Journalismus als öffentliches Gut - Meinungsbildung im digitalen Kapitalismus Christian Humborg - Bibliothek der Friedrich ...
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Impressum 04/2021 Friedrich-Ebert-Stiftung FES Medienpolitik Godesberger Allee 149 53175 Bonn www.fes.de/medienpolitik Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Roland Feicht Autor Christian Humborg Redaktion Roland Feicht Illustrationen Belicta Castelbarco Gestaltung und Satz tigerworx Berlin Verlag Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn ISBN: 978-3-96250-873-9 Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung. Creative-Commons-Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0 Die Texte dieses Werks sind unter der Creative-Commons-Lizenz vom Typ „Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz“ lizenziert. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Diese Lizenz beinhaltet unter anderem, dass die Texte bei Nennung des/der Autor_innen und dieser Publikation als Quelle ohne Veränderung veröffentlicht und weitergegeben werden dürfen. Ausgenommen von dieser Lizenz sind alle Nicht-Text-Inhalte wie Fotos, Grafiken und Logos. Publikationen der Friedrich-Ebert-Stiftung dürfen nicht für Wahlkampfzwecke verwendet werden.
4 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Inhalt 8 6 12 10 14 18 5 Einleitung 6 I. Die Krise der Zeitungen und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks 10 II. Aufstieg und Hegemonie der Werbeplattformen 14 III. Unternehmertum und Innovation in Zeiten der Krise 20 IV. Politische Rahmensetzung und Regulierung für Aufklärung und Journalismus 20 24 V. Literatur
JOURNALISMUS ALS ÖFFENTLICHES GUT – MEINUNGSBILDUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS 5 Einleitung E s sind harte Zeiten für den Jour- nalismus. Die Digitalisierung und Journalismus ist ein öffentliches der Aufstieg der Plattformen forcie- ren einen tief greifenden Wandel der Gut, das es zu schützen gilt. Medienlandschaft. Hinzu kommt das Denn Journalismus ist als Ringen um Glaubwürdigkeit und Ver- trauen von Redaktionen, Journalist_ sogenannte vierte Macht im innen, Verlagshäusern und Medienan- stalten. In einer gereizten Gesellschaft, Staat, insbesondere aber auch in der Ablehnung und Skepsis gegen- für die Gemeinde und die über Berichterstattung zunehmen, muss an eigentlich selbstverständliche Stadt, für eine funktionierende Grundsätze erinnert werden, wie die und akzeptierte Demokratie fundamentale Bedeutung freier Medien für eine lebendige Demokratie. Quali genauso wichtig wie andere tätsjournalismus und Medienvielfalt müssen sich behaupten. öffentliche Güter, etwa Wasser, Es zeigt sich deutlich: Journalismus Schulen und Krankenhäuser. ist ein öffentliches Gut, das es zu schüt- zen gilt. Denn Journalismus ist als so- genannte vierte Macht im Staat, insbe- sondere aber auch für die Gemeinde und die Stadt, für eine funktionieren- Journalismus sind und je bunter die der Medienwelt unternommen? Wel- de und akzeptierte Demokratie genau- vielfältigen Medienorganisationen, des- che politischen Rahmenbedingungen so wichtig wie andere öffentliche Güter, to besser für die Demokratie im digita- braucht es bei strikter Wahrung der etwa Wasser, Schulen und Krankenhäu- len Kapitalismus. Unabhängigkeit der Medien? Um Ant- ser. Folgerichtig zählte das Land Berlin Die Funktionsfähigkeit des Jour- worten zu finden, muss zunächst auf während der Corona-Pandemie im Jahr nalismus ist auch gleichermaßen Vor- die Krise der Tageszeitungen, der Zeit- 2020 die Medienberufe, darunter Jour- aussetzung für das Funktionieren der schriften und des öffentlich-rechtlichen nalist_innen, zu den systemrelevanten Marktwirtschaft. Wenn nicht über un- Rundfunks und auf die Bedeutung der Berufen genauso wie die Berufe in den verantwortliche Unternehmen, über Plattformgiganten für die Zukunft des Branchen der Wasser- und Energie- schlechte Produkte, über katastropha- Journalismus eingegangen werden. versorgung und des Lebensmittel- und len Kundenservice berichtet wird, dann Drogeriefachhandels. haben es gute Unternehmen schwe- Zwei Kriterien gelten für die Defi rer, sich am Markt durchzusetzen, zum nition eines öffentlichen Gutes: Nicht Schaden aller. Rivalität im Konsum und Nicht-Aus Öffentlichkeit konstituiert demo- schließbarkeit. Im Netz kann ein kratisches Handeln. Journalismus re- Artikel zum Zeitpunkt der Veröffent cherchiert, kuratiert und strukturiert lichung zugleich von Tausenden gele- die für den öffentlichen Diskurs not- sen werden. Die digitale Ausschließbar- wendigen Informationen. Damit wird keit kann zwar durch Paywalls erreicht fundierte Meinungsbildung in einer werden, aber diese können nicht die Öffentlichkeit erst möglich. zentrale Information in ihrer Weiter- Doch welche Wege sind einzuschla- verbreitung über Agenturmeldungen gen, um Medien- und Informations- und Zitationen stoppen. Das ist auch vielfalt zu gewährleisten? Durch welche gut so. Entsprechend gilt für die Orga- Anreize kann Aufklärung zum Zweck nisation und Finanzierung des Jour- fundierter Meinungsbildung in der Öf- nalismus als öffentlichen Gutes: Je di- fentlichkeit gestärkt werden? Welche verser die F inanzierungsformen des innovativen Anstrengungen werden in
JOURNALISMUS ALS ÖFFENTLICHES GUT – MEINUNGSBILDUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS 7 D as Jahr 2020 ist im Rückblick ein Jahr, in dem sich die Krise des Journalismus rapide beschleunigt hat. ating the quality of public projects and local governments“ (Gao/Lee/Murphy 2018: 3).1 Für die Zeitungen und Zeitschrif- ten, die wie „Der Spiegel“ und „Die Zeit“ nicht täglich gedruckt werden, In Großbritannien und den USA wur- In den USA ist die Situation schon sind die Zukunftsaussichten besser, den zahlreiche Zeitungen eingestellt dramatischer als in Deutschland (Sul- denn ihrem Abonnement- und Pro- (Clayton 2020; Waterson 2020). Auch livan 2020). In einer der größten Stu- duktionsmodell droht weniger Umstel- in Deutschland führte die Corona-Kri- dien zum Niedergang des US-ameri- lung. Tageszeitungen gehen angesichts se zu einem Anzeigenrückgang, zur kanischen Lokaljournalismus kommt der großen Herausforderung mit unter- Einstellung von Angeboten wie „FAZ Abernathy (2020: 11) zum Ergebnis, schiedlichen Strategien vor. Woche“ und „taz gazete“ und die Ver- dass es in über 200 der 3.143 Landkrei- Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa lage meldeten vielerorts Kurzarbeit an. se keine Zeitung oder Newsseite mehr baut ihre Wochenendausgabe aus. Seit 1995 haben die Tageszeitungen gibt. Die entstehenden Lücken werden Nicht unkompliziert ist das Verhält- in Deutschland die Hälfte ihrer Aufla- durch politische Akteure gefüllt. Über nis von Print- und Online-Redaktion, ge verloren (Statista 2020a). Zwischen 1.300 lokale Newssites sind in allen 50 die noch in zwei verschiedenen Gesell- 2015 und 2019 gingen die Anzeigen Bundesstaaten rund um den Unterneh- schaften zu unterschiedlichen Kondi- umsätze der Zeitungen um 22 % zu- mer Brian Timpone entstanden, die tionen organisiert sind (Fromm 2020). rück, während die Umsätze aus dem regelmäßig mit algorithmisch erzeug- Sparvorgaben machen die Situation Zeitungsvertrieb nur um 3 % stiegen ten Artikeln gefüllt werden und sich nicht einfacher. Die „Frankfurter All- (Keller/Stavenhagen 2020: 7). Die alte für konservative Meinungen bezahlen gemeine Zeitung“ (FAZ) muss sich zwi- Faustregel, wonach zwei Drittel der lassen, auch von Republikanern zuge- schen ihrer Wochenendausgabe und Umsätze aus dem Verkauf der Anzeigen wandten Gruppen und PR-Firmen in- der „Frankfurter Allgemeinen Sonn- und ein Drittel aus dem Verkauf der