Das Verstehen fremder Kulturen und der Wert von Erasmus: Eine Interview-Studie

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Das Verstehen fremder Kulturen und
    der Wert von Erasmus: Eine Interview-
    Studie
     Understanding Foreign Cultures and the
     Value of Erasmus: An Interview Study

Claus-Ulrich Viol                  Abstract (Deutsch)

Dr., Akademischer Oberrat an
                                   Auslandsstudien wird im Allgemeinen und nicht zuletzt ein bedeutender ökonomischer
der Ruhr-Universität Bochum.
                                   Wert zugeschrieben. Studierende werden ermutigt, durch internationale Erfahrung
Forschung im Bereich der British
                                   wichtige berufliche Referenzen und Kompetenzen zu erwerben, ihre sozialen und inter-
Cultural Studies, besonders zur
                                   kulturellen Skills, ihre employability zu entwickeln. Doch welcher Wert wird in einem
Interkulturalität, Psychoanalyse
                                   Auslandsstudium von den Beteiligten selbst gesehen? Die vorliegende Studie untersucht
und Kulturwissenschaft, Popmu-
                                   anhand von 50 Leitfadeninterviews mit Erasmus-Studierenden, welche Wertzuschrei-
sik und dem James-Bond-Phäno-
                                   bungen vorgenommen und wie diese diskursiv arrangiert werden. Vor dem Hintergrund
men. Erasmus-Studium 1993/94
                                   theoretischer Überlegungen zum Wert von Auslandsstudien (Michael Byram) und zu
an der University of Limerick,
                                   Tendenzen des Fremdverstehens (Mario Erdheim und Jürgen Kramer) werden hierbei
Irland.
                                   lediglich geringe Spuren neoliberaler Subjektivität im Sprechen über die Auslandserfah-
                                   rung nachgewiesen, die deutlich von Verweisen auf persönlichkeitsbildende, interkultu-
                                   relle und soziale Aspekte überlagert werden.

                                   Schlagwörter: Erasmus-Studierendenmobilität, Interkulturalität, Wert,
                                   Neoliberalismus, Bildung

                                   Abstract (English)

                                   Study abroad experiences are generally thought to have, among other things,
                                   significant economic value. Students are encouraged to enhance their CV and
                                   acquire important professional competencies through international experience,
                                   to develop their social and intercultural skills and, thus, their employability.
                                   But what value is seen by those involved in studying abroad? The present study
                                   uses semi-structured interviews with 50 former Erasmus students to investigate
                                   how participants evaluate the potential benefits of their stay and what discur-
                                   sive structures they use to speak about their assessments. Reading the interviews
                                   against the background of theoretical considerations on the value of studying
                                   abroad (Michael Byram) and modes of understanding foreign cultures (Mario
                                   Erdheim and Jürgen Kramer), the study shows that only slight traces of what
                                   could be called ‘neoliberal subjectivity’ can be detected in students’ responses. Stu-
                                   dents’ evaluations instead centre on aspects of personality formation, intercultural
                                   understanding and human bonding.

                                   Key words: Erasmus student mobility, interculturality, value,
                                   neoliberalism, education

                                                                                                                       65
1. Einleitung                                  lichungen von Bildungsanbietern und
                                               Vermittlungsorganisationen wird der
Nicht wenige Wissenschaftler*innen,
                                               ökonomische Nutzen eines Auslands-
die sich mit der Entwicklung internati-
                                               studiums vermehrt in den Vordergrund
onaler Studierendenmobilität befassen,
                                               gestellt. Hier wird gemeinhin darauf
stellen fest, dass es bei den hieran be-
                                               verwiesen, dass Auslandsstudierende
teiligten Institutionen und Individuen
                                               ihre „späteren Karrierechancen deutlich
eine zunehmende Tendenz gibt, Aus-
                                               […] steigern“ (Education First o.J.),
landsstudien zu einem großen Teil öko-
                                               indem sie arbeitsmarktrelevante Schlüs-
nomisch zu verstehen (Byram 2008:32;
                                               selfertigkeiten stärken (NA/DAAD o.J.)
Murphy-Lejeune 2008:22; Krzaklewska
                                               und, wie gelegentlich auch ausgeführt,
2008:83-84). So werden internationale
                                               „internationale Kontakte knüpfen“
Studiengänge, Summer Schools und
                                               (Auslandszeit o.J.), von fremden Lehr-
multilaterale Austauschprogramme
                                               methoden „profitieren“ oder andere
nicht selten entwickelt, um die At-
                                               „Märkte“ (Nationale Agentur 2013:65)
traktivität der universitären Standorte
                                               kennenlernen können. Häufig gar wird
zu erhöhen, Finanzierungsquellen zu
                                               der Wert des Auslandsstudiums in die-
erschließen und die Bildungsprofile und
                                               sem Argument nicht mehr in den kon-
Karrierechancen der Teilnehmer*innen
                                               kreten Erfahrungen und Kompetenzen
zu verbessern. Das in der Breite wirken-
                                               gesehen, die erworben werden können,
de Erasmus-Programm bildet hier keine
                                               sondern lediglich auf die Erfüllung
Ausnahme. Bereits bei seiner Gründung
                                               elementarer Bewerbungsanforderun-
durch den Rat der Europäischen Ge-
                                               gen bezogen, und gerinnt damit zur
meinschaften wurde es als das wesentli-
                                               sich selbst bestätigenden Formel von
che Ziel des Programms angesehen, die
                                               Marktfähigkeit und Berufserfolg durch
innereuropäische Studierendenmobilität
                                               Internationalisierung (wenn der Aus-
zu erhöhen, damit „die Gemeinschaft
                                               landsaufenthalt als ein den persönlichen
auf einen ausreichenden Bestand an
                                               Portfoliowert steigerndes Element vor
Arbeitskräften zurückgreifen kann, die
                                               allem wichtig erscheint, da er von Per-
das wirtschaftliche und gesellschaftliche
                                               sonalabteilungen gerne gesehen und für
Leben anderer Mitgliedsstaaten unmit-
                                               wichtig gehalten wird).2
telbar kennengelernt haben“ (Beschluss
des Rates 1987:21). Verwertungslogik           Dass die politischen Ziele derjenigen,
und Standortrhetorik durchziehen die           die ein Austauschprogramm einrichten
Präambel des Ratsbeschlusses vom 15.           und finanzieren, sowie die Verspre-
Juni 1987, wo es heißt, dass durch das         chungen und Ratschläge derjenigen, die
Programm die „Wettbewerbsfähigkeit             Bildungs- und Vermittlungsdienstleis-
der Gemeinschaft auf dem Weltmarkt“            tungen anbieten, nicht identisch sein
erhalten und das „geistige Potenzial           müssen mit den tatsächlichen Absichten
[…] der Gemeinschaft […] wesentlich            und Erfahrungen der Auslandsstudie-
wirksamer ausgenutzt“ werden soll              renden, liegt auf der Hand. Wer Eras-
(ibid.). In der Verordnung vom 11.             mus-Studierende beobachtet oder gar
Dezember 2013 zur Einrichtung des              selbst ein Erasmus-Studium verbracht
Nachfolgeprogramms Erasmus+ geht               hat, ahnt, dass die Motivlage der Teil-
es prominent um die „Attraktivität der         nehmenden weit über den Aspekt der
EU als Studienstandort“ (Verordnung            Wirtschaftlichkeit hinausgeht bzw. öko-
2013:51), die Sicherstellung eines „eu-        nomische Überlegungen und Auswir-
ropäischen Mehrwerts“ (ibid. 57) auf           kungen eine in der Praxis deutlich un-
großer Ebene sowie um die „Kompeten-           tergeordnete Rolle spielen. Doch haben
zen und Beschäftigungsmöglichkeiten“           bereits frühere Untersuchungen gezeigt,
(ibid. 51), das „lebenslange Lernen“           dass berufliche Verwertungsüberle-
(ibid.), kurz die Marktfähigkeit des*der       gungen auch für Erasmus-Studierende
Einzelnen.1 Auch in den Begleittexten          eine nicht unerhebliche Rolle spielen
der nationalen Agenturen, in Veröffent-        (Murphy-Lejeune 2002; Krzaklewska

