicht
wurden,28 zeigen, dass die ältesten deutschen Braunkohleblöcke bestenfalls am Rande
der Profitabilität operieren. Auf Grund ihrer niedrigen Effizienzgrade haben sie höhere
Brennstoffkosten pro Megawattstunde als neuere Kraftwerksblöcke. Dies betrifft
inbesondere den überalterten Kraftwerkspark der RWE Power AG.29 Vor diesem
Hintergrund ist auch die Warnung des Unternehmens vor einem „Dominoeffekt“ zu
verstehen, der zur Schließung großer Teile von Deutschlands Braunkohleflotte geführt
hätte.30 Der sinkende Strombedarf und der fortschreitende Ausbau von Erneuerbaren
Energien mit Grenzkosten nahe Null werden den Strompreis in Zukunft voraussichtlich
23
  Hauptgründe für das Ausscheiden aus der Braunkohleindustrie sind vor allem Aufhebungsverträge (26,7%), Pensionierung
und Vorruhestand (21,1%) und sonstige Gründe inklusive Umstrukturierung (23,6%)
24
     Handelsblatt (2015) "Es geht um Überleben"
25
     Fraunhofer ISE (2013) Stromgestehungskosten – Erneuerbare Energien
26
     DIW (2014) Braunkohleausstieg – Gestaltungsoptionen im Rahmen der Energiewende, Politikberatung Kompakt 84
27
     BNetzA NGO existing coal database
28
  Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (2015) Potentielle Auswirkungen des “Nationalen Klimaschutzbeitrags”
auf die Braunkohlewirtschaft
29
     E3G (2015) RWE’s Lignite Liabilities: A Bail-out by taypayers?
30
  RWE AG (2015) Die Bedeutung der Braunkohle. RWE hatte argumentiert, dass durch die Einschränkung oder Stilllegung
einzelner Kraftwerksblöcke insgesamt nicht mehr genug Gewinn gemacht werden könnte, um die verbleibenden Kraftwerke
und das System von Tagebauen und ihrer Rekultivierung zu finanzieren

10           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
weiter drücken. Ein Dominoeffekt, der die maroden alten Braunkohleblöcke vom Netz
zwingen und momentan noch profitable Kraftwerksblöcke mitreißen könnte, wird
auch allein durch diese Markttendenz immer wahrscheinlicher.

Zudem wird die politische Rahmensetzung auf Landes-, Bundes- und europäischer
Ebene die Marktlage der Braunkohle deutlich verschlechtern. So gibt es
Bestrebungen, den europäischen Emissionshandel (ETS) zu reformieren, um durch
Verknappung der Emissionszertifikate höhere CO2-Preise zu erreichen. Entsprechend
wurde kürzlich eine Marktstabilitätsreserve verabschiedet, die ab 2019 in Kraft tritt.31
Zudem wird derzeit ein Reformvorschlag zum ETS verhandelt, der die jährliche
Verknappung der Emissionszertifikate ab 2021 deutlich beschleunigen würde.32

Viele Marktbeobachter, inklusive Bloomberg New Energy Finance und Point Carbon,
haben angesichts dieser Entwicklungen ihre Zertifikatspreisprognosen kürzlich
angehoben. Point Carbon geht beispielsweise davon aus, dass der Preis für
Emissionszertifikate, der aktuell bei ca. €8 liegt, bis 2020 auf €19 steigen wird.33
Zusammen mit den Daten zur Kostenstruktur der älteren deutschen
Braunkohlekraftwerke aus der oben erwähnten IG BCE Studie lässt sich der Effekt von
höheren Zertifikatspreisen auf deren Stromgestehungskosten abschätzen. Abbildung
3 zeigt die minimalen Stromgestehungskosten aller deutschen Braunkohleblöcke über
25 Jahre bei einem Zertifikatspreis von €19. Wie unschwer zu erkennen ist, würden
die Erlöse aus dem Stromverkauf beim Forward-Strompreis von aktuell ca. €27 im Jahr
2020 nicht einmal die Kosten der Stromerzeugung decken. Wenn die Projektionen von
Thompson Reuters zutreffen, könnte ein Großteil der deutschen Braunkohleflotte also
bereits in 5 Jahren auch rein betriebswirtschaftlich unrentabel sein.

Es handelt sich hierbei jedoch um eine eher konservative Schätzung. Fixe
Brennstoffkosten, beispielsweise durch den Kauf von Land und Maschinen, wurden
nicht beachtet, da ein Teil dieser Kosten kurzfristig nicht einzusparen wäre. Daher
wären sie für eine Entscheidung über die Stilllegung oder den Weiterbetrieb von
Kraftwerken nur mittelbar relevant („versunkene Kosten“). Inwiefern diese Kosten
allerdings in der erwähnten IG BCE Studie eingepreist wurden, ist nicht ersichtlich.
Werden im Gegensatz die auch fix Brennstoffkosten mit einbezogen, erreicht man
Stromgestehungskosten von €48-57/MWh, was weit über den 2020 zu erwartenden
Strompreisen liegt und somit die Obergrenze der Schätzung bildet. Die real
ausschlaggebenden Kosten werden letztlich zwischen diesem Maximalwert und dem
abgebildeten Minimalwert liegen.