ternationaler Konzerne (Alba/Nicas tagszeitung“ entscheiden. Die teure Zu- Tagespresse stammen, gilt schon seit 2020). stellung am Sonntag führt dazu, dass 20 Jahren nicht mehr (Pasquay 2018: 6). In einem Medienumfeld von Netflix, Spotify und Rundfunkbeitrag wirkt der monatliche Bezugspreis für sechsmal wöchentlich erscheinende Lokal- und Regionalzeitungen mit durchschnitt- lich 37,73 Euro hoch (vgl. Keller/ Für die Zeitungen und Zeitschriften, Stavenhagen 2020: 31); für digitale die wie „Der Spiegel“ und „Die Abonnements hingegen liegt das obe- re Ende der empfohlenen Preisspan- Zeit“ nicht täglich gedruckt werden, ne laut Untersuchungen von Buschow/ Wellbrock (2019: 33) bei etwa 10 Euro sind die Zukunftsaussichten im Monat. besser, denn ihrem Abonnement- Der Verlust an klassischer Öffent- lichkeit, gerade vor Ort, ist dramatisch. und Produktionsmodell Kübler/Goodman (2019) haben ge- zeigt, dass in Regionen ohne Lokalzei- droht weniger Umstellung. tung die Wahlbeteiligung zurückgeht. Tageszeitungen gehen angesichts Zivilgesellschaftliches Engagement ist da größer, wo es lokale Medien gibt der großen Herausforderung mit (Barthel et al. 2016). Gao/Lee/Murphy unterschiedlichen Strategien vor. (2018) belegen einen Zusammenhang zwischen der Einstellung von Lokalzei- tungen in einer Region und steigenden Schulden der Kommune: „There is not a sufficient degree of substitutability bet- ween local newspapers and alternative information intermediaries for evalu- 1 Übersetzung: „Für die Bewertung der Qualität öffentlicher Projekte und lokaler Regierungen können alternative Internet-Plattformen Lokalzeitungen nur unzureichend ersetzen.“
8 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Letztere inzwischen samstags erscheint ten berichtet wird. Aufgrund der Ein- Beiträgen zu überregionalen Themen. (Wiegand 2020). Die „Tageszeitung“ schränkungen infolge der Corona-Pan- Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (taz) geht davon aus, dass sie im kom- demie ist das Veranstaltungsgeschäft (RND) von Madsack und DuMont be- menden Jahr ihren täglichen Druck zusammengebrochen. Die Diversifika- liefert nach eigenen Angaben über 50 auf Papier und Vertrieb einstellen wird tion der Aktivitäten birgt überdies die Lokalzeitungen und erreicht damit (Sagatz 2018), und beweist mit ihrer Gefahr, dass sich die Verlage aus dem mehr Menschen als „Bild“, „Süddeut- Planung strategischen Mut und Konse- Kerngeschäft herausentwickeln. „Des- sche“ und FAZ zusammen. Die Funke quenz. halb wird in der Branche seit längerem Zentralredaktion in Berlin erreicht Um Erträge zu diversifizieren und die Frage debattiert: Bleiben (Groß-) als zweitgrößter Newsroom immer- die Abhängigkeit von Werbeeinnah- Verlage journalistische Unternehmen?“ hin noch über eine Million Lesende, men zu reduzieren, bauen die Verla- (Buschow/Wellbrock 2020b: 20). vornehmlich in Nordrhein-Westfalen ge um ihre Marken herum neue Ge- Der Umbruch steht den Lokalzei- (Fromm 2018). Auch die Südwestdeut- schäftsfelder aus. Der „Tagesspiegel“ tungen noch bevor. Hohe Kosten für sche Medienholding und Ippen haben bietet verschiedene hochpreisige Ent- Redaktion, Vertrieb und Zustellung Zentralredaktionen gegründet. Buschow und Wellbrock (2020b: 19) halten die Innovationsaktivitäten der etablierten Verlage jedoch für unzurei- chend, zumal sie sich nur inkremen- tell vollzögen: „Im Verlagsmanagement wurde, zugespitzt gesagt, vorzugsweise Der Umbruch steht den verwaltet und nicht innoviert.“ Doch nicht nur die Zeitungen, son- Lokalzeitungen noch bevor. Hohe dern auch der öffentlich-rechtliche Kosten für Redaktion, Vertrieb Rundfunk steht vor Herausforderungen und gerät unter wachsenden Rechtfer- und Zustellung auf der einen tigungsdruck. Von den rund 8 Milliar- den Euro Einnahmen aus den Rund- Seite und aufgrund der lokalen funkbeiträgen fließen rund 98 % zu den Verbreitungsgebiete endliche öffentlich-rechtlichen Anstalten und knapp 2 % an die Landesmedienanstal- Abonnentenzahlen auf der anderen ten (Medienanstalten 2019: 37). Der Publikumsanteil des öffentlich-recht- Seite führen zu strukturellen lichen Rundfunks innerhalb des linea- Problemen. ren Fernsehens wächst seit Jahren leicht und lag im Jahr 2018 bei 48 % weit vor der Mediengruppe RTL Deutschland mit 22 % und der ProSiebenSat.1 Media mit 18 % (KEK 2019: 59). Aber ers- tens ist das Durchschnittsalter des Pu- blikums von ARD und ZDF mit über scheider-Briefings und Fachforen an. auf der einen Seite und aufgrund der 60 Jahren recht hoch (bei einem Durch- Die „Zeit“ hat bereits eine lange Tradi- lokalen Verbreitungsgebiete endliche schnittsalter der Gesamtbevölkerung tion, Veranstaltungen anzubieten, und Abonnentenzahlen auf der anderen Sei- von 45 Jahren). Zweitens bleibt bei die- betätigt sich inzwischen auch als Reise- te führen zu strukturellen Problemen. ser Betrachtung die Abwanderung zum veranstalter. Beispielsweise konnte im Die Zustellungskosten steigen konti- nicht linearen Fernsehen außen vor. Jahr 2019 eine einwöchige Kreuzfahrt nuierlich (Linß 2019). Hinzu kommt, Bei der linearen Fernsehnutzung ist bei von Hamburg nach New York gebucht dass jede weniger zugestellte Zeitung den 20- bis 29-Jährigen zwischen 2005 werden. Reisebegleiter war laut Pros- die Kosten für die Zustellung pro Zei- und 2018 die durchschnittliche Seh- pekt einer der stellvertretenden Chef- tung aufgrund sinkender Skaleneffekte dauer pro Tag von 162 auf 110 Minu redakteure. Allerdings kann eine solche steigen lässt. Wenn die Zustellung nicht ten zurückgegangen; bei den 14- bis Ertragsdiversifizierung zur unglückli- mehr rentabel ist, kippt das Zustellsys- 19-jährigen gab es sogar einen Rück- chen Gemengelage werden, wenn im tem. gang von 109 auf 64 Minuten zu ver- Blatt über die ökologischen Folgen der Unter dem Kostendruck zentralisie- zeichnen (KEK 2019: 51). Insgesamt Kreuzfahrtschifffahrt oder über den ren größere Verlagshäuser seit Länge- verliert das lineare Fernsehen massiv Kampf der Branche in Corona-Zei- rem die Redaktion und Produktion von an Bedeutung. Dies gilt zwar weniger
JOURNALISMUS ALS ÖFFENTLICHES GUT – MEINUNGSBILDUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS 9 ausgeprägt für das Radio, aber auch dort gewinnt der Konsum nicht linea- rer Hörfunksendungen, vor allem Pod- casts, an Bedeutung. Wie sieht es in anderen Ländern aus? Großbritannien und die Schweiz haben in den vergangenen Jahren in- tensive öffentliche Debatten über die weitere Ausrichtung und Finanzierung ihres öffentlich-rechtlichen Rundfunks erlebt. Im Jahr 2018 wurde die Volks initiative zur Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren („No-Billag“) mit rund 72 % abgelehnt. Der briti- sche Premierminister Boris Johnson stellt regelmäßig die Finanzierung der British Broadcasting Corporation (BBC) über Rundfunkgebühren infrage (Pribyl 2020). In den USA ist das National Public Radio (NPR) am ehesten mit einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ver- gleichbar. Tatsächlich handelt es sich um eine lose Kooperation nicht kom- merzieller eigenständiger Hörfunk sender. Der Umbruch erfolgt hier – sepa- rat vom NPR – durch den Aufstieg des sogenannten Talk Radio, des Formats für Monologe oder Gespräche über po- litische und gesellschaftliche Themen oder Lebenshilfe mit einem sehr hohen Wortanteil. Brinkbäumer und Lamby (2020: 85) gehen davon aus, dass der Erfolg Donald Trumps indirekt auf die Neuausrichtung auf das Talk Radio der in den riesigen Flächenstaaten senden- den Mittelwellensender zurückgeht. Diese machten den Werbeplattformen wie Facebook und Google vor, dass Populismus und gesellschaftliche Spal- tung zu kommerziellem Erfolg führen können.