 66             interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
2008). Zudem bleibt die Frage, inwie-       2. Die Methode dieser
weit die von Kritiker*innen des Neoli-      Studie: Leitfadeninterview
beralismus konstatierte, „alle Bereiche     und Diskursanalyse
des Lebens“ erfassende Ökonomisie-          Die in der Regel 10- bis 15-minü-
rung, die Ausweitung einer „neolibera-      tigen Gespräche wurden auf Basis
len Rationalität“ auf zuvor nichtöko-       eines Leitfadens geführt, der die Be-
nomische Bereiche, Tätigkeiten und          sprechung von acht bis neun Fragen
Themen (Brown 2015:70), auch Spuren         vorsah, die – wie den Studierenden bei
hinterlässt im Denken und Sprechen          Einladung zum Gespräch mitgeteilt –
über die studentische Auslandserfah-        unterschiedliche Aspekte der Erasmus-
rung; inwieweit also der Auslandsauf-       Studienerfahrung zum Gegenstand
enthalt und die mit ihm zentral verbun-     hatten. Befragt wurden Studierende
dene Erfahrung des Kulturkontakts für       der Ruhr-Universität Bochum, die
das hier zunächst postulierte neoliberale   im Akademischen Jahr 2018/19 oder
studentische Subjekt zuvorderst zu          im Wintersemester 2019/20 einen
einem Element innerhalb seiner Be-          Erasmus-Aufenthalt verbracht hatten.
mühungen zur eigenen Wertsteigerung         Die Teilnehmer*innen waren größ-
oder Selbstoptimierung werden – und         tenteils Bachelor-Studierende, die sich
dies sowohl in engerem (Karriere) als       zum Zeitpunkt des Interviews kurz vor
auch in weiterem (Bereicherung, Kom-        oder in ihrer Studienabschlussphase
petenzzuwachs) Sinne.3 Es bleibt ferner     befanden. Sie waren im Durchschnitt
zu klären, ob die Aussagen über die im      23 Jahre alt. Zwei Drittel der Auf-
interkulturellen Kontakt erhofften und      enthalte der Befragten im Gastland
gemachten Erfahrungen sich nicht im         dauerten nicht länger als fünf Monate
Gegenteil – oder wenigstens zum Teil –      bzw. ein Studiensemester. Die Inter-
neoliberalen Denkmustern widersetzen        views wurden frühestens zwei Monate
und stattdessen verweisen auf Formen        und spätestens vier Monate nach dem
von Subjektivität, die ihren Ausgang        Aufenthalt durchgeführt. 60 Prozent
nehmen nicht in Konzepten des Wett-         der Befragten waren in einem Land
bewerbs und des Marktes, sondern Vor-       gewesen, dessen Sprache, Literatur und
stellungen entspringen wie z.B. einem       Kultur auch Gegenstand des von ihnen
eher klassischen Bildungsideal, also dem    belegten Studienfachs waren (wie z.B.
Ziel der persönlichen Entfaltung des        bei Studierenden der Romanistik, die
Menschen (hin zum Weltbürgertum),           in Spanien gewesen waren), der Rest
oder anderen, stärker solidarischen         hatte Zeit in Ländern verbracht, die
Annahmen über das Verhältnis von            nicht unmittelbar mit ihren hauptsäch-
Mensch und Gesellschaft, von Eigenem        lichen Studieninteressen in Verbindung
und Fremden. Warum also gehen Stu-          standen. Diese Studienfächer umfassten
dierende für ein oder zwei Semester mit     z.B. Jura, Medienwissenschaften, So-
Erasmus ins Ausland?4 Was erhoffen sie      zialwissenschaften und Biologie. Die
sich von der Zeit, wie bewerten sie die     häufigsten Gastländer waren Spanien
persönlichen Auswirkungen der Erfah-        (14 Befragte), das Vereinigte Königreich
rung? Lassen sich den Sprechweisen der      (10), Frankreich (8), Irland (4) und
Auslandsstudierenden ökonomisierte          Schweden (3).
Vorstellungsmuster zum Kulturkontakt
ablesen? Die vorliegende qualitative        Die Fragen des Leitfadens waren so
Untersuchung geht diesen Fragen an-         gewählt und formuliert, dass den
hand einer Auswertung von 50 Inter-         Teilnehmer*innen großer Spielraum
views mit Erasmus-Rückkehrer*innen          gegeben wurde, ihre Sichtweisen zum
nach.                                       Komplex Erasmus-Erfahrung sprach-
                                            lich und inhaltlich frei zu entfalten,
                                            dass gleichzeitig aber auch sichergestellt
                                            wurde, dass die zentralen Themen der
                                            Untersuchung nach und nach und

                                                                                   67
aus sich verändernden Blickwinkeln             bereits zuvor umfänglich besprochen
heraus angesprochen wurden. So gab             worden waren, nicht noch einmal ex-
es über das Interview verteilt vier            plizit gestellt wurden, dafür in manch
Fragen, die mehr oder weniger explizit         anderen Fällen weitere Einzelheiten,
dazu einluden, Aspekte des Werts               Klarstellung oder Beispiele erbeten
oder Nutzens des Auslandsstudiums              wurden. Das übergeordnete Ziel war
anzusprechen: die offene erste Frage           es, durch die dem Leitfadeninterview
danach, wie den Interviewten ihre              eigene „relativ offene[…] Gestaltung
Auslandszeit gefallen habe (und warum          der Interviewsituation“ (ibid. 194) den
sie ihnen gefallen oder nicht gefallen         spontanen Redeweisen des befragten
habe); die anschließende Frage zur             Subjekts breiten Raum zu geben. Dies
ursprünglichen Motivation der Stu-             um hierüber zum einen Einblicke in
dierenden, am Erasmus-Programm                 die „subjektiven Theorien“ (ibid. 203)
teilzunehmen („wenn Sie sich zurück-           der Teilnehmenden zu erhalten über
erinnern, was waren die Gründe, die            das, was einen Erasmus-Aufenthalt
Sie dazu bewegt haben, sich für einen          lohnenswert erscheinen lässt5, als auch
Auslandsaufenthalt zu bewerben?“),             zum anderen intersubjektive Muster der
die – mittels „retrospektive[r] Intros-        subjektiven Theoretisierung nachweis-
pektion“ (Flick 2017:197) – auf den            bar zu machen, also überpersönliche,
von den Studierenden zuvor erwarteten          gruppenspezifische Gemeinsamkeiten
Wert und Nutzen des Studiums abhob;            im Reden und Reflektieren über die
im weiteren Verlauf des Interviews dann        Sinnhaftigkeit des Auslandsstudiums
die direkt auf das Thema bezogene              (denn erst durch die prinzipiell mögli-
Frage nach den von den Studierenden            che Beliebigkeit der Antworten werden
verzeichneten ‚tatsächlichen‘ Auswir-          ähnliche oder identische subjektive Ar-
kungen des Aufenthalts („was sind Ihrer        gumentationen und Sinnstiftungen, die
Meinung nach die wichtigsten Dinge,            in ihnen nachgewiesen werden können,
die Ihnen der Aufenthalt ‚gebracht‘ hat,       kulturwissenschaftlich relevant).
die bleiben?“) sowie abschließend die          Bei der Analyse der Interviews wurde
Frage, ob und warum sie ein Erasmus-           deshalb nicht nur darauf fokussiert,
Studium ggf. Kommiliton*innen                  was die Teilnehmenden über ihre Mo-
weiterempfehlen würden. Die übrigen            tive, die möglichen Auswirkungen des
Fragen des Interviews befassten sich mit       Aufenthalts, den Wert der Erfahrung
unterschiedlichen Teilaspekten der für         aussagten, sondern vor allem auch
ein Auslandsstudium so zentralen Er-           darauf, wie diese Aussagen formuliert
fahrung von Fremdheit und Kulturkon-           wurden, welche sprachliche Beschaf-
takt und boten damit die Möglichkeit           fenheit sie hatten. Der Ansatz ist somit
zu erforschen, inwieweit dieser Bereich        eine analytische Mischform – von
an sich in Dimensionen von Wert und            Svend Brinkmann und Steinar Kvale
unter deutlichem Selbst- oder Fremd-           auch „Bricolage“ genannt (2018:132)
bezug besprochen wurde. In den Fragen          –, die sich neben dem Inhalt und der
3-5 ging es darum, wie Studierende mit         (denotativen) Bedeutung des Gesagten
Angehörigen der Gastkultur in Kontakt          zentral auch mit der Form des Gesag-
gekommen waren, wie sie ihr Verhältnis         ten beschäftigt – und mit dieser Form
zur Gastkultur beschreiben würden und          des Gesagten primär als Konstruktion,
ob sich ihr Bild von Angehörigen der           nicht Reflektion von Bedeutung und
Gastkultur verändert habe. Fragen 7            als ihrerseits konstituiert durch die
und 8 widmeten sich möglichen prob-            (verschiedenen) in einer Gesellschaft
lematischen Erfahrungen während des            begegnenden Diskurse. Dieser zur Dis-
Aufenthalts sowie dem Verlauf der kul-         kursanalyse neigende Ansatz basiert auf
turellen Adaptation der Studierenden           einer Reihe von Grundannahmen zum
vor Ort. Der Leitfaden wurde insofern          Verhältnis von Sprache und sozialer
flexibel gehandhabt, dass Fragen, die          Wirklichkeit (Rapley 2018:2-3) sowie

