Der NSU und ich? Eine Narrativanalyse zur Konstruktion polizeilicher Identität angesichts des NSU-Komplexes - CENTER FOR CONFLICT STUDIES ...

 
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CCS Working Paper No. 24

Barbara Schmalen

Der NSU und ich?
Eine Narrativanalyse zur Konstruktion
polizeilicher Identität angesichts des
NSU-Komplexes

         CENTER
         FOR
         CONFLICT
         STUDIES
CENTER
                                                        FOR
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                                       CCS WORKING PAPERS

IMPRINT
Center for Conflict Studies of the Philipps University Marburg
Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel | Prof Dr. Thorsten Bonacker

ISSN: 1862-4596
Verantwortliche Redaktion: Julius Heise, Alina Giesen
Satz und Layout: Lara Sander, Shari Kupilas
© 2021, Center for Conflict Studies

KONTAKT
Zentrum für Konfliktforschung
Philipps-Universität Marburg
Ketzerbach 11
35032 Marburg
06421/2824444
konflikt@staff.uni-marburg.de
www.uni-marburg.de/konfliktforschung

This Working Paper is available at: https://uni-marburg.de/uEDDY
DIE AUTORIN

Barbara Schmalen hat Friedens- und Konfliktforschung, Psychologie, Germanistik und
Romanistik in Marburg, Bonn und Köln studiert.

Im Rahmen einer kooperativen Promotion in der Sozialpsychologie (Philipps-Universität
Marburg) und den Sozial- und Kulturwissenschaften (Hochschule Düsseldorf) forscht sie
derzeit zu weißen Umgangsformen mit antirassistischen Erinnerungspraktiken am
Beispiel des NSU-Mahnmals Herkesin Meydanı in der Keupstraße in Köln.
INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung                                                      1

2. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU)                     1

3. Forscher:in und Forschungssubjekt                               2

4. Konkurrierende Master- und Gegennarrative zum NSU-Komplex       3

5. Theoretische Kontextualisierung der Interviews                  5

6. Auf Spurensuche nach einer narrativen Darstellung des
NSU-Komplexes und deren Bedeutung für die polizeiliche Identität   7

7. Fazit und abschließende Anmerkungen                             15

Literaturverzeichnis                                               17
Abstract

In the context of dealing with the NSU complex, the police's involvement in racist structures is
becoming increasingly clear. Social Identity Theory (SIT) posits that this entanglement jeopardi-
zes the preservation of a positive police identity, and that, in response to this, police officers use
identity management strategies to reconcile the handling of NSU crimes by law enforcement with
their identity.

This paper examines how this reconciliation is implemented narratively. The analysis of five nar-
rative interviews shows that the personal stories of police officers primarily rely on the master
narrative of the security authorities on the NSU complex and that a police-specific NSU narrative
seems absent. Nevertheless, fragments of the counter narratives of the victims of the NSU
complex also find their way into the reality of the police officers' lives. However, these are integra-
ted by means of narrative strategies of depoliticization, individualization, and color-blind racism,
possibly to keep up a positive and consistent police image. However, a culture of error manage-
ment within the police nonetheless emerges through engagement with the narratives of the vic-
tims of the NSU complex.
In the modern world, the cruelest thing that you can do to people
         is to make them ashamed of their complexity.
                      (Wieseltier 1994: 30)
Der NSU und ich? Eine Narrativanalyse zur Konstruktion
polizeilicher Identität angesichts des NSU-Komplexes

1. Einleitung                                                       ves“ (Romero/Stewart 1999: xvi), die in der Öf-
                                                                    fentlichkeit nur schwerlich Gehör finden, und
Bezüglich des NSU-Komplexes sprechen Kara-
                                                                    die dennoch das Potential haben, die etablier-
kayalı, Liebscher, Melchers und Kahveci 2017
                                                                    ten Masternarrative einer Gesellschaft her-
vom „Schweigen der Wissenschaft“ (20). Auch
                                                                    auszufordern (ebd.). Aus diesem Grund
die Friedens- und Konfliktforschung als kriti-
                                                                    schließt an eine kurze Skizzierung der Ge-
sche Wissenschaft hat den NSU-Komplex lan-
                                                                    schehnisse um den NSU-Komplex (Kapitel 2)
ge nicht beachtet (Bayer/Pabst 2014). Aus der
                                                                    und einer kritischen Reflexion des Verhältnis-
Perspektive der von Rassismus positiv Betrof-
                                                                    ses zwischen Forscher:in und Forschungssub-
fenen1 drängt sich aber die Frage auf, wie mit
                                                                    jekt (Kapitel 3) ein kurzer Abriss proto-typi-
dem eigenen ungeschönten Spiegelbild umzu-
                                                                    scher Eckpunkte der Gegenerzählung der
gehen ist, das sich durch den NSU-Komplex
                                                                    Opfer einerseits und des Masternarrativs der
gezeigt hat. In dieser Arbeit wird gezeigt, wie
                                                                    Sicherheitsbehörden andererseits (Kapitel 4)
Polizist:innen mit diesem Spiegelbild umge-
                                                                    an. Zur Kontextualisierung gehört aber auch
hen. In ihrem Diensteid schwören sie, dass sie
                                                                    der wissenschaftstheoretische Erfahrungsho-
„die Verfassung und Gesetze befolgen und
                                                                    rizont der Forscher:in. Denn trotz des explora-
[ihre] Pflichten gewissenhaft erfüllen und Ge-
                                                                    tiven Forschungsinteresses sind gewisse the-
rechtigkeit gegen jedermann üben“ (§ 46 LBG
                                                                    oretische Vorannahmen auf Seiten der
NRW). Wie lässt sich eine solche Verpflichtung
                                                                    Forscher:innen immer vorhanden (Lucius-
mit den Erkenntnissen nach den Anschlägen
                                                                    Hoene/Deppermann 2002). Diese werden in
des NSU vereinbaren, die die Polizei zuneh-
                                                                    Kapitel 5 offengelegt und reflektiert, bevor die
mend als Institution mit rassistischen Struktu-
                                                                    Ergebnisse der Analyse dargestellt (Kapitel 6)
ren zeigen (Dittes u. a. 2013)? Um dieser Frage
                                                                    und abschließend zusammengefasst werden
nachzugehen, wurden die Narrative von fünf
                                                                    (Kapitel 7).
Polizist:innen analysiert und ihre Strategien im
Umgang mit dem NSU-Komplex herausgear-
beitet.
                                                                    2. Der Nationalsozialistische
                                                                    Untergrund (NSU)
Bei der Interpretation individueller Narrative                      Die folgenden Darstellungen orientieren sich
ist der soziale Kontext, in dem sie stattfinden,                    an der Skizzierung der Verbrechen des NSU
nicht zu vernachlässigen, da dieser sich in der                     von Ramelsberger, Ramm, Schulz und Stadler
Struktur der Erzählungen widerspiegelt. Zu                          (2019). Zwischen 1998 und 2011 verübte der
diesem Kontext gehört insbesondere der vor-                         NSU-Komplex Anschläge auf Menschen mit
herrschende Kanon aus Masternarrativen zu                           Migrationshintergrund. Diesen fielen neun
einem bestimmten Thema (Esin/Fathi/Squire                           Männer mit türkischem, kurdischem und grie-
2014), aber auch sogenannte „counternarrati-                        chischem Hintergrund sowie eine Polizistin

1 Der Ausdruck „von Rassismus positiv Betroffene“ wird hier für die weiße Mehrheitsgesellschaft benutzt, um einerseits zu betonen,
dass Rassismus nicht allein eine Angelegenheit diskriminierter Minderheiten ist, und andererseits, um zu zeigen, dass unabhängig von
der individuellen Einstellung gegenüber Rassismus weiße Personen von diesem profitieren.