JOURNALISMUS ALS ÖFFENTLICHES GUT – MEINUNGSBILDUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS 11 I n einer Zeit, in der Aufklärung und die journalistische Kontrolle von Mächtigen besonders nötig sind, gerät Entdeckung eines steuerrechtlichen Schlupflochs eine wesentliche Rolle, nämlich die Regel, dass Onlinehändler Revolution für Menschen, die sich von der Revolution keinen Vorteil erwarten dürfen“ (Daun 2020: 125). der Journalismus in seine größte Krise beim Versand in andere US-Bundes- Die Medienunternehmen gehörten (Bauerlein 2017). Die Auswirkungen staaten keine Umsatzsteuer abführen zu den ersten Akteuren, die den Auf- der Corona-Pandemie beschleunigen müssen (Foer 2017: 195). Peter Thiel stieg der Plattformen zu spüren beka- den Trend hin zu digitalen, mobileren gründete PayPal, um Onlinezahlungen men, da Werbeplattformen wie Face- und plattformdominierten Medienum- außerhalb des staatlich regulierten Ban- book, Instagram oder YouTube ihre gebungen (Newman et al. 2020: 5). kensystems zu ermöglichen, sich der Erträge aus Werbung generieren. Im Hinter dem Aufstieg der Plattfor- Regulierung zu entziehen und diese zu Jahr 2018 betrug der Anteil der Erträ- men verbirgt sich eine grundsätzliche stören (Taplin 2017: 73). Fast medien ge aus Onlinewerbung bei Google 85 % Transformation des Wirtschaftslebens, ikonisch mutet ein Foto aus dem Jahr und bei Facebook 99 % (Staab 2019: die Staab (2019) in Anlehnung an 2007 an, das eine Gruppe ehemaliger 36 f.). Schiller (2000) als digitalen Kapitalis- PayPal-Gründer und Angestellter zeigt. Mit der ideologisch verankerten mus und Srnicek (2017) als Plattform- Zur „PayPal-Mafia“ gehören die späte- Skepsis gegenüber staatlichem Han- kapitalismus bezeichnet. Danach sind ren Gründer weiterer Plattformen wie deln setzen die Werbeplattformen alles die neuen dominanten Wirtschaftsak- zum Beispiel LinkedIn, YouTube und daran, Regulierung zu verhindern und teure Plattformunternehmen. Zu ihnen Yelp, aber auch der Tesla-Gründer Elon zu verzögern. Ihre besondere Position gehören Google, Facebook, Microsoft, Musk (Tweney 2007). gründet sich im US-amerikanischen Uber und Airbnb. Mit dem Akronym Daun (2020) hat die ideenge- Rechtsraum auf Section 230 des Com- GAFA werden Google, Apple, Face- schichtlichen Überzeugungen der munication Decency Act, dem zufolge book, Amazon zusammengefasst. Die Tech-Gründer und ihre Narrative aus die Werbeplattformen nicht wie jour- drei dominierenden chinesischen Platt- Objektivismus und Libertarismus ent- nalistische Medien für ihre Inhalte haf- formen Baidu, Alibaba, Tencent wer- schlüsselt. Die Auseinandersetzung ten müssen, sodass sie zu weltumspan- den als BAT bezeichnet (Staab/Butollo über die viel zitierte Disruption ver- nenden Konzernen aufsteigen konnten 2018: 1). wandele sich in eine Theodizee des (Brinkbäumer/Lamby 2020: 98). Die- McAfee und Brynjolfsson (2017: Hyperkapitalismus: „Paradoxerweise ses auch im europäischen Recht veran- 137) definieren Plattformen „as a digi- ist die Disruption letzten Endes also kerte Plattformprivileg führt zur von tal environment characterized by near- etwas wie Neuheit für Menschen, die Turner (2020) beispielhaft angeführten zero marginal cost of access, reproduc- sich vor genuin Neuem fürchten. Eine Konstellation, dass der Verantwortliche tion and distribution“.2 Die Plattformen streben nach Wachstum auf Angebots- wie Nachfrageseite, um sich die Netz- werkeffekte auf beiden Seiten zunut- ze zu machen. Dies führt in der Praxis zum ökonomischen Anreiz, ein Mono Mit dem Aufstieg der Werbe pol im spezifischen Markt zu erreichen, plattformen geraten nicht um Monopolrenditen abzuschöpfen. Staab (2019: 3) geht noch weiter, wenn nur die Medienunternehmen er argumentiert, dass die Plattfor- men nicht auf Märkten agieren, deren als Institutionen unter Druck, Mechanismen sie verzerren: „Sie sind sondern auch ihr Produkt, der diese Märkte.“ Taplin (2017) nutzte Facebooks Journalismus selbst. Denn dank frühes Motto „Move fast and break der Werbeplattformen kann der things“ (Sei schnell und breche Din- ge auf) als Titel seines Buches, um zu oder die Einzelne viele Menschen zeigen, wie kulturelle Ausbeutung und Missachtung rechtlicher Standards we- direkt erreichen. sentliche Faktoren für den Aufstieg der Plattformen sind. So spielte bei der Idee zur Gründung von Amazon die 2 Übersetzung: „als eine digitale Umgebung, die durch Grenzkosten von nahezu Null für Zugang, Reproduktion und Verteilung gekennzeichnet ist.“
12 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG e iner von Hunderten Personen gelese- Nguyen 2018: 1). Die anfängliche Eu- Investoren, der sich inzwischen kri- nen Schülerzeitung für den Beitrag ei- phorie über die neuen Möglichkeiten tisch zur Plattform stellt, hat im Film nes Schülers, das Mensaessen schmecke trug zum Aufstieg der Piratenpartei „The Social Dilemma“ die Targeting- nach Seife, vor Gericht zur Verantwor- oder dem Arabischen Frühling bei. In- Instrumente Facebooks scharf kriti- tung gezogen werden kann, nicht aber zwischen ist angesichts von Problemen siert: „Facebook is designed to mono- eine Werbeplattform, die dem Schüler wie Desinformation und Hate Speech polize attention, just taking all the basic die tausendfache Weiterverbreitung ei- Ernüchterung eingekehrt (Fielitz/ tricks of propaganda, marrying them nes Enthauptungsvideos ermöglicht. Marcks 2020: 25 ff.). to the tricks of casino gambling.“3 So sehr Facebook die Tricks der Aufmerk- samskeitsökonomie beherrscht, so sehr versagt Facebook beim Kampf gegen Hass und Hetze im Netz (Nabben et al. 2020). Trotz der wachsenden Ein möglicher Ausweg aus dem Tar- geting sind durch Nutzende finanzierte Bedeutung der Influencer_innen Inhalte, ohne Werbung und außerhalb sind die Werbeplattformen der Werbeökonomie. Das Privileg un- abhängiger Information ist dann de- auch daran interessiert, die nen vorbehalten, die über ausreichend Inhalte traditioneller Verlage finanzielle Ressourcen für den Kauf von Inhalten verfügen, die die Bedeutung anzubieten, denn deren unabhängiger Information erkannt ha- ben und die bereit sind, dafür Geld aus- Marken verfügen über das zugeben. hohe Gut der Unabhängigkeit. Bei der Werbefinanzierung von In- halten kommt es entscheidend darauf Diese unabhängigen an, ob journalistische Unabhängigkeit und Transparenz gewahrt bleiben. Tra- Informationen sind oft wichtiger ditionell wird im Bereich der (Teil-) Ausgangspunkt für emotional Werbefinanzierung von Information deren Unabhängigkeit durch eine in geprägte Auseinandersetzungen der Praxis manchmal besser, manch- mit der Ursprungsinformation. mal schlechter vollzogene Trennung von Verlag und Redaktion gewährleis- tet. Anders beim Geschäftsmodell der Influencer_innen: Hier werden Wer- bung und Informationsbereitstellung