Der NSU und ich? Eine Narrativanalyse zur Konstruktion polizeilicher Identität angesichts des NSU-Komplexes - CENTER FOR CONFLICT STUDIES ...
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CCS Working Paper No. 24 Barbara Schmalen Der NSU und ich? Eine Narrativanalyse zur Konstruktion polizeilicher Identität angesichts des NSU-Komplexes CENTER FOR CONFLICT STUDIES
CENTER FOR CONFLICT STUDIES CCS WORKING PAPERS IMPRINT Center for Conflict Studies of the Philipps University Marburg Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel | Prof Dr. Thorsten Bonacker ISSN: 1862-4596 Verantwortliche Redaktion: Julius Heise, Alina Giesen Satz und Layout: Lara Sander, Shari Kupilas © 2021, Center for Conflict Studies KONTAKT Zentrum für Konfliktforschung Philipps-Universität Marburg Ketzerbach 11 35032 Marburg 06421/2824444 konflikt@staff.uni-marburg.de www.uni-marburg.de/konfliktforschung This Working Paper is available at: https://uni-marburg.de/uEDDY
DIE AUTORIN Barbara Schmalen hat Friedens- und Konfliktforschung, Psychologie, Germanistik und Romanistik in Marburg, Bonn und Köln studiert. Im Rahmen einer kooperativen Promotion in der Sozialpsychologie (Philipps-Universität Marburg) und den Sozial- und Kulturwissenschaften (Hochschule Düsseldorf) forscht sie derzeit zu weißen Umgangsformen mit antirassistischen Erinnerungspraktiken am Beispiel des NSU-Mahnmals Herkesin Meydanı in der Keupstraße in Köln.
INHALTSVERZEICHNIS 1. Einleitung 1 2. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) 1 3. Forscher:in und Forschungssubjekt 2 4. Konkurrierende Master- und Gegennarrative zum NSU-Komplex 3 5. Theoretische Kontextualisierung der Interviews 5 6. Auf Spurensuche nach einer narrativen Darstellung des NSU-Komplexes und deren Bedeutung für die polizeiliche Identität 7 7. Fazit und abschließende Anmerkungen 15 Literaturverzeichnis 17
Abstract In the context of dealing with the NSU complex, the police's involvement in racist structures is becoming increasingly clear. Social Identity Theory (SIT) posits that this entanglement jeopardi- zes the preservation of a positive police identity, and that, in response to this, police officers use identity management strategies to reconcile the handling of NSU crimes by law enforcement with their identity. This paper examines how this reconciliation is implemented narratively. The analysis of five nar- rative interviews shows that the personal stories of police officers primarily rely on the master narrative of the security authorities on the NSU complex and that a police-specific NSU narrative seems absent. Nevertheless, fragments of the counter narratives of the victims of the NSU complex also find their way into the reality of the police officers' lives. However, these are integra- ted by means of narrative strategies of depoliticization, individualization, and color-blind racism, possibly to keep up a positive and consistent police image. However, a culture of error manage- ment within the police nonetheless emerges through engagement with the narratives of the vic- tims of the NSU complex.
In the modern world, the cruelest thing that you can do to people is to make them ashamed of their complexity. (Wieseltier 1994: 30)
Der NSU und ich? Eine Narrativanalyse zur Konstruktion polizeilicher Identität angesichts des NSU-Komplexes 1. Einleitung ves“ (Romero/Stewart 1999: xvi), die in der Öf- fentlichkeit nur schwerlich Gehör finden, und Bezüglich des NSU-Komplexes sprechen Kara- die dennoch das Potential haben, die etablier- kayalı, Liebscher, Melchers und Kahveci 2017 ten Masternarrative einer Gesellschaft her- vom „Schweigen der Wissenschaft“ (20). Auch auszufordern (ebd.). Aus diesem Grund die Friedens- und Konfliktforschung als kriti- schließt an eine kurze Skizzierung der Ge- sche Wissenschaft hat den NSU-Komplex lan- schehnisse um den NSU-Komplex (Kapitel 2) ge nicht beachtet (Bayer/Pabst 2014). Aus der und einer kritischen Reflexion des Verhältnis- Perspektive der von Rassismus positiv Betrof- ses zwischen Forscher:in und Forschungssub- fenen1 drängt sich aber die Frage auf, wie mit jekt (Kapitel 3) ein kurzer Abriss proto-typi- dem eigenen ungeschönten Spiegelbild umzu- scher Eckpunkte der Gegenerzählung der gehen ist, das sich durch den NSU-Komplex Opfer einerseits und des Masternarrativs der gezeigt hat. In dieser Arbeit wird gezeigt, wie Sicherheitsbehörden andererseits (Kapitel 4) Polizist:innen mit diesem Spiegelbild umge- an. Zur Kontextualisierung gehört aber auch hen. In ihrem Diensteid schwören sie, dass sie der wissenschaftstheoretische Erfahrungsho- „die Verfassung und Gesetze