1
zum Opfer. Außerdem wurden 24 Menschen                            flexion der Beziehung zwischen Forscher:in
durch Bombenanschläge verletzt. Erst im No-                       und Forschungssubjekt unerlässlich (Howe/
vember 2011 bekannte sich der NSU durch ein                       Ostermeier 2019). Bei der vorliegenden Arbeit
Video zu diesen Anschlägen, nachdem die Po-                       ergibt sich diese Unerlässlichkeit auch daraus,
lizei und die Presse die Täter:innen der organi-                  dass die Identitätsbildung durch Erzählungen
sierten Kriminalität zugeschrieben hatten. Da                     immer auch eine Interaktion mit einem Gegen-
zwei der drei Terrorist:innen, Uwe Mundlos                        über ist, das somit Teil dieses Prozesses wird
und Uwe Böhnhardt, tot aufgefunden wurden,                        (Lucius-Hoene/Deppermann 2002). Im Be-
wurde lediglich Beate Zschäpe verhaftet.                          wusstsein, dass es keine absolut objektive
Nachdem sich der NSU zu den verschiedenen                         Forschung, keinen „Blick von Nirgendwo“ (Ho-
Taten bekannt hatte, wurde öffentlich Kritik an                   we/Ostermeier 2019: 4) gibt, soll im Folgenden
den Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden                          die Origo2 der vorliegenden Forschungsper-
geübt, da diese wichtige Akten geschreddert                       spektive „lokalisiert“, das heißt transparent
und falsch ermittelt hatten und trotz eines                       gemacht werden. Dazu wird in die Ich-Form
Netzes an V-Leuten nicht in der Lage gewesen                      gewechselt, um die Verwicklung von wissen-
waren, die Anschläge zu verhindern. Verschie-                     schaftlichem Erkenntnisinteresse mit dem
dene Untersuchungsausschüsse wurden seit-                         Standpunkt der Forscher:in hervorzuheben.
dem zur Aufklärung der Rolle der Sicherheits-
behörden im NSU-Komplex installiert. Als Fol-                     Wenn ich in dieser Arbeit nach der Bedeutung
ge traten mehrere Führungspersonen der Lan-                       des NSU-Komplexes für die Identität der inter-
des- und Bundesverfassungsschutzämter zu-                         viewten Polizist:innen frage, ist immer auch
rück. Eineinhalb Jahre nach Zschäpes                              meine eigene Position als weiße – von Rassis-
Verhaftung im Mai 2013 begann der NSU-Pro-                        mus profitierende – Forscherin zu berücksich-
zess in München. Beate Zschäpe bestritt darin                     tigen. Auch wenn die in dieser Arbeit zu Wort
ihre Täterinnenschaft. Die Angehörigen der                        kommenden Interviewten durch ihren Beruf
Mordopfer, die Nebenklage sowie Kritiker:in-                      als Polizist:in in einem spezifischen Bezug zum
nen forderten ein, auch die Rolle der Behörden                    NSU-Komplex stehen, können ihre Erzählun-
im Prozess zu berücksichtigen. Nach fünf Pro-                     gen auch als Spiegel aller von Rassismus posi-
zessjahren wurde Beate Zschäpe im Juli 2018                       tiv Betroffenen und deren Auseinanderset-
zu einer lebenslangen Haft und vier weitere                       zung mit dem NSU-Komplex dienen. Im
Angeklagte zu Gefängnisstrafen verurteilt.                        Bewusstsein, dass „es unmöglich [ist], in einer
Dennoch weisen viele Nebenkläger:innen dar-                       rassistischen Gesellschaft nicht rassistisch zu
auf hin, dass der Prozess die Rolle der staatli-                  sein“ (Tißberger 2017: 242), ist meine Absicht
chen Behörden nicht aufgearbeitet habe und                        daher nicht, mit dieser Arbeit von den eigenen
stattdessen den NSU-Prozess auf das Trio der                      Privilegien als Weiße abzulenken, indem ich
Terrorist:innen begrenzt habe.                                    den Umgang „Anderer“ – hier von Polizist:in-
                                                                  nen – mit dem NSU-Komplex problematisiere.
                                                                  Sehr wohl ist zu bedenken, dass es zwar ge-
3. Forscher:in und Forschungs-
                                                                  meinsame Privilegien zwischen der Polizei und
subjekt
                                                                  der weißen Mehrheitsgesellschaft gibt, die Po-
Im Sinne einer kritischen Forschung ist die Re-                   lizei allerdings hinsichtlich ihrer Machtstruktur

2 Der Begriff der Origo geht auf Bühlers Sprachtheorie (1934) zurück und bezeichnet den Standpunkt des Sprechenden, von dem aus
auf einen Sachverhalt Bezug genommen wird.

                                                                                                                             2
rassistische Praktiken besonders begünstigt                         der Master- und Gegennarrative zum NSU-
(Thomson 2018). Neben diesem Bewusstsein                            Komplex (Kapitel 4). Wenn ich das dominieren-
für die Privilegien, die ich mit dem For-                           de Masternarrativ präsentiere, ordne ich die-
schungssubjekt teile, und die rassistischen                         ses gleichzeitig mit Hilfe anderer Forscher:in-
Strukturen innerhalb der Polizei im Besonde-                        nen kritisch ein, während ich bei der
ren, steht die bewusste Entscheidung, mich in                       Präsentation des Gegennarrativs der Opfer
meiner Forschung mit den Menschen zu soli-                          des NSU-Komplexes als Forscherin möglichst
darisieren, die während der Ermittlungen zum                        im Hintergrund zu bleiben suche.
NSU durch polizeiliche Behörden sekundär
viktimisiert3 wurden. Ihre Zeugnisse und politi-                    Von diesem Standpunkt aus interpretiere ich
schen Forderungen prägen meinen Blick als                           im 6. Kapitel auch die Aussagen – die sprachli-
Forscherin und meine Analyse des Umgangs                            chen Zeichen – der Interviewten, wohl wis-
der Polizei mit rassistischer Gewalt4. Wenn                         send, dass diese Interpretationen nie endgül-
Objektivität unmöglich ist, ist Forschung im-                       tig und abgeschlossen sind. Sie stellen nur
mer politisch. Somit bin ich als Forscherin für                     eine von vielen möglichen Deutungen dar, die
das Wissen, das ich (re-)produziere, verant-                        je nach Perspektive und Kontext variieren
wortlich (Haraway 2003). Wenn ich in meiner                         (Breuer/Muckel/Dieris 2018). Dies bedeutet,
Forschung bestimmten Protagonist:innen ge-                          dass mein Verständnis, das ich in meinen Ana-
waltvoller Konflikte eine Stimme gebe, befinde                      lysen aus den Daten generiere, über den „sub-
ich mich in dem Dilemma, mich einerseits                            jektiv gemeinten Sinn“ der Interviewten hin-
meinen Interviewten anzunähern, und gleich-                         ausgehen kann (ebd.). Anja Weiß (2013)
zeitig eine kritische Distanz zu bewahren (Fos-                     argumentiert im Rahmen ihrer Rassismusfor-
ter/Haupt/De Beer 2005). Dieser Ambivalenz                          schung wie folgt: „Ich vertrete die Ansicht,
versuche ich zu begegnen, indem ich in mei-                         dass Rassismus auch nicht-intentional repro-
ner Analyse möglichst häufig die Interviewten                       duziert werden kann und ich betrachte rassis-
selbst sprechen lassen, ihre Aussagen aber                          tische Praktiken nicht als Anwendung von in-
durch meine Stimme einer kritischen For-                            haltlich    rassistischen    Ideologien    oder
scherin als eine „analytical ‘voice’, one that at-                  Vorurteilen, sondern suche das Rassistische in
tempts a critical review of protagonists’ sto-                      den Strukturen, Routinen und Diskursen, die
ries“ (ebd. 92) kommentiere. Vor diesem                             alltägliches Handeln rahmen und ermögli-
Hintergrund habe ich mich bewusst für die                           chen“ (17). Dieser Argumentation folgend,
Perspektive einer „kritischen Polizeifor-                           habe ich die Ergebnisse der Studie den Inter-
schung“ (Belina 2014: 61) entschieden, die Po-                      viewten zwar zugänglich gemacht, aber nicht
lizist:innen vor dem Hintergrund ihrer Macht-                       durch diese inhaltlich validieren lassen (ebd.).
position kritisch hinterfragt und sich von einer
„verstehende[n] Polizeiforschung“ (Ullrich                          4. Konkurrierende Master- und
2019: 184) unterscheidet. So erklärt sich auch                      Gegennarrative zum NSU-Komplex
das Erheben oder das Verstummen meiner                              Den vielfältigen Verwendungskontexten des
„analytical voice“ bei der folgenden Darlegung                      Narrativbegriffs scheint eines gemein zu sein:
3 Nach der Viktimisierung durch die Morde des NSU-Komplexes, wurden die Angehörigen der Opfer durch polizeiliche Ermittlungen
kriminalisiert. Diese zusätzliche Verletzung „durch eine unangemessene Reaktion seitens [ihres] sozialen Nahraums und der Instanzen
sozialer Kontrolle“ (Kiefl/Lamnek 1986: 239) wird als sekundäre Viktimisierung bezeichnet.
4 In der vorliegenden Arbeit wird der Gewaltbegriff in Anlehnung an Galtung als dreidimensionales Konzept aus personaler (direkter),
struktureller und kultureller Gewalt verwendet (Galtung 1998).