geschickt verknüpft. Die meisten In- Mit dem Aufstieg der Werbeplatt- Eine der Ursachen für solche Fehl- fluencer_innen beanspruchen nicht für formen geraten nicht nur die Me- entwicklungen ist der den Werbeplatt- sich, unabhängige Informationen anzu- dienunternehmen als Institutionen formen inhärente Mechanismus: Die bieten, und bleiben damit ihrer Marke unter Druck, sondern auch ihr Pro- zu vermarktende Einheit zur Generie- treu. Gleichwohl übernehmen sie für dukt, der Journalismus selbst. Denn rung von Erträgen heißt Interaktion. eine wachsende Zahl von Nutzenden dank der Werbeplattformen kann der Die Wahrscheinlichkeit einer Interak- die Funktion, die traditionell von Ver- oder die Einzelne viele Menschen di- tion steigt durch Emotionalisierung lagen und Rundfunkanstalten wahrge- rekt erreichen. „Wir alle sind zu Pub- und Zuspitzung und nicht durch die nommen wurde. Ob allen Nutzenden lizisten geworden, jeder ist Publizist. Aufklärung oder Bildung der Nutzen- die Verknüpfung von Werbung und In- Das Publizieren ist nicht mehr den al- den. Die Interaktionsmaschinerie der formationsbereitstellung klar ist, sei da- ten Gatekeepern, den Zeitungen, Zeit- Werbeplattformen will immer neu be- hingestellt. schriften, Radiosendern und Fern- feuert werden, schneller, höher, weiter. Trotz der wachsenden Bedeutung sehanstalten vorbehalten“ (Humborg/ McNamee, einer der ersten Facebook- der Influencer_innen sind die Werbe- 3 Übersetzung: „Facebook ist ausgelegt, um Aufmerksamkeit zu monopolisieren, es wendet alle grundlegenden Propagandakniffe an und verbindet sie mit den Tricks des Casinos.“
JOURNALISMUS ALS ÖFFENTLICHES GUT – MEINUNGSBILDUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS 13 plattformen auch daran interessiert, die Google vorging, verkaufen Verlage wie Inhalte traditioneller Verlage anzubie- „Der Spiegel“, „Stern“, WAZ, „Die Zeit“ ten, denn deren Marken verfügen über und „Der Tagesspiegel“ seit 2020 jour- das hohe Gut der Unabhängigkeit. Die- nalistische Inhalte an Google (Rott- se unabhängigen Informationen sind wilm 2020). Auch in die Vermarktung oft wichtiger Ausgangspunkt für emo- digitaler Abonnements ist Google ein- tional geprägte Auseinandersetzungen gestiegen. Im Jahr 2020 gab „Der Tages- mit der Ursprungsinformation. Folge- spiegel“ als weltweit erster Verlag eine richtig investieren die Werbeplattfor- umfassende Technologie- und Marke- men in ihr Medien-Ökosystem. An- tingkooperation mit Google bekannt fang 2019 gab Facebook bekannt, 300 (Friedrich/von Wysocki 2020). Millionen Euro an Journalismuspro- Auch Facebook beginnt von Verla- jekte auszuschütten (Ingram 2019). gen Inhalte zu kaufen, ab 2021 von den Seit Jahren beauftragt Facebook Ver- großen britischen Verlagen, wie „Daily lage und Agenturen damit, die Rich- Mirror“, „Economist“, „Independent“ tigkeit von Inhalten auf Facebook zu und „The Guardian“, kuratiert von der prüfen, in Deutschland AFP, dpa und Axel-Springer-Tochter Upday (Water- CORRECTIV (Facebook 2020). son 2020b). Facebooks Macht zeigt sich auch in Dank ihres Aufstiegs können sich seinen Algorithmen, die bestimmen, die Werbeplattformen nicht nur die was Nutzende zu sehen bekommen dominierenden Anteile am Werbebud- und welche Publisher leichter Reich- getmarkt sichern, sondern sie schaf- weite aufbauen können. Bauerlein und fen neue Kommunikationsräume, die Jeffery(2020) zeigen, wie Facebook in bisherige Kanäle der Informationsbe- den USA mehrfach bewusst eingriff schaffung für Bürger_innen weniger und so mehr Personen zu politisch wichtig erscheinen lassen. Der globale rechten Seiten wie „Daily Wire“ gelenkt Handlungsrahmen der Werbeplattfor- hat, weg von unabhängigen Medien wie men und ihre Monopolmacht verstär- „Mother Jones“. ken die kapitalistische Dynamik einer Der bedeutendste Förderer von kulturellen Hegemonie. Medienunternehmen und Journalis- mus unter den Werbeplattformen ist Google. Dachwitz und Fanta (2020) haben im Auftrag der Otto-Brenner- Stiftung und des Deutschen Gewerk- schaftsbundes (DGB) die Förderung des europäischen Journalismus in Höhe von mehr als 200 Millionen Euro durch Google im Zeitraum 2013 bis 2020 un- tersucht. Sie sehen die Gelder als Trost- preis für unterlegene Rivalen. Google fülle dennoch eine dringende Lücke in der Finanzierung von Technologieent- wicklung im Journalismus (Dachwitz/ Fanta 2020: 72). Durch die zusätzliche Konferenz- und Weiterbildungsfinan- zierung spiele Google „eine wichtige Rolle für die Vernetzung der Medien- branche in Deutschland und Europa“ (Dachwitz/Fanta 2020: 81). Nachdem die Verwertungsge- sellschaft Media (inzwischen: Corint Media), zu der die Presseverleger gehö- ren, aufgrund des Vorwurfs der Verlet- zung von Leistungsschutzrechten gegen
14 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG III. Unternehmertum und Innovation in Zeiten der Krise
JOURNALISMUS ALS ÖFFENTLICHES GUT – MEINUNGSBILDUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS 15 P essimismus ist fehl am Platz. Die neuen technischen Möglichkeiten und institutionellen Arrangements bie- I nvestitionen in Journalismus, Recher- che, digitale Distribution und mit der Konzentration auf Lesende und de- renden Grenzkosten digitaler Güter ist es für deutschsprachige Publikationen mit globalem Anspruch unmöglich, ten ebenso Platz für Innovation und Er- ren Bedürfnisse. Auch wenn Bezos die ähnliche Zahlen zu erreichen, außer bei neuerung und damit für Aufklärung, „Post“ selbst kaufte und diese getrennt einer radikalen Fokussierung auf die Demokratisierung und Emanzipation. von Amazon geführt wird, werden die Veröffentlichung in englischer Sprache, Neue Verlage, neue Formate, neue Pu- Abonnements über Amazon angebo- wofür es allerdings bislang kein Beispiel blikationen, neue Kommunikations- ten, mit einer Testperiode von sechs gibt. formen und vieles mehr entstehen. Die Monaten. Die „Post“ veröffentlicht ihre In den Verlagshäusern sind der traditionellen Medienhäuser und de- Abonnementzahlen nicht, aber sie wer- Wandel und die Neuorientierung deut- ren Journalist_innen nehmen ihre neue den inzwischen auf über 2 Millionen lich spürbar. 