befolgen und rizont der Forscher:in. Denn trotz des explora- [ihre] Pflichten gewissenhaft erfüllen und Ge- tiven Forschungsinteresses sind gewisse the- rechtigkeit gegen jedermann üben“ (§ 46 LBG oretische Vorannahmen auf Seiten der NRW). Wie lässt sich eine solche Verpflichtung Forscher:innen immer vorhanden (Lucius- mit den Erkenntnissen nach den Anschlägen Hoene/Deppermann 2002). Diese werden in des NSU vereinbaren, die die Polizei zuneh- Kapitel 5 offengelegt und reflektiert, bevor die mend als Institution mit rassistischen Struktu- Ergebnisse der Analyse dargestellt (Kapitel 6) ren zeigen (Dittes u. a. 2013)? Um dieser Frage und abschließend zusammengefasst werden nachzugehen, wurden die Narrative von fünf (Kapitel 7). Polizist:innen analysiert und ihre Strategien im Umgang mit dem NSU-Komplex herausgear- beitet. 2. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) Bei der Interpretation individueller Narrative Die folgenden Darstellungen orientieren sich ist der soziale Kontext, in dem sie stattfinden, an der Skizzierung der Verbrechen des NSU nicht zu vernachlässigen, da dieser sich in der von Ramelsberger, Ramm, Schulz und Stadler Struktur der Erzählungen widerspiegelt. Zu (2019). Zwischen 1998 und 2011 verübte der diesem Kontext gehört insbesondere der vor- NSU-Komplex Anschläge auf Menschen mit herrschende Kanon aus Masternarrativen zu Migrationshintergrund. Diesen fielen neun einem bestimmten Thema (Esin/Fathi/Squire Männer mit türkischem, kurdischem und grie- 2014), aber auch sogenannte „counternarrati- chischem Hintergrund sowie eine Polizistin 1 Der Ausdruck „von Rassismus positiv Betroffene“ wird hier für die weiße Mehrheitsgesellschaft benutzt, um einerseits zu betonen, dass Rassismus nicht allein eine Angelegenheit diskriminierter Minderheiten ist, und andererseits, um zu zeigen, dass unabhängig von der individuellen Einstellung gegenüber Rassismus weiße Personen von diesem profitieren. 1
zum Opfer. Außerdem wurden 24 Menschen flexion der Beziehung zwischen Forscher:in durch Bombenanschläge verletzt. Erst im No- und Forschungssubjekt unerlässlich (Howe/ vember 2011 bekannte sich der NSU durch ein Ostermeier 2019). Bei der vorliegenden Arbeit Video zu diesen Anschlägen, nachdem die Po- ergibt sich diese Unerlässlichkeit auch daraus, lizei und die Presse die Täter:innen der organi- dass die Identitätsbildung durch Erzählungen sierten Kriminalität zugeschrieben hatten. Da immer auch eine Interaktion mit einem Gegen- zwei der drei Terrorist:innen, Uwe Mundlos über ist, das somit Teil dieses Prozesses wird und Uwe Böhnhardt, tot aufgefunden wurden, (Lucius-Hoene/Deppermann 2002). Im Be- wurde lediglich Beate Zschäpe verhaftet. wusstsein, dass es keine absolut objektive Nachdem sich der NSU zu den verschiedenen Forschung, keinen „Blick von Nirgendwo“ (Ho- Taten bekannt hatte, wurde öffentlich Kritik an we/Ostermeier 2019: 4) gibt, soll im Folgenden den Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden die Origo2 der vorliegenden Forschungsper- geübt, da diese wichtige Akten geschreddert spektive „lokalisiert“, das heißt transparent und falsch ermittelt hatten und trotz eines gemacht werden. Dazu wird in die Ich-Form Netzes an V-Leuten nicht in der Lage gewesen gewechselt, um die Verwicklung von wissen- waren, die Anschläge zu verhindern. Verschie- schaftlichem Erkenntnisinteresse mit dem dene Untersuchungsausschüsse wurden seit- Standpunkt der Forscher:in hervorzuheben. dem zur Aufklärung der Rolle der Sicherheits- behörden im NSU-Komplex installiert. Als Fol- Wenn ich in dieser Arbeit nach der Bedeutung ge traten mehrere Führungspersonen der Lan- des NSU-Komplexes für die Identität der inter- des- und Bundesverfassungsschutzämter zu- viewten Polizist:innen frage, ist immer auch rück. Eineinhalb Jahre nach Zschäpes meine eigene Position als weiße – von Rassis- Verhaftung im Mai 2013 begann der NSU-Pro- mus profitierende – Forscherin zu berücksich- zess in München. Beate Zschäpe bestritt darin tigen. Auch wenn die in dieser Arbeit zu Wort ihre Täterinnenschaft. Die Angehörigen der kommenden Interviewten durch ihren Beruf Mordopfer, die Nebenklage sowie Kritiker:in- als Polizist:in in einem spezifischen Bezug zum nen forderten ein, auch die Rolle der Behörden NSU-Komplex stehen, können ihre Erzählun- im Prozess zu berücksichtigen. Nach fünf Pro- gen auch als Spiegel aller von Rassismus posi- zessjahren wurde Beate Zschäpe im Juli 2018 tiv Betroffenen und deren Auseinanderset- zu einer lebenslangen Haft und vier weitere zung mit dem NSU-Komplex dienen. Im Angeklagte zu Gefängnisstrafen verurteilt. Bewusstsein, dass „es unmöglich [ist], in einer Dennoch weisen viele Nebenkläger:innen dar- rassistischen Gesellschaft nicht rassistisch zu auf hin, dass der Prozess die Rolle der staatli- sein“ (Tißberger 2017: 242), ist meine Absicht chen Behörden nicht aufgearbeitet habe und daher nicht, mit dieser Arbeit von den eigenen stattdessen den NSU-Prozess auf das Trio der Privilegien als Weiße abzulenken, indem ich Terrorist:innen begrenzt habe. den Umgang „Anderer“ – hier von Polizist:in- nen – mit dem NSU-Komplex problematisiere. Sehr wohl ist zu bedenken, dass es zwar ge- 3. Forscher:in und Forschungs- meinsame Privilegien zwischen der Polizei und subjekt der weißen Mehrheitsgesellschaft gibt, die Po- Im Sinne einer kritischen Forschung ist die Re- lizei allerdings hinsichtlich ihrer Machtstruktur 2 Der Begriff der Origo geht auf Bühlers Sprachtheorie (1934) zurück und bezeichnet den Standpunkt des Sprechenden, von dem aus auf einen Sachverhalt Bezug genommen wird. 2
rassistische Praktiken besonders begünstigt der Master- und Gegennarrative zum NSU- (Thomson 2018). Neben diesem Bewusstsein Komplex (Kapitel 4). Wenn ich das dominieren- für die Privilegien, die ich mit dem For- de Masternarrativ präsentiere, ordne ich die- schungssubjekt teile, und die rassistischen ses gleichzeitig mit Hilfe anderer Forscher:in- Strukturen innerhalb der Polizei im Besonde- nen kritisch ein, während ich bei der ren, steht die bewusste Entscheidung, mich in Präsentation des Gegennarrativs der Opfer meiner Forschung mit den Menschen zu soli- des NSU-Komplexes als Forscherin möglichst darisieren, die während der Ermittlungen zum im Hintergrund zu bleiben suche. NSU durch polizeiliche Behörden sekundär viktimisiert3 wurden. Ihre Zeugnisse und politi- Von diesem Standpunkt aus interpretiere ich schen Forderungen prägen meinen Blick als im 6. Kapitel auch die Aussagen – die sprachli- Forscherin und meine Analyse des Umgangs chen Zeichen – der Interviewten, wohl wis- der Polizei mit rassistischer Gewalt4. Wenn send, dass diese Interpretationen nie endgül- Objektivität unmöglich ist, ist Forschung im- tig und abgeschlossen sind. Sie stellen nur mer politisch. Somit bin ich als Forscherin für eine von vielen möglichen Deutungen dar, die das Wissen, das ich (re-)produziere, verant- je nach Perspektive und Kontext variieren wortlich (Haraway 2003). Wenn ich in meiner (Breuer/Muckel/Dieris 2018). Dies bedeutet, Forschung bestimmten Protagonist:innen ge- dass mein Verständnis, das ich in meinen Ana- waltvoller Konflikte eine Stimme gebe, befinde lysen aus den Daten generiere, über den „sub- ich mich in dem Dilemma, mich einerseits jektiv gemeinten Sinn“ der Interviewten hin- meinen Interviewten anzunähern, und gleich- ausgehen kann (ebd.). Anja Weiß (2013) zeitig eine kritische Distanz zu bewahren (Fos- argumentiert im Rahmen ihrer Rassismusfor- ter/Haupt/De Beer 2005). Dieser Ambivalenz schung wie folgt: „Ich vertrete die Ansicht, versuche ich zu begegnen, indem ich in mei- dass Rassismus auch nicht-intentional repro- ner Analyse möglichst häufig die Interviewten duziert werden kann und ich betrachte rassis- selbst sprechen lassen, ihre Aussagen aber tische Praktiken nicht als Anwendung von in- durch meine Stimme einer kritischen For- haltlich rassistischen Ideologien oder scherin als eine „analytical ‘voice’, one that at- Vorurteilen, sondern suche das Rassistische in tempts a critical review of protagonists’ sto- den Strukturen, Routinen und Diskursen, die ries“ (ebd. 92) kommentiere. Vor diesem alltägliches Handeln rahmen und ermögli- Hintergrund habe ich mich bewusst für die chen“ (17). Dieser Argumentation folgend, Perspektive einer „kritischen Polizeifor- habe ich die Ergebnisse der Studie den Inter- schung“ (Belina 2014: 61) entschieden, die Po- viewten zwar zugänglich gemacht, aber nicht lizist:innen vor dem Hintergrund ihrer Macht- durch diese inhaltlich validieren lassen (ebd.). position kritisch hinterfragt und sich von einer „verstehende[n] Polizeiforschung“ (Ullrich 4. Konkurrierende Master- und 2019: 184) unterscheidet. So erklärt sich auch Gegennarrative zum NSU-Komplex das Erheben oder das Verstummen meiner Den vielfältigen Verwendungskontexten des „analytical voice“ bei der folgenden Darlegung Narrativbegriffs scheint eines gemein zu sein: 3 Nach der Viktimisierung durch die Morde des NSU-Komplexes, wurden die Angehörigen der Opfer durch polizeiliche Ermittlungen kriminalisiert. Diese zusätzliche Verletzung „durch eine unangemessene Reaktion seitens [ihres] sozialen Nahraums und der Instanzen sozialer Kontrolle“ (Kiefl/Lamnek 1986: 239) wird als sekundäre Viktimisierung bezeichnet. 4 In der vorliegenden Arbeit wird der Gewaltbegriff in Anlehnung an Galtung als dreidimensionales Konzept aus personaler (direkter), struktureller und kultureller Gewalt verwendet (Galtung 1998). 3