 68             interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
von gesellschaftlichem Subjekt und Dis-    Wendungen, bildsprachliche Formen
kurs (Brinkmann & Kvale 2018:130).         und konnotative Bedeutungen in den
Demnach soll herausgefunden werden,        Blick. Es soll z.B. darum zu tun sein,
wie unterschiedliche gesellschaftliche     die Bedeutungsunterschiede zwischen
Diskurse (also die regelhaften Praxen      Wendungen wie ‚andere Menschen
über das, was zu einem bestimmten          kennenlernen‘ und ‚Kontakte knüpfen‘,
Thema in bestimmten Situationen und        ‚sich weiterentwickeln‘ und ‚etwas dazu-
institutionellen Kontexten gemeinhin       lernen‘ interpretatorisch zu fassen und
gesagt wird, was überhaupt sagbar ist      auf ihre unterschiedlichen Funktionen
oder nicht gesagt werden kann) sich        im Feld der Sinnstiftung von Subjekt
in den Äußerungen der Interviewten         und Gesellschaft zu beziehen. Um
manifestieren; wie unterschiedliche,       die in den Interviews zum Ausdruck
manchmal miteinander konfligierende        gebrachte Diskursivität der Aussagen
diskursive ‚Wahrheiten‘ miteinander        besser verstehen und einordnen zu kön-
in Beziehung gesetzt werden (ibid.),       nen, werden diese in der Auswertung
welche diskursiven Formen andere,          vor dem Hintergrund wissenschaftli-
alternative Formen rahmen, überlagern      cher Besprechungen dominanter dis-
oder vorübergehend aufheben etc. Ein       kursiver Formulierungen zum Wert von
diskursives Verständnis von Äußerun-       Auslandsstudien sowie zu Konzepten
gen in Interviews geht außerdem davon      des Fremdverstehens gelesen. Kurz skiz-
aus, dass das Subjekt des Interviews       ziert werden sollen im Folgenden also
sich wesentlich (erst) im Interview in     zunächst zwei gängige Definitionen von
Interrelationalität mit seinen sprachli-   Wert, wie sie von Michael Byram für
chen Äußerungen, seinen diskursiven        den Bereich der Studierendenmobilität
Bezügen konstituiert (ibid.). Die durch    diskutiert, und vier „Modelle des Wahr-
die Interviewanalyse herausgearbeitete     nehmens fremder Menschen und ihrer
Subjektivität der Interviewten wird        Kulturen“ (Kramer 1999:38), wie sie
vor allem verstanden als ein Effekt        von Mario Erdheim und Jürgen Kramer
der Diskurse, als eine Folge der unter-    als jahrhundertealte, aber immer noch
schiedlichen (aber nicht unbegrenzten)     prägende Muster kultureller Begegnun-
Subjektpositionen, die von den herr-       gen identifiziert worden sind.
schenden diskursiven Formationen
bereitgehalten und den Sprechern ange-     3. Der Wert akademischer
boten werden (Barker 2003:450).            Mobilität
Ist die hier vorgenommene Analyse also     Byram unterscheidet zwischen zwei
im Großen und Ganzen damit befasst,        prinzipiell unterschiedlichen Bestim-
herauszuarbeiten, welche Diskurse zum      mungen von Wert: Da ist für ihn zum
Wert von Auslandserfahrung in den          einen der Wert, den eine Sache dadurch
Interviews auf welche Weise zum Vor-       erhält, dass sie gegen eine andere Sa-
schein gebracht, miteinander verhan-       che eingetauscht werden kann, und
delt oder ausgeklammert werden (und        zum anderen der Wert, der einer Sache
verfolgt damit einen Foucault’schen        beigemessen wird, ohne dass derartige
Ansatz), so wird dies nicht zuletzt un-    Äquivalenz- oder Tauschbeziehungen
ter Berücksichtigung der spezifischen      eine Rolle spielen. Ersteren nennt er
Formulierungen der Äußerungen, der         den ökonomischen, instrumentellen
sprachlichen Organisation und Struktur     oder monetären, letzteren den intrinsi-
des Gesagten – kurz: dessen, was Nor-      schen oder ethischen Wert (2008:31).
man Fairclough „die Textur der Texte“      In seiner Diskussion des Werts von
genannt hat (1995:4) – durchgeführt.       Studierendenmobilität geht er davon
Diese Anleihe bei einer Diskursana-        aus, dass gemeinhin beide Arten von
lyse im engeren (linguistischen oder       Wert dort vorkommen (und sich ver-
textwissenschaftlichen) Sinne nimmt        mischen), wenn auch – wie er sagt –
Aspekte wie Wortwahl, rhetorische          ökonomische Überlegungen deutlich

                                                                                69
im Vordergrund stünden und ethischen            er die sprachliche Dimension pauschal
zu mehr Gewicht verholfen werden                als eine ethische versteht, da sie der
sollte (ibid. 32). Für Byram sind Bei-          persönlich-akademischen Entwicklung
spiele ökonomischen Werts, wenn                 diene und intrinsische Beweggründe
Studierende ein Auslandsstudium be-             habe. Ebenfalls führt er z.B. das Sam-
treiben, um ihre Jobchancen zu verbes-          meln von schönen Erinnerungen als
sern, wenn sie die Auslandszeit wie ein         Beispiel rein ethischer Wertschöpfung
Statussymbol in ihrem Persönlichkeits-          an, da Erinnerungen als solche nicht
profil zur Schau tragen, wenn sie über          zu vermarkten seien (ibid. 36). Es wird
ein lediglich instrumentelles Interesse         deutlich, dass hier komplexe Gemen-
am Gastland oder der dort erlernten             gelagen leicht unterschätzt, dabei viel-
Sprache nicht hinauskommen, wenn                fältige Umwandlungsphänomene und
sie ausländische Bildungsabschlüsse             spezifische Kontexte nicht ausreichend
kaufen wie eine Ware, die dazu dient,           berücksichtigt werden: Auch Studieren-
ihre eigene Lebensqualität zu erhöhen           de eines philologischen Fachs erhoffen
– und natürlich auch, wenn Bildungs-            sich durch die während des Auslands-
institutionen diese Abschlüsse wie eine         aufenthalts verbesserte Sprachkompe-
Ware auf dem internationalen Markt              tenz eine Verbesserung ihrer Noten,
zum Verkauf anbieten. Eine ethische             ihrer Zeugnisse und späteren Lebens-
Dimension von Wert sieht er hingegen            chancen. Andererseits ist das selbstische
– auf gesellschaftlicher Ebene – in der         Streben nach ideeller persönlicher
Verbesserung der Beziehungen zwischen           Bereicherung, z.B. durch Ansammlung
Ländern und Kulturen, der Schaffung             wertvoller Erinnerungen, wenn wohl
von verbindenden Elementen zwischen             nicht ökonomisch motiviert, so doch
Kulturen oder gar der Herausbildung             sicher nicht als schlechterdings ethisch
übernationaler Identitäten (z.B. einer          oder intrinsisch zu begreifen und be-
europäischen durch Erasmus; ibid.               zeichnen. Und: Eine (teilbeabsichtigte
33-34) und – auf individueller Ebene            und spätere) Umwandlung von Erin-
– der Entwicklung der Persönlichkeit,           nerungen in materiellen Gewinn oder
dem Sammeln von Erkenntnissen, Ein-             eine Optimierung des eigenen Leis-
sichten und Erinnerungen sowie der              tungsportfolios – wie oben besprochen
Erlangung einer „critical cultural aware-       – kann nicht kategorisch ausgeschlossen
ness“ (ibid. 42), also der Fähigkeit, sich      werden.6 Wollen wir Byrams erhellende
kulturelle Differenzen und Gemeinsam-           Zweiteilung des Werts des Auslandsstu-
keiten bewusst zu machen, nicht nur             diums nutzen, dürfen wir die Wertun-
das Fremde sondern auch das Eigene zu           terscheidung nicht an Personengruppen
hinterfragen und über beides nicht auf          oder globalen Zielen, nach denen ge-
der Grundlage unreflektierter ethnozen-         strebt wird, festmachen, sondern müs-
trischer Normen zu urteilen.                    sen auf die für einen Auslandsaufenthalt
Byrams Zweiteilung, so viel ist                 angeführten Begründungen fokussieren,
klar, bleibt nicht ohne Grenzfälle              auf die expliziten und impliziten Ele-
und Probleme. So kann für ihn die               mente der Äußerungen der Beteiligten
gleiche globale Motivation (z.B. ein            zu ihren Motivationen und den ge-
Auslandsstudium zu machen, um                   planten wie beobachteten Wirkungen
sprachliche Fähigkeiten zu verbessern)          der Auslandszeit. Die Grenze zwischen
in unterschiedlicher Wertschöpfung              ‚ich bin persönlich gereift (und verhalte
münden, abhängig davon, welcher                 mich aufgeschlossener gegenüber an-
Personenkreis betroffen ist. Byram              deren)‘ und ‚ich bin persönlich gereift
unterscheidet zwischen Nicht-Sprach-            (und werde deshalb erfolgreicher durchs
studierenden, die sprachliche Vorteile          Leben gehen)‘, also zwischen einem in-
anstreben (und unterstellt diesen das           trinsischen Wert und seiner möglichen
Streben nach „exchange value“; ibid.            wettbewerbsmäßigen Instrumentalisie-
35), und Sprachstudierenden, bei denen          rung ist schmal und muss interpretativ