2019 gelang es endlich, Rolle des Gatewatching im Gegensatz geschätzt (Benton 2020). „Der Spiegel“ und „Spiegel Online“ zu zum traditionellen Gatekeeping an „New York Times“ und „Washing- fusionieren (Zingher 2020). Mit Z2X (Bruns 2009).4 ton Post“ profitieren von ihrem An- versucht „Die Zeit“, eine eigene Com- Ein US-amerikanisches Verlags- spruch globaler Berichterstattung und munity unter 20- bis 29-Jährigen aufzu- haus hat die Transformation erfolgreich der Veröffentlichung in englischer bauen. Der Chefredakteur des „Tages- bewältigt. Abramson (2019) beschreibt Sprache. Damit ist ihr potenzieller spiegels“ Lorenz Maroldt schuf mit dem ausführlich aus der Binnenperspektive Markt global. Sie transformieren sich Berliner „Checkpoint“ 2014 ein neues die großen vor allem kulturellen Her- selbst in digitale Plattformen. Nachrichtenformat. Der „Checkpoint“ ausforderungen der „New York Times“, Der Markt für deutschsprachige Pu- ist ein lokales Informationsangebot in den notwendigen Wandel in Verlags- blikationen ist wesentlich kleiner. Ge- persönlicher und sprachlich launischer haus, Redaktion und Belegschaft zu rade einmal 130 Millionen Menschen Machart, das per E-Mail als Newsletter vollziehen. Wichtiger Anstoß der Ver- weltweit sprechen Deutsch (Statista versendet wird, unabhängig von Wer- änderung war der interne, später veröf- 2020d). Angesichts der gen null tendie- beplattformen und direkt zu den Lesen- fentlichte „New York Times Innovation Report“ im Jahr 2014, den das Nieman Lab als „one of the key documents of this media age“5 bewertete (Benton 2014) und der zeigte, wie unzureichend sich die „New York Times“ der digitalen Veränderung stellte (Abramson 2019: Pessimismus ist fehl am 218). Drei Jahre später wurden die stra- tegischen Überlegungen im „Report of Platz. Die neuen technischen the 2020 Group“ fortgeschrieben, mit Möglichkeiten und der Empfehlung, Innovation und Ver- änderung noch mehr zu beschleunigen. institutionellen Arrangements Die Veränderungen und Neuorientie- bieten ebenso Platz für rungen zahlten sich aus. Ende 2020 lag die Zahl digitaler Abonnements der Innovation und Erneuerung „New York Times“ bei über 6 Millionen (Statista 2020b). und damit für Aufklärung, Eine vergleichbare Entwicklung Demokratisierung und nahm die „Washington Post“, die nach der „New York Times“ erfolgreichs- Emanzipation. te Zeitung der Welt, wenn man die Anzahl der Pulitzerpreise als Maß- stab nimmt (Statista 2020c). Amazon- Gründer Jeff Bezos kaufte die Zeitung 2013 und verordnete ihr eine radika- le strategische Neuausrichtung, mit 4 Gatekeeping: Als Gatekeeper kontrollieren die Medien, welche Inhalte in den Medien veröffentlicht werden. Gatewatching: Als Gatewatcher beobachten die Medien, welche Informationen aus welchen Quellen fließen und bewerten dies. 5 Übersetzung: „eines der Schlüsseldokumente dieses Medienzeitalters“
16 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG Neben den bestehenden 10.000 und 15.000 Abonnierenden. 2016 konnte „Perspective Daily“ un- Verlagshäusern drängten neue ter dem Schlagwort des konstruktiven Journalismus eine vergleichbare Zahl Publisher auf den Markt. Global an Abonnierenden gewinnen. gehören dazu Angebote wie Aufseiten der gemeinnützigen Jour- nalismusorganisationen sind COR- „Huffington Post“, „BuzzFeed“ RECTIV, Finanztip und netzpolitik.org und „Vice“, […. ] hervorzuheben, die alle 2013 gegrün- det bzw. als gemeinnützig anerkannt Die Neugründungen in wurden. Finanztip ist ein unabhängiger Verbraucherratgeber, CORRECTIV ein Deutschland haben nicht deren Zentrum für investigative Recherche journalistische Breite und Umfang und Bildung zum aufklärenden Jour- nalismus und netzpolitik.org eine jour- erreicht, was sicher auch einem nalistische Plattform zum Themenbe- Mangel an Wagniskapital in reich der digitalen Freiheitsrechte. 2016 folgte die Gründung der Journalisten- Deutschland geschuldet ist. genossenschaft Investigate Europe, die sich europäischen, länderübergreifen- den Recherchen verschrieben hat. Auch wenn der gemeinnützige Journalismus auf absehbare Zeit nicht die Bedeutung der privaten und öffentlich-rechtlichen den. Das Format wurde zum sogenann- bildung in Journalismus und Technolo- Säulen des Mediensystems haben wird, ten „Tagesspiegel Newsletter Leute“ gie zu verzahnen. Geplant ist, die Axel kann er gerade auf lokaler Ebene eine fortentwickelt, der für jeden der zwölf Springer Akademie in die neue Einrich- wichtige Rolle einnehmen (Humborg Berliner Bezirke einmal pro Woche er- tung zu integrieren. 2017: 77). scheint und im Januar 2021 insgesamt Neben den bestehenden Verlags- Digitale Publisher, deren Angebote über 200.000 Abonnierende hatte. häusern drängten neue Publisher auf auf eher kleine Zielgruppen zugeschnit- Das „Mindener Tageblatt“ hat mit den Markt. Global gehören dazu Ange- ten sind, werden als Micropublisher be- „Kauf lokal“ eine eigene Plattform für bote wie „Huffington Post“, „BuzzFeed“ zeichnet, wenngleich ihre Abgrenzung die regionale Wirtschaft geschaffen, auf und „Vice“, deren Aufstieg Abramson nicht immer zweifelsfrei möglich ist. der über 300 lokale Händler_innen ihre (2019) beschreibt, die inzwischen aber In diesem Bereich hat es in den letzten Produkte und Dienstleistungen anbie- unter erheblichen finanziellen Druck zehn Jahren eine Gründungswelle ge- ten. Chefredakteur Benjamin Piel traf geraten sind. Die Neugründungen in geben. Beispiele sind das im Jahr 2012 sich innerhalb eines Jahres unter dem Deutschland haben nicht deren jour- gegründete Social Medium Watchblog Titel #200in365 mit 200 Menschen aus nalistische Breite und Umfang erreicht, mit dem im Namen vorgegebenen The- dem Verbreitungsgebiet der Zeitung an was sicher auch einem Mangel an Wag- ma der sozialen Medien und das im 200 Orten. niskapital in Deutschland geschuldet Jahr 2016 gegründete „Übermedien“, Axel Springer suchte den Schulter- ist. Ein früher Versuch mit täglichen In- ein Onlinemagazin für Medienkri- schluss mit der Technologie und grün- halten und überregionaler Ausrichtung tik. Beide finanzieren sich ausschließ- dete gemeinsam mit Samsung 2015 den im Jahr 2000 unter der Marke „Net lich über Abonnierende. Über Themen Newsaggregator Upday. Inzwischen ist zeitung“ scheiterte 2009. Im gleichen rund um Start-ups informieren seit das Angebot in über 30 Ländern und Jahr wurde mit dem „Perlentaucher“ 2007 „Deutsche Startups“ und seit 2020 in mehr als 20 Sprachen verfügbar. ein werbefinanziertes Onlinemagazin „Startup Insider“. Schon seit 2009 bie- Laut Online-IVW-Ranking liegt es in für kulturelle Themen gegründet. 2014 tet „Captain Cork“ Informationen für Deutschland bereits auf Platz 5 ( Mantel startete das investoren- und werbefi- Weintrinkende. Die Liste ließe sich lan- 2020a). Mit der Kernmarke „Bild“ nanzierte Angebot „Edition F“, ein On- ge fortsetzen. hat Axel Springer für das Aboange- linemagazin für Frauen, das 2020 um Die Gründungswelle hat auch die bot „Bild Plus“ Ende 2020 die Schwelle ein Paid-Content-Modell ergänzt wur- lokale Berichterstattung erfasst, aber von 500.000 zahlenden Abonnierenden de. Aus der 2012 gegründeten Crowd- bisher weder in vergleichbarer Grö- überschritten (Mantel 2020b). 2020 gab fundingplattform für Journalismus ße noch Nachhaltigkeit. Einige Neu- Axel Springer die Gründung der „Free- „Krautreporter“ wurde 2014 ein jour- gründungen mussten nach einigen Tech Academy“ bekannt, um die Aus- nalistisches Angebot mit zwischen Jahren wieder eingestellt werden, wie