So handelt es sich bei einem Narrativ in erster zählungen das Potenzial, die etablierten Mas- Linie um das sinnstiftende Verknüpfen singu- ternarrative einer Gesellschaft herauszufor- lärer Ereignisse zu einem Plot (Groeben/ dern (ebd.) Christman 2012). Narrative erfüllen den Zweck, gemachten Erfahrungen einen Sinn zu Bilgin Ayata (2016) analysierte das Masternar- geben, das eigene Verhalten und Erleben zu rativ zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes, erklären und moralisch zu legitimieren (McA- das durch die mediale Berichterstattung und dams 2011). Gerade die sinnstiftende Einbet- durch die Reaktionen von Politiker:innen tung negativer Ereignisse, wie dem NSU-Kom- transportiert wird. Sie stellt fest: „Dieses Nar- plex, erfordert dabei eine aktive rativ fokussiert sich auf die drei mutmaßliche Konstruktionsleistung (z. B. Pals 2006; Straub [sic] Täter [sic] und ihre Organisation, was den 2011). Um diesen Zweck idealtypisch umzuset- Staat und die Gesellschaft aus ihrer Verant- zen, bedarf es zweierlei: einer kontinuierlichen wortung weitgehend entlässt.“ (ebd. 217)5. Die Integration des vergangenen und zukünftigen Erzählung über ein rechtsterroristisches Trio Ichs in die gegenwärtige Identität und eines entfaltet für die weiße Mehrheitsgesellschaft kohärenten Zusammenhangs (Straub 2011). In insofern eine beruhigende Wirkung, als dass diesem Kapitel stelle ich zur Kontextualisie- andernfalls die Erfolgsgeschichte Deutsch- rung der geführten Interviews zunächst proto- lands als „Weltmeister der Vergangenheitsbe- typisch zwei narrative Positionen zum NSU- wältigung“ (ebd. 212) anfechtbar wäre. Die Komplex vor. Als „Masternarrativ“ bezeichne identitätsstiftende Wirkung der Aufarbeitung ich daher jene narrativen Plots, die aus einer der NS-Verbrechen und die Herausforderung, institutionell-hegemonialen Position z. B. die der NSU für dieses Narrativ darstellt, bringt durch die Sicherheitsbehörden produziert auch Angela Merkel in ihrer Gedenkrede zum werden und sich somit als scheinbar unaus- Ausdruck, wenn sie „das Fundament des Zu- löschlich etablieren können (Romero/Stewart sammenlebens in unserem Land“ als die „Ant- 1999). Durch ihre narrative Autorität (Griffin/ wort auf zwölf Jahre Nationalsozialismus in May 2012) beeinflussen Masternarrative so- Deutschland, auf unsägliche Menschenver- wohl die Gesetzgebung als auch die Konstruk- achtung und Barbarei, auf den Zivilisations- tion individueller Geschichten, die sich stets bruch durch die Shoah“ beschreibt (Süddeut- vor dem Hintergrund der dominierenden Mas- sche Zeitung 2012). Im Sinne dieses ternarrative behaupten müssen (Romero/Ste- identitätsstiftenden Narrativs wird der NSU- wart 1999). Komplex von Sicherheitsbehörden nur als ei- nes von vielen „Verwaltungsdesaster[n]“ (Sei- Diesen gegenüber stelle ich das sogenannte bel 2017: 220) geführt. So bietet der NSU-Kom- „Gegennarrativ“, zusammengefügt aus Plä- plex Anlass, die schon länger geforderte doyers der Nebenkläger:innen sowie aus Bei- Zentralisierung und Kompetenzerweiterung trägen von Rassismusforscher:innen und Akti- der Sicherheitsbehörden voranzutreiben vist:innen. Im Gegensatz zu Masternarrativen (Bruch u. a. 2013). Dies geschieht unter dem erlangen sie in der Öffentlichkeit nur schwer- Titel „[g]emeinsames Extremismus- und Ter- lich Gehör (ebd.). Dennoch bergen Gegener- rorismusabwehrzentrum“ (ebd. 89), der den 5 Wie erfolgreich und etabliert das Trio-Narrativ ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Fotos von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt mittlerweile zu einem Ikon des NSU-Komplexes geworden sind, das mit einem hohen Wiedererkennungswert auf Buchumschläge (z. B. Droemer Verlag 2018) und in Zeitungsartikeln (z. B. Spiegel Online 2012) abgedruckt wird. Am Rande sei hier auf die Ähnlichkeit und Referenzen zwischen der Ikonographie der RAF und dem NSU verwiesen (z. B. Der Spiegel 2011). 4