 70              interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
an konkreten Diskursbeispielen heraus-       vor, wenn fremde Kulturen hauptsäch-
gearbeitet werden; hierfür ist neben der     lich „unter dem Blickwinkel der Aus-
Art, wie geredet wird, auch der größere      beutbarkeit“ betrachtet werden (Kramer
Kontext der Aussage entscheidend.            1999:38). Das Fremde gerät hierbei
                                             überhaupt nur soweit in den Blick, wie
4. Wie und warum                             es der Befriedigung eigener Interessen
dem Fremden begegnen?                        nützlich sein kann. Dies kann wie in
Vier Tendenzen                               Erdheims und Kramers Beispielen in
                                             Zusammenhang mit Systemen kolonia-
Entscheidend bleibt aber vor allem, ob
                                             ler Administration und der Ausbeutung
die geäußerten Motivationen für einen
                                             typischer Ressourcen geschehen, aber –
Auslandsaufenthalt letztlich auf ein auf
                                             wie in oben ausgeführten Überlegungen
das Selbst bezogenes Verwertungsin-
                                             angesprochen – auch im Rahmen der
teresse hinweisen oder nicht. Ist dies
                                             Selbstwertsteigerung des neoliberalen
der Fall, sei es in klassisch kompetitiver
                                             Subjekts wahrgenommen werden (wenn
oder neoliberal selbstoptimierender
                                             Fremdheitserfahrung z.B. zur Aufbesse-
Weise, so muss von einer instrumentel-
len Wertsetzung ausgegangen werden.          rung der eigenen Vita dient). Was von
Ist dies nicht der Fall, so erscheint ge-    der entfremdenden und verwertenden
geben, was Byram als ethischen Wert          Tendenz unter hohem Selbstbezug der
versteht: ein Interesse am Anderen, das      Anerkennung beraubt wird, rückt in
aus sich selbst heraus besteht und nicht     einer weiteren, der „idealisierenden“
auf Verwertungsgedanken des Selbst           (Erdheim 1988:22) Tendenz in den
zurückgeführt werden kann bzw. ein           Mittelpunkt des Interesses und wird
vom Eigeninteresse absehendes Ver-           dort radikal anders bewertet. Das
mitteln zwischen der eigenen und der         Fremde erscheint mehrheitlich bis aus-
fremden Position (wie in der „critical       schließlich positiv, wird z.T. verklärt
cultural awareness“ angelegt). Um den        (wie im historischen Konzept des ‚edlen
jeweiligen Fluchtpunkt des Interesses        Wilden‘) und dient häufig als Vorbild
am und im Kulturkontakt genauer fas-         für das im Vergleich kritisierte Selbst.
sen zu können, bieten sich die von Erd-      So bleibt dieser Ansatz, auch wenn die
heim identifizierten (und von Kramer         idealisierende Tendenz die Abwertun-
aufgegriffenen) „vier Tendenzen“ ethno-      gen des entfremdenden Modells gera-
logischen Denkens und Verhaltens an          dezu umkehrt und dem Fremden maxi-
(1988:15), abgeleitet zunächst aus den       male Anerkennung zuteilwerden lässt,
Beschreibungen, die spanische Gelehrte       verhaftet in einem starken Rückbezug
des 16. Jahrhunderts über die Kulturen       auf die eigene Position (und damit
der Neuen Welt verfassten, aber als ide-     den entfremdenden und verwertenden
altypische Formen gut übertragbar auf        Tendenzen nicht unähnlich). Für Erd-
heutige – und auch individuelle – Be-        heim ist die Idealisierung des Fremden
gegnungen mit dem Fremden.                   „in der Regel mit der Enttäuschung
                                             an der Normalität der eigenen Kultur
Da ist zunächst die „entfremdende Ten-
                                             verknüpft, einer Enttäuschung, die bei
denz“ (ibid. 18), die im Kulturkontakt
                                             der Motivation, [sich dem Fremden
primär eine Bestätigung der eigenen
                                             zuzuwenden] eine entscheidende Rolle
Überlegenheit, eine Legitimation der –
                                             spielt“ (ibid. 23.).
so vorhanden – machtvollen Stellung
gegenüber dem als fremd wahrgenom-           Ist den ersten drei Tendenzen ge-
menen anderen sucht. Das Fremde              meinsam, dass ihnen „die spezifischen
wird als minderwertig, als unvereinbar       Eigenarten“ der fremden Kulturen
mit dem eigenen Anspruch, als Verkör-        entgehen müssen, weil sie das Fremde
perung abzulehnender Eigenschaften           ausschließlich mit den Augen und aus
angesehen. Das Eigene erfährt im             dem Interesse des Eigenen betrach-
Kontakt eine Aufwertung. Eine zweite,        ten (Kramer 1999:38), eröffnet sich
„verwertende Tendenz“ (ibid. 21) liegt       in einer vierten, der „verstehenden“

