Das Verstehen fremder Kulturen und der Wert von Erasmus: Eine Interview-Studie
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Das Verstehen fremder Kulturen und der Wert von Erasmus: Eine Interview- Studie Understanding Foreign Cultures and the Value of Erasmus: An Interview Study Claus-Ulrich Viol Abstract (Deutsch) Dr., Akademischer Oberrat an Auslandsstudien wird im Allgemeinen und nicht zuletzt ein bedeutender ökonomischer der Ruhr-Universität Bochum. Wert zugeschrieben. Studierende werden ermutigt, durch internationale Erfahrung Forschung im Bereich der British wichtige berufliche Referenzen und Kompetenzen zu erwerben, ihre sozialen und inter- Cultural Studies, besonders zur kulturellen Skills, ihre employability zu entwickeln. Doch welcher Wert wird in einem Interkulturalität, Psychoanalyse Auslandsstudium von den Beteiligten selbst gesehen? Die vorliegende Studie untersucht und Kulturwissenschaft, Popmu- anhand von 50 Leitfadeninterviews mit Erasmus-Studierenden, welche Wertzuschrei- sik und dem James-Bond-Phäno- bungen vorgenommen und wie diese diskursiv arrangiert werden. Vor dem Hintergrund men. Erasmus-Studium 1993/94 theoretischer Überlegungen zum Wert von Auslandsstudien (Michael Byram) und zu an der University of Limerick, Tendenzen des Fremdverstehens (Mario Erdheim und Jürgen Kramer) werden hierbei Irland. lediglich geringe Spuren neoliberaler Subjektivität im Sprechen über die Auslandserfah- rung nachgewiesen, die deutlich von Verweisen auf persönlichkeitsbildende, interkultu- relle und soziale Aspekte überlagert werden. Schlagwörter: Erasmus-Studierendenmobilität, Interkulturalität, Wert, Neoliberalismus, Bildung Abstract (English) Study abroad experiences are generally thought to have, among other things, significant economic value. Students are encouraged to enhance their CV and acquire important professional competencies through international experience, to develop their social and intercultural skills and, thus, their employability. But what value is seen by those involved in studying abroad? The present study uses semi-structured interviews with 50 former Erasmus students to investigate how participants evaluate the potential benefits of their stay and what discur- sive structures they use to speak about their assessments. Reading the interviews against the background of theoretical considerations on the value of studying abroad (Michael Byram) and modes of understanding foreign cultures (Mario Erdheim and Jürgen Kramer), the study shows that only slight traces of what could be called ‘neoliberal subjectivity’ can be detected in students’ responses. Stu- dents’ evaluations instead centre on aspects of personality formation, intercultural understanding and human bonding. Key words: Erasmus student mobility, interculturality, value, neoliberalism, education 65
1. Einleitung lichungen von Bildungsanbietern und Vermittlungsorganisationen wird der Nicht wenige Wissenschaftler*innen, ökonomische Nutzen eines Auslands- die sich mit der Entwicklung internati- studiums vermehrt in den Vordergrund onaler Studierendenmobilität befassen, gestellt. Hier wird gemeinhin darauf stellen fest, dass es bei den hieran be- verwiesen, dass Auslandsstudierende teiligten Institutionen und Individuen ihre „späteren Karrierechancen deutlich eine zunehmende Tendenz gibt, Aus- […] steigern“ (Education First o.J.), landsstudien zu einem großen Teil öko- indem sie arbeitsmarktrelevante Schlüs- nomisch zu verstehen (Byram 2008:32; selfertigkeiten stärken (NA/DAAD o.J.) Murphy-Lejeune 2008:22; Krzaklewska und, wie gelegentlich auch ausgeführt, 2008:83-84). So werden internationale „internationale Kontakte knüpfen“ Studiengänge, Summer Schools und (Auslandszeit o.J.), von fremden Lehr- multilaterale Austauschprogramme methoden „profitieren“ oder andere nicht selten entwickelt, um die At- „Märkte“ (Nationale Agentur 2013:65) traktivität der universitären Standorte kennenlernen können. Häufig gar wird zu erhöhen, Finanzierungsquellen zu der Wert des Auslandsstudiums in die- erschließen und die Bildungsprofile und sem Argument nicht mehr in den kon- Karrierechancen der Teilnehmer*innen kreten Erfahrungen und Kompetenzen zu verbessern. Das in der Breite wirken- gesehen, die erworben werden können, de Erasmus-Programm bildet hier keine sondern lediglich auf die Erfüllung Ausnahme. Bereits bei seiner Gründung elementarer Bewerbungsanforderun- durch den Rat der Europäischen Ge- gen bezogen, und gerinnt damit zur meinschaften wurde es als das wesentli- sich selbst bestätigenden Formel von che Ziel des Programms angesehen, die Marktfähigkeit und Berufserfolg durch innereuropäische Studierendenmobilität Internationalisierung (wenn der Aus- zu erhöhen, damit „die Gemeinschaft landsaufenthalt als ein den persönlichen auf einen ausreichenden Bestand an Portfoliowert steigerndes Element vor Arbeitskräften zurückgreifen kann, die allem wichtig erscheint, da er von Per- das wirtschaftliche und gesellschaftliche sonalabteilungen gerne gesehen und für Leben anderer Mitgliedsstaaten unmit- wichtig gehalten wird).2 telbar kennengelernt haben“ (Beschluss des Rates 1987:21). Verwertungslogik Dass die politischen Ziele derjenigen, und Standortrhetorik durchziehen die die ein Austauschprogramm einrichten Präambel des Ratsbeschlusses vom 15. und finanzieren, sowie die Verspre- Juni 1987, wo es heißt, dass durch das chungen und Ratschläge derjenigen, die Programm die „Wettbewerbsfähigkeit Bildungs- und Vermittlungsdienstleis- der Gemeinschaft auf dem Weltmarkt“ tungen anbieten, nicht identisch sein erhalten und das „geistige Potenzial müssen mit den tatsächlichen Absichten […] der Gemeinschaft […] wesentlich und Erfahrungen der Auslandsstudie- wirksamer ausgenutzt“ werden soll renden, liegt auf der Hand. Wer Eras- (ibid.). In der Verordnung vom 11. mus-Studierende beobachtet oder gar Dezember 2013 zur Einrichtung des selbst ein Erasmus-Studium verbracht Nachfolgeprogramms Erasmus+ geht hat, ahnt, dass die Motivlage der Teil- es prominent um die „Attraktivität der nehmenden weit über den Aspekt der EU als Studienstandort“ (Verordnung Wirtschaftlichkeit hinausgeht bzw. öko- 2013:51), die Sicherstellung eines „eu- nomische Überlegungen und Auswir- ropäischen Mehrwerts“ (ibid. 57) auf kungen eine in der Praxis deutlich un- großer Ebene sowie um die „Kompeten- tergeordnete Rolle spielen. Doch haben zen und Beschäftigungsmöglichkeiten“ bereits frühere Untersuchungen gezeigt, (ibid. 51), das „lebenslange Lernen“ dass berufliche Verwertungsüberle- (ibid.), kurz die Marktfähigkeit des*der gungen auch für Erasmus-Studierende Einzelnen.1 Auch in den Begleittexten eine nicht unerhebliche Rolle spielen der nationalen Agenturen, in Veröffent- (Murphy-Lejeune 2002; Krzaklewska 66 interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