NSU-Komplex in der großen Erzählung der 5. Theoretische Kontextualisierung „Bekämpfung des islamistischen Terroris- der Interviews mus“ (ebd. 82) aufgehen lässt. Zudem verortet Narrative und Identitäten sind eng miteinan- der Extremismus-Begriff Rassismus als Phä- der verknüpft. Indem Menschen ihre Erfah- nomen außerhalb der Mitte der Gesellschaft rungen in Form von Geschichten strukturie- (Messerschmidt 2014). Ausdrücklich negiert ren, reproduzieren sie Geschehenes nicht wird ein „generelles Systemversagen der einfach nur, sondern definieren auch, wer sie deutschen Sicherheitsarchitektur“ (Bruch u. a. selbst sind und konstruieren so ihre narrative 2013: 351) im „Abschlussbericht der Bund- Identität (McAdams/Josselson/Lieblich Länder-Kommission Rechtsterrorismus“. 2006). Identitäten sind situativ variabel und Die Opfer des NSU-Komplexes hingegen fo- werden im Alltag stets neu ausgehandelt (Lu- kussieren in ihrem Gegennarrativ die „Konti- cius-Hoene/Deppermann 2002). Schon allein nuitätslinien rassistischer Exklusion mit tödli- deswegen wohnt der Identität eine Komplexi- chen Folgen“ (Karakayalı u. a. 2017: 11), die sich tät und Vielschichtigkeit inne, die einen kriti- durch das kollektive Gedächtnis migrantischer schen Umgang mit einem starren Identitäts- Communities ziehen. Sie verknüpfen die ras- begriff verlangt (Hall 1996). Um jener sistischen Anschläge 1980 in München, ge- Komplexität zu begegnen, werden im Folgen- folgt von den Anschlägen der 1990er Jahre in den die Social Identity Theory (SIT) von Tajfel Solingen, Mölln und Rostock mit dem Terror und Turner (1979) als theoretische Basis die- des NSU-Komplexes. Im Kontext ihrer Diskri- ser Arbeit um das Konzept der Sozialen Reprä- minierungserfahrungen verweisen sie dabei sentationen (SR) nach Moscovici (1988) er- immer wieder auf das Trauma der sekundären gänzt und auch Ansätze der Viktimisierung (Geschke/Quent 2016) durch Rassismusforschung integriert. die ermittelnden Polizeibeamt:innen, wenn Tajfel und Turner (1979) postulieren, dass es diese den Opferstatus der Ermordeten und soziale Gruppen sind, aus denen Menschen ei- Verletzten immer wieder hinterfragten und ge- nen Teil ihrer Identität beziehen. Daher streb- gen das unmittelbare Umfeld ermittelten (Lex ten Menschen stets danach, dass ihre Eigen- 2018). Die Polizist:innen nehmen in diesem gruppe positiv bewertet wird, da dies Narrativ weniger die Rolle der Helfer:innen als ausschlaggebend sei für ihr eigenes Selbst- die Rolle der Kompliz:innen ein, indem sie eine wertgefühl (Ellemers/Haslam 2012). Gerade in Stigmatisierung der Angehörigen als Kriminel- Kontexten, in denen die Gruppenzugehörigkeit le praktizieren, die ein erklärtes Ziel des NSU- besonders relevant ist, kann die soziale Identi- Komplexes war (Ilius 2018). Obgleich die Ange- tät das Erleben und Verhalten eines Individu- hörigen ihre Opfer durch die gerichtliche Auf- ums stärker beeinflussen als andere identi- arbeitung des NSU rehabilitiert sehen, wird der tätsstiftende Elemente (ebd.)6. Tritt in einer Bundesstaatsanwaltschaft ein Schweigen solchen Situation eine Abwertung der Eigen- über jenen strukturellen Rassismus zuge- gruppe auf, spricht die Forschung von einer schrieben, der eine solche Stigmatisierung sogenannten „identity threat“ (Jetten/Post- erst ermöglichte (Scharmer 2018). mes/McAuliffe 2002: 198). Gerade Gruppen, denen aus Sicht der weißen Mehrheitsgesell- 6 Zu solchen Kontexten können auch die Diskurse um den NSU-Komplex zählen, in denen „die Polizei“ als relevanter Konfliktakteur auftritt. Auch die in diesem Rahmen geführten Interviews adressierten explizit die soziale Identität der Erzähler:innen als Polizist:innen. 5
schaft ein hoher Status zugeschrieben wird – wie der Bundesvorsitzende der Deutschen Po- wie beispielsweise Polizist:innen (Reuband lizeigewerkschaft, Rainer Wendt, es vornahm 2012) – , sehen sich in ihrer Identität von Ab- (Wendt 2014). Zudem stellen die von Tißberger wertungen bedroht (Scheepers/Ellemers (2017) dargestellten Abwehrmechanismen 2005). Ungeachtet interindividueller Unter- weißer Personen auf den internalisierten Ras- schiede reagieren Gruppen mit einer hohen sismus wie beispielsweise die Täter:innen-Op- sozialen Anerkennung dann insgesamt mit ei- fer-Umkehr ebenso Strategien des Identitäts- ner Verteidigungshaltung (ebd.)7. Besonders managements dar. Banse und Imhoff (2009) abwehrend sind die Reaktionen von Polizist:in- zeigten in ihrem sozialpsychologischen Expe- nen auf Vorwürfe rassistischer Einstellungen riment, dass allein die Information über eine innerhalb der Polizei (Geschke/Quent 2016). bestehende Diskriminierung von Minderheiten So wird diskriminierendes Vorgehen der Poli- Abwehrmechanismen seitens der von dieser zei dadurch relativiert, dass es auf einem „ob- Diskriminierung positiv betroffenen Personen jektivierenden Raster“ (Behr 2006: 79) beruhe aktivieren und deren diskriminierende Einstel- und zur Strafverfolgung tauge. Sind rassisti- lungen verstärken kann. sche Verhaltensweisen wie beispielsweise jene, die 2018 in der Frankfurter Polizei be- Das Spannungsfeld, in