3
So handelt es sich bei einem Narrativ in erster                       zählungen das Potenzial, die etablierten Mas-
Linie um das sinnstiftende Verknüpfen singu-                          ternarrative einer Gesellschaft herauszufor-
lärer Ereignisse zu einem Plot (Groeben/                              dern (ebd.)
Christman 2012). Narrative erfüllen den
Zweck, gemachten Erfahrungen einen Sinn zu                            Bilgin Ayata (2016) analysierte das Masternar-
geben, das eigene Verhalten und Erleben zu                            rativ zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes,
erklären und moralisch zu legitimieren (McA-                          das durch die mediale Berichterstattung und
dams 2011). Gerade die sinnstiftende Einbet-                          durch die Reaktionen von Politiker:innen
tung negativer Ereignisse, wie dem NSU-Kom-                           transportiert wird. Sie stellt fest: „Dieses Nar-
plex,     erfordert   dabei      eine     aktive                      rativ fokussiert sich auf die drei mutmaßliche
Konstruktionsleistung (z. B. Pals 2006; Straub                        [sic] Täter [sic] und ihre Organisation, was den
2011). Um diesen Zweck idealtypisch umzuset-                          Staat und die Gesellschaft aus ihrer Verant-
zen, bedarf es zweierlei: einer kontinuierlichen                      wortung weitgehend entlässt.“ (ebd. 217)5. Die
Integration des vergangenen und zukünftigen                           Erzählung über ein rechtsterroristisches Trio
Ichs in die gegenwärtige Identität und eines                          entfaltet für die weiße Mehrheitsgesellschaft
kohärenten Zusammenhangs (Straub 2011). In                            insofern eine beruhigende Wirkung, als dass
diesem Kapitel stelle ich zur Kontextualisie-                         andernfalls die Erfolgsgeschichte Deutsch-
rung der geführten Interviews zunächst proto-                         lands als „Weltmeister der Vergangenheitsbe-
typisch zwei narrative Positionen zum NSU-                            wältigung“ (ebd. 212) anfechtbar wäre. Die
Komplex vor. Als „Masternarrativ“ bezeichne                           identitätsstiftende Wirkung der Aufarbeitung
ich daher jene narrativen Plots, die aus einer                        der NS-Verbrechen und die Herausforderung,
institutionell-hegemonialen Position z. B.                            die der NSU für dieses Narrativ darstellt, bringt
durch die Sicherheitsbehörden produziert                              auch Angela Merkel in ihrer Gedenkrede zum
werden und sich somit als scheinbar unaus-                            Ausdruck, wenn sie „das Fundament des Zu-
löschlich etablieren können (Romero/Stewart                           sammenlebens in unserem Land“ als die „Ant-
1999). Durch ihre narrative Autorität (Griffin/                       wort auf zwölf Jahre Nationalsozialismus in
May 2012) beeinflussen Masternarrative so-                            Deutschland, auf unsägliche Menschenver-
wohl die Gesetzgebung als auch die Konstruk-                          achtung und Barbarei, auf den Zivilisations-
tion individueller Geschichten, die sich stets                        bruch durch die Shoah“ beschreibt (Süddeut-
vor dem Hintergrund der dominierenden Mas-                            sche Zeitung 2012). Im Sinne dieses
ternarrative behaupten müssen (Romero/Ste-                            identitätsstiftenden Narrativs wird der NSU-
wart 1999).                                                           Komplex von Sicherheitsbehörden nur als ei-
                                                                      nes von vielen „Verwaltungsdesaster[n]“ (Sei-
Diesen gegenüber stelle ich das sogenannte                            bel 2017: 220) geführt. So bietet der NSU-Kom-
„Gegennarrativ“, zusammengefügt aus Plä-                              plex Anlass, die schon länger geforderte
doyers der Nebenkläger:innen sowie aus Bei-                           Zentralisierung und Kompetenzerweiterung
trägen von Rassismusforscher:innen und Akti-                          der Sicherheitsbehörden voranzutreiben
vist:innen. Im Gegensatz zu Masternarrativen                          (Bruch u. a. 2013). Dies geschieht unter dem
erlangen sie in der Öffentlichkeit nur schwer-                        Titel „[g]emeinsames Extremismus- und Ter-
lich Gehör (ebd.). Dennoch bergen Gegener-                            rorismusabwehrzentrum“ (ebd. 89), der den

5 Wie erfolgreich und etabliert das Trio-Narrativ ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Fotos von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt
mittlerweile zu einem Ikon des NSU-Komplexes geworden sind, das mit einem hohen Wiedererkennungswert auf Buchumschläge (z. B.
Droemer Verlag 2018) und in Zeitungsartikeln (z. B. Spiegel Online 2012) abgedruckt wird. Am Rande sei hier auf die Ähnlichkeit und
Referenzen zwischen der Ikonographie der RAF und dem NSU verwiesen (z. B. Der Spiegel 2011).

                                                                                                                                     4
NSU-Komplex in der großen Erzählung der                                 5. Theoretische Kontextualisierung
„Bekämpfung des islamistischen Terroris-                                der Interviews
mus“ (ebd. 82) aufgehen lässt. Zudem verortet
                                                                        Narrative und Identitäten sind eng miteinan-
der Extremismus-Begriff Rassismus als Phä-
                                                                        der verknüpft. Indem Menschen ihre Erfah-
nomen außerhalb der Mitte der Gesellschaft
                                                                        rungen in Form von Geschichten strukturie-
(Messerschmidt 2014). Ausdrücklich negiert
                                                                        ren, reproduzieren sie Geschehenes nicht
wird ein „generelles Systemversagen der
                                                                        einfach nur, sondern definieren auch, wer sie
deutschen Sicherheitsarchitektur“ (Bruch u. a.
                                                                        selbst sind und konstruieren so ihre narrative
2013: 351) im „Abschlussbericht der Bund-
                                                                        Identität       (McAdams/Josselson/Lieblich
Länder-Kommission Rechtsterrorismus“.
                                                                        2006). Identitäten sind situativ variabel und
Die Opfer des NSU-Komplexes hingegen fo-                                werden im Alltag stets neu ausgehandelt (Lu-
kussieren in ihrem Gegennarrativ die „Konti-                            cius-Hoene/Deppermann 2002). Schon allein
nuitätslinien rassistischer Exklusion mit tödli-                        deswegen wohnt der Identität eine Komplexi-
chen Folgen“ (Karakayalı u. a. 2017: 11), die sich                      tät und Vielschichtigkeit inne, die einen kriti-
durch das kollektive Gedächtnis migrantischer                           schen Umgang mit einem starren Identitäts-
Communities ziehen. Sie verknüpfen die ras-                             begriff verlangt (Hall 1996). Um jener
sistischen Anschläge 1980 in München, ge-                               Komplexität zu begegnen, werden im Folgen-
folgt von den Anschlägen der 1990er Jahre in                            den die Social Identity Theory (SIT) von Tajfel
Solingen, Mölln und Rostock mit dem Terror                              und Turner (1979) als theoretische Basis die-
des NSU-Komplexes. Im Kontext ihrer Diskri-                             ser Arbeit um das Konzept der Sozialen Reprä-
minierungserfahrungen verweisen sie dabei                               sentationen (SR) nach Moscovici (1988) er-
immer wieder auf das Trauma der sekundären                              gänzt      und      auch      Ansätze      der
Viktimisierung (Geschke/Quent 2016) durch                               Rassismusforschung integriert.
die ermittelnden Polizeibeamt:innen, wenn
                                                                        Tajfel und Turner (1979) postulieren, dass es
diese den Opferstatus der Ermordeten und
                                                                        soziale Gruppen sind, aus denen Menschen ei-
Verletzten immer wieder hinterfragten und ge-
                                                                        nen Teil ihrer Identität beziehen. Daher streb-
gen das unmittelbare Umfeld ermittelten (Lex
                                                                        ten Menschen stets danach, dass ihre Eigen-
2018). Die Polizist:innen nehmen in diesem
                                                                        gruppe positiv bewertet wird, da dies
Narrativ weniger die Rolle der Helfer:innen als
                                                                        ausschlaggebend sei für ihr eigenes Selbst-
die Rolle der Kompliz:innen ein, indem sie eine
                                                                        wertgefühl (Ellemers/Haslam 2012). Gerade in
Stigmatisierung der Angehörigen als Kriminel-
                                                                        Kontexten, in denen die Gruppenzugehörigkeit
le praktizieren, die ein erklärtes Ziel des NSU-
                                                                        besonders relevant ist, kann die soziale Identi-
Komplexes war (Ilius 2018). Obgleich die Ange-
                                                                        tät das Erleben und Verhalten eines Individu-
hörigen ihre Opfer durch die gerichtliche Auf-
                                                                        ums stärker beeinflussen als andere identi-
arbeitung des NSU rehabilitiert sehen, wird der
                                                                        tätsstiftende Elemente (ebd.)6. Tritt in einer
Bundesstaatsanwaltschaft ein Schweigen
                                                                        solchen Situation eine Abwertung der Eigen-
über jenen strukturellen Rassismus zuge-
                                                                        gruppe auf, spricht die Forschung von einer
schrieben, der eine solche Stigmatisierung
                                                                        sogenannten „identity threat“ (Jetten/Post-
erst ermöglichte (Scharmer 2018).
                                                                        mes/McAuliffe 2002: 198). Gerade Gruppen,
                                                                        denen aus Sicht der weißen Mehrheitsgesell-