31
     Europäischer Rat (2015) Treibhausgasemissionen: Einrichtung einer Marktstabilitätsreserve gebilligt
32
     European Commission (2015) Revision for phase 4 (2021-2030)
33
     Carbon Pulse (2015) Poll: Analysts raise EU carbon price estimates, big jump for 2018-2020

11          Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Abbildung 3 Stromgestehungskosten der ältesten deutschen
Braunkohleblöcke (>25 Jahre) bei €19 EUA-Preis

Quelle: E3G Schätzung

Ungeachtet dessen wird die Stärkung des ETS die Braunkohle als
emissionsintensivsten Energieträger härter treffen als die Steinkohle oder Erdgas. Die
ETS-Reform wird daher nicht nur die Kosten der Braunkohleverstromung erhöhen,
sondern zusätzlich ihre relative Wettbewerbsposition gegenüber anderen fossilen
Brennstoffen verschlechtern. Wenn die Zertifikatspreise weit genug ansteigen, könnte
die Braunkohle dadurch in der Merit Order noch hinter Gas rücken.

Zudem werden voraussichtlich ab 2021 verschärfte Schadstoffgrenzwerte im Rahmen
der      EU-Richtlinie     über     Industrieemissionen  und      der     deutschen
Bundesimmissionsschutzverordnung in Kraft treten. Bei Kraftwerken, die diese
Grenzwerte nicht einhalten, sind in der Regel teure Nachrüstungen mit
Schadstoffminderungstechnologien notwendig. Dies würde speziell die RWE-
Kraftwerke Weisweiler und Neurath treffen, deren NOx- Emissionen ca. 21%-28% über
den ab 2021 gültigen Grenzwerten liegen. Da ein Nachrüsten zur Reduktion des NOx-
Ausstoßes als besonders kostenintensiv gilt, ist hier mit erheblichen
Investitionskosten zu rechnen. Vattenfall hat beispielsweise kalkuliert, dass ein
Nachrüsten aller Kessel seines Kraftwerks Jänschwalde mit effektiveren NOx-
Katalysatoren Kapitalkosten von €20,3 Mio. und zusätzliche jährliche Betriebskosten
von €7,2 Mio. verursachen würde. 34 Gerade bei älteren Braunkohleblöcken mit
grenzwertiger Profitabilität werden sich die Energieversorger die Frage stellen
müssen, ob sich ein solches Nachrüsten überhaupt noch rechnet oder eine Schließung
aus wirtschaftlicher Sicht vorzuziehen wäre.

Darüber hinaus bestätigen eine Reihe von Analysen, dass Deutschland seine
Klimaziele für 2020 und 2030 nur mit einer deutlichen Verringerung der CO2-

34
     Vattenfall (2013) Transposition of the IED into German law - NOx ELV 100 mg/m³ for existing combustion plants

12           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Emissionen aus der Stromerzeugung erreichen kann.35 Die Bundesregierung hatte
sich bereits im Dezember 2014 zu zusätzlichen Emissionsminderungen im Stromsektor
bis 2020 verpflichtet, die allerdings mit der Einigung auf die Klimareserve erheblich
abgeschwächt wurden. Eine Reduktion der Braunkohleverstromung ist ein
naheliegendes Kerninstrument, um den Minderungsbeitrag des Stromsektors
möglichst kostengünstig zu erreichen. Denn Braunkohle ist mit Abstand der
emissionsintensivste Energieträger – er ist verantwortlich für 55% der CO2-
Emissionen des deutschen Stromsektors, liefert aber nur 26% des Stroms.36

Entsprechend wird die Bundespolitik die Reduktion der Braunkohleverstromung
spätestens in der nächsten Legislaturperiode wieder aufgreifen müssen. Die
Klimareserve wirkt hier lediglich verzögernd. Nachdem die vorgesehene Kapazität von
2,7 GW Braunkohle bis 2020 vom Netz gegangen ist, werden noch über 17 GW an
Braunkohlekapazität übrig bleiben - mehr als in jedem anderen EU-Mitgliedstaat. In
den energie- und klimapolitischen Entscheidungen der nächsten Jahre wird der
sukzessive Ausstieg aus der Braunkohle daher eine zentrale Rolle spielen müssen.

Diese durch umwelt- und klimapolitische Entscheidungen geminderte wirtschaftliche
Rentabilität der Braunkohle spiegelt sich auch in der seit 1984 kontinuierlich
abnehmenden Gesamtfördermenge der Rheinischen Braunkohle und der
entsprechenden Gesamtbeschäftigung wider. Selbst technische Innovationen wie die
CO2-Abscheidung und Speicherung (CCS) werden der Braunkohle in einer
emissionsfreien Wirtschaft keine Zukunft schaffen können. Derzeit ist weltweit keine
dieser Anlagen in industriellem Betrieb, und RWE verfolgte die Entwicklung von CCS
von jeher halbherzig und beendete bereits 2011 die Planung für sein CCS-Pilotprojekt
in Hürth.37

Auf Ebene der Landesregierungen ist die Situation ambivalent. Brandenburg z.B.
bezeichnet die Braunkohle in seiner Energiestrategie als „Brückentechnologie“ auf
dem Weg zu einem komplett auf Erneuerbaren Energien basierenden Stromsystem,
womit die Unabwendbarkeit eines Braunkohleausstiegs bereits eingestanden wird.38
In Nordrhein-Westfalen ist durch das Klimaschutzgesetz festgeschrieben, dass die
landesweiten CO2-Emissionen bis 2050 um mindestens 80% gegenüber 1990 gesenkt
werden sollen. Hierfür ist auch im Entwurf des 2015 vorgestellten Klimaschutzplans
festgeschrieben, dass die CO2-Emissionen aus der Kohleverstromung kontinuierlich
reduziert werden müssen. 39 Ein konkreter Ausstiegspfad ist allerdings nicht
beschrieben.