2008). Zudem bleibt die Frage, inwie- 2. Die Methode dieser weit die von Kritiker*innen des Neoli- Studie: Leitfadeninterview beralismus konstatierte, „alle Bereiche und Diskursanalyse des Lebens“ erfassende Ökonomisie- Die in der Regel 10- bis 15-minü- rung, die Ausweitung einer „neolibera- tigen Gespräche wurden auf Basis len Rationalität“ auf zuvor nichtöko- eines Leitfadens geführt, der die Be- nomische Bereiche, Tätigkeiten und sprechung von acht bis neun Fragen Themen (Brown 2015:70), auch Spuren vorsah, die – wie den Studierenden bei hinterlässt im Denken und Sprechen Einladung zum Gespräch mitgeteilt – über die studentische Auslandserfah- unterschiedliche Aspekte der Erasmus- rung; inwieweit also der Auslandsauf- Studienerfahrung zum Gegenstand enthalt und die mit ihm zentral verbun- hatten. Befragt wurden Studierende dene Erfahrung des Kulturkontakts für der Ruhr-Universität Bochum, die das hier zunächst postulierte neoliberale im Akademischen Jahr 2018/19 oder studentische Subjekt zuvorderst zu im Wintersemester 2019/20 einen einem Element innerhalb seiner Be- Erasmus-Aufenthalt verbracht hatten. mühungen zur eigenen Wertsteigerung Die Teilnehmer*innen waren größ- oder Selbstoptimierung werden – und tenteils Bachelor-Studierende, die sich dies sowohl in engerem (Karriere) als zum Zeitpunkt des Interviews kurz vor auch in weiterem (Bereicherung, Kom- oder in ihrer Studienabschlussphase petenzzuwachs) Sinne.3 Es bleibt ferner befanden. Sie waren im Durchschnitt zu klären, ob die Aussagen über die im 23 Jahre alt. Zwei Drittel der Auf- interkulturellen Kontakt erhofften und enthalte der Befragten im Gastland gemachten Erfahrungen sich nicht im dauerten nicht länger als fünf Monate Gegenteil – oder wenigstens zum Teil – bzw. ein Studiensemester. Die Inter- neoliberalen Denkmustern widersetzen views wurden frühestens zwei Monate und stattdessen verweisen auf Formen und spätestens vier Monate nach dem von Subjektivität, die ihren Ausgang Aufenthalt durchgeführt. 60 Prozent nehmen nicht in Konzepten des Wett- der Befragten waren in einem Land bewerbs und des Marktes, sondern Vor- gewesen, dessen Sprache, Literatur und stellungen entspringen wie z.B. einem Kultur auch Gegenstand des von ihnen eher klassischen Bildungsideal, also dem belegten Studienfachs waren (wie z.B. Ziel der persönlichen Entfaltung des bei Studierenden der Romanistik, die Menschen (hin zum Weltbürgertum), in Spanien gewesen waren), der Rest oder anderen, stärker solidarischen hatte Zeit in Ländern verbracht, die Annahmen über das Verhältnis von nicht unmittelbar mit ihren hauptsäch- Mensch und Gesellschaft, von Eigenem lichen Studieninteressen in Verbindung und Fremden. Warum also gehen Stu- standen. Diese Studienfächer umfassten dierende für ein oder zwei Semester mit z.B. Jura, Medienwissenschaften, So- Erasmus ins Ausland?4 Was erhoffen sie zialwissenschaften und Biologie. Die sich von der Zeit, wie bewerten sie die häufigsten Gastländer waren Spanien persönlichen Auswirkungen der Erfah- (14 Befragte), das Vereinigte Königreich rung? Lassen sich den Sprechweisen der (10), Frankreich (8), Irland (4) und Auslandsstudierenden ökonomisierte Schweden (3). Vorstellungsmuster zum Kulturkontakt ablesen? Die vorliegende qualitative Die Fragen des Leitfadens waren so Untersuchung geht diesen Fragen an- gewählt und formuliert, dass den hand einer Auswertung von 50 Inter- Teilnehmer*innen großer Spielraum views mit Erasmus-Rückkehrer*innen gegeben wurde, ihre Sichtweisen zum nach. Komplex Erasmus-Erfahrung sprach- lich und inhaltlich frei zu entfalten, dass gleichzeitig aber auch sichergestellt wurde, dass die zentralen Themen der Untersuchung nach und nach und 67
aus sich verändernden Blickwinkeln bereits zuvor umfänglich besprochen heraus angesprochen wurden. So gab worden waren, nicht noch einmal ex- es über das Interview verteilt vier plizit gestellt wurden, dafür in manch Fragen, die mehr oder weniger explizit anderen Fällen weitere Einzelheiten, dazu einluden, Aspekte des Werts Klarstellung oder Beispiele erbeten oder Nutzens des Auslandsstudiums wurden. Das übergeordnete Ziel war anzusprechen: die offene erste Frage es, durch die dem Leitfadeninterview danach, wie den Interviewten ihre eigene „relativ offene[…] Gestaltung Auslandszeit gefallen habe (und warum der Interviewsituation“ (ibid. 194) den sie ihnen gefallen oder nicht gefallen spontanen Redeweisen des befragten habe); die anschließende Frage zur Subjekts breiten Raum zu geben. Dies ursprünglichen Motivation der Stu- um hierüber zum einen Einblicke in dierenden, am Erasmus-Programm die „subjektiven Theorien“ (ibid. 203) teilzunehmen („wenn Sie sich zurück- der Teilnehmenden zu erhalten über erinnern, was waren die Gründe, die das, was einen Erasmus-Aufenthalt Sie dazu bewegt haben, sich für einen lohnenswert erscheinen lässt5, als auch Auslandsaufenthalt zu bewerben?“), zum anderen intersubjektive Muster der die – mittels „retrospektive[r] Intros- subjektiven Theoretisierung nachweis- pektion“ (Flick 2017:197) – auf den bar zu machen, also überpersönliche, von den Studierenden zuvor erwarteten gruppenspezifische Gemeinsamkeiten Wert und Nutzen des Studiums abhob; im Reden und Reflektieren über die im weiteren Verlauf des Interviews dann Sinnhaftigkeit des Auslandsstudiums die direkt auf das Thema bezogene (denn erst durch die prinzipiell mögli- Frage nach den von den Studierenden che Beliebigkeit der Antworten werden verzeichneten ‚tatsächlichen‘ Auswir- ähnliche oder identische subjektive Ar- kungen des Aufenthalts („was sind Ihrer gumentationen und Sinnstiftungen, die Meinung nach die wichtigsten Dinge, in ihnen nachgewiesen werden können, die Ihnen der Aufenthalt ‚gebracht‘ hat, kulturwissenschaftlich relevant). die bleiben?