                                                                                  71
(Erdheim 1988:24) Tendenz ein quasi-            Fremden und schon gar nicht ein Inter-
ethnologischer Ansatz, der davon ab-            esse am Eigenen reduziert werden kann.
sieht, eigene Maßstäbe anzulegen, und           Das verstehende Modell des Fremdkon-
darauf bedacht ist, durch Empathie              takts weist große Übereinstimmungen
und Perspektivenwechsel das Fremde              mit den Grundannahmen Byrams über
auch aus seiner (fremden) Sicht zu er-          den intrinsischen oder ethischen Wert
fahren und zu bewerten. Dieser Ansatz           von Auslandsstudien auf.
entwickelt sich dort, „wo das Fremde,
                                                5. Was hat es gebracht? Die
trotz aller Fremdheit, das Gefühl von
                                                Antworten aus 50 Interviews
Vertrautheit erweckt. Voraussetzung
dazu ist die Bereitschaft des Subjekts,         5.1 Muster im Material
zwischen sich und dem Fremden eine
                                                Bevor eine detailliertere Diskursanalyse
gemeinsame Basis herzustellen“ (ibid.),
                                                der Aussagen der Teilnehmer*innen zur
die jedes Überlegenheitsgefälle aus-
                                                Bewertung ihrer Auslandserfahrungen
schließt. Voraussetzung ist auch, dass
                                                durchgeführt wird, soll hier zunächst
die Bereitschaft und Fähigkeit besteht,
                                                auf eine Reihe von allgemeineren Er-
stets auch Fremdes im Eigenen und
                                                kenntnissen hingewiesen werden, die
Eigenes im Fremden wahrzunehmen.
                                                aus der Auswertung des Materials her-
Für Kramer, der wie Erdheim psycho-
                                                vorgegangen sind: Zum einen ist fest-
analytische Überlegungen in den Vor-
                                                zustellen, dass sich in keinem der Fälle
dergrund stellt, ist klar: „Eine fremde
                                                die in einem Interview gemachten Aus-
Kultur und Gesellschaft verstehen zu            sagen nur lediglich einer Rede-/Erfah-
wollen, ohne das Fremde in uns in den           rungsweise zuordnen lassen. Vielmehr
Blick zu nehmen, ist stets zum Schei-           ist der Regelfall ein Nebeneinander oder
tern verurteilt.“ (1999:49) Gelungenes          eine Verknüpfung unterschiedlicher
Fremdverstehen hängt davon ab, dass             Formulierungen und Perspektivierun-
Wahrnehmungen nicht primär auf die              gen. So z.B. wenn durch den Aufenthalt
Eigenkultur bezogen werden, indem               erzielte Verbesserungen im sprachlichen
das kulturelle Objekt durch das Subjekt         Bereich in den parametrisierten Katego-
angeeignet oder untergeordnet wird              rien des Europäischen Referenzrahmens
(wie durch Entfremdung und Verwer-              ausgedrückt werden, der Aufenthalt als
tung) oder das Subjekt an das Objekt            gewollte „Herausforderung“ gedeutet
gewissermaßen enteignet wird (wie               wird, die zu mehr Durchsetzungs- und
durch Idealisierung und Assimilation),          Konfliktfähigkeit geführt hat, ein
sondern dass – „in einem komplizier-            starker Selbstbezug hergestellt wird in
ten Wechselspiel der Erhellung“ (ibid.          Formulierungen wie „ich wollte mal die
50) – als eigen und als fremd wahrge-           Auslandserfahrung haben […], dass ich
nommene Positionen miteinander in               mal selber in ein Land gehe und mich
Beziehung gebracht und verhandelt,              mit mir auseinandersetze“, gleichzeitig
revidiert und verworfen, Perspektiven           aber auch betont wird, wie gut es war
fortlaufend gewechselt werden. Dies ist         „Freundschaften“ zu schließen, „andere
kein abschließbarer Vorgang, sondern            Leute kennen[zu]lernen und die Kul-
ein andauernder Prozess zwischen An-            tur“ (Int. 32). Oder wenn neben den
näherung und Rückzug, vorläufigen               sprachlichen Zugewinnen (wiederum
Erkenntnissen und fortlaufenden Revi-           ausgedrückt in der Systematik des Re-
sionen der Beobachtungen über eigene            ferenzrahmens) in den Antworten u.a.
und andere Kulturen (ibid.). Verste-            auch abgezielt wird auf „das Wichtigs-
hende Tendenzen im interkulturellen             te, was sich jetzt… ich sag mal… für
Kontakt sind damit geprägt durch ein            später, fürs Berufliche ergeben hat“,
Interesse am Kontakt selbst, an den             der Aufenthalt als „eine sehr schöne
durch ihn möglich gemachten Erfah-              Herausforderung“ gesehen wird, bei
rungen und Erkenntnissen. Dies ist ein          der man „viel gelernt hat“, besondere
Interesse, das nicht auf ein Interesse am       Betonung aber auch „der Kontakt mit

 72              interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
vielen internationalen Leuten“ erfährt,      2003:94-95). In den Interviews stellt
der maßgeblich zu folgendem Resümee          sich dies so dar, wenn z.B. eine Teil-
führt: „da hat man natürlich auch viele      nehmerin berichtet, für sie „waren auch
schöne Tage erlebt, privat, sozial“ (Int.    super wichtig, die Kontakte, die ich
13). Gedanken zur Verwertung und             dort geknüpft habe“, sich im Verlauf
Selbstoptimierung stehen neben Über-         des Gesprächs aber ergibt, dass diese
legungen zur Persönlichkeitsbildung,         Beziehungen gemeinsame hobbymäßige
Zweckorientierung schließt intrinsische      Interessen und Solidaritätsaktionen,
Wertzuschreibung (der „schönen“ Er-          nicht persönliches wirtschaftliches Vo-
fahrung) nicht aus, klarer Selbstbezug       rankommen zum Gegenstand hatten
changiert zu Fremdbezug, dann Grup-          (Int. 48), eine andere als Positives des
penbezug und zurück. Es ist klar und         Auslandsaufenthalts angibt, dass man
zu erwarten, dass die Komplexität der        „Input“ bekommt und „wieder flexib-
Auslandserfahrung in den reflektierten       ler“ wird, dann aber deutlich wird, dass
Betrachtungen der Teilnehmer*innen           es ihr im Wesentlichen um „Kreativität
nicht auf die eine Motivation, die eine      und Austausch“ mit anderen und ur-
Auswirkung reduziert wird. Dennoch           sprüngliche Naturerlebnisse geht (Int.
lassen sich – und das ist im Folgenden       40). Ähnliche Bedeutungsspielräume
hier praktiziert worden –, unter Be-         und -verschiebungen lassen sich bei
rücksichtigung des jeweiligen gesamten       Erwähnungen des Auslandsaufenthalts
Kontexts und der Struktur eines Inter-       als „bereichernd“, „lohnend“ und „wert-
views, seiner logischen Verknüpfungen        voll“ feststellen, die je nach Kontext
und Entwicklungen, seiner Betonungen         auf die Aufbesserung des Lebenslaufs
und Priorisierungen und nicht zuletzt        (Int.28) und der Sprachkompetenz (Int.
im Vergleich mit den anderen Inter-          28, 44), die Erfahrung internationaler
views deutliche Tendenzen erkennen           Freundschaften und sozialer Gemein-
und Gewichtungen vornehmen.                  schaft (Int. 3, 5, 27) und die Herausbil-
                                             dung von Persönlichkeit und Charakter
Diese Interpretationsarbeit ist beson-
                                             (Int. 3, 37) bezogen werden, hierbei
ders angezeigt, da – und dies ist die
                                             zumeist aber, metaphorisch benutzt, auf
zweite allgemeine Erkenntnis – in den
                                             die Zuschreibung eines eher intrinsi-
Aussagen z.T. sprachliche Formen ver-
                                             schen denn monetären Werts verweisen.
wandt werden, die auf einen speziellen
Erfahrungsdiskurs, einen Motivations-        Ein dritter Punkt betrifft zwei der
hintergrund hinzuweisen scheinen, der        vier oben vorgestellten Kategorien
Kontext aber eine völlig andere Bedeu-       der Fremdwahrnehmung nach Erd-
tung oder Sprechabsicht nahelegt bzw.        heim und Kramer: Den Aussagen der
erst durch den Kontext klar wird, wie        Teilnehmer*innen lassen sich keine
die gemachte Einzeläußerung zu verste-       auch nur annähernd deutlichen Ten-
hen ist. Dies ist in Zusammenhang mit        denzen der Idealisierung, geschweige
der in dieser Untersuchung zugrunde          denn der Entfremdung ablesen. Die
gelegten Beziehung zwischen Diskurs          Kulturen der Gastländer werden weder
und Subjektivität von Bedeutung. Dis-        verherrlicht noch pauschal abgelehnt.
kurse konstituieren Subjektivitäten,         Gesehen wird im Fremden Positives wie
aber Diskurse sind wandelbar, lassen         Negatives, zum Teil unter explizitem
sich nicht ausschließlich an der Ober-       Rückbezug auf das Eigene, dessen po-
fläche sprachlicher Zeichen festmachen,      sitive und negative (Teil-)Aspekte für
an ihren Signifikanten, sondern gehen        einige Teilnehmer*innen im Vergleich
ihrerseits aus sozialen Praktiken und        dann ebenfalls deutlicher hervortreten.
Bedeutungsgebungen, den Verhältnis-          Durchgängig überwiegt der Modus des
sen von Signifikanten und Signifikaten,      Differenzierens und Relativierens, des
ihrer jeweiligen spezifischen ‚Artikulati-   Überprüfens und häufigen Modifizie-
on‘ hervor (Hall 1996:14), unterliegen       rens vorheriger Beobachtungen, Annah-
einer prinzipiellen Polysemie (Barker        men und Einstellungen. Dies wird in