Hierauf aufbauend muss daher zeitnah ein transparenter Dialog mit allen beteiligten
und betroffenen Stakeholdern initiiert werden, um mögliche Übergangsstrategien
ehrlich zu diskutieren. Denn bereits durch die Klimareserve werden
35
     FÖS (2014) Klimaschutzplan lässt zu viel offen; DIW (2014) Wochenbericht Nr. 47., IZES Bericht
36
     Daten von UBA und BNetzA, Stand: 2014
37
     RWE AG (2015) IGCC-CCS-Kraftwerk
38
     Siehe Energiestrategie 2030 des Landes Brandenburg
39
  Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen
(2015) Der Klimaschutzplan

13           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Braunkohlearbeitsplätze im Rheinischen Revier wegfallen. So werden fünf von
insgesamt 18 Braunkohlekraftwerksblöcken (oder 1.500 MW) im Rheinischen Revier
zwischen 2017 und 2019 in die Reserve überführt und bis 2023 schrittweise
stillgelegt. 40 , 41 Damit ist das Ende des Kraftwerks Frimmersdorf sowie eine
Teilschließung der Kraftwerke Neurath und Niederaußem bereits beschlossen.

Dies wird dazu führen, dass ab 2016 deutlich weniger Braunkohle im Rheinischen
Revier gefördert werden wird. Da die Beschäftigung in Tagebauen stark von der
Fördermenge abhängig ist, wird dies bereits auf mittlere Sicht zu signifikanten
Arbeitsplatzverlusten führen. Vor diesem Hintergrund hat RWE bereits kurz nach der
energiepolitischen Einigung auf die Klimareserve verkündet, 1.000 Arbeitsplätze in
seiner Braunkohlesparte abbauen zu wollen.42 Dies entspricht ca. 10% der aktuell von
RWE im Rheinischen Revier direkt Beschäftigten und könnte bis zu 700 indirekte
Arbeitsplätze gefährden, wenn man den erwähnten Beschäftigungsfaktor der
Braunkohle von 1,7 zu Grunde legt.

Dennoch zeigt die Politik, vor allem auf Bundesebene, keine glaubwürdige und sozial
verträgliche Ausstiegsperspektive auf. Politik, Gewerkschaften und Unternehmen tun
den fast 22.000 Arbeitskräften im deutschen Braunkohlesektor keinen Gefallen damit,
aus wahltaktischen oder unternehmerischen Interessen die Zukunft der
Braunkohlewirtschaft auszublenden und eine ehrliche Kohleausstiegsdebatte zu
verweigern. Denn die deutsche Braunkohlewirtschaft steuert momentan ungebremst
auf einen Kollaps zu, der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besonders hart
treffen wird.

Was die betroffenen Arbeitskräfte und Regionen brauchen, ist ein geordneter
Strukturwandel, der den Ausstieg so sozialverträglich wie möglich gestaltet und eine
tragfähige Zukunftsperspektive jenseits der Braunkohle schafft. Die notwendigen
strukturpolitischen Erfahrungen durch den Niedergang des Steinkohlebergbaus im
Ruhrgebiet sowie des Zusammenbruchs der Braunkohlewirtschaft in Ostdeutschland
nach der deutschen Wiedervereinigung sind bereits vorhanden.

40
     Frankfurter Allgemeine Zeitung (2015) Teilausstieg aus der Braunkohle besiegelt
41
     Kölnische Rundschau (2015) Aus für fünf Kraftwerksblöcke im rheinischen Revier
42
     RP Online (2015) Bei RWE 1000 Braunkohle- Jobs bedrohte

14          Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
KAPITEL 3
RWE - DIE GROSSE UNBEKANNTE
Ein Dialog über einen geordneten Braunkohleausstieg im Rheinischen Revier ist nur
mit RWE möglich. Denn das Unternehmen ist mit der lokalen Braunkohleindustrie
nahezu deckungsgleich und somit arbeitsrechtlich für seine Angestellten
verantwortlich. Bislang zeigte sich RWE an einer Diskussion über einen sozial
verträglichen Braunkohleausstieg wenig interessiert. Mit der jüngst angekündigten
Aufspaltung zwischen dem konventionellen Stromgeschäft einerseits und
Stromnetzen, Vertrieb und erneuerbaren Energien andererseits wird allerdings ein
konstruktiverer Ton angeschlagen.43