JOURNALISMUS ALS ÖFFENTLICHES GUT – MEINUNGSBILDUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS 17 „ altona.info“ (Schipkowski 2015). versität Bremen wurde mit Mitteln des sich dafür ausgesprochen, eine gemein- Die 2010 gegründeten „Prenzlauer Bundesministeriums für Bildung und same digitale Infrastruktur zum Ver- Berg Nachrichten“ konnten sich trotz Forschung die journalistische Platt- trieb journalistischer Inhalte finanziell schwieriger Jahre (Jacobs 2015) am form molo.news entwickelt, die Inhal- zu fördern, allerdings auf eine Weise, Markt halten und etablieren. Weitere te von Medienpartnern und Stadtver- die es jedem Inhalteanbieter ermög- Beispiele für lokale, rein digitale Ange- waltungen nach Interessen strukturiert licht, die eigene Markenwelt und das bote sind das Bürgerportal in Bergisch und hyperlokalisiert an die Lesenden eigene technologische Back-End auf- Gladbach, CityNEWS Köln, das „Lo- ausspielen kann (Hepp/Loosen 2019: rechtzuerhalten. Kommerziell hat dies kalblog Nürnberg“, die „Nordstadt- 62 ff.). Der Anwendungsfall der Platt- das niederländische Start-up Blendle blogger“ in Dortmund, „regensburg- form ist die Region Bremen, aller- umgesetzt, in den Niederlanden mit digital“, „Täglich Mettmann“ und der dings wird eine Expansion innerhalb großem Erfolg, in Deutschland gelang „Weddingweiser“. Besondere Aufmerksamkeit erreg- te das in Münster gegründete Lokal- projekt RUMS, da es prominente Jour- nalist_innen in und aus Münster und den VOCER NETZWENDE Award im Gründungsjahr 2020 gewann. Inner- halb von fünf Monaten wurden 3.400 Die Medienanstalt Berlin- Abonnierende mit einem kostenfrei- en Newsletter gewonnen, der dreimal Brandenburg fördert die Woche erscheint (Humborg 2020). medienübergreifend ab 2021 In der Konversionsphase im Septem- ber 2020 entschieden sich 26 % dieser lokaljournalistische Angebote, Abonnierenden dafür, das Abo fortzu- setzen, das im Standardmodell 8 Euro auch von privaten Betreibern, im Monat kostet. Ende 2020 hatte sofern das Angebot ohne RUMS 1.200 Abonnierende. Die Medienanstalt Berlin-Branden Förderung wirtschaftlich burg fördert medienübergreifend ab nicht umsetzbar wäre. Durch 2021 lokaljournalistische Angebote, auch von privaten Betreibern, sofern eine Fördersatzung sollen das Angebot ohne Förderung wirt- schaftlich nicht umsetzbar wäre. Durch Unabhängigkeit und Staatsferne eine Fördersatzung sollen Unabhän- bei der Mittelvergabe gigkeit und Staatsferne bei der Mittel- vergabe sichergestellt werden. Bereits sichergestellt werden. 2015 war in Nordrhein-Westfalen die Stiftung Vielfalt und Partizipation ge- gründet worden, um den Transforma tionsprozess des lokalen und regiona- len Journalismus zu analysieren und digitale Publikationsstrukturen zu för- dern. Nach einem Regierungswechsel 2017 ging die Stiftung „Vor Ort NRW“ Deutschlands angestrebt. Ein solcher der Durchbruch nicht. 2020 wurde das in der Landesanstalt für Medien NRW Informationshub könnte in ländlichen Unternehmen vom französischen Wett- auf. Regionen, in denen es kommerzielle bewerber Cafeyn aufgekauft (Hooss Viele Neugründungen entstehen Journalismusangebote immer schwerer 2020). Der Wettbewerber LaterPay bot an der Schnittstelle von Journalismus haben, der Bevölkerung ein Angebot keinen eigenen Onlinekiosk an, son- und Technologie. Das 2015 gegründe- jenseits der kommerziellen Werbeplatt- dern verkaufte die Technologie an Ver- te Buzzard entwickelte eine News- und formen machen. molo.news kommt lage, konnte sich damit aber nicht breit Debatten-App, in der sehr unterschied- dem unter dem Schlagwort „Spotify am deutschen Markt durchsetzen (Wei- liche Perspektiven zu gesellschafts- für Journalismus“ bekannt geworde- mer 2020). politischen Fragen aus verschiedenen nen Vorschlag am nächsten. Der SPD- Die Bedeutung der technischen Medien gebündelt werden. An der Uni- Medienpolitiker Martin Rabanus hatte Infrastruktur zeigt sich nicht allein bei
18 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG der Präsentation journalistischer In- höht den Druck auf öffentlich-recht einem Jahresbudget von 45 Millionen halte, integriert in einem Redaktions- liche Rundfunkanstalten, entsprechen- Euro aus (Lücker 2018). Seitdem wur- system, sondern geht weit darüber hin de Plattformangebote aufzubauen. Die den rund 150 Angebote realisiert bzw. aus. Für Payment, Client Relationship ebenfalls seit rund 15 Jahren diskutierte in das Netzwerk integriert, von denen Management (CRM), E-Mail, Content Umsetzung (Zota 2007) verläuft ähn- etwa die Hälfte wieder eingestellt wurde Management System (CMS), Social lich zögernd. Eine gemeinsame Platt- (Müller 2019). Zu den Kanälen gehören Analytics, Events, Communitymanage- form von ARD, ZDF und Deutschland- Kurzgesagt, maiLab, MrWissen2Go, ment und Crowdfunding die techni- radio, vielleicht sogar gemeinsam mit World Wide Wohnzimmer und Y-Kol- schen Voraussetzungen zu schaffen und Museen und Theatern, oder sogar eine lektiv. Erst 2020 integrierten ARD und zu verknüpfen, stellt gerade für Lokal- europaweite Plattform zusammen mit ZDF die „funk“-Produktionen in ihre zeitungen und kleine Anbieter eine anderen öffentlich-rechtlichen Ange- Mediatheken (Hartmann 2020). große Hürde dar. Diese wird in Teilen boten wie France Télévisions, Neder- Gleichwohl werden weiterhin Platt- mit Steady genommen, denn dort wer- landse Publieke Omroep, Radiotele formen wie Facebook, Instagram und den die Fragen von Crowdfunding, visione Italiana, Corporación de Radio YouTube bespielt, was den schwierigen Aboverwaltung, Payment und Paywall y Televisión Española und weiteren Spagat offenbart, junge Menschen zu integriert gelöst, weshalb viele der klei- würde Unabhängigkeit schaffen. Davon erreichen, dabei aber nicht zum bloßen nen unabhängigen Medien-Start-ups ist man noch sehr weit entfernt (Berg- Zulieferer für Plattformen degradiert über Steady zu abonnieren sind. Vie- mann 2019). zu werden. Dem öffentlich-rechtlichen le größere Verlage managen dies über Plenigo. Die Aboplattform Substack aus den USA ermöglicht ihren Kun- den die kostenpflichtige Versendung von Newslettern und behält einen An- teil von 10 % der Erträge ein (Genzmer 2020). Im Crowdfunding dominieren der deutsche Anbieter Startnext sowie Der deutlich steigende die US-amerikanischen Anbieter Kick- starter und Indiegogo. Anteil des Konsums nicht Ein neues Ökosystem spezialisier- linearer Medien erhöht ter Digitaldienstleister für Publisher ist entstanden. Die Abgrenzung, welche den Druck auf öffentlich- Technologie und Technologiekompe- tenz in Verlagshäusern und bei Publi rechtliche Rundfunkanstalten, shern vorgehalten wird und was spezia entsprechende Plattform lisierte Dienstleister übernehmen, ist im ständigen Fluss und in der Praxis angebote aufzubauen. zeigt sich eine