6 Zu solchen Kontexten können auch die Diskurse um den NSU-Komplex zählen, in denen „die Polizei“ als relevanter Konfliktakteur
auftritt. Auch die in diesem Rahmen geführten Interviews adressierten explizit die soziale Identität der Erzähler:innen als Polizist:innen.

5
schaft ein hoher Status zugeschrieben wird –                       wie der Bundesvorsitzende der Deutschen Po-
wie beispielsweise Polizist:innen (Reuband                         lizeigewerkschaft, Rainer Wendt, es vornahm
2012) – , sehen sich in ihrer Identität von Ab-                    (Wendt 2014). Zudem stellen die von Tißberger
wertungen bedroht (Scheepers/Ellemers                              (2017) dargestellten Abwehrmechanismen
2005). Ungeachtet interindividueller Unter-                        weißer Personen auf den internalisierten Ras-
schiede reagieren Gruppen mit einer hohen                          sismus wie beispielsweise die Täter:innen-Op-
sozialen Anerkennung dann insgesamt mit ei-                        fer-Umkehr ebenso Strategien des Identitäts-
ner Verteidigungshaltung (ebd.)7. Besonders                        managements dar. Banse und Imhoff (2009)
abwehrend sind die Reaktionen von Polizist:in-                     zeigten in ihrem sozialpsychologischen Expe-
nen auf Vorwürfe rassistischer Einstellungen                       riment, dass allein die Information über eine
innerhalb der Polizei (Geschke/Quent 2016).                        bestehende Diskriminierung von Minderheiten
So wird diskriminierendes Vorgehen der Poli-                       Abwehrmechanismen seitens der von dieser
zei dadurch relativiert, dass es auf einem „ob-                    Diskriminierung positiv betroffenen Personen
jektivierenden Raster“ (Behr 2006: 79) beruhe                      aktivieren und deren diskriminierende Einstel-
und zur Strafverfolgung tauge. Sind rassisti-                      lungen verstärken kann.
sche Verhaltensweisen wie beispielsweise
jene, die 2018 in der Frankfurter Polizei be-                      Das Spannungsfeld, in dem sich Identitätspro-
kannt wurden (z. B. Gensing 2018), nicht mehr                      zesse abspielen, ist aber nicht auf die interin-
von der Hand zu weisen, lässt das Argumenta-                       dividuelle bzw. Inter-Gruppenebene be-
tionsmuster, dass es sich um „wenige schwar-                       schränkt, die durch die SIT vorrangig
ze Schafe“ (Behr 2006: 81) handele, dennoch                        abgedeckt wird (Breakwell 1993). Gesell-
den Erhalt der positiven Bewertung der Eigen-                      schaftliche Diskurse spielen ebenso eine
gruppe zu.                                                         wichtige Rolle (Hall 1996). Das Konzept der So-
                                                                   zialen Repräsentationen (SR) kann als verbin-
Gemäß der SIT stehen einem Individuum ver-                         dendes Element zwischen gesellschaftlicher
schiedene Strategien8 zur Verfügung, wenn es                       und individueller Lebenswirklichkeit dienen
seinen Selbstwert durch eine negative Beur-                        (Jacob 2004). Sie repräsentieren eine be-
teilung seiner Eigengruppe bedroht sieht (Elle-                    stimmte konstruierte Vorstellung der Realität
mers/Haslam 2012). Es könnte zum Beispiel                          (Moscovici 1998). Als Geburtsstunde vieler
nach anderen positiveren Eigenschaften der                         SRs benennt Moscovici sogenannte „unge-
Eigengruppe suchen, einen Vergleich mit Au-                        wöhnliche Ereignisse“, die wiederum einen
ßengruppen unternehmen, der zugunsten der                          Druck erzeugten, das Geschehene einordnen
Eigengruppe ausfällt, oder die negativen Be-                       und erklären zu können. Dabei kristallisierten
wertungen der Eigengruppe umdeuten. In der                         sich dominierende Vorstellungen, soziale Re-
Empirie manifestieren sich diese Strategien                        präsentationen, in verschiedenen sozialen
beispielsweise, wenn Polizist:innen auf Kritik                     Gruppen heraus, die stark von der gruppen-
ihrer Rolle im NSU-Komplex reagieren, indem                        spezifischen Informationsselektion abhingen.
sie sich als weitere Opfergruppe durch den                         Normative Kriterien sorgen dafür, dass in ers-
Mord an Michèle Kiesewetter identifizieren,                        ter Linie jene Informationen genutzt werden,

7 Gerade die Konfrontation mit den eigenen rassistischen Strukturen führt zu Abwehrreaktionen, die in der Forschung anhand psycho-
analytischer Konzepte kategorisiert werden (z. B. Tißberger 2017).
 8 Es kann in der vorliegenden Arbeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Anwendung der Strategien stets bewusst und inten-
tional stattfindet. In Anlehnung an die entsprechende Theorie zum Identity-Management (Ellemer/Haslam 2012) wird der Begriff der
Strategie dennoch beibehalten.