So gesteht RWE-Vizechef Rolf Martin Schmitz mittlerweile ein, dass der „schleichende
Ausstieg aus der Braunkohle“ unausweichlich ist und kündigt an, dass „spätestens
nach der Bundestagswahl im Jahr 2017“ die „Verhandlungen über einen sozial
verträglichen Ausstieg aus der Kohle mit der Bundesregierung“ beginnen müssen.44

Dabei darf allerdings nicht der Grund für die strategische Neuausrichtung des
Unternehmens aus den Augen verloren werden. RWE steckt in großen
wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Selbst mit dieser Neuorientierung ist nicht sicher, ob
RWE wieder auf einen zukunftsfähigen Kurs gelangen kann. Wie es der Chef von RWE
Power AG in einem Interview ausdrückte: „Bei uns hat auch der Letzte begriffen […]:
Es geht ums Überleben“.45

2013 beendete RWE mit einem Verlust von €2,7 Mrd. das schlechteste Finanzjahr
seiner Geschichte. 2014 konnte das Unternehmen nach massiven Sparmaßnahmen
und dem Verkauf von Anlagen wieder Profite aufweisen. Die betrieblichen Erträge
sind dabei allerdings im Vergleich zu 2013 um 25% gesunken – die Erträge aus dem
konventionellen Kraftwerkspark sogar um 29%.46 Der erste Halbjahresbericht für 2015
verzeichnete noch einen weiteren Einbruch des betrieblichen Ergebnisses um 11%.47

Ein Hauptgrund für diese Zahlen sind strategische Fehlinvestitionen in Milliardenhöhe,
die das Unternehmen in den letzten Jahren getätigt hat. So hat RWE allein in
Deutschland seit 2012 3,2 GW an Kohlekapazität zugebaut. Es ist nicht davon
auszugehen, dass RWE diese Investitionen zurückerwirtschaften kann. Die größten
Verluste hatte das Unternehmen allerdings in Geschäftsaktivitäten in den
Niederlanden zu verzeichnen. RWE investierte dort massiv in Gaskraftwerke, was sich
als kostspieliger Fehler erwies, da sich das Geschäft nicht rechnete. In Folge musste
RWE insgesamt €4,4 Mrd. außerplanmäßig für 2011-2013 abschreiben.48
43
     Spiegel Online (2015) Neue Ökostrom-Tochter: RWE-Aufsichtsrat stimmt Aufspaltung zu, 11.12.2015
44
     WiWo (2015) RWE: Teriums Aufspaltungsplan in das Ende der Braunkohle, 06.12.2015
45
     Spiegel Online (2015) RWE streicht rund tausend Jobs
46
     RWE AG (2015) Annual reports
47
     RWE AG (2015) Report on the first half of 2015
48
     Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (2015) Fehlinvestitionen der Energieversorgungsunternehmen E.ON und RWE

15          Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Die Aufspaltung ist vor dem Hintergrund des Verlustgeschäfts mit der konventionellen
Stromerzeugung nicht überraschend. Aus dem aktuellen Geschäftsbericht geht
hervor, dass der konventionelle Kraftwerkspark insgesamt keinen Gewinn mehr
erwirtschaftet.49 Laut RWE-Chef Peter Terium sind aktuell 35%-45% dieser Kraftwerke
unprofitabel. Dies betrifft auch RWEs Braunkohlesparte. Besonders RWEs 300MW
Braunkohleblöcke im Rheinischen Revier, von denen gegenwärtig 11 in Betrieb sind,
hatten bereits seit 2013 „massive Schwierigkeiten, ihre Vollkosten zu verdienen“.50
Damals war der Strompreis mit €38/MWh allerdings noch 25% höher als heute. Unter
aktuellen Marktbedingungen sollten diese Blöcke nahezu sicher unprofitabel sein.

Während der konventionelle Kraftwerkspark keinen Gewinn mehr erwirtschaftet,
verzeichnet die Grünstrom-Tochter RWE Innogy steigende Gewinne. In den ersten
neun Monaten von 2015 erwirtschaftete die Tochtergesellschaft einen Gewinn von
€280 Mio. (gegenüber €250 Mio. im Vorjahreszeitraum). Das entspricht etwa 10% des
Gewinns des gesamten Konzerns. 51 Während RWE zunächst die Investitionen in
erneuerbare Energien von 2014 auf 2015 auf ein Drittel herunterkürzte,52 will der
Konzern diese im kommenden Jahr wieder auf das ursprüngliche Niveau von €1 Mrd.
anheben.53

Die Abspaltung des konventionellen Kraftwerksparks und ein Börsengang können
hierfür neues Investitionskapital generieren. Dies war bisher aus dem laufenden
Geschäft nicht möglich. Während der RWE-Aktienkurs kurz nach der Ankündigung um
15% anstieg, ist er mittlerweile wieder auf das Niveau von vor der Ankündigung der
Neuausrichtung gesunken. Dieses liegt bei etwa €11, was 60% niedriger ist als noch zu
Beginn des Jahres.54 Eine Finanzierung über den Finanzmarkt wurde außerdem durch
die erfolgten Abwertungen durch die Ratingagenturen Standard & Poor‘s und
Moody‘s weiter erschwert.55 Ebenso sind Pläne zur zehnprozentigen Beteiligung eines
arabischen Investors an RWE mittlerweile gescheitert.56

Zudem sind noch weitere Regulierungskosten für die Braunkohle zu erwarten, und
auch die benötigten Rückstellungen für den Atomausstieg könnten höher ausfallen als
ursprünglich berechnet.57 Angesichts all dieser Herausforderungen ist das Schicksal
des Konzerns und damit der Region weiterhin offen.