große Vielfalt. Beim Fernsehen und beim Radio ist das Ausmaß technischer Innovation vergleichsweise gering. Die kanalüber- greifende Journalismusproduktion und -distribution gewinnt unter dem Stich- wort der Tri- und Multimedialität, auch Durch kommerzielle Plattfor- Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) bei den Publishern, rasant an Bedeu- men wie YouTube und Spotify sind ist dies nicht gelungen. Während ver- tung. Nach rund 15 Jahren Diskussi- neue Formate außerhalb der privaten mehrt Inhalte auf YouTube, Spotify und on und Umsetzungsplanung bei den Fernseh- und Radioanstalten und öf- Instagram angeboten wurden, bestehen öffentlich-rechtlichen Rundfunkan- fentlich-rechtlichen Rundfunkanstal- keine Anreize, auf die SRF-eigene Platt- stalten (Morr 2007) sind inzwischen ten entstanden wie Rezo, Jung & Naiv, form zu wechseln (Lüthi 2020). die Voraussetzungen dafür geschaffen. Tomatolix und Unge. Die öffentlich- Das ZDF hat erste Experimente mit Technologische Fortentwicklungen er- rechtlichen Rundfunkanstalten reagier- einer freien Lizenzierung von Inhalten möglichen schnellere, kleinere und mo- ten 2016 mit der Gründung von „funk“, gewagt, damit auch Plattformen wie bilere Berichterstattung über die Kanä- einem Onlinemedienangebot, das über Wikipedia beispielsweise Erklärvideos le hinweg. Drittplattformen wie vor allem You einbinden können (Dobusch 2020). Der deutlich steigende Anteil des Tube abrufbar ist für die Zielgruppe der Der Umfang ist bisher ein Tropfen auf Konsums nicht linearer Medien er- 14- bis 29-Jährigen, und statteten es mit den heißen Stein.
JOURNALISMUS ALS ÖFFENTLICHES GUT – MEINUNGSBILDUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS 19 Der 2016 gegründete wöchentliche Podcast „Lage der Nation“ über das ta- gespolitische Geschehen, der inzwi- schen rund 250.000 Mal pro Ausgabe gestreamt oder heruntergeladen wird (Barczok 2019), ist nur ein Beispiel für unabhängige neue Podcasts. Auch bun- desweite reine Digitalradios mit Voll- programm sind entstanden, beispiels- weise detektor.fm aus Leipzig. Das Umfeld für die öffentlich-recht- lichen Rundfunkanstalten und übrigens auch für die privaten Fernsehsender hat sich mit dem Erfolg von Netflix, Ama- zon Prime, Spotify und Apple Music deutlich verändert. Die von den Gebrü- dern Beetz 2020 produzierte Miniserie „Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit“ wäre typisch für das Abend- programm der Öffentlich-Rechtlichen gewesen, wurde allerdings für Netflix produziert und dort ausgespielt. Das Medienangebot vervielfacht sich und zerfasert. Wo die Menschen ihre Zeit investieren, hängt nicht nur von innovativer und geschäftlicher Fi- nesse ab, sondern auch von den sie massiv bestimmenden politischen Rah- menbedingungen.
20 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG IV. Politische Rahmensetzung und Regulierung für Aufklärung und Journalismus
JOURNALISMUS ALS ÖFFENTLICHES GUT – MEINUNGSBILDUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS 21 D as politische Handeln von Akteu- ren der Sozialen Demokratie ist nicht auf die Interessenmaximierung Marktbeherrschung verstanden wer- den. In den Behörden müssen die not- wendigen Kompetenzen weiter ausge- sprechenden Amtshandlungen sind die Werbeplattformen mit Gebühren zu belegen. der Einzelnen gerichtet, sondern auf baut werden, qualitativ wie quantitativ. Nur wenn es den Werbeplattformen das Gemeinwohl, dessen Charakter im- Strafen müssen abschreckend sein. mit gleicher Schnelligkeit und Konse- mer wieder neu ausgehandelt werden quenz wie den Verlagen, Publishern muss. Aus dieser Perspektive und der und Wikipedia kurzfristig gelingt, die Notwendigkeit, fundierte Meinungs- Algorithmen und Vielfaltssicherung Hate Speech und den verbalen Dreck bildung in einer Öffentlichkeit durch von ihren Websites fernzuhalten, ist Journalismus in Krisenzeiten zu erhal- Algorithmen sind von großer Bedeu- eine ungleiche presserechtliche Verant- ten, müssen die Rahmenbedingungen tung für Vielfalt. Die Diskriminie- wortung weiterhin denkbar. Im Wahl- für journalistische Angebote verbes- rungsfreiheit und die verantwortliche kampf forderte US-Präsident Joe Biden, sert werden. Dies betrifft insbesonde- Nutzung von Algorithmen müssen von das US-amerikanische Providerprivileg re die Regulierung von Plattformen als unabhängigen Institutionen geprüft für die Plattformen abzuschaffen (Gie- Intermediären, da diese großen Ein- werden können, die mit entsprechen- semann/Becker 2020). Aber Plattfor- fluss darauf haben, wie sich Geschäfts- den Ressourcen ausgestattet sind. Die men als Verleger zu betrachten, birgt modelle entwickeln. Sie sind gleicher- Werbeplattformen müssen die ent- wiederum die Gefahr, auf ein globales maßen Partner und Wettbewerber der sprechenden Voraussetzungen schaf- Verlegerduopol von beispielsweise Fa- Inhaltea nbieter (Rashidian/Brown/ fen. Dazu bedarf es eines Anspruchs cebook und Google zuzusteuern und Hansen 2018), haben aber durch ihre auf Datenzugang. Rieger und Hof- die Verlegervielfalt einzubüßen. Dann Marktmacht und die ihnen zur Verfü- mann (2020) weisen darauf hin, dass wäre eine Alternative eine „Aufteilung gung stehenden Daten sehr viel mehr „Algorithmen nicht als einzelne, klare der Plattformräume“, bei der „für Ak- Möglichkeiten. und stabile Entitäten studiert oder re- teure, die Massenkommunikation be- guliert werden können“. Sie plädieren treiben, [...] ähnliche Normen und daher für ein Regulierungskonzept der Standards gelten, wie wir sie von den Kartellrecht „observability“ (Beobachtbarkeit), das herkömmlichen Medien kennen“ (Fie- über Transparenz und Auditverfahren lietz/Marcks 2020: 240). Den Werbeplattformen, die „move fast hinausgeht. Die Möglichkeit, Bußgel- and break things“ (sei schnell und bre- der zu verhängen, ist wesentlich, um che Dinge auf), muss Einhalt geboten Kooperationsbereitschaft sicherzustel- Europa werden, wenn sich ihr Erfolg auf for- len. male Regulierungslücken gründet. Eine Effektive Vielfaltssicherung muss Der Digital Services Act, den die EU- wichtige Funktion kommt dabei dem die Nutzenden stärker in den Blick neh- Kommission 2020 vorgelegt hat, soll die Kartellrecht zu. men: Wo immer möglich, müssen ihnen E-Commerce-Richtlinie aus dem Jahr Die Fusionskontrolle muss gestärkt Wahlmöglichkeiten eingeräumt wer- 2000 ablösen und im Sinne der Bür- werden, gerade bei internationalen den. Beispielsweise müssen die Nutzen- ger- und Verbraucherrechte erweitern. Sachverhalten. Während Plattform- den die Freiheit haben, zwischen perso- Die Kommission würde neue Eingriffs- pläne aus Deutschland wie Amazonas nalisierten und nicht personalisierten rechte in digitale Märkte erhalten. Als (Lückerath 2012) und Germany’s Gold Angeboten zu wählen. Ihre Datensouve- letztes Mittel könnte sie die