                                                                                                                                6
die nicht mit dem bereits bestehenden Werte-                     tritt eine SR der Sicherheitsbehörden in die
system der Gruppe opponieren. So entsteht                        Öffentlichkeit, die der hegemonialen SR als
eine gruppenspezifische SR des Ereignisses,                      schutzbietende Institution für alle Bürger:in-
die sich in die Realität der Gruppe einfügen                     nen widerspricht (cognitive polyphasia)9.
lässt und zu ihrer eigenen „Wahrheit“ (Rateau
u. a. 2012) wird. Spätestens hier wird deutlich,                 6. Auf Spurensuche nach einer nar-
dass neben dem von der SIT postulierten Prin-                    rativen Darstellung des NSU-Kom-
zip, den Selbstwert der Eigengruppe positiv zu                   plexes und deren Bedeutung für die
bewerten, das Teilen gemeinsamer SRs einer                       polizeiliche Identität
gemeinsamen „Wahrheit“ der Gruppe Identität
                                                                 Der Zugang zum Forschungsfeld und potenti-
stiftet (Moscovici/Hewstone 1983). Trotz der
                                                                 ellen Interviewpartner:innen wurde durch ei-
unterschiedlichen Durchsetzungskraft ver-
                                                                 ne:n Gatekeeper ermöglicht. Diese Person
schiedener SRs sind Heterogenität und Wider-
                                                                 fragte zunächst mündlich das Interesse der
sprüchlichkeit zwischen parallel existierenden
                                                                 Polizist:innen im Umfeld ab, an einer qualitati-
SRs möglich, ohne dass dies zwangsläufig zu
                                                                 ven Studie als Interviewpartner:innen teilzu-
einer sozialen Transformation führt (Jovchelo-
                                                                 nehmen. Schließlich konnten mit fünf Poli-
vitch 2008). Diese Koexistenz – die „cognitive
                                                                 zist:innen narrative Interviews geführt werden.
polyphasia“ (ebd. 442) – erklärt sich daraus,
                                                                 Das Sampling der Interviewten ist somit als
dass verschiedene SRs verschiedene Bedürf-
                                                                 Gelegenheitsstichprobe durch den begrenzten
nisse erfüllen (Provencher 2011). Insbesonde-
                                                                 Zugang zur Zielgruppe bedingt und daher nicht
re hegemoniale SRs schreiben sich aber fast
                                                                 systematisch entstanden.
unvermeidbar in alle Wirklichkeitskonstruktio-
nen ein. So erheben Gerichtsverfahren und Er-                    Die erhobenen Daten sind ihrem Wesen nach
mittlungsergebnisse beispielsweise einen                         davon abhängig, was die Interviewten bereit
Wahrheitsanspruch, der durch ihre institutio-                    sind zu erzählen und welchen Aspekten sie be-
nalisierte Stellung nur selten hinterfragt wird                  sondere Aufmerksamkeit schenken (Lucius-
(Howarth 2006). Die SR dieser Institutionen                      Hoene/Deppermann 2002). Zur Vorbereitung
drückte sich auch in der Gedenkrede der Bun-                     der Interviews wurden Fragen formuliert, die
deskanzlerin zu Ehren der Opfer des NSU-                         das Interview thematisch so abstecken soll-
Komplexes aus, wenn sie verspricht, „die Mor-                    ten, dass es dem Forschungsinteresse dieser
de aufzuklären und die Helfershelfer und Hin-                    Arbeit gerecht wird, dennoch wurde der Rah-
termänner aufzudecken und alle Täter ihrer                       men der Interviews so flexibel gehalten, dass
gerechten Strafe zuzuführen“ (Süddeutsche                        die Erzähler:innen den Themenhorizont mitge-
Zeitung 2012). Dominierend in dieser Rede ist                    stalten konnten und sie in ihrem „[m]onologi-
die SR eines Rechtsstaates, der konsequent                       sche[n] Rederecht und [ihrer] ungehinderte[n]
und transparent einer Aufklärung dient und                       erzählerische[n] Entfaltung“ (ebd. 83) nicht
auf der Seite der Opfer und ihrer Angehörigen                    eingeschränkt wurden. Bei der Formulierung
steht. Andererseits wird diese SR in der Rede                    der Fragen wurde besonderen Wert auf ihre
um den Aspekt der Skepsis bezüglich der Ver-                     erzählgenerierende Wirkung gelegt (ebd.).
trauenswürdigkeit der Behörden seitens der                       Dies bedeutet, dass nicht nur die Eröffnungs-
Angehörigen der Opfer ergänzt (ebd.). Somit                      frage - „Was hat Sie bewogen Polizist:in zu

9 Im Gerichtsverfahren jedoch festigte die Bundesanwaltschaft die SR eines funktionierenden Rechtsstaates und winkte mögliche
andere Darstellungen als „Fliegengesumme in den Ohren“ (Diemer 2017) ab.

7
werden?“ - sondern auch die Fragen des                               den Phänomenen so ergänzen, dass eine da-
Nachfrage- und Bilanzierungsteils Formulie-                          tenübergreifende Systematik sichtbar wird
rungen beinhalteten, die auf narrative Antwor-                       (theoretical sampling). Dabei war, wie für Nar-
ten abzielten (ebd.). Beispielsweise wurde im                        rativanalysen üblich, neben der offenen For-
Nachfrageteil der Interviews gefragt: „Wie ha-                       schungsfrage ebenso das Datenmaterial
ben Sie das erste Mal vom NSU-Komplex er-                            selbst richtungsweisend für den Analysefo-
fahren?“, und der Bilanzierungsteil der Inter-                       kus. So zeigte sich bei der strukturellen Analy-
views wurde mit der Frage „Wie würden Sie                            se beispielsweise, dass zum Zeitpunkt der In-
einer jüngeren Generation (z.B. eigenen Kin-                         terviews kein Narrativ über den NSU-Komplex
dern, Neffen etc.) vom NSU erzählen?“ eröff-                         vorhanden war. Vielmehr wiesen die Darstel-
net. Ein transparenter Umgang mit der For-                           lungen der Interviewten Fragmente aus ver-
schungsfrage und die gemeinsame Auswahl                              schiedenen Master- und Gegennarrativen auf
des Interviewortes dienten dazu, eine vertrau-                       oder bildeten lediglich erste Ansätze eines
liche Atmosphäre herzustellen und die Macht-                         Konstruktionsprozesses ab (s. Kapitel 6.1.). An
position der Forschenden zu Gunsten der In-                          diese Erkenntnis der strukturellen Analyse an-
terviewten abzubauen.                                                knüpfend und bezugnehmend auf die theoreti-
                                                                     schen Annahmen zur SR und SIT wurden in
Die Datenauswertung orientiert sich am Vor-                          der Feinanalyse jene Passagen näher unter-
gehen von Lucius-Hoene und Deppermann                                sucht, in denen sich die Interviewten mit po-
(2002) zur Analyse narrativer Interviews. In ei-                     tenziellen Identity-Threats auseinandersetz-
ner strukturellen Analyse wurden die einzel-                         ten (s. Kapitel 6.2). Das Unterkapitel 6.3
nen Interviews zunächst in Sequenzen geglie-                         entstand ebenso im Auswertungsprozess
dert, die sich thematisch voneinander                                durch eine weitere Spezifizierung der For-
unterscheiden ließen. Die Erkenntnisse aus                           schungsfrage, die durch den Inhalt der Inter-
der strukturellen Analyse dienten als Aus-                           views nahegelegt wurde. So widmet sich das
gangspunkt, um Textpassagen für die Feinana-                         Kapitel 6.3 der Diskriminierung im Polizei-All-
lyse auszuwählen, die für die Forschungsfrage                        tag, da diese Thematik von einem der Inter-
nach der narrativen Konstruktion polizeilicher                       viewten besonders ausführlich behandelt wur-
Identität angesichts des NSU-Komplexes be-                           de.
sonders relevant waren10. Hier ist anzumerken,
dass die Schritte der Struktur- und der Fein-
                                                                     6.1 Zwischen Fragmenten der Master-
analyse keineswegs sequenziell sind, sondern
                                                                     und Gegennarrative11
die Ergebnisse der Feinanalyse die Erkennt-
nisse zur Struktur der Interviews beeinflussen                       Die Strukturanalyse der Interviews konnte le-
und umgekehrt (ebd.). Entsprechend ist die                           diglich bei Dieter Ansätze eines Konstrukti-
folgende Analyse Ergebnis eines mehrfach                             onsprozesses aufspüren, die auf eine durch
durchlaufenen Auswertungszyklus, in dem                              das Gespräch angeregte narrative Produktion
sich wiederkehrende Erkenntnisse zur thema-                          schließen lassen. Im Folgenden wird daher zu-
tischen Struktur und zu sequenzübergreifen-                          nächst Dieters Narrativ analysiert, bevor im

10 So fielen beispielsweise Berichte zum detaillierten Werdegang der Polizist:innen aus der Analyse heraus.
11 In den folgenden Analysen kann es sich als unerlässlich erweisen, Interviewpassagen zu zitieren, die diskriminierende Ausdrücke
enthalten. Da sich diese Arbeit aber ausdrücklich von diskriminierenden Praktiken, also auch einem entsprechenden Sprachgebrauch,
distanzieren möchte, werden diskriminierende Ausdrücke im Folgenden durch diskriminierungssensible Begriffe ersetzt. Die erset-
zenden Begriffe sind durch eckige Klammern gekennzeichnet.