Es ist davon auszugehen, dass die Kommunen, die 25% der RWE-Aktien halten58 und
damit gleichzeitig Konzessionsgeber, Kunden und Anteilseigner sind, sich mehr als
bisher in die Debatte um die Zukunft des Konzerns und damit der Braunkohle

49
     RWE AG (2015) Paving the way for growth with continued focus on financial discipline
50
     Ingenieur.de (2013) Unrentabel: RWE überprüft jedes Kraftwerk
51
     Klimaretter (2015) Ein Zehntel des RWE-Gewinns erneuerbar, 12.11.2015
52
     The Wall Street Journal (2015) RWE Plans Further Cost Cuts
53
     WiWo (2015) RWE: Teriums Aufspaltungsplan in das Ende der Braunkohle, 06.12.2015
54
     http://www.finanzen.net/aktien/RWE-Aktie
55
     Standard & Poor's Ratings Services (2015) RWE AG
56
     Bloomberg L.P. (2015) RWE Won't Pursue Talks With Potential Partner on Stake Sale
57
     Spiegel Online (2015) Vorläufiges Gutachten zu Rückstellungen: Aktienkurse von RWE und E.on brechen ein
58
     Lobbypedia (2015) RWE

16          Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
einmischen werden. Nicht zuletzt liegt das daran, dass sie rund €190 Mio.
Umsatzsteuer von RWE beziehen 59 und auf weitere Steuereinnahmen über die
gesamte betroffene Wertschöpfungskette angewiesen sind. 60 Zudem würde der
Wegfall jedes einzelnen Arbeitsplatzes eine direkte Kaufkraftminderung von €15.000
jährlich sowie steigende Sozialausgaben bedeuten.61

Auch wenn RWE nun eine längst überfällige Kurskorrektur vornimmt, ist angesichts
der fortlaufenden Gewinneinbrüche, hohen Schulden und Zukunftslasten sowie der
starken Abhängigkeit von der Kohle ungewiss, ob die Strategie erfolgreich sein wird.
Wenn das Unternehmen auf einen zukunftsfähigen Kurs kommen soll, bedeutet das
den Ausstieg aus der Braunkohle, wie RWE jetzt selbst eingesteht. Falls es jedoch zu
einer Insolvenz des Unternehmens oder einer abrupten Schließung von
Braukohlekraftwerken kommt, droht dem Rheinischen Revier ein wirtschaftlicher
Schock. So oder so besteht hohe Dringlichkeit, sich mit den Zukunftsperspektiven des
Rheinischen Reviers jenseits der Braunkohle auseinanderzusetzen und den
Strukturwandel frühzeitig aktiv zu gestalten.

KAPITEL 4
EIN FAIRER DEAL FÜR DAS RHEINISCHE
BRAUNKOHLEREVIER
Das Rheinische Revier im politischen Spannungsfeld
Ein detaillierter Blick auf die heutigen lokalen Wirtschaftsstrukturen zeigt, dass sich
das Rheinische Revier, sowie ganz Nordrhein-Westfalen, bereits in einem
Wandlungsprozess befinden. Insbesondere die lokale Industriepolitik steht vor dem
Dilemma, alte Strukturen bewahren und gleichzeitig moderne Sektoren etablieren zu
wollen.

Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich auch in den aktuellen politischen
Entscheidungen und der Gesetzeslage. Denn Nordrhein-Westfalen ist eines der
wenigen Bundesländer, die bereits ein Klimaschutzgesetz und einen Klimaschutzplan
verabschiedet haben,62 um die nationalen und sub-nationalen Klimaschutzziele zu
erreichen. In diesem Zusammenhang wird erstmals von der Prüfung von
Mindestwirkungsgraden für Braunkohlekraftwerke gesprochen und anerkannt, dass
deren Emissionen zur Einhaltung der nationalen Klimaschutzziele kontinuierlich
reduziert werden müssen. Auch die am 22. September 2015 veröffentlichte

59
     Kosma (2012) Die Zukunft des Rheinischen Braunkohlereviers
60
  Das bezieht sich auf Einkommenssteuer sowie bei sinkender Unternehmenswirtschaftlichkeit auch Umsatz- und
Gewerbesteuer.
61
     EEFA (2010) Bedeutung der Braunkohleindustrie in Deutschland- sektorale Produktions- und Beschäftigungseffekte
62
 Der Klimaschutzplan ist bereits am 16.06.2015 vom Kabinett beschlossen worden. Der finale Beschluss durch den Landtag
Nordrhein-Westfalens wird Mitte Dezember 2015 erwartet

17          Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
landespolitische Leitentscheidung zur Verkleinerung des bereits genehmigten
Tagebaus „Garzweiler II“ beinhaltet ein klares politisches Bekenntnis zur sinkenden
Wichtigkeit der Braunkohle im Rheinischen Revier.63

Dies wird begleitet durch die von der Landesregierung beschlossene Gründung der
„Innovationsregion Rheinisches Revier“ und das Einholen von Gutachten, wie der
aktuelle Strukturwandel politisch begleitet werden könnte.64 Auch beim Blick auf die
parlamentarische Arbeit im Düsseldorfer Landtag wird deutlich, dass die sich
wandelnde Rolle der lokalen Braunkohleindustrie zunehmend strukturpolitisch
analysiert wird.65 Dies stellt einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einer
nachhaltigen und dekarbonisierten Wirtschaftsweise dar.