“) sowie abschließend die Bei der Analyse der Interviews wurde Frage, ob und warum sie ein Erasmus- deshalb nicht nur darauf fokussiert, Studium ggf. Kommiliton*innen was die Teilnehmenden über ihre Mo- weiterempfehlen würden. Die übrigen tive, die möglichen Auswirkungen des Fragen des Interviews befassten sich mit Aufenthalts, den Wert der Erfahrung unterschiedlichen Teilaspekten der für aussagten, sondern vor allem auch ein Auslandsstudium so zentralen Er- darauf, wie diese Aussagen formuliert fahrung von Fremdheit und Kulturkon- wurden, welche sprachliche Beschaf- takt und boten damit die Möglichkeit fenheit sie hatten. Der Ansatz ist somit zu erforschen, inwieweit dieser Bereich eine analytische Mischform – von an sich in Dimensionen von Wert und Svend Brinkmann und Steinar Kvale unter deutlichem Selbst- oder Fremd- auch „Bricolage“ genannt (2018:132) bezug besprochen wurde. In den Fragen –, die sich neben dem Inhalt und der 3-5 ging es darum, wie Studierende mit (denotativen) Bedeutung des Gesagten Angehörigen der Gastkultur in Kontakt zentral auch mit der Form des Gesag- gekommen waren, wie sie ihr Verhältnis ten beschäftigt – und mit dieser Form zur Gastkultur beschreiben würden und des Gesagten primär als Konstruktion, ob sich ihr Bild von Angehörigen der nicht Reflektion von Bedeutung und Gastkultur verändert habe. Fragen 7 als ihrerseits konstituiert durch die und 8 widmeten sich möglichen prob- (verschiedenen) in einer Gesellschaft lematischen Erfahrungen während des begegnenden Diskurse. Dieser zur Dis- Aufenthalts sowie dem Verlauf der kul- kursanalyse neigende Ansatz basiert auf turellen Adaptation der Studierenden einer Reihe von Grundannahmen zum vor Ort. Der Leitfaden wurde insofern Verhältnis von Sprache und sozialer flexibel gehandhabt, dass Fragen, die Wirklichkeit (Rapley 2018:2-3) sowie 68 interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
von gesellschaftlichem Subjekt und Dis- Wendungen, bildsprachliche Formen kurs (Brinkmann & Kvale 2018:130). und konnotative Bedeutungen in den Demnach soll herausgefunden werden, Blick. Es soll z.B. darum zu tun sein, wie unterschiedliche gesellschaftliche die Bedeutungsunterschiede zwischen Diskurse (also die regelhaften Praxen Wendungen wie ‚andere Menschen über das, was zu einem bestimmten kennenlernen‘ und ‚Kontakte knüpfen‘, Thema in bestimmten Situationen und ‚sich weiterentwickeln‘ und ‚etwas dazu- institutionellen Kontexten gemeinhin lernen‘ interpretatorisch zu fassen und gesagt wird, was überhaupt sagbar ist auf ihre unterschiedlichen Funktionen oder nicht gesagt werden kann) sich im Feld der Sinnstiftung von Subjekt in den Äußerungen der Interviewten und Gesellschaft zu beziehen. Um manifestieren; wie unterschiedliche, die in den Interviews zum Ausdruck manchmal miteinander konfligierende gebrachte Diskursivität der Aussagen diskursive ‚Wahrheiten‘ miteinander besser verstehen und einordnen zu kön- in Beziehung gesetzt werden (ibid.), nen, werden diese in der Auswertung welche diskursiven Formen andere, vor dem Hintergrund wissenschaftli- alternative Formen rahmen, überlagern cher Besprechungen dominanter dis- oder vorübergehend aufheben etc. Ein kursiver Formulierungen zum Wert von diskursives Verständnis von Äußerun- Auslandsstudien sowie zu Konzepten gen in Interviews geht außerdem davon des Fremdverstehens gelesen. Kurz skiz- aus, dass das Subjekt des Interviews ziert werden sollen im Folgenden also sich wesentlich (erst) im Interview in zunächst zwei gängige Definitionen von Interrelationalität mit seinen sprachli- Wert, wie sie von Michael Byram für chen Äußerungen, seinen diskursiven den Bereich der Studierendenmobilität Bezügen konstituiert (ibid.). Die durch diskutiert, und vier „Modelle des Wahr- die Interviewanalyse herausgearbeitete nehmens fremder Menschen und ihrer Subjektivität der Interviewten wird Kulturen“ (Kramer 1999:38), wie sie vor allem verstanden als ein Effekt von Mario Erdheim und Jürgen Kramer der Diskurse, als eine Folge der unter- als jahrhundertealte, aber immer noch schiedlichen (aber nicht unbegrenzten) prägende Muster kultureller Begegnun- Subjektpositionen, die von den herr- gen identifiziert worden sind. schenden diskursiven Formationen bereitgehalten und den Sprechern ange- 3. Der Wert akademischer boten werden (Barker 2003:450). Mobilität Ist die hier vorgenommene Analyse also Byram unterscheidet zwischen zwei im Großen und Ganzen damit befasst, prinzipiell unterschiedlichen Bestim- herauszuarbeiten, welche Diskurse zum mungen von Wert: Da ist für ihn zum Wert von Auslandserfahrung in den einen der Wert, den eine Sache dadurch Interviews auf welche Weise zum Vor- erhält, dass sie gegen eine andere Sa- schein gebracht, miteinander verhan- che eingetauscht werden kann, und delt oder ausgeklammert werden (und zum anderen der Wert, der einer Sache verfolgt damit einen Foucault’schen beigemessen wird, ohne dass derartige Ansatz), so wird dies nicht zuletzt un- Äquivalenz- oder Tauschbeziehungen ter Berücksichtigung der spezifischen eine Rolle spielen. Ersteren nennt er Formulierungen der Äußerungen, der den ökonomischen, instrumentellen sprachlichen Organisation und Struktur oder monetären, letzteren den intrinsi- des Gesagten – kurz: dessen, was Nor- schen oder ethischen Wert (2008:31). man Fairclough „die Textur der Texte“ In seiner Diskussion des Werts von genannt hat (1995:4) – durchgeführt. Studierendenmobilität geht er davon Diese Anleihe bei einer Diskursana- aus, dass gemeinhin beide Arten von lyse im engeren (linguistischen oder Wert dort vorkommen (und sich ver- textwissenschaftlichen) Sinne nimmt mischen), wenn auch – wie er sagt – Aspekte wie Wortwahl, rhetorische ökonomische Überlegungen deutlich 69
im Vordergrund stünden und ethischen er die sprachliche Dimension pauschal zu mehr Gewicht verholfen werden als eine ethische versteht, da sie der sollte (ibid. 32). Für Byram sind Bei- persönlich-akademischen Entwicklung spiele ökonomischen Werts, wenn diene und intrinsische Beweggründe Studierende ein Auslandsstudium be- habe. Ebenfalls führt er z.B. das Sam- treiben, um ihre Jobchancen zu verbes- meln von schönen Erinnerungen als sern, wenn sie die Auslandszeit wie ein Beispiel rein ethischer Wertschöpfung Statussymbol in ihrem Persönlichkeits- an, da Erinnerungen als solche nicht profil zur Schau tragen, wenn sie über zu vermarkten seien (ibid. 36). Es wird ein lediglich instrumentelles Interesse deutlich, dass hier komplexe Gemen- am Gastland oder der dort erlernten gelagen leicht unterschätzt, dabei viel- Sprache nicht hinauskommen, wenn fältige Umwandlungsphänomene und sie ausländische Bildungsabschlüsse spezifische Kontexte nicht ausreichend kaufen wie eine Ware, die dazu dient, berücksichtigt werden: Auch Studieren- ihre eigene Lebensqualität zu erhöhen de eines philologischen Fachs erhoffen – und natürlich auch, wenn Bildungs- sich durch die während des Auslands- institutionen diese Abschlüsse wie eine aufenthalts verbesserte Sprachkompe- Ware auf dem internationalen Markt tenz eine Verbesserung ihrer Noten, zum Verkauf anbieten. Eine ethische ihrer Zeugnisse und späteren Lebens- Dimension von Wert sieht er hingegen chancen. Andererseits ist das selbstische – auf gesellschaftlicher Ebene – in der Streben nach ideeller persönlicher Verbesserung der Beziehungen zwischen Bereicherung, z.B. durch Ansammlung Ländern und Kulturen, der Schaffung wertvoller Erinnerungen, wenn wohl von verbindenden Elementen zwischen nicht ökonomisch motiviert, so doch Kulturen oder gar der Herausbildung sicher nicht als schlechterdings ethisch übernationaler Identitäten (z.B. einer