                                                                                   73
den Antworten zu den Fragen nach der            Einheimischen betrifft, positiv über-
Beziehung zum Gastland, seiner Men-             rascht wurden und dadurch ein Vor-
schen und seiner Kultur, dem evtl. ver-         behalt, also gewissermaßen eine zuvor
änderten Bild von den Einheimischen,            bestehende Entfremdung aufgehoben
aber auch der allgemeinen Frage nach            wurde. Diese Stimmen sprechen davon,
dem Verlauf des Aufenthalts oder der            dass sie „ein runderes Bild bekommen“
konkreteren Frage nach etwaigen Prob-           haben (Int. 48), dass der Aufenthalt
lemen deutlich. Die meisten Befragten           sie „etwas desillusioniert“ hat (Int. 40),
berichten, dass sie ein gutes, engeres          dass sie „die rosarote Brille […] dann
Verhältnis zum Gastland und den dort            auch abgesetzt“ haben (Int. 18), dass
lebenden Menschen aufgebaut haben,              die Einschätzung der anderen Kultur
einige verweisen auf Aspekte, die sie           „realistischer geworden“ ist (Int. 26)
besonders schätzen gelernt haben und            oder dass sie das andere Land kurz nach
evtl. auch gerne in ihre Alltagspraxis im       ihrer Rückkehr nach Hause „vielleicht
Heimatland übernehmen würden, den-              ’n bisschen glorifiziert“ haben, jetzt aber
noch werden (auch von ihnen) Dinge,             zu einem abgewägten Urteil kommen
die als weniger gut empfunden wurden,           (Int. 15). Wie eine Befragte zu den von
allgemein wahrgenommen und im Ge-               ihr gemachten Aussagen über die beo-
spräch thematisiert (wenn auch nicht            bachteten Eigenarten der (Angehörigen
immer so pointiert ausgedrückt wie in           der) Gastkultur hinzufügt: „es gibt auch
Int. 48: „manches fand ich besser, man-         immer das Gegenteil“ (Int. 6).
ches fand ich schlechter“). Selbst in Äu-       Die geringe Rolle von Idealisierung
ßerungen, die annähernd idealisierend           und vor allem Entfremdung können
oder ablehnend daherkommen (z.B.                zum einen sicherlich mit der konkreten
„generell die Menschen in Irland sind           Interviewsituation und herrschenden
super“, Int. 49; „alle total hilfsbereit“,      sozialen Erwünschtheitserwartungen
Int. 4; „hab mich an der RUB wohler             zusammenhängen. Vorurteile, also „ab-
gefühlt“, Int. 43), ist in den Urteilen         lehnende oder feindselige Haltungen“,
keine pauschale Erhöhung oder Kritik            aber auch Stereotype gegenüber ethni-
an der eigenen Kultur erkennbar: Es             schen, nationalen oder anderen sozialen
werden stets eher ausgewählte Aspekte           Gruppen mögen heutzutage nicht mehr
miteinander in Beziehung gesetzt (z.B.          allzu offen geäußert werden (Petersen
die Uni-Systeme, die Ausgehkulturen,            & Six 2008:109), zumal in einem aka-
die Umgangsformen) und mag es hie               demischen, kulturwissenschaftlichen
und da noch zu einer gewissen Homo-             Setting wie den hier durchgeführten
genisierung der besprochenen Gesell-            Gesprächen zwischen Lehrperson und
schaftsbereiche und Personengruppen             Studierenden. Auch einseitig positive
kommen, so ist ein stark generalisieren-        Äußerungen oder vollkommen unkri-
der und radikal wertender Rückbezug             tische Begeisterung verbieten sich in so
auf die eigene nationale Gruppe – ex-           einem Kontext im Prinzip aufseiten der
plizit wie implizit – im Prinzip davon          Befragten. Aber zum anderen ist auch
ausgeschlossen. Doch nicht nur, dass            festgestellt worden, dass tatsächlich
Idealisierung und Entfremdung in den            unter zurückgekehrten Erasmus-Studie-
Antworten so gut wie keine Rolle spie-          renden, im Vergleich zu Studierenden,
len: Nicht wenige Teilnehmer*innen              die keinen längeren Auslandsaufenthalt
sprechen den Problemkomplex von Ide-            absolviert haben, nationale Stereotype
alisierung und Entfremdung selbst of-           zwar nicht durchweg abgelehnt oder
fen an, wenn sie z.B. erläutern, dass der       gemieden werden, ganz im Gegen-
Aufenthalt bei ihnen zu einem Verlust           teil, diese aber in auffälligem Maß
früherer Romantisierung der fremden             im Diskurs subjektiviert, relativiert
Kultur geführt hat oder dass sie, was           und (unter)differenziert werden (Viol
gewisse wahrgenommene Verhaltens-               2020:479). In Summe lässt sich festhal-
weisen und Charaktereigenschaften von           ten, dass die von Erdheim und Kramer

 74              interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
in alten Fremdheitsberichten festge-        an. Genannt werden auch eine bereits
stellten Tendenzen von Idealisierung        bestehende stärkere Nähe oder Affini-
und Entfremdung ausbleiben, wie auch        tät zum Gastland, Neugier auf andere
der ihnen zugrundeliegende überhöhte        Menschen und Situationen sowie Lust
ethnische Selbstbezug, die Fokussierung     am Reisen. In 32 der 50 Interviews wer-
auf das nationale Eigene. Das in den        den derartige Motivationen verzeichnet.
Interviews zum Ausdruck gebrachte Ei-       In 21 Gesprächen wird darüber hinaus
gene, das dem Fremden sehr wohl sehr        konkret die Verbesserung der Sprach-
zentral gegenübergestellt wird, ist eher    kompetenz angesprochen. Hier variiert
ein privat-persönliches Eigenes, nicht      die dahinterliegende Motivation, soweit
die Zugehörigkeit zu einer als homogen      sie thematisiert und erkennbar wird,
wahrgenommen ethnisch-nationalen            von einem Interesse an der Sprache an
Gruppe.                                     sich („weil ich die Sprache total schön
                                            finde“, Int. 38; „hab vorher auch schon
Schließlich ist zu erkennen, dass es ei-
                                            Spanisch gelernt, ohne Hintergedan-
nen sehr deutlichen Unterschied gibt
                                            ken“, Int. 22) zu deutlich instrumen-
zwischen den Äußerungen, in denen
                                            telleren Wertungen: Der Auslandsauf-
die Teilnehmer*innen ihre Ziele und
                                            enthalt wird hier gesehen als „adäquate
Motivationen für einen Aufenthalt, also
                                            Möglichkeit, seine Sprachfähigkeit zu
seine erwarteten Auswirkungen retros-
                                            trainieren“ (Int. 14), er verleiht mehr
pektiv beschreiben, und den Passagen,
                                            sprachliche „Sicherheit im Studium“
in denen sie über die ihrer Meinung
                                            (Int. 2). Die Verbesserung des Sprach-
nach tatsächlich eingetretenen Auswir-
                                            niveaus wird – über Verweise auf eine
kungen der Auslandszeit berichten –
                                            Verbindung zum allgemeinen Studi-
und zwar sowohl inhaltlich als auch in
                                            eninteresse hinaus – in Verbindung
den Sprechweisen der Befragten. Grob
                                            gebracht mit beruflichen Zielen („also
gesagt spielen Selbstbezug und Verwer-
                                            ich möchte ja Englischlehrerin werden“,
tungsgedanken klassischer Art (zum Teil
                                            Int. 29; „wie soll ich Lehrerin werden,
in verbrämender Form) in der erinner-
                                            ohne die Sprache richtig zu sprechen?“,
ten Motivation eine größere Rolle als
                                            Int. 21; „weil es [als Lehrer] einfach
in der Einschätzung der Auswirkungen,
                                            Sinn macht, ein gutes Englisch zu spre-
während in letzterer Verwertungsgedan-
                                            chen“, Int. 11) und auch zum Teil aus-
ken eher neoliberaler Couleur zum Tra-
                                            gedrückt in der Sprache des ‚unterneh-
gen kommen, aber insgesamt deutlich
von Verweisen auf Persönlichkeitsbil-       merischen Subjekts‘ (Hall 2017:327),
dung und vor allem auf soziale Aspekte      das sein aus verschiedenen Kompe-
überwogen werden. Immer wieder              tenzen bestehendes Leistungsportfolio
wird hier der hohe Wert des ‚Leute-         ständig im Blick behalten muss: „es ist
kennenlernens‘ und des Schließens von       gut, mehrsprachig aufgestellt zu sein“
Freundschaften herausgestellt (Int. 4,      (Int. 19), „mir war klar, dass ich da auf-
5, 8, 10, 13, 15, 17, 18, 21, 22, 23, 24,   stocken sollte“ (Int. 13), „ich wollte B2,
26, 27, 29, 31, 32, 33, 34, 35, 37, 38,     vielleicht C1, so die Ecke“ (Int. 3).
39, 41, 42, 44, 45, 49, 50).                Verwertende Tendenzen kommen
                                            auch in einem weiteren Bereich zum
5.2 Vorher
                                            Ausdruck: Die große Mehrheit der
Als Gründe für ihre Bewerbungen um          Studierenden, die per Studienordnung
einen Erasmus-Studienaufenthalt geben       zu einem Auslandsaufenthalt ver-
die Befragten in ihren Erinnerungen         pflichtet sind, erwähnt gewissermaßen
vor allem Interesse an dem ausge-           ‚wahrheitsgemäß‘ und der Vollstän-
wählten Gastland (und seiner Kultur,        digkeit halber, dass ein Grund für ihre
Sprache und Literatur), am Kennen-          Erasmus-Bewerbung die vorliegende
lernen von neuen Kulturen generell          Obligatorik war. Auch hier gibt es eine
sowie am dann möglichen Vergleich           Bandbreite von Äußerungen, die auf
zwischen dem Neuen und Bekannten            der einen Seite eher die Plicht in den