Zerschla- (Mantel 2013) vor dem Bundeskartell- ränität muss gewährleistet sein. gung von Unternehmen ermöglichen, amt scheiterten, wurde der Zukauf von die sich nicht an die Regeln halten Instagram und WhatsApp durch Face- (Fanta/Rudl 2020). Staatliche Behör- book genehmigt. Hass und Hetze den brauchen mehr Rechte gegenüber Wenn digitale Infrastruktur für den den marktdominanten Akteuren, nicht Vertrieb journalistischer Inhalte auf- Hass und Hetze müssen wirkungs- gegenüber den Bürger_innen. Ein ge- gebaut wird, darf dies kartellrechtlich voll bekämpft werden. Das Netzwerk- leaktes Strategiepapier zeigt Googles nicht verhindert werden, denn das wäre durchsetzungsgesetz ist zu novellieren Planungen, mit einer Lobbykampagne angesichts der Dominanz der Werbe- (Rudl 2021) und konsequent umzuset- gegen die Pläne der EU-Kommission plattformen unverständlich. zen. Löschen allein reicht aber nicht vorzugehen (Wölbert 2020). Marktbeherrschendes Verhalten aus. Beleidigungen, Aufruf zu Strafta- muss stärker eingegrenzt werden. ten und zum Hass müssen auch straf- Wichtige Instrumente dazu sind ver- rechtlich verfolgt werden. Dazu sind Steuerrecht pflichtende offene Schnittstellen und auch die entsprechenden Kapazitäten das Verbot von Exklusivverträgen mit bei Behörden, Gerichten und Staatsan- Die lückenhaften und veralteten inter- Händlern. Daten müssen als Mittel zur waltschaften vorzuhalten. Für die ent- nationalen Steuerregeln führen dazu,
22 FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG dass multinationale Unternehmen aus Wenn digitale Infrastruktur für den Vertrieb. Bei der Innovationsförderung der Digitalwirtschaft, insbesondere Vertrieb journalistischer Inhalte auf- darf es nicht nur um Projekte gehen, die Werbeplattformen, sich nicht aus- gebaut wird, muss in der Fläche, also sondern auch die Personalkosten in der reichend am Steueraufkommen betei- in ländlichen Räumen, überlegt wer- Gründungsphase müssen förderfähig ligen. Ein Zeitschriftenkiosk oder ein den, wie das staatlich gefördert wer- sein. Das Geld darf nicht überwiegend mittelständischer Verlag haben weder den kann. Zentraler Kostenfaktor bei den Berater_innen der Unternehmen ein Geschäftsmodell, die Kompetenz, der Produktion von digitalem Quali- zugutekommen, sondern den Unter- Möglichkeiten oder Mittel, um ähnlich tätsjournalismus ist das Personal, gut nehmen und ihrer Belegschaft selbst. komplexe Steuervermeidungsmodel- ausgebildet und erfahren. Eine staatli- Eine wichtige Rolle können die Me- le zu nutzen, etwa durch Verschiebung che Übernahme eines Teils der Kosten dienanstalten der Länder einnehmen. von Rechten am geistigen Eigentum journalistischer Arbeit darf kein Tabu Sie müssen die notwendige Freiheit er- oder die Inanspruchnahme sogenann- sein. Dabei darf der Staat nicht in den halten, fördernd, gerade im ländlichen ter Patentboxen. Das führt zu massi- journalistischen Prozess eingreifen Raum, einzugreifen. ven Wettbewerbsverzerrungen. Darum oder den Anschein einer Einflussnah- haben viele andere Staaten mittlerwei- me erwecken. Frankreich, Norwegen le Steuern für Digitalkonzerne einge- und Schweden haben bereits Erfahrun- Gemeinnützigkeit von Journalismus führt, darunter auch Frankreich 2019 gen gesammelt (Cagé 2016: 74). unter dem Namen „GAFA-Steuer“, Journalismus, gerade Lokaljournalis- etwa auf den Umsatz mit Werbegeldern mus, muss als gemeinnützig anerkannt oder auf den Datenhandel (Kuchenbe- Presseförderung werden. Dazu ist entweder der Zweck- cker 2019). Deutschland sollte nicht auf katalog der Abgabenordnung zu erwei- eine OECD-Regelung warten, sondern Die Anfang 2021 beschlossene finanzi- tern oder im entsprechenden Anwen- zügig eine Digitalsteuer einführen. elle Förderung der digitalen Transfor- dungserlass des Bundesministeriums Ebenso wichtig ist die Verpflichtung mation gedruckter Zeitschriften und der Finanzen klarzustellen, dass Jour- zur öffentlichen länderspezifischen Be- Zeitungen auf Grundlage der Printauf nalismus einen Bildungszweck erfüllt. richterstattung multinationaler Kon- lage zementiert den Status quo und Dies würde helfen, die Medienvielfalt zerne, damit deutlich wird, wo wie viel verhindert eine konsequente digita- zu bewahren, die Kritik- und Kontroll- Steuern gezahlt werden. le Transformation. Verlage im Besitz funktion des Journalismus zu stärken von Milliardären erhalten ohne Offen- und so die fundierte Meinungsbildung legung der Bücher und ohne Bedarfs- in der Demokratie zu sichern. Urheberrecht prüfung Steuergelder. Neugründungen und rein digitale Verlage sind von der Im Urheberrecht müssen Meinungs- Presseförderung ausgeschlossen und Öffentlich-rechtlicher Rundfunk freiheit und Urheberrechtsinteressen der Wettbewerb wird widersprüchlich vernünftig ausbalanciert werden. Die zu den Vorgaben des Bundesverfas- Die Unabhängigkeit der Aufsicht über Hoffnung auf Erträge durch ein Leis- sungsgerichtes verzerrt. In Zeiten von die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- tungsschutzrecht, die in der gewünsch- Tri- und Multimedialität ist die Orien anstalten von der Parteipolitik ist in ten Höhe kaum kommen werden, hat tierung an der Mediengattung Text gleichem Maße zu stärken wie die Auf- die Verlage auf Jahre in ihrer digitalen ebenso konservativ. sichts- und Kontrollmöglichkeiten Transformation gelähmt. selbst. Eine gute Möglichkeit wäre, ei- nen Teil der Rundfunkräte durch Los Innovationsförderung zu bestimmen (Dobusch 2019). Die Förderung Rundfunkräte sollten grundsätzlich of- Eine gezielte Innovationsförderung ist fen tagen. Um neue Plattformen auch im Medien für die digitale Transformation ganz Die Personalentwicklung in den bereich zu unterstützen und zu fördern, entscheidend, für etablierte Unterneh- Anstalten muss professionalisiert wer- muss es möglich sein, Genossenschaf- men wie für Neugründungen gleicher- den, um Parteipräferenzen als Auf- ten wirtschaftlich zu fördern. Das Ge- maßen (Buschow/Wellbrock 2020b: stiegskriterium ausschließen zu kön- nossenschaftsmodell ist in besonderer 27–30). Entscheidende Bedeutung nen. Während in der Tech-Branche Weise geeignet, nicht gewinnorientier- kommt neben der journalistischen Ar- nicht unbedingt die besten Program- te Plattformen zu betreiben. Was für beit der Schnittstelle von Journalismus mierer_innen und in der Automo- selbstständige Taxiunternehmer_innen und Technologie zu. Diese Schnittstel- bilbranche nicht unbedingt die besten und Restaurantbesitzer_innen gilt, gilt le ist bedeutend mehr als ein verengter Ingenieur_innen die Führungspositio- auch für Journalist_innen und Medien- Blick auf Datenjournalismus, sondern nen übernehmen, scheint es, als seien organisationen. umfasst auch Format, Produkt und journalistische Expertise und Erfah-
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