dem sich Identitätspro- kannt wurden (z. B. Gensing 2018), nicht mehr zesse abspielen, ist aber nicht auf die interin- von der Hand zu weisen, lässt das Argumenta- dividuelle bzw. Inter-Gruppenebene be- tionsmuster, dass es sich um „wenige schwar- schränkt, die durch die SIT vorrangig ze Schafe“ (Behr 2006: 81) handele, dennoch abgedeckt wird (Breakwell 1993). Gesell- den Erhalt der positiven Bewertung der Eigen- schaftliche Diskurse spielen ebenso eine gruppe zu. wichtige Rolle (Hall 1996). Das Konzept der So- zialen Repräsentationen (SR) kann als verbin- Gemäß der SIT stehen einem Individuum ver- dendes Element zwischen gesellschaftlicher schiedene Strategien8 zur Verfügung, wenn es und individueller Lebenswirklichkeit dienen seinen Selbstwert durch eine negative Beur- (Jacob 2004). Sie repräsentieren eine be- teilung seiner Eigengruppe bedroht sieht (Elle- stimmte konstruierte Vorstellung der Realität mers/Haslam 2012). Es könnte zum Beispiel (Moscovici 1998). Als Geburtsstunde vieler nach anderen positiveren Eigenschaften der SRs benennt Moscovici sogenannte „unge- Eigengruppe suchen, einen Vergleich mit Au- wöhnliche Ereignisse“, die wiederum einen ßengruppen unternehmen, der zugunsten der Druck erzeugten, das Geschehene einordnen Eigengruppe ausfällt, oder die negativen Be- und erklären zu können. Dabei kristallisierten wertungen der Eigengruppe umdeuten. In der sich dominierende Vorstellungen, soziale Re- Empirie manifestieren sich diese Strategien präsentationen, in verschiedenen sozialen beispielsweise, wenn Polizist:innen auf Kritik Gruppen heraus, die stark von der gruppen- ihrer Rolle im NSU-Komplex reagieren, indem spezifischen Informationsselektion abhingen. sie sich als weitere Opfergruppe durch den Normative Kriterien sorgen dafür, dass in ers- Mord an Michèle Kiesewetter identifizieren, ter Linie jene Informationen genutzt werden, 7 Gerade die Konfrontation mit den eigenen rassistischen Strukturen führt zu Abwehrreaktionen, die in der Forschung anhand psycho- analytischer Konzepte kategorisiert werden (z. B. Tißberger 2017). 8 Es kann in der vorliegenden Arbeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Anwendung der Strategien stets bewusst und inten- tional stattfindet. In Anlehnung an die entsprechende Theorie zum Identity-Management (Ellemer/Haslam 2012) wird der Begriff der Strategie dennoch beibehalten. 6
die nicht mit dem bereits bestehenden Werte- tritt eine SR der Sicherheitsbehörden in die system der Gruppe opponieren. So entsteht Öffentlichkeit, die der hegemonialen SR als eine gruppenspezifische SR des Ereignisses, schutzbietende Institution für alle Bürger:in- die sich in die Realität der Gruppe einfügen nen widerspricht (cognitive polyphasia)9. lässt und zu ihrer eigenen „Wahrheit“ (Rateau u. a. 2012) wird. Spätestens hier wird deutlich, 6. Auf Spurensuche nach einer nar- dass neben dem von der SIT postulierten Prin- rativen Darstellung des NSU-Kom- zip, den Selbstwert der Eigengruppe positiv zu plexes und deren Bedeutung für die bewerten, das Teilen gemeinsamer SRs einer polizeiliche Identität gemeinsamen „Wahrheit“ der Gruppe Identität Der Zugang zum Forschungsfeld und potenti- stiftet (Moscovici/Hewstone 1983). Trotz der ellen Interviewpartner:innen wurde durch ei- unterschiedlichen Durchsetzungskraft ver- ne:n Gatekeeper ermöglicht. Diese Person schiedener SRs sind Heterogenität und Wider- fragte zunächst mündlich das Interesse der sprüchlichkeit zwischen parallel existierenden Polizist:innen im Umfeld ab, an einer qualitati- SRs möglich, ohne dass dies zwangsläufig zu ven Studie als Interviewpartner:innen teilzu- einer sozialen Transformation führt (Jovchelo- nehmen. Schließlich konnten mit fünf Poli- vitch 2008). Diese Koexistenz – die „cognitive zist:innen narrative Interviews geführt werden. polyphasia“ (ebd. 442) – erklärt sich daraus, Das Sampling der Interviewten ist somit als dass verschiedene SRs verschiedene Bedürf- Gelegenheitsstichprobe durch den begrenzten nisse erfüllen (Provencher 2011). Insbesonde- Zugang zur Zielgruppe bedingt und daher nicht re hegemoniale SRs schreiben sich aber fast systematisch entstanden. unvermeidbar in alle Wirklichkeitskonstruktio- nen ein. So erheben Gerichtsverfahren und Er- Die erhobenen Daten sind ihrem Wesen nach mittlungsergebnisse beispielsweise einen davon abhängig, was die Interviewten bereit Wahrheitsanspruch, der durch ihre institutio- sind zu erzählen und welchen Aspekten sie be- nalisierte Stellung nur selten hinterfragt wird sondere Aufmerksamkeit schenken (Lucius- (Howarth 2006). Die SR dieser Institutionen Hoene/Deppermann 2002). Zur