                                                                                                                                8
Anschluss auf die eher fragmentarischen Er-        Benennungspraktik ähnelt jener der krimino-
zählungen zum NSU-Komplex eingegangen              logischen Gutachten zum NSU, die Ayata
wird, die sich auch in den anderen Interviews      (2016) analysiert hat. Auch in Dieters Erzäh-
finden ließen. Dieters Narrativ beginnt mit ei-    lung wird den nicht-weißen Opfern durch ihre
nem medial verbreiteten Bild: „[…] das Bild        fehlenden Namen narrativer Raum und da-
hab‘ ich auch noch im Auge, wo dieses Wohn-        durch Sichtbarkeit entzogen. Dies deutet auf
mobil dasteht und vor sich hin kokelt“. Dies ist   eine „täterfixierte[] Verschiebung“ (Dürr/Be-
insofern erwähnenswert, als dass der von Die-      cker 2019: 7) hin, wie sie auch in der öffentli-
ter erzählte Zeithorizont bis in die Jugend der    chen Auseinandersetzung mit dem NSU zu
Täter:innen zurückreicht:                          beobachten ist, unterscheidet sich aber
                                                   gleichzeitig von der Strategie, die Polizei mit
„Interviewerin (I): Wie würden Sie einer jünge-    Verweis auf Michèle Kiesewetter als Opfer
ren Generation z.B. den eigenen Kindern vom        darzustellen. Eine solche Täter:innenfixierung
NSU erzählen?                                      führt dazu, den NSU-Komplex zunächst als ein
                                                   die Personen der - in Dieters Worten - „radika-
Dieter (D): Ich würde erstmal den Namen er-
                                                   lisiert[en]“ Täter:innen betreffendes Problem
klären, die Abkürzung erklären und ja wie die
                                                   zu begreifen. Diese Darstellung steht einem
sich ja schon irgendwie in jungen Jahren aus
                                                   kontextualisierten, strukturellen Verständnis
dem Jugendheim haben die sich ja wohl schon
                                                   entgegen, das den NSU-Komplex als ein die
kennengelernt und dann haben sie sich immer
                                                   ganze Gesellschaft, also auch Polizist:innen,
weiter radikalisiert.“
                                                   betreffendes Problem thematisiert, wie es das
Dieter erzählt somit nicht chronologisch, son-     Gegennarrativ der Opfer fordert. Im Sinne des
dern vollzieht mit dem narrativen Plot seine ei-   Identitätsmanagements ermöglicht dies Die-
gene Wahrnehmung nach. Da er zuerst das            ter, sich von den Täter:innen, ergo der Tat, zu
brennende Wohnmobil und den „Paulchen-             distanzieren. Das Gebundensein an die Perso-
Panther-Film“ wahrgenommen hat, eröffnet er        nen der Täter:innen wird auch durch die an-
damit seine Erzählung. Hiermit markiert er sei-    schließende Psychologisierung der Tatmotiva-
ne Erzählperspektive als jene eines Erzählers,     tion als Ergebnis einer „Gruppendynamik“
der Teil seiner eigenen Erzählung über den         (Dieter) gestärkt. Auch als Dieter diese Erklä-
NSU-Komplex ist. Der NSU-Komplex scheint           rung ausdrücklich scheitern lässt und betont:
somit für Dieter und seine narrative Identität     „Ich kann nicht was erklären, was ich selbst ja
zumindest erwähnenswert und damit relevant         nicht versteh“, werden gesellschaftliche Fak-
zu sein. Dies ist ein wesentlicher Unterschied     toren wie etwa rassistische Kontinuitäten in
zu den Erzählungen der übrigen Interviewten,       Deutschland nicht hinzugezogen und die ras-
in denen sich kaum ein narrativer Plot zum         sistische Tat somit letztlich eine nicht zu ver-
NSU-Komplex ausmachen lässt. Im Zentrum            stehende Büchse der Pandora. Es gibt in Die-
von Dieters Erzählung stehen die Täter:innen,      ters Narrativ neben der „Leerstelle“ (Dürr/
insbesondere „diese Zschäpe“ (Dieter). Die         Becker 2019: 8), die durch die fehlende na-
nicht-weißen Opfer hingegen werden als             mentliche Benennung der nicht-weißen Opfer
„tote[] Türken“, „Blumenhändler“ und „Ki-          entsteht, somit eine weitere: der strukturelle
oskbesitzer“ in die Erzählung eingeführt, wäh-     Rassismus in Deutschland, in den die rassisti-
rend die ermordete weiße Polizistin als „die       sche Motivation der Täter:innen einzubetten
Kiesewetter“ namentlich genannt wird. Diese        ist. Gegenüber der ersten Leerstelle wird letz-

9
tere allerdings explizit als solche markiert, in-                    mationen rund um das „unerwartete Ereignis“
dem die Erzählinstanz auf diese hinweist und                         des NSU-Komplexes so, dass sie die dominie-
ihr eigenes Nicht-Wissen vorführt („Ich kann                         rende SR der Polizei als Verteidigerin des Gu-
nicht was erklären, was ich selbst ja nicht ver-                     ten nicht konterkariert. Wie im dominierenden
steh“). Diese Leerstellen legen nahe, dass die                       Masternarrativ legt der NSU-Komplex seine
SR von „radikalisiert[en]“ Täter:innen gegen-                        entlarvende Spiegelung des Rassismus in
über einer SR der Opfer, die rassistische ge-                        Deutschland und in der Polizei narrativ ab. Da-
sellschaftliche Strukturen bezeugen, domi-                           bei lässt sich eine Bandbreite narrativer Stra-
niert und reproduziert wird.                                         tegien im Sinne der SIT zur Bewahrung der po-
                                                                     sitiven Bewertung der Eigengruppe an den Er-
Wie bereits erwähnt produzierten die übrigen                         zählungen nachvollziehen: Rassismus wird auf
Interviewten zum Zeitpunkt des Interviews                            die „neuen Länder[]“ (Dieter) weitab von dem
kein eigenes Narrativ zum NSU-Komplex.                               „hier im Westen“ (Dieter) begrenzt, der da-
Stattdessen treten, wie auch bei Dieter, einzel-                     durch aufgewertet wird. Auch die Benennung
ne Fragmente des Masternarrativs auf. So                             des NSU als „Zelle“ (Uwe) und der Fokus auf
schöpft die Semantik aller geführten Inter-                          Beate Zschäpe schirmen die Erzählperspekti-
views aus dem dominierenden Masternarrativ,                          ve von der Einbettung des NSU-Komplexes in
das den NSU-Komplex als eine Pannenserie                             rassistische Strukturen in Deutschland ab.
erzählt. Als „schlampig[e]“ „Ermittlungspan-
ne“ (Alex, Stefan, Kai, Uwe) zeichnet sich die                       Gegennarrative, die auf Rassismus in der Poli-
Rolle der Polizei im Umgang mit dem NSU-                             zei verweisen, werden entkräftet, indem sie
Komplex in erster Linie durch nicht-intentio-                        entweder als für die Eigengruppe nichtzutref-
nales Versagen aus. Begründet wird dieses                            fend bewertet werden (z. B. Dieter: „Obwohl ich
Versagen von Uwe, Stefan und Dieter wie folgt:                       jetzt von meiner Dienststelle mit den Kollegen,
                                                                     das jetzt nicht sagen würde“), das Versagen
„Dass es [die Mordserie des NSU-Komplexes]                           der polizeilichen Ermittlungen als „Arbeit der
ja dann auch relativ verstreut war über                              Kriminalpolizei“ (Uwe) von der eigenen polizei-
Deutschland, über die Bundesrepublik“ (Uwe),                         lichen Identität abgetrennt oder aber der Ver-
                                                                     fassungsschutz mit Verweis auf die „V-Män-
„dass einfach Informationen wahrscheinlich
                                                                     ner-Geschichte“ (Maren) verantwortlich ge-
nicht weitergegeben wurden, nicht rechtszei-
                                                                     macht wird (Kai12).
tig weitergegeben wurden“ (Stefan),
                                                                     Dennoch gelingt es den Polizist:innen in man-
„dass die Polizei da nicht gut genug struktu-
                                                                     cher Hinsicht, Lösungsansätze für die Polizei
riert ist, da auch mal bundesländerübergrei-
                                                                     zu formulieren, die nicht dem dominierenden
fend besser kommuniziert“ (Dieter).
                                                                     Masternarrativ in Form von Kompetenzerwei-
Entsprechend des Masternarrativs der Sicher-                         terungen der Sicherheitsbehörden folgen,
heitsbehörden ist es in erster Linie ein Mangel                      sondern eigene Fehler antizipieren.
an verwaltender Kommunikation durch die fö-
                                                                     Für einen Moment kommen keine abwehren-
deralistische Struktur der Ämter, der von den
                                                                     den Strategien zur Wahrung der positiven Be-
Interviewten als Ursache ins Zentrum gestellt
                                                                     wertung der Eigengruppe zum Einsatz, statt-
wird. Diese Argumentation selektiert die Infor-

12 „[…] aber vielleicht ist es zur damaligen Zeit auch ein bisschen gelenkt worden vom Verfassungsschutz“.