oder intrinsisch zu begreifen und be- europäischen durch Erasmus; ibid. zeichnen. Und: Eine (teilbeabsichtigte 33-34) und – auf individueller Ebene und spätere) Umwandlung von Erin- – der Entwicklung der Persönlichkeit, nerungen in materiellen Gewinn oder dem Sammeln von Erkenntnissen, Ein- eine Optimierung des eigenen Leis- sichten und Erinnerungen sowie der tungsportfolios – wie oben besprochen Erlangung einer „critical cultural aware- – kann nicht kategorisch ausgeschlossen ness“ (ibid. 42), also der Fähigkeit, sich werden.6 Wollen wir Byrams erhellende kulturelle Differenzen und Gemeinsam- Zweiteilung des Werts des Auslandsstu- keiten bewusst zu machen, nicht nur diums nutzen, dürfen wir die Wertun- das Fremde sondern auch das Eigene zu terscheidung nicht an Personengruppen hinterfragen und über beides nicht auf oder globalen Zielen, nach denen ge- der Grundlage unreflektierter ethnozen- strebt wird, festmachen, sondern müs- trischer Normen zu urteilen. sen auf die für einen Auslandsaufenthalt Byrams Zweiteilung, so viel ist angeführten Begründungen fokussieren, klar, bleibt nicht ohne Grenzfälle auf die expliziten und impliziten Ele- und Probleme. So kann für ihn die mente der Äußerungen der Beteiligten gleiche globale Motivation (z.B. ein zu ihren Motivationen und den ge- Auslandsstudium zu machen, um planten wie beobachteten Wirkungen sprachliche Fähigkeiten zu verbessern) der Auslandszeit. Die Grenze zwischen in unterschiedlicher Wertschöpfung ‚ich bin persönlich gereift (und verhalte münden, abhängig davon, welcher mich aufgeschlossener gegenüber an- Personenkreis betroffen ist. Byram deren)‘ und ‚ich bin persönlich gereift unterscheidet zwischen Nicht-Sprach- (und werde deshalb erfolgreicher durchs studierenden, die sprachliche Vorteile Leben gehen)‘, also zwischen einem in- anstreben (und unterstellt diesen das trinsischen Wert und seiner möglichen Streben nach „exchange value“; ibid. wettbewerbsmäßigen Instrumentalisie- 35), und Sprachstudierenden, bei denen rung ist schmal und muss interpretativ 70 interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
an konkreten Diskursbeispielen heraus- vor, wenn fremde Kulturen hauptsäch- gearbeitet werden; hierfür ist neben der lich „unter dem Blickwinkel der Aus- Art, wie geredet wird, auch der größere beutbarkeit“ betrachtet werden (Kramer Kontext der Aussage entscheidend. 1999:38). Das Fremde gerät hierbei überhaupt nur soweit in den Blick, wie 4. Wie und warum es der Befriedigung eigener Interessen dem Fremden begegnen? nützlich sein kann. Dies kann wie in Vier Tendenzen Erdheims und Kramers Beispielen in Zusammenhang mit Systemen kolonia- Entscheidend bleibt aber vor allem, ob ler Administration und der Ausbeutung die geäußerten Motivationen für einen typischer Ressourcen geschehen, aber – Auslandsaufenthalt letztlich auf ein auf wie in oben ausgeführten Überlegungen das Selbst bezogenes Verwertungsin- angesprochen – auch im Rahmen der teresse hinweisen oder nicht. Ist dies Selbstwertsteigerung des neoliberalen der Fall, sei es in klassisch kompetitiver Subjekts wahrgenommen werden (wenn oder neoliberal selbstoptimierender Fremdheitserfahrung z.B. zur Aufbesse- Weise, so muss von einer instrumentel- len Wertsetzung ausgegangen werden. rung der eigenen Vita dient). Was von Ist dies nicht der Fall, so erscheint ge- der entfremdenden und verwertenden geben, was Byram als ethischen Wert Tendenz unter hohem Selbstbezug der versteht: ein Interesse am Anderen, das Anerkennung beraubt wird, rückt in aus sich selbst heraus besteht und nicht einer weiteren, der „idealisierenden“ auf Verwertungsgedanken des Selbst (Erdheim 1988:22) Tendenz in den zurückgeführt werden kann bzw. ein Mittelpunkt des Interesses und wird vom Eigeninteresse absehendes Ver- dort radikal anders bewertet. Das mitteln zwischen der eigenen und der Fremde erscheint mehrheitlich bis aus- fremden Position (wie in der „critical schließlich positiv, wird z.T. verklärt cultural awareness“ angelegt). Um den (wie im historischen Konzept des ‚edlen jeweiligen Fluchtpunkt des Interesses Wilden‘) und dient häufig als Vorbild am und im Kulturkontakt genauer fas- für das im Vergleich kritisierte Selbst. sen zu können, bieten sich die von Erd- So bleibt dieser Ansatz, auch wenn die heim identifizierten (und von Kramer idealisierende Tendenz die Abwertun- aufgegriffenen) „vier Tendenzen“ ethno- gen des entfremdenden Modells gera- logischen Denkens und Verhaltens an dezu umkehrt und dem Fremden maxi- (1988:15), abgeleitet zunächst aus den male Anerkennung zuteilwerden lässt, Beschreibungen, die spanische Gelehrte verhaftet in einem starken Rückbezug des 16. Jahrhunderts über die Kulturen auf die eigene Position (und damit der Neuen Welt verfassten, aber als ide- den entfremdenden und verwertenden altypische Formen gut übertragbar auf Tendenzen nicht unähnlich). Für Erd- heutige – und auch individuelle – Be- heim ist die Idealisierung des Fremden gegnungen mit dem Fremden. „in der Regel mit der Enttäuschung an der Normalität der eigenen Kultur Da ist zunächst die „entfremdende Ten- verknüpft, einer Enttäuschung, die bei denz“ (ibid. 18), die im Kulturkontakt der Motivation, [sich dem Fremden primär eine Bestätigung der eigenen zuzuwenden] eine entscheidende Rolle Überlegenheit, eine Legitimation der – spielt“ (ibid. 23.). so vorhanden – machtvollen Stellung gegenüber dem als fremd wahrgenom- Ist den ersten drei Tendenzen ge- menen anderen sucht. Das Fremde meinsam, dass ihnen „die spezifischen wird als minderwertig, als unvereinbar Eigenarten“ der fremden Kulturen mit dem eigenen Anspruch, als Verkör- entgehen müssen, weil sie das Fremde perung abzulehnender Eigenschaften ausschließlich mit den Augen und aus angesehen. Das Eigene erfährt im dem Interesse des Eigenen betrach- Kontakt eine Aufwertung. Eine zweite, ten (Kramer 1999:38), eröffnet sich „verwertende Tendenz“ (ibid. 21) liegt in einer vierten, der „verstehenden“ 71