                                                                                   75
Mittelpunkt der Begründung stellen              mir zum Schluss noch aufgehoben hab
(„es ist verpflichtend“, Int. 14; „es ist       […] zum Kraft tanken“ (Int. 3). Dass
quasi Pflicht“, Int. 4; „der Hauptgrund         hier eher nicht das Fremde, sondern
war ja, dass es obligatorisch war“, Int.        das Selbst – die verwertende Tendenz,
10), eine große Mehrheit, die auf die           nicht die verstehende – im Zentrum
Pflichterfüllung als einen Grund unter          der Überlegungen zu stehen scheint,
verschiedenen verweist (z.B. „einmal            wird deutlich wenn man bemerkt, dass
weil’s in meiner Studienordnung steht“,         als Motiv häufig angegeben wird, dass
Int. 15; „einerseits weil ich sowieso ins       es den Sprecher*innen in diesen Teilen
Ausland musste“, Int. 49; „einerseits na-       der Aussage prinzipiell darum geht,
türlich die Pflicht, weil das gehört zum        woanders zu sein, weg von zuhause,
Studium dazu“, Int. 30) und auf der             aber nicht an einem bestimmten Ort,
anderen Seite Stimmen, die die Erfül-           in einer bestimmten Kultur, der bzw.
lung der Pflicht nicht als maßgebliches         die für sich das Interesse der Studieren-
Kriterium stehen lassen wollen, son-            den geweckt hat: „ich wollte gerne weg
dern andeuten, dass die Hauptgründe             von zuhause“ (Int. 17); „ich wollte halt
in einem anderen Bereich liegen bzw.            einfach mal weg“ (Int. 20); „ich muss
die bestehende Pflicht sich mit eigenen         nochmal raus“ (Int. 24); „ich wollte ei-
Interessen deckt, die unabhängig davon          gentlich auch schon länger mal weg von
bestehen: „wir müssen ja ’n Auslands-           zuhause“ (Int. 36); „dass man einfach
aufenthalt machen, aber das war sowie-          auch rauskommt“ (Int. 45); „einfach
so mein Ziel“, Int. 31; „die Obligatorik        nochmal […] ein bisschen auszubre-
war auch ein Grund, warum ich über-             chen und […] sich neuen Input zu ho-
haupt Anglistik gewählt hab“, Int. 50.          len“ (Int. 40); „dass ich mich in einem
                                                Land selber mit mir auseinandersetzen
Bei ungefähr einem Drittel der Be-
                                                muss“ (Int. 32). Das Ausland wird zu
fragten lassen sich außerdem Motive
                                                etwas, das dem Ich etwas geben kann,
erkennen, die ihren Ausgang in einem
                                                bei dem es sich etwas holen kann, das es
starken Rückbezug auf eigene Interes-
                                                komplementieren, bereichern, weiter-
sen, nicht auf das Interesse am Frem-
                                                bringen oder ändern wird.
den, nehmen („letztlich ist es doch
was, was man für sich macht“, Int. 33;          Aussagen, die noch deutlicher auf
„aber ich glaub hauptsächlich für einen         Selbstbezug und verwertende Ten-
selbst“, Int. 45; „für einen selber“, Int.      denzen in der Ursprungsmotivation
34). Der Auslandsaufenthalt bietet hier         hindeuten, sind nicht sehr häufig (und
eine Erfahrung, die man für sich, seine         kommen lediglich bei einem Fünftel
„persönliche Weiterentwicklung“ (Int.           der Interviews vor), sind aber – vor al-
33, 34) haben will („weil ich eben die          lem was die Verweise auf den Komplex
Erfahrung machen wollte“, Int. 5; „aber         der Lebenslaufaufbesserung angehen
vorrangig war auch der Gedanke, die-            – in ihrer Art nicht uninteressant. So
se Auslandserfahrung zu haben“, Int.            wird die Idee, dass ein Auslandsauf-
30), er wird gesehen als wichtige Phase         enthalt den Lebenslauf aufwertet, zwar
im eigenen Leben, als Belohnung,                angesprochen, aber in dementierender,
Entschleunigung, Abwechslung und                entschuldigender oder auffallend bei-
somit als persönliche Lebenschance, die         läufiger Weise: „ich würd jetzt gar nicht
man sich nicht entgehen lassen darf:            so unbedingt sagen, dass es so für… für
„also hier an der RUB wurd’s mir zwi-           meinen Lebenslauf oder so ist, ne… ist
schenzeitlich ’n bisschen zu langweilig,        natürlich auch immer schön, das ir-
sag ich mal, da wollt ich halt mal ’n           gendwie so irgendwo stehen zu haben“
bisschen Abwechslung“ (Int. 23); „ich           (Int. 45); „zumindest der Ausblick,
wollte ’ne Auszeit“ (Int. 43); „Zeit für        das ’n Auslandssemester immer gut im
mich“ (Int. 34); „im Studium möchte             Lebenslauf auch untergebracht werden
ich auch gerne nochmal was anderes              kann… natürlich wär das sinnlos, das
sehen“ (Int. 46); „das Schöne, was ich          zu verschweigen, dass das auch rein-