In der Landespolitik scheint grundsätzlich Einigkeit über die Notwendigkeit eines
Braunkohleausstiegs zu bestehen. Der Vorstoß von Bundesumweltministerin Barbara
Hendricks, die im Vorfeld der Klimaverhandlungen in Paris einen Kohleausstieg
innerhalb von 20 bis 25 Jahren forderte, hat jedoch gezeigt, dass die Frage des
Zeitrahmens noch äußerst kontrovers diskutiert wird. Ministerpräsidentin Hannelore
Kraft sowie NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin kritisierten die Initiative ihrer
Parteikollegin scharf. 66 Die NRW-Grünen, Koalitionspartner der SPD in der
Landeregierung, forderten dagegen sogar einen noch schnelleren Kohleausstieg in nur
15 Jahren.67 Die Landesregierung ist in der Kohlefrage intern gespalten. Gerade die
SPD ist angesichts der wahrgenommenen politischen Kosten eines Kohleausstiegs
handlungsunfähig.

Folglich fehlt es bisher an konkreten gesetzlichen Umsetzungsmaßnahmen und klaren
politischen Bekenntnissen für einen geordneten Kohleausstieg. So wurde
beispielsweise in der Konzeptionsphase des Klimaschutzplans von der bearbeitenden
Arbeitsgruppe aus Industrie und Verbänden abgelehnt, dass das Land sich auf
Bundesebene für ein „Gesetz über die geordnete Beendigung der CO2-intensiven
Steinkohle- und Braunkohleförderung“ (Kohle-Ausstiegsgesetz) sowie für die
Anpassung des Bundesimmissionsschutzgesetzes im Bundesrat einsetzt. Der
entsprechende Vorschlag wurde dann nicht in den finalen Entwurf des
Klimaschutzplanes       aufgenommen. 68 Auch            der     nordrhein-westfälische
Wirtschaftsminister positioniert sich klar für die Braunkohle, da diese noch lange für
eine sichere Stromversorgung benötigt werde.69

63
     Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen (2015) Leitentscheidung zum Rheinischen Revier
64
  Beispielsweise das Gutachten des Instituts für Arbeit und Technik zum Thema "Präventiver Strukturwandel" an den
Landtag Nordrhein-Westfalen
65
     Landtag NRW (2015) Suchergebnis nach Landtagsaktivitäten zu den Themen "Braunkohle" und "Strukturwandel"
66
     Die Welt (2015) NRW legt sich bei Ausstieg zeitlich nicht fest, 3.12.2015
67
     Rheinische Post (2015) NRW-Grüne fordern Braunkohle-Ausstieg innerhalb von 15 Jahren, 28.11.2015
68
  Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen
(2015) Maßnahmenentwurf Anhang 3.1
69
  Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2015) NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin auf der zweiten
Revierkonferenz: Unterstützung für vorrausschauenden Strukturwandel im Rheinischen Revier

18           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Diese Spannung zwischen ambitionierter Klimapolitik einerseits und dem Festhalten
an kohlenstoffintensiven Wertschöpfungsketten andererseits sendet widersprüchliche
Signale und verunsichert Investoren sowie Unternehmer. Um Investitionen in
zukunftsfähigen Bereichen wie Erneuerbare Energien, Energiesysteme oder dem IKT-
Sektor zu mobilisieren, braucht es Planungssicherheit und eine klare Zukunftsvision
für das Rheinischen Revier und Nordrhein-Westfalen in einer kohlenstoffarmen
Wirtschaft. Es gilt darüber hinaus, die bereits erfolgten Fortschritte hin zu einer
nachhaltigen und zukunftsfähigen Wirtschaftsstruktur zu nutzen und neue Dynamiken
zu generieren, um Nordrhein-Westfalen samt dem Rheinischen Revier aus diesem
Spannungsverhältnis zu befreien.