(Erdheim 1988:24) Tendenz ein quasi- Fremden und schon gar nicht ein Inter- ethnologischer Ansatz, der davon ab- esse am Eigenen reduziert werden kann. sieht, eigene Maßstäbe anzulegen, und Das verstehende Modell des Fremdkon- darauf bedacht ist, durch Empathie takts weist große Übereinstimmungen und Perspektivenwechsel das Fremde mit den Grundannahmen Byrams über auch aus seiner (fremden) Sicht zu er- den intrinsischen oder ethischen Wert fahren und zu bewerten. Dieser Ansatz von Auslandsstudien auf. entwickelt sich dort, „wo das Fremde, 5. Was hat es gebracht? Die trotz aller Fremdheit, das Gefühl von Antworten aus 50 Interviews Vertrautheit erweckt. Voraussetzung dazu ist die Bereitschaft des Subjekts, 5.1 Muster im Material zwischen sich und dem Fremden eine Bevor eine detailliertere Diskursanalyse gemeinsame Basis herzustellen“ (ibid.), der Aussagen der Teilnehmer*innen zur die jedes Überlegenheitsgefälle aus- Bewertung ihrer Auslandserfahrungen schließt. Voraussetzung ist auch, dass durchgeführt wird, soll hier zunächst die Bereitschaft und Fähigkeit besteht, auf eine Reihe von allgemeineren Er- stets auch Fremdes im Eigenen und kenntnissen hingewiesen werden, die Eigenes im Fremden wahrzunehmen. aus der Auswertung des Materials her- Für Kramer, der wie Erdheim psycho- vorgegangen sind: Zum einen ist fest- analytische Überlegungen in den Vor- zustellen, dass sich in keinem der Fälle dergrund stellt, ist klar: „Eine fremde die in einem Interview gemachten Aus- Kultur und Gesellschaft verstehen zu sagen nur lediglich einer Rede-/Erfah- wollen, ohne das Fremde in uns in den rungsweise zuordnen lassen. Vielmehr Blick zu nehmen, ist stets zum Schei- ist der Regelfall ein Nebeneinander oder tern verurteilt.“ (1999:49) Gelungenes eine Verknüpfung unterschiedlicher Fremdverstehen hängt davon ab, dass Formulierungen und Perspektivierun- Wahrnehmungen nicht primär auf die gen. So z.B. wenn durch den Aufenthalt Eigenkultur bezogen werden, indem erzielte Verbesserungen im sprachlichen das kulturelle Objekt durch das Subjekt Bereich in den parametrisierten Katego- angeeignet oder untergeordnet wird rien des Europäischen Referenzrahmens (wie durch Entfremdung und Verwer- ausgedrückt werden, der Aufenthalt als tung) oder das Subjekt an das Objekt gewollte „Herausforderung“ gedeutet gewissermaßen enteignet wird (wie wird, die zu mehr Durchsetzungs- und durch Idealisierung und Assimilation), Konfliktfähigkeit geführt hat, ein sondern dass – „in einem komplizier- starker Selbstbezug hergestellt wird in ten Wechselspiel der Erhellung“ (ibid. Formulierungen wie „ich wollte mal die 50) – als eigen und als fremd wahrge- Auslandserfahrung haben […], dass ich nommene Positionen miteinander in mal selber in ein Land gehe und mich Beziehung gebracht und verhandelt, mit mir auseinandersetze“, gleichzeitig revidiert und verworfen, Perspektiven aber auch betont wird, wie gut es war fortlaufend gewechselt werden. Dies ist „Freundschaften“ zu schließen, „andere kein abschließbarer Vorgang, sondern Leute kennen[zu]lernen und die Kul- ein andauernder Prozess zwischen An- tur“ (Int. 32). Oder wenn neben den näherung und Rückzug, vorläufigen sprachlichen Zugewinnen (wiederum Erkenntnissen und fortlaufenden Revi- ausgedrückt in der Systematik des Re- sionen der Beobachtungen über eigene ferenzrahmens) in den Antworten u.a. und andere Kulturen (ibid.). Verste- auch abgezielt wird auf „das Wichtigs- hende Tendenzen im interkulturellen te, was sich jetzt… ich sag mal… für Kontakt sind damit geprägt durch ein später, fürs Berufliche ergeben hat“, Interesse am Kontakt selbst, an den der Aufenthalt als „eine sehr schöne durch ihn möglich gemachten Erfah- Herausforderung“ gesehen wird, bei rungen und Erkenntnissen. Dies ist ein der man „viel gelernt hat“, besondere Interesse, das nicht auf ein Interesse am Betonung aber auch „der Kontakt mit 72 interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
vielen internationalen Leuten“ erfährt, 2003:94-95). In den Interviews stellt der maßgeblich zu folgendem Resümee sich dies so dar, wenn z.B. eine Teil- führt: „da hat man natürlich auch viele nehmerin berichtet, für sie „waren auch schöne Tage erlebt, privat, sozial“ (Int. super wichtig, die Kontakte, die ich 13). Gedanken zur Verwertung und dort geknüpft habe“, sich im Verlauf Selbstoptimierung stehen neben Über- des Gesprächs aber ergibt, dass diese legungen zur Persönlichkeitsbildung, Beziehungen gemeinsame hobbymäßige Zweckorientierung schließt intrinsische Interessen und Solidaritätsaktionen, Wertzuschreibung (der „schönen“ Er- nicht persönliches wirtschaftliches Vo- fahrung) nicht aus, klarer Selbstbezug rankommen zum Gegenstand hatten changiert zu Fremdbezug, dann Grup- (Int. 48), eine andere als Positives des penbezug und zurück. Es ist klar und Auslandsaufenthalts angibt, dass man zu erwarten, dass die Komplexität der „Input“ bekommt und „wieder flexib- Auslandserfahrung in den reflektierten ler“ wird, dann aber deutlich wird, dass Betrachtungen der Teilnehmer*innen es ihr im Wesentlichen um „Kreativität nicht auf die eine Motivation, die eine und Austausch“ mit anderen und ur- Auswirkung reduziert wird. Dennoch sprüngliche Naturerlebnisse geht (Int. lassen sich – und das ist im Folgenden 40). Ähnliche Bedeutungsspielräume hier praktiziert worden –, unter Be- und -verschiebungen lassen sich bei rücksichtigung des jeweiligen gesamten Erwähnungen des Auslandsaufenthalts Kontexts und der Struktur eines Inter- als „bereichernd“, „lohnend“ und „wert- views, seiner logischen Verknüpfungen voll“ feststellen, die je nach Kontext und Entwicklungen, seiner Betonungen auf die Aufbesserung des Lebenslaufs und Priorisierungen und nicht zuletzt (Int.28) und der Sprachkompetenz (Int. im Vergleich mit den anderen Inter- 28, 44), die Erfahrung internationaler views deutliche Tendenzen erkennen Freundschaften und sozialer Gemein- und Gewichtungen vornehmen. schaft (Int. 3, 5, 27) und die Herausbil- dung von Persönlichkeit und Charakter Diese Interpretationsarbeit ist beson- (Int. 3, 37) bezogen werden, hierbei ders angezeigt, da – und dies ist die zumeist aber, metaphorisch benutzt, auf zweite allgemeine Erkenntnis – in den die Zuschreibung eines eher intrinsi- Aussagen z.T. sprachliche Formen ver- schen denn monetären Werts verweisen. wandt werden, die auf einen speziellen Erfahrungsdiskurs, einen Motivations- Ein dritter Punkt betrifft zwei der hintergrund hinzuweisen scheinen, der vier oben vorgestellten Kategorien Kontext aber eine völlig andere Bedeu- der Fremdwahrnehmung nach Erd- tung oder Sprechabsicht nahelegt bzw. heim und Kramer: Den Aussagen der erst durch den Kontext klar wird, wie Teilnehmer*innen lassen sich keine die gemachte Einzeläußerung zu verste- auch nur annähernd deutlichen Ten- hen ist. Dies ist in Zusammenhang mit denzen der Idealisierung, geschweige der in dieser Untersuchung zugrunde denn der Entfremdung ablesen. Die gelegten Beziehung zwischen Diskurs Kulturen der Gastländer werden weder und Subjektivität von Bedeutung. Dis- verherrlicht noch pauschal abgelehnt. kurse konstituieren Subjektivitäten, Gesehen wird im Fremden Positives wie aber Diskurse sind wandelbar, lassen Negatives, zum Teil unter explizitem sich nicht ausschließlich an der Ober- Rückbezug auf das Eigene, dessen po- fläche sprachlicher Zeichen festmachen, sitive und negative (Teil-)Aspekte für an ihren Signifikanten, sondern gehen einige Teilnehmer*innen im Vergleich ihrerseits aus sozialen Praktiken und dann ebenfalls deutlicher hervortreten. Bedeutungsgebungen, den Verhältnis- Durchgängig überwiegt der Modus des sen von Signifikanten und Signifikaten, Differenzierens und Relativierens, des ihrer jeweiligen spezifischen ‚Artikulati- Überprüfens und häufigen Modifizie- on‘ hervor (Hall 1996:14), unterliegen rens vorheriger Beobachtungen, Annah- einer prinzipiellen Polysemie (Barker men und Einstellungen. Dies wird in 73