Vorbereitung drückte sich auch in der Gedenkrede der Bun- der Interviews wurden Fragen formuliert, die deskanzlerin zu Ehren der Opfer des NSU- das Interview thematisch so abstecken soll- Komplexes aus, wenn sie verspricht, „die Mor- ten, dass es dem Forschungsinteresse dieser de aufzuklären und die Helfershelfer und Hin- Arbeit gerecht wird, dennoch wurde der Rah- termänner aufzudecken und alle Täter ihrer men der Interviews so flexibel gehalten, dass gerechten Strafe zuzuführen“ (Süddeutsche die Erzähler:innen den Themenhorizont mitge- Zeitung 2012). Dominierend in dieser Rede ist stalten konnten und sie in ihrem „[m]onologi- die SR eines Rechtsstaates, der konsequent sche[n] Rederecht und [ihrer] ungehinderte[n] und transparent einer Aufklärung dient und erzählerische[n] Entfaltung“ (ebd. 83) nicht auf der Seite der Opfer und ihrer Angehörigen eingeschränkt wurden. Bei der Formulierung steht. Andererseits wird diese SR in der Rede der Fragen wurde besonderen Wert auf ihre um den Aspekt der Skepsis bezüglich der Ver- erzählgenerierende Wirkung gelegt (ebd.). trauenswürdigkeit der Behörden seitens der Dies bedeutet, dass nicht nur die Eröffnungs- Angehörigen der Opfer ergänzt (ebd.). Somit frage - „Was hat Sie bewogen Polizist:in zu 9 Im Gerichtsverfahren jedoch festigte die Bundesanwaltschaft die SR eines funktionierenden Rechtsstaates und winkte mögliche andere Darstellungen als „Fliegengesumme in den Ohren“ (Diemer 2017) ab. 7
werden?“ - sondern auch die Fragen des den Phänomenen so ergänzen, dass eine da- Nachfrage- und Bilanzierungsteils Formulie- tenübergreifende Systematik sichtbar wird rungen beinhalteten, die auf narrative Antwor- (theoretical sampling). Dabei war, wie für Nar- ten abzielten (ebd.). Beispielsweise wurde im rativanalysen üblich, neben der offenen For- Nachfrageteil der Interviews gefragt: „Wie ha- schungsfrage ebenso das Datenmaterial ben Sie das erste Mal vom NSU-Komplex er- selbst richtungsweisend für den Analysefo- fahren?“, und der Bilanzierungsteil der Inter- kus. So zeigte sich bei der strukturellen Analy- views wurde mit der Frage „Wie würden Sie se beispielsweise, dass zum Zeitpunkt der In- einer jüngeren Generation (z.B. eigenen Kin- terviews kein Narrativ über den NSU-Komplex dern, Neffen etc.) vom NSU erzählen?“ eröff- vorhanden war. Vielmehr wiesen die Darstel- net. Ein transparenter Umgang mit der For- lungen der Interviewten Fragmente aus ver- schungsfrage und die gemeinsame Auswahl schiedenen Master- und Gegennarrativen auf des Interviewortes dienten dazu, eine vertrau- oder bildeten lediglich erste Ansätze eines liche Atmosphäre herzustellen und die Macht- Konstruktionsprozesses ab (s. Kapitel 6.1.). An position der Forschenden zu Gunsten der In- diese Erkenntnis der strukturellen Analyse an- terviewten abzubauen. knüpfend und bezugnehmend auf die theoreti- schen Annahmen zur SR und SIT wurden in Die Datenauswertung orientiert sich am Vor- der Feinanalyse jene Passagen näher unter- gehen von Lucius-Hoene und Deppermann sucht, in denen sich die Interviewten mit po- (2002) zur Analyse narrativer Interviews. In ei- tenziellen Identity-Threats auseinandersetz- ner strukturellen Analyse wurden die einzel- ten (s. Kapitel 6.2). Das Unterkapitel 6.3 nen Interviews zunächst in Sequenzen geglie- entstand ebenso im Auswertungsprozess dert, die sich thematisch voneinander durch eine weitere Spezifizierung der For- unterscheiden ließen. Die Erkenntnisse aus schungsfrage, die durch den Inhalt der Inter- der strukturellen Analyse dienten als Aus- views nahegelegt wurde. So widmet sich das gangspunkt, um Textpassagen für die Feinana- Kapitel 6.3 der Diskriminierung im Polizei-All- lyse auszuwählen, die für die Forschungsfrage tag, da diese Thematik von einem der Inter- nach der narrativen Konstruktion polizeilicher viewten besonders ausführlich behandelt wur- Identität angesichts des NSU-Komplexes be- de. sonders relevant waren10. Hier ist anzumerken, dass die Schritte der Struktur- und der Fein- 6.1 Zwischen Fragmenten der Master- analyse keineswegs sequenziell sind, sondern und Gegennarrative11 die Ergebnisse der Feinanalyse die Erkennt- nisse zur Struktur der Interviews beeinflussen Die Strukturanalyse der Interviews konnte le- und umgekehrt (ebd.). Entsprechend ist die diglich bei Dieter Ansätze eines Konstrukti- folgende Analyse Ergebnis eines mehrfach onsprozesses aufspüren, die auf eine durch durchlaufenen Auswertungszyklus, in dem das Gespräch angeregte narrative Produktion sich wiederkehrende Erkenntnisse zur thema- schließen lassen. Im Folgenden wird daher zu- tischen Struktur und zu sequenzübergreifen- nächst Dieters Narrativ analysiert, bevor im 10 So fielen beispielsweise Berichte zum detaillierten Werdegang der Polizist:innen aus der Analyse heraus. 11 In den folgenden Analysen kann es sich als unerlässlich erweisen, Interviewpassagen zu zitieren, die diskriminierende Ausdrücke enthalten. Da sich diese Arbeit aber ausdrücklich von diskriminierenden Praktiken, also auch einem entsprechenden Sprachgebrauch, distanzieren möchte, werden diskriminierende Ausdrücke im Folgenden durch diskriminierungssensible Begriffe ersetzt. Die erset- zenden Begriffe sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. 8