 76              interculture j our na l 21/35 (2 0 2 2 )
spielt“ (Int. 42); „also Auslandserfah-    5.3 Nachher
rung auch so klassisch auf ’m Lebenslauf
kommt halt immer gut. Ist ja so’n Klas-    Was sind also die Haupttendenzen in
siker quasi, das gehörte natürlich auch    den Antworten zur Frage nach den
dazu“ (Int. 34); „also ich hab mir schon   möglichen Auswirkungen des erlebten
überlegt, dass ’n Auslandsaufenthalt       Aufenthalts? Liegen die Schwerpunkte
natürlich auf ’m Lebenslauf auch gut       beim Eigenen oder beim Fremden,
aussieht“ (Int. 28). Die Befragten ken-    auf intrinsischen oder instrumentellen
nen das karrierebezogene Argument für      Werten?
einen Aufenthalt, möchten es sich aber     Die Hälfte der Befragten – also ähnlich
nicht komplett zu eigen machen oder        viele wie bei der Frage nach den Aus-
ihm eine ausschlaggebende Bedeutung        gangsmotivationen – gibt an, dass die
zusprechen. Es wird deutlich, dass sie     Erweiterung der Sprachkenntnisse die
davon ausgehen, dass es im Prinzip für     Auslandserfahrung lohnenswert ge-
unerwünscht gehalten wird, den Aus-        macht hat bzw. empfehlenswert macht.
landsaufenthalt auf eine berufsbezogene    Genannt werden hier u.a. die Verbesse-
Verwertung zu reduzieren und dass sie      rung des Vokabulars, der mündlichen
aus diesem Grund die instrumentellen       oder schriftlichen Ausdrucksfähigkeit,
Tendenzen zwar erwähnen, aber gleich       der Alltagstauglichkeit der Fähigkeiten,
abschwächen. Immerhin: Die wenigen         aber vor allem auch des sprachlichen
Eingeständnisse können vermuten            Selbstbewusstseins. Der Duktus der
lassen, dass ähnliche Erwägungen von       Aussagen bleibt hierbei oft neutral, lässt
Erwünschtheit andere Befragte dazu         bisweilen aber auch eine stark verwer-
führen, die instrumentelle Motivation      tende Tendenz, zumindest aber eine
zur Aufbesserung des Lebenslaufs gar       interessante rhetorische Verbindung zu
vollständig unerwähnt zu lassen.           Konzepten von Selbstentwicklung und
Die übrigen Hinweise auf Verwer-           Wettbewerbsorientierung erkennen.
tung kreisen um die Komplexe des           Wie auch im Vorher-Bereich der Studie
beruflichen Weiterkommens durch            verweisen einige Teilnehmer*innen auf
Eröffnung neuer Perspektiven (Int. 19,     den erwarteten späteren beruflichen
34, 44), des großen effizienten Nut-       Nutzen des „gesteigerten Sprachni-
zens der Erasmus-Studienmöglichkeit        veaus“ („das ist auf jeden Fall ’n guter
(keine ‚Verschwendung‘ von Zeit und        Punkt, der mir auch beruflich super
Aufwand durch Anrechnung der Stu-          weiterhelfen wird“, Int. 34), fassen
dienleistungen und optimale organi-        die Auswirkungen als Kompetenzent-
satorische Unterstützung; Int. 10, 15,     wicklungen, -gewinne oder -zuwächse
21, 31, 46, 50) und – in vereinzelten      auf („sprachlich hat sich das Ganze
Ansätzen – dem Wunsch nach persönli-       weiterentwickelt“, Int. 25; „die Sprach-
cher Herausforderung (Int. 32, 34, 38),    fertigkeiten werden ausgebildet […],
zum Teil ausgedrückt in sprachlicher       das hat mich nach vorne gebracht“, Int.
Nähe zu Wettbewerbs- und Selbstopti-       44) und werten den Aufenthalt in die-
mierungsgedanken (wenn Befragte in         ser Hinsicht als ein Mittel zum Zweck
dem zukünftigen Aufenthalt eine Mög-       („der beste Weg, um sowas zu lernen“,
lichkeit sahen, „Bestätigung“ zu erfah-    Int. 12).7
ren, „eigene Hürden zu überspringen“,
„gefordert“ oder „flexibler“ zu werden;    5.4 Neoliberale Subjektivi-
Int. 38, 30, 17, 41). In der erinnerten    tät …
Planung nur selten vorkommend sind         Ähnlich der hier festgestellten Verbin-
es gerade diese Aspekte der Persönlich-    dung zwischen Sprachenlernen und
keitsbildung oder neoliberal angelegten    Kompetenzsteigerung finden sich auch
Selbstverbesserung, denen in der Be-       in der allgemeinen Auswirkungsein-
wertung der Auswirkungen des Aufent-       schätzung der Befragten Aussagen, die
halts später deutlich mehr Bedeutung       auf eine Bewertung der Auslandserfah-
zugemessen wird.

                                                                                  77
rung nach (neoliberalen) Kriterien „wie        dann resultierende „Bestätigung“ (Int.
Konkurrenz, Durchorganisation und              48) in der Erkenntnis, „dass man es
Vorteils-Nachteils-Kalkulationen“ (Fen-        auch schafft“ (Int. 4) und darin, dies
ner 2020) zur Steigerung des eigenen           „sich und allen zu beweisen“ (Int. 35).
Portfoliowerts hindeuten. Spuren eines         Im Vergleich wird der Zustand vor dem
solchen Diskurses durchziehen knapp            Aufenthalt bzw. ohne Aufenthaltserfah-
20 der Interviews, sind damit also             rung dann zur „Komfortzone“ (Int. 48),
häufiger als in der Vorher-Betrachtung         die verlassen werden sollte. Herausfor-
der Studie, erlangen in den Aussagen           derungen werden „gemeistert“ (Int.
aber nie Dominanz, mischen sich mit            28, 35), das gegenwärtige Selbst wird
anderen Einschätzungen und bleiben             „überwunden“ (Int. 20, 28).
zumeist marginal.
                                               Sprachlich sind diese Äußerungen nicht
So sehen einige Studierende in dem             immer unähnlich denen, die auf Per-
Aufenthalt z.B. einen willkommenen             sönlichkeitsentwicklung im eher klas-
Druck zur persönlichen Leistungsstei-          sischen Sinn abheben, und überlagern
gerung, dessen erfolgreiche Bewältigung        sich teils mit ihnen, doch fokussieren
sie auf spätere (berufliche) Situationen       diese neoliberal anmutenden Passa-
vorbereitet („es gab ’nen größeren             gen noch deutlicher auf – und sind
Druck […], da muss man sich eben               eingebettet in Kontexte von – Subjek-
drauf einlassen“, Int. 48). Hierbei geht       tivität, die das Selbst als ein auf sich
es nicht so sehr um späteren Erfolg            gestelltes, gut zu organisierendes und
bei der Ausübung eines bestimmten              zu optimierendes Element in einer
Berufs, sondern um eine allgemeine             Wettbewerbsgesellschaft fasst. Dies ist
Selbstflexibilisierung, mit der man auf        abzulesen an Antworten, die die gestei-
verschiedenste künftige Anforderungen          gerte Selbstorganisationsfähigkeit mit
reagieren kann. Es ist eine Herausforde-       in den Vordergrund stellen (z.B. Int. 5,
rung, die auf das Bestehen kommender           12, 24, 37, 41), die hinzugewonnene
Herausforderungen, eine Erfahrung, die         Durchsetzungsfähigkeit betonen (Int. 5,
auf zukünftige Erfahrungen vorberei-           19, 32; „ich hab auf jeden Fall gelernt,
tet – kurz: eine Investition in das sich       mich durchzuschlagen“, Int. 41) oder
ständig weiter(zu)entwickelnde Selbst:         das persönliche Vorankommen hervor-
„man muss sich zwangsläufig zurecht-           heben: „es hat mich jetzt auf jeden Fall
finden […], das ermöglicht einfach,            ordentlich… für zuhause… gepusht“,
dass man… kommunikative Kompe-                 Int. 46; „das hat mich persönlich sehr
tenzen entwickelt, die einem dann für          weitergebracht“, Int. 25; „das hat
den weiteren Werdegang ungemein hilf-          mich… sag ich mal… weitergebracht“,
reich sein können“ (Int. 7); „das waren        Int. 23. In einigen wenigen Äußerun-
Situationen, mit denen man im Alltag           gen erscheinen so selbst Aspekte, die
später auch konfrontiert wird, wenn            Verbindung zum Sozialen oder der
man beispielsweise sich einen Beruf            Persönlichkeitsbildung haben (wel-
suchen wird“ (Int. 44); „das wichtigs-         che insgesamt die größte Rolle in den
te, was sich jetzt… ich sag mal… für           Nachher-Betrachtungen spielen; s.u.),
später, fürs Berufliche ergeben hat“           im Lichte von Konkurrenzverhältnis-
(Int. 13); „der erste Schritt mal in die       sen und Marktorientierung, wenn z.B.
Zukunft“ (Int. 4); „so dass ich dann           gewachsene Selbständigkeit meint, dass
weiß, dass ich das in Zukunft vielleicht       man gelernt hat, „sich auf sich selber zu
nochmal machen kann und schaffen               verlassen“ (Int. 48), „ich bin besser im
würde“ (Int. 28). Erwähnt werden in            Umgang mit anderen Menschen gewor-
diesem Zusammenhang die Vorzüge der            den“ (Int. 32) primär auf verbesserte
Selbstherausforderung, des Abbauens            Konfliktfähigkeit abhebt, die Übung
von Hemmungen, des „ins kalte Wasser           im Kennenlernen von Menschen als
geschmissen zu werden“ (Int. 33) und           Vorbereitung für die Jobsuche gesehen
die aus einer erfolgreichen Bewältigung        wird (Int. 44) oder das internationale

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