den Antworten zu den Fragen nach der Einheimischen betrifft, positiv über- Beziehung zum Gastland, seiner Men- rascht wurden und dadurch ein Vor- schen und seiner Kultur, dem evtl. ver- behalt, also gewissermaßen eine zuvor änderten Bild von den Einheimischen, bestehende Entfremdung aufgehoben aber auch der allgemeinen Frage nach wurde. Diese Stimmen sprechen davon, dem Verlauf des Aufenthalts oder der dass sie „ein runderes Bild bekommen“ konkreteren Frage nach etwaigen Prob- haben (Int. 48), dass der Aufenthalt lemen deutlich. Die meisten Befragten sie „etwas desillusioniert“ hat (Int. 40), berichten, dass sie ein gutes, engeres dass sie „die rosarote Brille […] dann Verhältnis zum Gastland und den dort auch abgesetzt“ haben (Int. 18), dass lebenden Menschen aufgebaut haben, die Einschätzung der anderen Kultur einige verweisen auf Aspekte, die sie „realistischer geworden“ ist (Int. 26) besonders schätzen gelernt haben und oder dass sie das andere Land kurz nach evtl. auch gerne in ihre Alltagspraxis im ihrer Rückkehr nach Hause „vielleicht Heimatland übernehmen würden, den- ’n bisschen glorifiziert“ haben, jetzt aber noch werden (auch von ihnen) Dinge, zu einem abgewägten Urteil kommen die als weniger gut empfunden wurden, (Int. 15). Wie eine Befragte zu den von allgemein wahrgenommen und im Ge- ihr gemachten Aussagen über die beo- spräch thematisiert (wenn auch nicht bachteten Eigenarten der (Angehörigen immer so pointiert ausgedrückt wie in der) Gastkultur hinzufügt: „es gibt auch Int. 48: „manches fand ich besser, man- immer das Gegenteil“ (Int. 6). ches fand ich schlechter“). Selbst in Äu- Die geringe Rolle von Idealisierung ßerungen, die annähernd idealisierend und vor allem Entfremdung können oder ablehnend daherkommen (z.B. zum einen sicherlich mit der konkreten „generell die Menschen in Irland sind Interviewsituation und herrschenden super“, Int. 49; „alle total hilfsbereit“, sozialen Erwünschtheitserwartungen Int. 4; „hab mich an der RUB wohler zusammenhängen. Vorurteile, also „ab- gefühlt“, Int. 43), ist in den Urteilen lehnende oder feindselige Haltungen“, keine pauschale Erhöhung oder Kritik aber auch Stereotype gegenüber ethni- an der eigenen Kultur erkennbar: Es schen, nationalen oder anderen sozialen werden stets eher ausgewählte Aspekte Gruppen mögen heutzutage nicht mehr miteinander in Beziehung gesetzt (z.B. allzu offen geäußert werden (Petersen die Uni-Systeme, die Ausgehkulturen, & Six 2008:109), zumal in einem aka- die Umgangsformen) und mag es hie demischen, kulturwissenschaftlichen und da noch zu einer gewissen Homo- Setting wie den hier durchgeführten genisierung der besprochenen Gesell- Gesprächen zwischen Lehrperson und schaftsbereiche und Personengruppen Studierenden. Auch einseitig positive kommen, so ist ein stark generalisieren- Äußerungen oder vollkommen unkri- der und radikal wertender Rückbezug tische Begeisterung verbieten sich in so auf die eigene nationale Gruppe – ex- einem Kontext im Prinzip aufseiten der plizit wie implizit – im Prinzip davon Befragten. Aber zum anderen ist auch ausgeschlossen. Doch nicht nur, dass festgestellt worden, dass tatsächlich Idealisierung und Entfremdung in den unter zurückgekehrten Erasmus-Studie- Antworten so gut wie keine Rolle spie- renden, im Vergleich zu Studierenden, len: Nicht wenige Teilnehmer*innen die keinen längeren Auslandsaufenthalt sprechen den Problemkomplex von Ide- absolviert haben, nationale Stereotype alisierung und Entfremdung selbst of- zwar nicht durchweg abgelehnt oder fen an, wenn sie z.B. erläutern, dass der gemieden werden, ganz im Gegen- Aufenthalt bei ihnen zu einem Verlust teil, diese aber in auffälligem Maß früherer Romantisierung der fremden im Diskurs subjektiviert, relativiert Kultur geführt hat oder dass sie, was und (unter)differenziert werden (Viol gewisse wahrgenommene Verhaltens- 2020:479). In Summe lässt sich festhal- weisen und Charaktereigenschaften von ten, dass die von Erdheim und Kramer 74 interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
in alten Fremdheitsberichten festge- an. Genannt werden auch eine bereits stellten Tendenzen von Idealisierung bestehende stärkere Nähe oder Affini- und Entfremdung ausbleiben, wie auch tät zum Gastland, Neugier auf andere der ihnen zugrundeliegende überhöhte Menschen und Situationen sowie Lust ethnische Selbstbezug, die Fokussierung am Reisen. In 32 der 50 Interviews wer- auf das nationale Eigene. Das in den den derartige Motivationen verzeichnet. Interviews zum Ausdruck gebrachte Ei- In 21 Gesprächen wird darüber hinaus gene, das dem Fremden sehr wohl sehr konkret die Verbesserung der Sprach- zentral gegenübergestellt wird, ist eher kompetenz angesprochen. Hier variiert ein privat-persönliches Eigenes, nicht die dahinterliegende Motivation, soweit die Zugehörigkeit zu einer als homogen sie thematisiert und erkennbar wird, wahrgenommen ethnisch-nationalen von einem Interesse an der Sprache an Gruppe. sich („weil ich die Sprache total schön finde“, Int. 38; „hab vorher auch schon Schließlich ist zu erkennen, dass es ei- Spanisch gelernt, ohne Hintergedan- nen sehr deutlichen Unterschied gibt ken“, Int. 22) zu deutlich instrumen- zwischen den Äußerungen, in denen telleren Wertungen: Der Auslandsauf- die Teilnehmer*innen ihre Ziele und enthalt wird hier gesehen als „adäquate Motivationen für einen Aufenthalt, also Möglichkeit, seine Sprachfähigkeit zu seine erwarteten Auswirkungen retros- trainieren“ (Int. 14), er verleiht mehr pektiv beschreiben, und den Passagen, sprachliche „Sicherheit im Studium“ in denen sie über die ihrer Meinung (Int. 2). Die Verbesserung des Sprach- nach tatsächlich eingetretenen Auswir- niveaus wird – über Verweise auf eine kungen der Auslandszeit berichten – Verbindung zum allgemeinen Studi- und zwar sowohl inhaltlich als auch in eninteresse hinaus – in Verbindung den Sprechweisen der Befragten. Grob gebracht mit beruflichen Zielen („also gesagt spielen Selbstbezug und Verwer- ich möchte ja Englischlehrerin werden“, tungsgedanken klassischer Art (zum Teil Int. 29; „wie soll ich Lehrerin werden, in verbrämender Form) in der erinner- ohne die Sprache richtig zu sprechen?