Depression bei Männern und Frauen oder Männerdepression versus Frauendepression ? - Christine Rummel-Kluge und Nico Niedermeier

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Depression bei Männern und Frauen oder Männerdepression versus Frauendepression ? - Christine Rummel-Kluge und Nico Niedermeier
Depression bei Männern und Frauen
                  oder
Männerdepression versus Frauendepression ?

      Christine Rummel-Kluge und Nico Niedermeier
Depression bei Männern und Frauen oder Männerdepression versus Frauendepression ? - Christine Rummel-Kluge und Nico Niedermeier
Depression bei Männern und Frauen oder Männerdepression versus Frauendepression ? - Christine Rummel-Kluge und Nico Niedermeier
Gefühltes Wissen versus empirisches Wissen

Bias (Verzerrung):

- Betroffene
- Angehörige
- Soziologen
- Psychiater
- Psychotherapeuten
Gefühltes Wissen über männliche und weibliche Depressionen:

             Männer nehmen keine Hilfe in Anspruch
                                Frauen suchen Hilfe
      Frauen weinen, Männer schweigen

                Die Lebensumstände von Frauen sind einfach schwieriger
  Der Hormonhaushalt von Frauen ist einfach komplizierter

                                                 Männer werden wütend und trinken
        Männer bekommen halt Burnout

Wir Frauen müssen uns immer den Lebensbedingungen von Männern anschließen

          Das Gemeinsame Leiden überwiegt die Unterschiede

                Männer neigen eher als Frauen dazu, die Depressionen zu verleugnen

                                                     Quelle: www.deutsche-depressionshilfe.de/forum-diskussion
Häufig in der Presse thematisiert:
Lebenszeitprävalenz einer „Major Depression“

                 Frauen                   Männer

                 21 - 23 %                11 - 13% 1

      d.h. ca. jede 4. Frau     und       jeder 8. Mann
erkrankt irgendwann im Verlauf seines Lebens an einer Depression!

                                               1Parker
                                                     & Brotche 2010; Kessler et al. 1994a,b;
                                               Gorman 2006; Halbreich & Kahn 2007;
                                               Simonds & Whiffen 2003; Sloan & Kornstein 2003
Häufigkeit der Depression (Epidemiologie)

             Frauen                   Männer

                   2           :           1
- ab Pubertät, bei Erwachsenen und im Alter1

- bei unipolarer Depression, Dysthymie, saisonaler Winterdepression,
  ! nicht bei bipolarer Depression (1 : 1) !

- mit nur leichten Schwankungen über viele Nationen

- in der EU: Größere Unterschiede in Süd- und Osteuropa, geringste
  in Irland, Slowakei und Finnland2

                                                1z.B.   Piccinelli et al. 2000, Luppa et al. 2012
                                                2Van    de Velde 2010
Aufnahme im Krankenhaus wegen Depressionen
   (Hospitalisierungsraten) nach Geschlecht

                                   aus Savoie et al. 2004
Symptomvariationen nach Geschlechtern
                           Frauen                                                              Männer
 - berichten mehr Symptome,                                                     - berichten weniger Symptome,
   erinnern sich an mehr Episoden                                                 weniger Episoden
   + subjektiv höhere Belastung1
                                                                                - zeigen mehr psychomotorische
 - mehr emotionale Symptome                                                       Unruhe und Suizidgedanken4
   und Weinen2
                                                                                - mehr Alkohol- und
 - mehr somatische Symptome3,                                                     Drogenkonsum4
   hatten weniger Energie2
                                                                                 - mehr Schlaflosigkeit,
 - mehr „atypische“ Symptome5                                                      Agitation5
   wie Hypersomnie, psycho-
   motorische Verlangsamung,                                                    - Ärger, Wut6
   Appetit- und Gewichtszunahme
                                                                                - Aggressivität, Feindseligkeit7

1Angst & Dobler-Mikola 1984, Kornstein et al. 2000, Sloan & Kornstein 2003
2Angst et al. 2002, Kuehner 2003
3Maier et al. 1999, Kornstein et al. 2000, Silverstein 2002, Kuehner 2003
4Marcus et al., 2005, Lehti et al. 2010
5Khan et al. 2002:Studie an 200 dizygoten Zwillingspaaren, Moskvina et al. 2008:Studie an 475 Geschwisterpaaren
6Parker & Brotchie, 2010
7Möller-Leimkühler, 2000
Symptomvariationen nach Geschlechtern
Frauen                         Männer
internalisieren eher           externalisieren eher
(z.B. ruhig werden, in ihr     (z.B. Ärger zeigen, mehr
Zimmer gehen, weinen)          Alkohol trinken)1