Die lokale Wirtschaft im Umbruch
Ein Strukturwandel ist nötig, um die Wirtschaft des Rheinischen Reviers in Einklang
mit der voranschreitenden Energiewende zu bringen. Dieser Wandel wird durch die
demographische Entwicklung begünstigt. So arbeiteten in dem früher wichtigen,
jedoch heute stark schrumpfenden, sekundären Wirtschaftssektor70 in Nordrhein-
Westfalen überdurchschnittlich viele ältere Menschen. 71 Dagegen ziehen das
Dienstleistungsgewerbe und der IT-Sektor zunehmend jüngere Beschäftigte an.72

Speziell unter dem Gesichtspunkt des langfristigen Abwärtstrends der lokalen
Braunkohlebeschäftigung stellt das starke Wachstum des tertiären Sektors eine
wichtige Möglichkeit dar, besonders für junge Berufseinsteiger auch zukünftig sichere
Arbeitsperspektiven zu schaffen. Zudem fördern die günstigen Lebens- und
Arbeitsbedingungen, wie verhältnismäßig niedrige Grundstückspreise, den Zuzug von
jungen Angestellten, Unternehmensgründern und Investoren.73

Hinzu kommt, dass das Rheinische Revier heute bereits als eine „Pendlerregion“ mit
Verknüpfungen in die umliegenden Wirtschaftsregionen, zum Beispiel dem
Ruhrgebiet, gilt.13 Durch einen verstärkten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur könnte
die gesamte Region zu einem noch stärkeren wirtschaftlichen Ballungsraum werden.74
Dies ist vor allem für die zunehmend an lokaler Bedeutung gewinnende
Logistikbranche, aber auch für den Ausbau der Erneuerbare Energien relevant. Beide
bieten ein großes Ausbildungs- und Wirtschaftspotential.75

Im Logistikbereich lässt sich eine zunehmende Ausrichtung auf die Rheinschiene
beobachten, die wichtige Umschlagseinrichtungen in und um das Rheinische Revier
miteinander verbindet. Im nördlichen Teil des Rheinischen Reviers entwickelt sich
70
  Der sekundären Wirtschaftssektoren beinhaltet das produzierende Gewerbe, inklusive beispielsweise Bergbau und Metall-
und Elektroindustrie. Die Beschäftigung in dem sekundären Wirtschaftssektor sank zwischen 1999 und 2009 um 16%
71
  Statista (2015) Durchschnittsalter der Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie in Deutschland im Jahresvergleich
2001 und 2012
72
 Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2012) Arbeitsmärkte im Wandel. Der tertiäre Sektor in Nordrhein-Westfalen
wuchs zwischen 1999 und 2009 um 14%.
73
     Hans Böckler Stiftung (2008) Mitbestimmung Strukturwandel
74
  Industrie- und Handelskammer Aachen (2011) Pendleratlas Region Aachen: Analyse der Pendlerströme und deren
wirtschaftliche Relevanz im Kammerbezirk Aachen
75
 IÖW (2012) Kommunale Wertschöpfung und Beschäftigung durch Erneuerbare Energien in zwei Modellkommunen in
NRW

19          Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
ergänzend hierzu eine Ost-West-Achse von Düsseldorf in Richtung Venlo/Rotterdam,
die künftig bei der Realisierung des sogenannten Eisernen Rheins76 noch an Bedeutung
gewinnen kann.77

Zudem wurden in 2013 nur etwa 8% des in Nordrhein-Westfalen produzierten Stroms
aus Erneuerbaren Energien und Biomasse gewonnen. Damit hinkt das Bundesland
deutlich dem deutschlandweiten Ausbau der Erneuerbare Energien hinterher. 78
Ebenso bei der Beschäftigung: Das Land hat den bundesweit geringsten Anteil an
Unternehmen und die dritt-niedrigste Beschäftigungsquote in diese Erneuerbare
Energien-Branche. Auch die Zahl der entsprechenden Studiengänge ist noch
vergleichsweise gering. Als eine Hauptursache wird das Fehlen einer konkreten
Ansiedlungsstrategie für Erneuerbare Energien gesehen. 79 Laut dem nordrhein-
westfälischen Klimaschutzplan soll der Anteil der Erneuerbaren Energien am
Strommix bis 2025 auf mehr als 30% angehoben werden.

Trotz dem bisher nur mäßigen Erfolg beim Ausbau der Erneuerbaren Energien sichert
die Branche in Nordrhein-Westfalen bereits mehr als 50.000 Arbeitsplätze.80 Das sind
mehr als die Braun- und Steinkohleindustrie zusammen. Das Beschäftigungspotenzial
im „grünen“ Sektor ist also enorm, auch wenn nicht alle der zukünftigen Arbeitsplätze
unmittelbar im Rheinischen Revier entstehen werden.

Aus Sicht von Arbeitnehmern und Auszubildenden scheinen diese Arbeitsplätze in der
Erneuerbaren Energien-Branche im Vergleich zu den bislang sicheren und gut
bezahlten Arbeitsplätzen in der Braunkohleindustrie im Rheinischen Revier allerdings
keine attraktive Alternative zu sein. Als Hauptgründe werden vor allem eine geringere
Arbeitsplatzsicherheit und schlechtere Arbeitsbedingungen genannt. Unbestritten ist,
dass das durchschnittliche Brutto-Jahresgehalt in der Erneuerbare-Branche mit
€31.800 weit unter dem in der Braunkohleindustrie liegt.81

Dennoch sollte die Arbeitsplatzsituation in der Braunkohleindustrie differenzierter
betrachtet werden. Denn während bei direkten Arbeitsplätzen das durchschnittliche
Bruttojahresgehalt eines Arbeitnehmers im Jahr 2013 in der nordrhein-
westphälischen Energieversorgung bei €60.137 und im Bergbausektor bei €47.501
lag,82 sah die Situation bei den indirekten Arbeitsplätzen deutlich schlechter aus.