“, ten Motivation eine größere Rolle als Int. 21; „weil es [als Lehrer] einfach in der Einschätzung der Auswirkungen, Sinn macht, ein gutes Englisch zu spre- während in letzterer Verwertungsgedan- chen“, Int. 11) und auch zum Teil aus- ken eher neoliberaler Couleur zum Tra- gedrückt in der Sprache des ‚unterneh- gen kommen, aber insgesamt deutlich von Verweisen auf Persönlichkeitsbil- merischen Subjekts‘ (Hall 2017:327), dung und vor allem auf soziale Aspekte das sein aus verschiedenen Kompe- überwogen werden. Immer wieder tenzen bestehendes Leistungsportfolio wird hier der hohe Wert des ‚Leute- ständig im Blick behalten muss: „es ist kennenlernens‘ und des Schließens von gut, mehrsprachig aufgestellt zu sein“ Freundschaften herausgestellt (Int. 4, (Int. 19), „mir war klar, dass ich da auf- 5, 8, 10, 13, 15, 17, 18, 21, 22, 23, 24, stocken sollte“ (Int. 13), „ich wollte B2, 26, 27, 29, 31, 32, 33, 34, 35, 37, 38, vielleicht C1, so die Ecke“ (Int. 3). 39, 41, 42, 44, 45, 49, 50). Verwertende Tendenzen kommen auch in einem weiteren Bereich zum 5.2 Vorher Ausdruck: Die große Mehrheit der Als Gründe für ihre Bewerbungen um Studierenden, die per Studienordnung einen Erasmus-Studienaufenthalt geben zu einem Auslandsaufenthalt ver- die Befragten in ihren Erinnerungen pflichtet sind, erwähnt gewissermaßen vor allem Interesse an dem ausge- ‚wahrheitsgemäß‘ und der Vollstän- wählten Gastland (und seiner Kultur, digkeit halber, dass ein Grund für ihre Sprache und Literatur), am Kennen- Erasmus-Bewerbung die vorliegende lernen von neuen Kulturen generell Obligatorik war. Auch hier gibt es eine sowie am dann möglichen Vergleich Bandbreite von Äußerungen, die auf zwischen dem Neuen und Bekannten der einen Seite eher die Plicht in den 75
Mittelpunkt der Begründung stellen mir zum Schluss noch aufgehoben hab („es ist verpflichtend“, Int. 14; „es ist […] zum Kraft tanken“ (Int. 3). Dass quasi Pflicht“, Int. 4; „der Hauptgrund hier eher nicht das Fremde, sondern war ja, dass es obligatorisch war“, Int. das Selbst – die verwertende Tendenz, 10), eine große Mehrheit, die auf die nicht die verstehende – im Zentrum Pflichterfüllung als einen Grund unter der Überlegungen zu stehen scheint, verschiedenen verweist (z.B. „einmal wird deutlich wenn man bemerkt, dass weil’s in meiner Studienordnung steht“, als Motiv häufig angegeben wird, dass Int. 15; „einerseits weil ich sowieso ins es den Sprecher*innen in diesen Teilen Ausland musste“, Int. 49; „einerseits na- der Aussage prinzipiell darum geht, türlich die Pflicht, weil das gehört zum woanders zu sein, weg von zuhause, Studium dazu“, Int. 30) und auf der aber nicht an einem bestimmten Ort, anderen Seite Stimmen, die die Erfül- in einer bestimmten Kultur, der bzw. lung der Pflicht nicht als maßgebliches die für sich das Interesse der Studieren- Kriterium stehen lassen wollen, son- den geweckt hat: „ich wollte gerne weg dern andeuten, dass die Hauptgründe von zuhause“ (Int. 17); „ich wollte halt in einem anderen Bereich liegen bzw. einfach mal weg“ (Int. 20); „ich muss die bestehende Pflicht sich mit eigenen nochmal raus“ (Int. 24); „ich wollte ei- Interessen deckt, die unabhängig davon gentlich auch schon länger mal weg von bestehen: „wir müssen ja ’n Auslands- zuhause“ (Int. 36); „dass man einfach aufenthalt machen, aber das war sowie- auch rauskommt“ (Int. 45); „einfach so mein Ziel“, Int. 31; „die Obligatorik nochmal […] ein bisschen auszubre- war auch ein Grund, warum ich über- chen und […] sich neuen Input zu ho- haupt Anglistik gewählt hab“, Int. 50. len“ (Int. 40); „dass ich mich in einem Land selber mit mir auseinandersetzen Bei ungefähr einem Drittel der Be- muss“ (Int. 32). Das Ausland wird zu fragten lassen sich außerdem Motive etwas, das dem Ich etwas geben kann, erkennen, die ihren Ausgang in einem bei dem es sich etwas holen kann, das es starken Rückbezug auf eigene Interes- komplementieren, bereichern, weiter- sen, nicht auf das Interesse am Frem- bringen oder ändern wird. den, nehmen („letztlich ist es doch was, was man für sich macht“, Int. 33; Aussagen, die noch deutlicher auf „aber ich glaub hauptsächlich für einen Selbstbezug und verwertende Ten- selbst“, Int. 45; „für einen selber“, Int. denzen in der Ursprungsmotivation 34). Der Auslandsaufenthalt bietet hier hindeuten, sind nicht sehr häufig (und eine Erfahrung, die man für sich, seine kommen lediglich bei einem Fünftel „persönliche Weiterentwicklung“ (Int. der Interviews vor), sind aber – vor al- 33, 34) haben will („weil ich eben die lem was die Verweise auf den Komplex Erfahrung machen wollte“, Int. 5; „aber der Lebenslaufaufbesserung angehen vorrangig war auch der Gedanke, die- – in ihrer Art nicht uninteressant. So se Auslandserfahrung zu haben“, Int. wird die Idee, dass ein Auslandsauf- 30), er wird gesehen als wichtige Phase enthalt den Lebenslauf aufwertet, zwar im eigenen Leben, als Belohnung, angesprochen, aber in dementierender, Entschleunigung, Abwechslung und entschuldigender oder auffallend bei- somit als persönliche Lebenschance, die läufiger Weise: „ich würd jetzt gar nicht man sich nicht entgehen lassen darf: so unbedingt sagen, dass es so für… für „also hier an der RUB wurd’s mir zwi- meinen Lebenslauf oder so ist, ne… ist schenzeitlich ’n bisschen zu langweilig, natürlich auch immer schön, das ir- sag ich mal, da wollt ich halt mal ’n gendwie so irgendwo stehen zu haben“ bisschen Abwechslung“ (Int. 23); „ich (Int. 45); „zumindest der Ausblick, wollte ’ne Auszeit“ (Int. 43); „Zeit für das ’n Auslandssemester immer gut im mich“ (Int. 34); „im Studium möchte Lebenslauf auch untergebracht werden ich auch gerne nochmal was anderes kann… natürlich wär das sinnlos, das sehen“ (Int. 46); „das Schöne, was ich zu verschweigen, dass das auch rein- 76 interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
spielt“ (Int. 42); „also Auslandserfah- 5.3 Nachher rung auch so klassisch auf ’m Lebenslauf kommt halt immer gut. Ist ja so’n Klas- Was sind also die Haupttendenzen in siker quasi, das gehörte natürlich auch den Antworten zur Frage nach den dazu“ (Int. 34); „also ich hab mir schon möglichen Auswirkungen des erlebten überlegt, dass ’n Auslandsaufenthalt Aufenthalts? Liegen die Schwerpunkte natürlich auf ’m Lebenslauf auch gut beim Eigenen oder beim Fremden, aussieht“ (Int. 28). Die Befragten ken- auf intrinsischen oder instrumentellen nen das karrierebezogene Argument für Werten? einen Aufenthalt, möchten es sich aber Die Hälfte der Befragten – also ähnlich nicht komplett zu eigen machen oder viele wie bei der Frage nach den Aus- ihm eine ausschlaggebende Bedeutung gangsmotivationen – gibt an, dass die zusprechen. Es wird deutlich, dass sie Erweiterung der Sprachkenntnisse die davon ausgehen, dass es im Prinzip für Auslandserfahrung lohnenswert ge- unerwünscht gehalten wird, den Aus- macht hat bzw. empfehlenswert macht. landsaufenthalt auf eine berufsbezogene Genannt werden hier