                      Komorbiditäten
mehr Angststörungen (v.a.       mehr Alkohol- und anderer
Panik/phobische Symptome)2      Substanzmissbrauch4

somatoforme Störungen3
Essstörungen (Bulimie)3
                                            1Parker & Brotchie, 2010
                                            2Breslau et al. 1998, Kuehner 2003
                                            3Marcus et al. 2005, Parker & Brotchie 2010
                                            4Blazer et al. 1994, Fava et al. 1996,

                                            Kornstein et al. 1995, Rapaport et al. 1995,
                                            Rutz 1996, Simonds & Whiffen 2003,
                                            Sloan & Kornstein 2003,
                                            Marcus et al. 2005, Parker & Brotchie 2010
Suizidalität:

                 Frauen                             Männer
       - häufiger Suizidversuche,                - häufiger Suizide, härtere
         3-4x so häufig und in späterem            Suizidmethoden2
         Teil der Episode1                       - v.a. bei älteren Männern3

           90

           80        Männlich
           70
Suizid-    60
                     Weiblich

raten      50

2011 (D)   40

           30

           20

           10

                                                                     1Savoie  et al., 2004
           0
                                                                     2Hirschfeld  & Russell 1997,
                                                                     Sloan & Kornstein 2003,
                                                                     Rapaport et al. 1995,
                                                                     Gorman 2006
                                                                     3Bundesamt für

                                                                     Statistik/Gesundheitsbericht-
                                                                     erstattung des Bundes 2012
Verlauf:

           Frauen                                  Männer

Beginn:    23 Jahre                                   25,5 Jahre1

Verlauf:   Literatur inkonsistent
           - höhere Rückfallraten bzw. Nicht-Remissionsraten bei Frauen2
           bzw.
           - ähnlicher Verlauf bei Frauen und Männern3

                                       1Moskvina et   al. 2008
                                       2Sargeant  et al. 1990, Keitner et al. 1991, Ernst & Angst 1992,
                                       Winokur et al. 1993, Merikangas et al. 1994, Stefansson et al. 1994,
                                       Bracke 1998, Kuehner 1999, Mueller et al. 1999, Lewinsohn et al.
                                       2000, Riise & Lund 2001, Kuehner 2003, Sloan & Kornstein 2003
                                       3Frank et al. 1988, Kessler et al. 1993, Kornstein et al. 1995,

                                       Weissman et al. 1996, Eaton et al. 1997, Hankin et al. 1998,
                                       Simpson et al. 1997, Wilhelm et al. 2003, Sloan & Kornstein 2003
Spezielle Formen von Depression:             Saisonale Depression 1

     Frauen                           Männer

     häufiger bei Frauen              berichten „stärkere“
                                      Erkrankung

     berichten mehr Kohlenhydrat-
     Craving, mehr Gewichtszunahme,
     mehr Stunden Schlaf im Winter

                                            1Rosenthal etal. 1984, Leibenluft et al. 1995, Sloan
                                            & Kornstein 2003, Gorman 2006
Spezielle Formen von Depression:                   Postpartale Depression

                   Frauen                       Männer

 Häufigkeit:       10 –15 %1                    ca. 4%2

  „Aggressive Jungs, traurige Mädchen“ (Lancet 2005)2:
 Depression des Vaters > doppelt so häufig negative Auswirkung auf Psyche der
 Jungen als auf die der Mädchen (3,5 Jahre)

 Depression der Mutter beeinflusste beide Geschlechter ähnlich häufig

                                                      1O`Hara   & Swain 1996,
                                                      2Ramchandani et   ALSPAC study team, 2005.
Ansprechen beider Geschlechter auf Antidepressiva:

Insgesamt scheinen beide Geschlechter gleich stark auf Antidepressiva
anzusprechen.