Hier übt die Braunkohleindustrie einen starken Kostendruck auf die Zulieferbetriebe
aus. So stellte die IG Metall 2013 bezüglich Zulieferbetrieben in der Metall- und

76
     Güterbahnlinie zwischen dem Ruhrgebiet und Antwerpen
77
  Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2013) Potentialanalyse zur intelligenten Spezialisierung in der
Innovationsregion Rheinisches Revier (IRR)
78
     In 2013 produzierten Erneuerbare Energiequellen 20% des deutschen Strommixes; in 2015 bereits 33%
79
  Agentur für Erneuerbare Energien (2014) Länderzusammenfassung zur Bundesländer- Vergleichsstudie Erneuerbare
Energien 2014
80
  GWS (2014) Erneuerbar beschäftigt in den Bundesländern: Bericht zur aktualisierten Abschätzung der
Bruttobeschäftigung 2013 in den Bundesländern, beispielsweise in der Windenergie-Branche; ohne Beschäftigung aus
öffentlich geförderter Forschung und Verwaltung; Studie im Auftrag des BMWi
81
     IG Metall (2014) Nachhaltig – aber auch sozial? Arbeitsbedingungen und Einkommen in den Erneuerbaren Energien
82
     Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2014) Länderergebnisse für Deutschland

20          Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
Elektrobranche fest, „dass nur knapp ein Drittel der Belegschaften nach Flächentarif
oder daran angelehnten Vereinbarungen bezahlt wurde.“ 83 Der Einsatz von
Subunternehmern und Leiharbeitern drücke die Löhne noch zusätzlich. So zahlte
Vattenfall-Zulieferer Emis Elektrics, ein auf Kraftwerke spezialisierter
Elektronikdienstleister, seinen über 400 Beschäftigten in 2011 beispielsweise
durchschnittlich €30.625 brutto, was weit unter dem Branchentarif von €35.200
liegt.84

Speziell die Frage der Arbeitsplatzunsicherheit in der Braunkohleindustrie muss
genauer betrachtet werden. Zwar werden auch die Erneuerbaren Energien oft mit
unsicheren Berufsperspektiven in Verbindung gebracht. Dies geht jedoch vor allem
auf die weiterhin zentrale Rolle des Anlagenzubaus (Produktion und Installation)
zurück, der die treibende Kraft hinter der hohen Gesamtbeschäftigung in dieser
Branche ist. Im bundesweiten Durchschnitt entfallen 64% der Beschäftigung auf
diesen Bereich, und nur 21% auf den Bereich Wartung und Betrieb.85

Der Zubau von Erneuerbaren Energien-Anlagen kann somit als umfangreiches
Infrastrukturprojekt in kurzer Zeit große Beschäftigungseffekte erzielen – wenn auch
meist nur an zentralisierten Produktionsstätten. Diese Arbeitsplätze im Anlagenbau
müssen jedoch durch ein stetig hohes Zubauniveau aufrecht erhalten werden. Das
bringt eine gewisse Volatilität mit sich: sinkt der Zubau, dann nimmt auch der
Beschäftigungseffekt ab. Der Einbruch der Solarbranche in den letzten Jahren hat dies
schmerzhaft verdeutlicht.      Weitaus beständiger gestalten sich hingegen die
Arbeitsplätze im Bereich Wartung und Betrieb, der über die gesamte Lebensdauer der
Anlage eine Beschäftigungswirkung entfaltet. Durch den wachsenden Bestand an
Anlagen werden Wartung und Betrieb immer weiter an Bedeutung gewinnen.
Außerdem führen diese Bereiche nahezu immer zu lokaler Wertschöpfung und
Beschäftigungseffekten, da sie größtenteils als Dienstleitungen vor Ort erbracht
werden.

Der Anlagenzubau ist also aus zweierlei Gründen entscheidend: Einerseits bestimmt
er die Größe des anfänglichen temporären Beschäftigungseffekts, andererseits
bestimmt er langfristig die Höhe der permanenten Beschäftigung im Bereich Wartung
und Betrieb. Die Volatilität der Arbeitsplätze im Bereich Neuinstallationen ist also kein
Argument gegen den weiteren Ausbau der Erneuerbaren speziell unter
Gesichtspunkten der regionalen Wertschöpfung.

Eine lokale Ansiedlung von Erneuerbaren Energien-Unternehmen stellt folglich eine
gute Möglichkeit dar, die regionale Wertschöpfung zu diversifizieren, den Forschungs-
und Entwicklungsbereich zu stärken 86 und neue Ausbildungs- und
Beschäftigungsmöglichkeiten für die ansässige, aber auch für die zuziehende

83
     Lausitzer Rundschau (2013) IG Metall: Vattenfall-Dienstleister zahlen zu wenig, 28. Juni 2013
84
     Ibid.
85
  Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2014) Bruttobeschäftigung durch erneuerbare Energien in Deutschland im
Jahr 2013. Die verbleibenden 15% fallen im Biomasse-Sektor an, der in der erwähnten Studie separat behandelt wird
86
     Alleine am Forschungszentrum Jülich forschen 1.000 Mitarbeiter zu Erneuerbare Energien und der Energiewende

21           Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
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