u.a. die Verbesse- Verwertung zu reduzieren und dass sie rung des Vokabulars, der mündlichen aus diesem Grund die instrumentellen oder schriftlichen Ausdrucksfähigkeit, Tendenzen zwar erwähnen, aber gleich der Alltagstauglichkeit der Fähigkeiten, abschwächen. Immerhin: Die wenigen aber vor allem auch des sprachlichen Eingeständnisse können vermuten Selbstbewusstseins. Der Duktus der lassen, dass ähnliche Erwägungen von Aussagen bleibt hierbei oft neutral, lässt Erwünschtheit andere Befragte dazu bisweilen aber auch eine stark verwer- führen, die instrumentelle Motivation tende Tendenz, zumindest aber eine zur Aufbesserung des Lebenslaufs gar interessante rhetorische Verbindung zu vollständig unerwähnt zu lassen. Konzepten von Selbstentwicklung und Die übrigen Hinweise auf Verwer- Wettbewerbsorientierung erkennen. tung kreisen um die Komplexe des Wie auch im Vorher-Bereich der Studie beruflichen Weiterkommens durch verweisen einige Teilnehmer*innen auf Eröffnung neuer Perspektiven (Int. 19, den erwarteten späteren beruflichen 34, 44), des großen effizienten Nut- Nutzen des „gesteigerten Sprachni- zens der Erasmus-Studienmöglichkeit veaus“ („das ist auf jeden Fall ’n guter (keine ‚Verschwendung‘ von Zeit und Punkt, der mir auch beruflich super Aufwand durch Anrechnung der Stu- weiterhelfen wird“, Int. 34), fassen dienleistungen und optimale organi- die Auswirkungen als Kompetenzent- satorische Unterstützung; Int. 10, 15, wicklungen, -gewinne oder -zuwächse 21, 31, 46, 50) und – in vereinzelten auf („sprachlich hat sich das Ganze Ansätzen – dem Wunsch nach persönli- weiterentwickelt“, Int. 25; „die Sprach- cher Herausforderung (Int. 32, 34, 38), fertigkeiten werden ausgebildet […], zum Teil ausgedrückt in sprachlicher das hat mich nach vorne gebracht“, Int. Nähe zu Wettbewerbs- und Selbstopti- 44) und werten den Aufenthalt in die- mierungsgedanken (wenn Befragte in ser Hinsicht als ein Mittel zum Zweck dem zukünftigen Aufenthalt eine Mög- („der beste Weg, um sowas zu lernen“, lichkeit sahen, „Bestätigung“ zu erfah- Int. 12).7 ren, „eigene Hürden zu überspringen“, „gefordert“ oder „flexibler“ zu werden; 5.4 Neoliberale Subjektivi- Int. 38, 30, 17, 41). In der erinnerten tät … Planung nur selten vorkommend sind Ähnlich der hier festgestellten Verbin- es gerade diese Aspekte der Persönlich- dung zwischen Sprachenlernen und keitsbildung oder neoliberal angelegten Kompetenzsteigerung finden sich auch Selbstverbesserung, denen in der Be- in der allgemeinen Auswirkungsein- wertung der Auswirkungen des Aufent- schätzung der Befragten Aussagen, die halts später deutlich mehr Bedeutung auf eine Bewertung der Auslandserfah- zugemessen wird. 77
rung nach (neoliberalen) Kriterien „wie dann resultierende „Bestätigung“ (Int. Konkurrenz, Durchorganisation und 48) in der Erkenntnis, „dass man es Vorteils-Nachteils-Kalkulationen“ (Fen- auch schafft“ (Int. 4) und darin, dies ner 2020) zur Steigerung des eigenen „sich und allen zu beweisen“ (Int. 35). Portfoliowerts hindeuten. Spuren eines Im Vergleich wird der Zustand vor dem solchen Diskurses durchziehen knapp Aufenthalt bzw. ohne Aufenthaltserfah- 20 der Interviews, sind damit also rung dann zur „Komfortzone“ (Int. 48), häufiger als in der Vorher-Betrachtung die verlassen werden sollte. Herausfor- der Studie, erlangen in den Aussagen derungen werden „gemeistert“ (Int. aber nie Dominanz, mischen sich mit 28, 35), das gegenwärtige Selbst wird anderen Einschätzungen und bleiben „überwunden“ (Int. 20, 28). zumeist marginal. Sprachlich sind diese Äußerungen nicht So sehen einige Studierende in dem immer unähnlich denen, die auf Per- Aufenthalt z.B. einen willkommenen sönlichkeitsentwicklung im eher klas- Druck zur persönlichen Leistungsstei- sischen Sinn abheben, und überlagern gerung, dessen erfolgreiche Bewältigung sich teils mit ihnen, doch fokussieren sie auf spätere (berufliche) Situationen diese neoliberal anmutenden Passa- vorbereitet („es gab ’nen größeren gen noch deutlicher auf – und sind Druck […], da muss man sich eben eingebettet in Kontexte von – Subjek- drauf einlassen“, Int. 48). Hierbei geht tivität, die das Selbst als ein auf sich es nicht so sehr um späteren Erfolg gestelltes, gut zu organisierendes und bei der Ausübung eines bestimmten zu optimierendes Element in einer Berufs, sondern um eine allgemeine Wettbewerbsgesellschaft fasst. Dies ist Selbstflexibilisierung, mit der man auf abzulesen an Antworten, die die gestei- verschiedenste künftige Anforderungen gerte Selbstorganisationsfähigkeit mit reagieren kann. Es ist eine Herausforde- in den Vordergrund stellen (z.B. Int. 5, rung, die auf das Bestehen kommender 12, 24, 37, 41), die hinzugewonnene Herausforderungen, eine Erfahrung, die Durchsetzungsfähigkeit betonen (Int. 5, auf zukünftige Erfahrungen vorberei- 19, 32; „ich hab auf jeden Fall gelernt, tet – kurz: eine Investition in das sich mich durchzuschlagen“, Int. 41) oder ständig weiter(zu)entwickelnde Selbst: das persönliche Vorankommen hervor- „man muss sich zwangsläufig zurecht- heben: „es hat mich jetzt auf jeden Fall finden […], das ermöglicht einfach, ordentlich… für zuhause… gepusht“, dass man… kommunikative Kompe- Int. 46; „das hat mich persönlich sehr tenzen entwickelt, die einem dann für weitergebracht“, Int. 25; „das hat den weiteren Werdegang ungemein hilf- mich… sag ich mal… weitergebracht“, reich sein können“ (Int. 7); „das waren Int. 23. In einigen wenigen Äußerun- Situationen, mit denen man im Alltag gen erscheinen so selbst Aspekte, die später auch konfrontiert wird, wenn Verbindung zum Sozialen oder der man beispielsweise sich einen Beruf Persönlichkeitsbildung haben (wel- suchen wird“ (Int. 44); „das wichtigs- che insgesamt die größte Rolle in den te, was sich jetzt… ich sag mal… für Nachher-Betrachtungen spielen; s.u.), später, fürs Berufliche ergeben hat“ im Lichte von Konkurrenzverhältnis- (Int. 13); „der erste Schritt mal in die sen und Marktorientierung, wenn z.B. Zukunft“ (Int. 4); „so dass ich dann gewachsene Selbständigkeit meint, dass weiß, dass ich das in Zukunft vielleicht man gelernt hat, „sich auf sich selber zu nochmal machen kann und schaffen verlassen“ (Int. 48), „ich bin besser im würde“ (Int. 28). Erwähnt werden in Umgang mit anderen Menschen gewor- diesem Zusammenhang die Vorzüge der den“ (Int. 32) primär auf verbesserte Selbstherausforderung, des Abbauens Konfliktfähigkeit abhebt, die Übung von Hemmungen, des „ins kalte Wasser im Kennenlernen von Menschen als geschmissen zu werden“ (Int. 33) und Vorbereitung für die Jobsuche gesehen die aus einer erfolgreichen Bewältigung wird (Int. 44) oder das internationale 78 interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
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