               Frauen                       Männer

                     Befundlage inkonsistent:

Hinweise darauf, dass Frauen
eher auf SSRI ansprechen und                Männer eher auf TCA1,

bzw. keine geschlechtsspezifischen Unterschiede2

                                            1Kornstein et  al. 2000, STAR*D study - Young et al. 2009, Parker &
                                            Brotchie 2010, Serretti et al. 2011
                                            2Thase et al. 2000, Keers & Aitchison 2010, Parker & Brotchie

                                            2010, Gorman 2006; Bigos et al. 2009, Sloan & Kornstein 2003
Ansprechen beider Geschlechter auf Psychotherapie

              Frauen                       Männer

• Literatur-Review 2011: Keine Evidenz, dass das Geschlecht einen Einfluss
auf das Ansprechen auf eine Psychotherapie hat1

• Braukhaus et al. 2013: Keine Evidenz, dass das Geschlecht einen Einfluss
auf das Ansprechen einer Psychotherapie hat UND kein Einfluss des
Therapeutengeschlechtes auf das Therapieergebnis2

ABER: Weibliche Patientinen, die von männlichen Therapeuten behandelt wurden,
würden die Klinik häufiger weiter empfehlen…2

                                                                 1Parker   et al. 2011
                                                                 2Braukhaus     et al. 2013
Zwischen den Geschlechtern sein

Intersexualität:
       50 gematchte intersexuell geborene Menschen (18-32) nach Behandlung in
       Vergleich mit Kontrollgruppen, Langzeit-Outcome: Keine erhöhten Daten für
       Depression oder Angststörungen, aber Schwierigkeiten im Bereich der Sexualität.1

Transsexualität:
        Transsexuelle Männer (vor geschlechtsangleichender OP), die als
        Männer leben sind signifikant häufiger depressiv als Transsexuelle
        Männer die als Frauen Leben.2

        13 Mann-zu-Frau-Transsexuelle (5- 20 Jahre nach gechlechtsangleichender
        OP): 10 zeigten im Langzeitverlauf Ängste und Depressionen

        4 Frau-zu-Mann-Transsexuelle (5- 20 Jahre nach gechlechtsangleichender
        OP): Zeigen besseres Outcome, „wobei auch hier zwei von vier an
        Depressionen, Abhängigkeit und affektiver Labilität leiden“.3

                                                                      1Ware et al. 2005
                                                                      2Greenberg   et al. 1981
                                                                      3Rauchfleisch et al. 1998
Mögliche Ursachen für Geschlechtsunterschiede

Hypothese: Es ist alles eine Frage der Biologie…

                                  Der männliche Hormonkreislauf

                                  www.urologielehrbuch.de

www.transsexuell.de
Aber...:

Erster deutscher Männergesundheitsbericht 2010
(Möller-Leimkühler und Kasper):

• Wenn männliche Problemlösestrategien wie Alkoholkonsum oder Suizid
  gesellschaftlich tabuisiert sind wie in jüdisch-orthodoxen Gemeinden
• Wenn die Geschlechterrollen streng egalitär geregelt sind wie bei den
  Amish People in den USA

  Dann sind die männlichen Depressionsraten ebenso hoch wie die
  weiblichen.

“Letztendlich, ist das Überwiegen weiblicher Depressionen in traditionellen
 Gesellschaften und in sozial homogenen Stichproben eingeschränkt oder
                    1
 fehlt sogar ganz”.
                                                               1 Piccinelli & Gomez Homen 1997
Mögliche Ursachen für Geschlechtsunterschiede

Hypothese: Es ist alles eine Frage der Hilfesuche …

    Hilfesuchverhalten: Idee, dass Frauen sich eher Hilfe suchen bzw.
    Frauen adäquates Hilfesuchverhalten zeigen, Männer dagegen zu
    wenig

     nur z.T., da z.B. Unterschiede auch in unbehandelten Stichproben
     gefunden werden1

                                                                1Parker   & Brotchie, 2010
Mögliche Ursachen für Geschlechtsunterschiede

Hypothese: Es ist alles eine Frage der Symptomwahrnehmung
und der Diagnostik… (I)

    - Unterschiede im Berichten von Symptomen/Episoden:
     Frauen berichten mehr (und andere) Symptome als Männer
           häufigere Diagnose bei Frauen1
     Männer „vergessen“ eher frühere Episoden oder Symptome
     Frauen „erinnern sich“ hingegen an mehr Episoden als eigentlich
     die Kriterien erfüllt hätten2