                                                                                                                 10
dessen fordert beispielsweise Uwe:                                  etwaige nötige Veränderungen im Zuge seiner
                                                                    Aufarbeitung letztendlich aus der polizeilichen
„Ich finde aber, dass man auch sonst, viel-                         Identität ausgeklammert und in die Zivilgesell-
leicht auch ein bisschen sensibilisieren könn-                      schaft verschoben.
te. Also auch generell dafür, das stellt sich
jetzt immer schwierig dar, ob das jetzt in der                      Die mehrmalige Betonung der „große[n] Fra-
FH [Ausbildungsstätte der Polizist:innen] ist,                      ge“ und vielen „Fragezeichen“, vor denen die
dass jetzt vielleicht im Beamtenrecht, dass                         Polizist:innen auch nach der gerichtlichen
man darüber redet durch Einflüsse von außen,                        Aufarbeitung stehen (z. B. Stefan13), ergibt ei-
tja, schwierig.“                                                    nen Bezug zu der Gegenerzählung der Opfer,
                                                                    indem die Suche nach Antworten angeregt
Allerdings wird die Aufgabe, kritische Fragen                       wird. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass
zu stellen, in dem Zuständigkeitsbereich der                        die Polizist:innen durch ihre Zugehörigkeit zur
Bürger:innen verortet, während Polizist:innen                       Polizei über einen Wissensvorsprung gegen-
eine weniger aktive, eher auf Gehorsam beru-                        über den Opfern rassistischer Gewalt und de-
hende Rolle zugeschrieben wird:                                     ren Angehörigen verfügen. Die Polizist:innen
                                                                    betonen also ihre Unwissenheit und ihre For-
„I: Und kann man daraus eine Lehre ziehen?
                                                                    derung nach Aufklärung bezüglich eben jener
Uwe (U): Jetzt für mich als Polizist? Ja auf je-                    Strukturen, denen sie selber als Polizist:innen
den Fall nicht voreingenommen sein, neutral                         angehören. Vor diesem Hintergrund bewirkt
und halt sich so verhalten, wie man das ge-                         die Referenz auf die Gegenerzählung der Opfer
lernt hat, wie es einem vorgeschrieben ist, wir                     auch eine Distanzierung von der eigenen poli-
müssen uns selbst auch an Gesetze halten wie                        zeilichen Identität. Diese Umdeutung zur Wah-
alle anderen auch, wir wollen das ja auch, dass                     rung einer positiven polizeilichen Identität wird
andere sie befolgen, also sollen wir das auch                       besonders deutlich, wenn jene Segmente der
tun.                                                                Interviews näher betrachtet werden, die den
                                                                    NSU-Komplex als ein dem „[D]amals“ zugehö-
I: Und aus einer anderen Nicht-Polizist:innen-                      riges – also vergangenes – „mahnendes Bei-
Perspektive?                                                        spiel“ (z. B. Kai) beschreiben. Diese Markie-
                                                                    rung des NSU-Komplexes entfaltet – analog zu
U: Ich finde es immer gut, wenn man kritische                       anderen Denk- und Mahnmalen (Galle/Gross
Fragen stellt. Auch die Bürger, wenn die ir-                        2019) – eine kontraproduktive Wirkung, wie sie
gendwas mitkriegen, wenn die bestimmte                              in Stefans folgender Aussage deutlich wird:
Strukturen erkennen, dass sie das melden,                           „Das ist einfach zu lange her, als dass man sich
dass man sich dafür stark macht, dass man                           damit jetzt noch aktuell beschäftigt. Darüber
Zivilcourage zeigt in solchen Situationen und                       wird nicht mehr gesprochen“. Dies legt nahe,
so rechten Gruppen einfach keine Chance                             dass die Erinnerungsform, die die Polizist:in-
mehr lässt.“                                                        nen praktizieren, weniger ein anerkennendes
                                                                    „Doing Memory“ darstellt als einen „Speicher
Durch die Deutung der polizeilichen Rolle als
                                                                    abgeschlossener und damit statisch geworde-
regelkonformes „sich so verhalten, wie man
                                                                    ner Vergangenheit“ (Thomas/Virchow 2019:
das gelernt hat“ werden der NSU-Komplex und

13 „Die Fragezeichen konnten nicht beseitigt werden in dem Fall, weil die Verantwortlichen seitens der Polizei sich schwertun Fehler
einzugestehen bei der eigenen Arbeit.“

11
160). Wenn das „mahnende Beispiel“ (Stefan)       tive Umgangsweise mit diesen Ereignissen ist
des NSU-Komplexes nicht dazu führt, dass          insofern für die Fragestellung interessant, als
„man sich damit noch aktuell beschäftigt“         dass sie Hinweise darauf liefern, welche Me-
(Stefan), etwa im Sinne einer machtkritischen     chanismen des Identitätsmanagements auch
Sensibilisierung und Hinterfragung der eige-      für den NSU-Komplex relevant sein könnten.
nen privilegierten Position, liegt der Verdacht   Aus diesem Grund wurden in der Feinanalyse
nahe, dass die Deklarierung als „mahnende[s]      der Interviews auch narrative Umgangsstrate-
Beispiel“ letztlich vielmehr der Identitätsbil-   gien mit Identity-Threats abseits des NSU-
dung der Polizist:innen und deren hegemonia-      Komplexes fokussiert. Dabei wurde die Frage-
ler Machtposition dient als einer Auseinander-    stellung dahingehend präzisiert, dass nach
setzung mit rassistischer Gewalt. Dies wird       Hinweisen und Erklärungen gesucht wurde,
dadurch umso deutlicher, dass Stefan nicht        warum der NSU-Komplex für die interviewten
glaubt, dass sich der NSU-Komplex „in dem         Polizist:innen oft eine Leerstelle bleibt.
Ausmaß“ nochmal wiederholen werde und
dies wie folgt begründet: „Weil es schon mal      Ähnlich wie die Rassismuskritik ergibt sich die
passiert ist, weil wir es nicht mehr zulassen     Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Poli-
würden“. Stefan validiert damit die SR eines      zeigewalt aus der Betroffenenperspektive
funktionierenden Rechtsstaats, der aus seinen     nicht-weißer Menschen, die im besonderen
Fehlern lernt. So setzt sich in den Erzählungen   Maße von Polizeigewalt betroffen sind (Melter
der Polizist:innen jenes Muster durch, das in     2017). Es überrascht daher nicht, dass der Um-
dem dominierenden Masternarrativ bereits          gang mit dieser jenem gegenüber der Rassis-
den Blick auf die Kontinuität rassistischer Ge-   muskritik ähnelt. Indem von Gewalthandlun-
walt in Deutschland verstellt, indem es jene      gen erzählt wird, die man als Polizist „leider“
Erfahrungen der Opfer aus diesem Narrativ         (Uwe) praktizieren müsse, wird ein Konse-
ausschließt, die den Rechtsstaat als rassis-      quenztopos bedient, der die Verantwortung
tisch hinterfragen.                               der Gewaltanwendung relativiert, indem sie
                                                  als unumgängliches Element der Polizeiarbeit
                                                  rationalisiert wird: „Da muss man dann leider
6.2 Zum narrativen Umgang mit
                                                  auch körperlich handeln. Aber das gehört dann
potenziellen Identity-Threats: „Wir kom-
                                                  auch dazu“ (Uwe). Anstatt aus einer Täter:in-
men unglaublich gut weg.“
                                                  nen-Position wird so aus einer Perspektive ge-
Wie bereits erwähnt wird der NSU-Komplex          sprochen, die die ausübenden Polizist:innen
aus der Lebenswirklichkeit der Polizist:innen     nicht als willentlich handelnde Akteur:innen
zumeist ausgeklammert, während andere Er-         begreift. Im Sinne des Identitätsmanagements
eignisse, die ebenso eine identitätsgefährden-    wird so die Strategie der Umdeutung be-
de Wirkung bergen, sehr wohl Teil der Erzäh-      stimmter Charakteristika der Eigengruppe ge-
lungen sind. So werden die narrativen             nutzt: Das Ausüben direkter Gewalt wird pri-
Auslassungen und Lücken, die sich aufgrund        mär als gesetzlich legitimierte Maßnahme
einer fehlenden NSU-Erzählung unter den Po-       gefasst, die somit jeder individuellen Verant-
lizist:innen auftun, durch Referenzen auf Er-     wortung entbehrt.
eignisse wie den Fall der Kinderpornographie
in Lügde oder der Frage nach der Verhältnis-      Die Frage, warum der Fall Lügde im Gegensatz
mäßigkeit von Polizeigewalt gefüllt. Die narra-   zum NSU einen zentralen Bezugspunkt für die