    - Diagnostiksysteme fragen mehr Symptome ab, wie sie klassischerweise
    von Frauen genannt werden. Wenn es „typische Männersymptome“ in
    einer Depression gibt (z.B. Abstreiten von Kummer und Traurigkeit, rigide
    Forderung nach Ruhe, Versagensangst, zunehmende Intensität von Ärger),
    dann werden diese durch die gängigen diagnostischen Instrumente
    möglicherweise schlechter erfasst.
                                              1Angst & Dobler-Mikola 1984, Wilhelm & Parker 1989, Wilhelm et al.
                                              1998, Parker & Brotchie 2010
                                              2Wilhelm & Parker 1994, Parker & Brotchie 2010
Mögliche Ursachen für Geschlechtsunterschiede

Hypothese: Es ist alles eine Frage der Symptomwahrnehmung
und der Diagnostik… (II)

    Unterdiagnose von psych. Problemen bei Männern durch männliche
    Allgemeinmediziner1

    Unterschätzung der Krankheitszeichen bei Männern in der
    Allgemeinbevölkerung2:
    Umfrage Britische Allgemeinbevölkerung (>1200 Teilnehmer)
    - Teilnehmer hielten Depressions-Fall-Vignetten von Männern seltener für
    eine Erkrankung als solche bei Frauen
    - Männliche Teilnehmer hielten die Frauen-Depression für schwerwiegender
    und bedauernswerter als die Depression von Männern

    Umgang mit den Symptomen: Männer haben einen wesentlich höheren
    Anteil bei Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch, möglicherweise ist
    dies eine häufig gewählte Coping-Strategie bei Angst und Depression3
                                                             1Stoppe et al. 1999,Möller-Leimkühler 2000
                                                             2Swami  et al. 2012
                                                             3Parker & Brotchie 2010
Mögliche Ursachen für Geschlechtsunterschiede

Hypothese: Es ist alles eine Frage der kulturellen und
lebensgeschichtlichen Einflüsse…

    Männer und Frauen machen unterschiedliche Lebenserfahrungen und
    bewältigen diese unterschiedlich.

    Sexueller Missbrauch/ Krieg/ PTSD

    •   Das Vorhandensein von PTSD erhöht das Riskiko für Suizidversuche bei
        Erwachsenen, die an wiederkehrenden depressiven Episoden leiden1

    •   Weibliche und männliche Kriegsveteranen berichten in gleichem Ausmaß
        über Symptome, die einer PTSD zuzuordnen sind, aber weibliche Veteranen
        verknüpfen diese Erfahrung wahrscheinlich mehr mit depressiven
        Symptomen2

                                                                               1Stevens    et al. 2013
                                                                               2Street   et al. 2013
Risikofaktoren
  Frauen                                  Männer
• Ehefrau                              • Alleine leben

• Mutter                               • Arbeitslosigkeit

• Alleinerziehende Mutter              • Berufliche Gratifikationskrisen

• Versorgung pflegebedürftiger         • Homosexualität
  Angehöriger

• Hausfrau sein                        • Scheidung/Trennung

• Geringe soziale Unterstützung        • Chronische Erkrankungen

                  Für beide Geschlechter
             schlechte ökonomische Bedingungen

                                                 Möller-Leimkühler und Kasper 2010
Zusammenfassung

•   Das gefühlte Wissen deckt sich in weiten Bereichen sehr gut mit dem empirischen Wissen.
•   In den meisten Gesellschaftsformen findet sich ein zwei zu eins Verhältnis von Depressionen
    von Frauen gegenüber Männern.
•   Es scheinen hierfür nicht nur biologische Mechanismen verantwortlich zu sein, sondern
    vielmehr eine Kombination aus Biologie, kulturellen Einflüssen und lebensgeschichtlichen
    Ereignissen.
•   Es scheinen für beide Geschlechter spezielle Auslösesituationen für depressive Erkrankungen
    zu existieren.
•   Vielleicht sind „männliche Depressionen“ durch anderes Copingverhalten (Alkohol) und eine
    anders gezeigte Symptomatik, sowie ein schlechteres Hilfesuchverhalten, empirisch
    schlechter erfasst.
•   ABER: Beide Geschlechter zeigen einen hohen Übereinstimmungsgrad hinsichtlich
    Symptomatik, Therapie und Outcome.

•   FAZIT:
    Wie so oft scheint weitere Forschung in diesem Bereich dringend notwendig
Vielen Dank
für Ihre
Aufmerksamkeit!
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