                                                                                              12
interviewten Polizist:innen darstellt, führt un-   rationalisiert werden, um eine positive soziale
mittelbar zu einem gravierenden Unterschied        Identität nicht zu gefährden. Diesen Verdrän-
zwischen den beiden Ereignissen. Direkte Ge-       gungs- und Rationalisierungsstrategien kann
walt gegen Kinder ist ein fester Bestandteil       dadurch vorgebeugt werden, dass Polizist:in-
des Vulnerabilitätsparadigmas (Lorenz 2018),       nen die Möglichkeit geboten wird, die Fehler
demnach das Schützen oder Retten von Kin-          ihrer Eigengruppe aktiv zu bearbeiten und das
dern als „die Vulnerabelsten unter den Vulne-      eigene Image dadurch wiederherzustellen, in-
rablen“ (ebd. 61) im besonderen Maße zu einer      dem eine zukünftige Besserung antizipiert
Helfer:innen-Identität beitragen kann (Lorenz      wird (van der Toorn/Ellemers/Doosje 2015).
2018), wie sie auch die hegemoniale SR der         Wie in Kapitel 6.1 bereits erwähnt, deutet sich
Polizei propagiert:                                ein Entwurf von Verbesserungsvorschlägen
                                                   durchaus in einigen Passagen der Interviews
„wenn ein Kioskbesitzer oder en‘ Blumen-           an. Dennoch entfallen mit einer Fehleraufarb-
händler erschossen wird, kannste‘ dich damit       eitung für Polizist:innen in der Regel auch dis-
groß profilieren? Ich denke es mal eher nicht,     ziplinarische oder strafrechtliche Konse-
ne? Also mit so nem‘ Kindermord wie der Mir-       quenzen und damit auch ein weiteres Instru-
ko eben, da kannste‘ natürlich …, wenn de‘ den     ment, die moralische Integrität der Eigengrup-
kriegst –Auja, das ist gut! Mit Kindern, wenn      pe wiederherzustellen. Dies gibt auch dem Po-
de‘ das löst, ist immer gut, ne?“ (Dieter)         lizisten Dieter zu bedenken:

Auffällig und abweichend von der theoreti-         „Wir kommen unheimlich gut weg, wenn wir
schen Annahme, dass die Reaktion auf Identi-       Scheiße bauen, finde ich. Man kann nicht sa-
ty-Threats umso emotionaler ausfalle, je sali-     gen, dass wir keinen Quatsch machen, also
enter die Identifizierung mit dieser Gruppe sei    das stimmt nicht. Wenn man sieht, wie oft es
(Fischer/Haslam/Smith 2010), ist die emotio-       letztendlich mal zu einer Verurteilung kommt
nale Sparsamkeit, mit der die Interviewten von     bei Kollegen, die was falsch gemacht haben.
dem Fall erzählen:                                 Puh, das sind aber, das kannste‘ aber an einer
                                                   Hand abzählen. Das passiert ja ganz wenig.
„(I): Wie war da Ihre persönliche Reaktion auf
                                                   Und das kann irgendwo auch nicht sein. Ich
den Fall?
                                                   weiß nicht, ob das ne‘ gute Entwicklung ist.“
Stefan: Das war tatsächlich mehr auf sachli-       (Dieter)
cher Ebene. Ich weiß nicht ob ihnen [den er-
                                                   Insgesamt stellen sich die Erzählenden wie-
mittelnden Polizist:innen im NSU-Komplex] da
                                                   derholt in mehreren Interviewpassagen als
die Motivationen gefehlt hat oder die Erfah-
                                                   „nicht beteiligt[e]“ Individuen dar, die von
rung gefehlt hat bei den Kollegen, die da gear-
                                                   nichts wissen und nichts „kenne[n]“ (z. B. Ste-
beitet haben. Grundsätzlich wütend macht es
                                                   fan, Uwe). Im Sinne des SIT dient diese Um-
mich nicht.“
                                                   deutung der eigenen Rolle als eher passiv
Die Abwesenheit negativer Emotionen verfehlt       denn aktiv handelnde Personen der Wahrung
ein wichtiges Moment der Selbstreflexion           der eigenen positiven Identität, auch wenn
(Tißberger 2017) und der Solidarität mit Be-       dies auf Kosten der eigenen postulierten
troffenen (Zembylas 2018). Es ist möglich,         Handlungsfähigkeit erfolgt. Denn, während
dass negative Emotionen hier verdrängt und         sich die Darstellung der Polizist:innen in den

13
Erzählungen überwiegend als Helfer:innen und                       des Identitätsmanagements wirken, indem sie
somit als aktive Akteur:innen charakterisieren                     Rassismus vereinfacht und seine strukturelle
lässt, erscheint die Selbstbeschreibung hier                       politische Dimension ausblendet, sodass ein
eher als passiv und unbeteiligt. Diese Abschot-                    Vergleich zwischen weißen und nicht-weißen
tung des eigenen Handlungsraums gegenüber                          Bürger:innen automatisch zu Gunsten ersterer
einer kollektiven Verantwortung (Eis/Moulin-                       ausfällt:
Doos 2013/2014) geht dabei so weit, dass sie
die Erzählungen angesichts des NSU verstum-                        „Also es ist oft so, dass wenn du nen‘ Deut-
men14 und den NSU „weit weg“ (Dieter) rut-                         schen kontrollierst, also wir reden jetzt von
schen lässt.                                                       dem Phänotyp Deutschen, der sagt dann nicht
                                                                   ‘Ey, Sie kontrollieren mich nur, weil ich Deut-
                                                                   scher bin‘. Das sagt dir keiner. Aber so oft,
6.3 Zur Diskriminierung im Polizei-Alltag:
                                                                   wenn ich, sag mal ich kontrollier jetzt zwei
zwischen Silencing und Color-blind
                                                                   [nicht-weiße Personen] oder ein [nicht-weißes
Racism
                                                                   Pärchen]. Und dann würde ich zehn kontrollie-
„Die Mordserie [des NSU] stellt einen markan-                      ren, dann bin ich mir sicher, dass fünf oder sa-
ten, gewalttätigen Pol in einem Kontinuum                          gen wir mal, dass vier bis fünf davon sagen
rassistischer Einstellungen und Praktiken dar,                     würden, ‘Sie kontrollieren mich nur, weil ich
an dessen anderem Pol die subtilen Formen                          schwarz bin‘.“ (Alex)
eines alltäglichen Rassismus stehen“ (Dürr/
Becker 2019: 8). Nicht nur vor diesem Hinter-                      Aus der Machtposition eines weißen Polizis-
grund, sondern auch das Datenmaterial selbst                       ten, die das Ausblenden von Rassismus-Erfah-
drängte immer wieder die Frage nach diskri-                        rungen nicht-weißer Bürger:innen ermöglicht,
minierenden Praktiken und Alltagsrassismus                         werden die von Rassismus negativ Betroffe-
bei der Polizei auf. Insbesondere das Interview                    nen im Sinne einer Täter:innen-Opfer-Umkehr
mit Alex thematisiert diese Frage umfassend,                       (Tißberger 2017) zu denjenigen, die ethnische
wohingegen nicht-weiße Personen in den Be-                         Unterschiede konstruieren und ausnutzen:
richten von Kai, Stefan und Uwe – abgesehen
von den Passagen zum NSU-Komplex – keine                           „ich kontrollier die ja nicht, weil die [nicht-
Rolle spielen. Dies weist darauf hin, dass nicht-                  weiß] sind, sondern weil die vielleicht was
weiße Menschen in der Lebenswirklichkeit der                       falsch gemacht haben oder weil die auffällig
Interviewten wenig Raum einnehmen. Für Alex                        sind, dass die selber dann immer diesen Ras-
hingegen spielen nicht-weiße Menschen als                          sistenjoker, so nenne ich das in Anführungs-
eine potentiell identitätsgefährdende Gruppe                       zeichen, dass die den dann ziehen.“ (Alex)
von Bürger:innen eine zentrale Rolle in seiner
                                                                   Alex erläutert, dass die Wirkweise dieses
Erzählung.
                                                                   „Rassistenjokers“ darin bestehe, ihm ein
Er propagiert „color blindness“ (Plaut 2010: 82)                   schlechtes Gewissen zu machen:
als einen bewussten Umgang mit rassistisch
                                                                   „Das sagen die so oft und dann machen die
diskriminierten Gruppen: „Mir ist das wirklich
                                                                   mir unterbewusst ein schlechtes Gewissen,
komplett egal, was der für ne‘ Hautfarbe hat“.
                                                                   obwohl ich gar kein schlechtes Gewissen ha-
Die Brille der „Colorblindness“ kann als Form

14 So häufen sich die Negationen von Verben, die einen Verbalisierungsprozess beschreiben: „kann ich nicht beantworten“, „kann ich
nicht sagen“, „kann man nicht sagen“ (Stefan).

                                                                                                                               14
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