Anschluss auf die eher fragmentarischen Er- Benennungspraktik ähnelt jener der krimino- zählungen zum NSU-Komplex eingegangen logischen Gutachten zum NSU, die Ayata wird, die sich auch in den anderen Interviews (2016) analysiert hat. Auch in Dieters Erzäh- finden ließen. Dieters Narrativ beginnt mit ei- lung wird den nicht-weißen Opfern durch ihre nem medial verbreiteten Bild: „[…] das Bild fehlenden Namen narrativer Raum und da- hab‘ ich auch noch im Auge, wo dieses Wohn- durch Sichtbarkeit entzogen. Dies deutet auf mobil dasteht und vor sich hin kokelt“. Dies ist eine „täterfixierte[] Verschiebung“ (Dürr/Be- insofern erwähnenswert, als dass der von Die- cker 2019: 7) hin, wie sie auch in der öffentli- ter erzählte Zeithorizont bis in die Jugend der chen Auseinandersetzung mit dem NSU zu Täter:innen zurückreicht: beobachten ist, unterscheidet sich aber gleichzeitig von der Strategie, die Polizei mit „Interviewerin (I): Wie würden Sie einer jünge- Verweis auf Michèle Kiesewetter als Opfer ren Generation z.B. den eigenen Kindern vom darzustellen. Eine solche Täter:innenfixierung NSU erzählen? führt dazu, den NSU-Komplex zunächst als ein die Personen der - in Dieters Worten - „radika- Dieter (D): Ich würde erstmal den Namen er- lisiert[en]“ Täter:innen betreffendes Problem klären, die Abkürzung erklären und ja wie die zu begreifen. Diese Darstellung steht einem sich ja schon irgendwie in jungen Jahren aus kontextualisierten, strukturellen Verständnis dem Jugendheim haben die sich ja wohl schon entgegen, das den NSU-Komplex als ein die kennengelernt und dann haben sie sich immer ganze Gesellschaft, also auch Polizist:innen, weiter radikalisiert.“ betreffendes Problem thematisiert, wie es das Dieter erzählt somit nicht chronologisch, son- Gegennarrativ der Opfer fordert. Im Sinne des dern vollzieht mit dem narrativen Plot seine ei- Identitätsmanagements ermöglicht dies Die- gene Wahrnehmung nach. Da er zuerst das ter, sich von den Täter:innen, ergo der Tat, zu brennende Wohnmobil und den „Paulchen- distanzieren. Das Gebundensein an die Perso- Panther-Film“ wahrgenommen hat, eröffnet er nen der Täter:innen wird auch durch die an- damit seine Erzählung. Hiermit markiert er sei- schließende Psychologisierung der Tatmotiva- ne Erzählperspektive als jene eines Erzählers, tion als Ergebnis einer „Gruppendynamik“ der Teil seiner eigenen Erzählung über den (Dieter) gestärkt. Auch als Dieter diese Erklä- NSU-Komplex ist. Der NSU-Komplex scheint rung ausdrücklich scheitern lässt und betont: somit für Dieter und seine narrative Identität „Ich kann nicht was erklären, was ich selbst ja zumindest erwähnenswert und damit relevant nicht versteh“, werden gesellschaftliche Fak- zu sein. Dies ist ein wesentlicher Unterschied toren wie etwa rassistische Kontinuitäten in zu den Erzählungen der übrigen Interviewten, Deutschland nicht hinzugezogen und die ras- in denen sich kaum ein narrativer Plot zum sistische Tat somit letztlich eine nicht zu ver- NSU-Komplex ausmachen lässt. Im Zentrum stehende Büchse der Pandora. Es gibt in Die- von Dieters Erzählung stehen die Täter:innen, ters Narrativ neben der „Leerstelle“ (Dürr/ insbesondere „diese Zschäpe“ (Dieter). Die Becker 2019: 8), die durch die fehlende na- nicht-weißen Opfer hingegen werden als mentliche Benennung der nicht-weißen Opfer „tote[] Türken“, „Blumenhändler“ und „Ki- entsteht, somit eine weitere: der strukturelle oskbesitzer“ in die Erzählung eingeführt, wäh- Rassismus in Deutschland, in den die rassisti- rend die ermordete weiße Polizistin als „die sche Motivation der Täter:innen einzubetten Kiesewetter“ namentlich genannt wird. Diese ist. Gegenüber der ersten Leerstelle wird letz- 9
tere allerdings explizit als solche markiert, in- mationen rund um das „unerwartete Ereignis“ dem die Erzählinstanz auf diese hinweist und des NSU-Komplexes so, dass sie die dominie- ihr eigenes Nicht-Wissen vorführt („Ich kann rende SR der Polizei als Verteidigerin des Gu- nicht was erklären, was ich selbst ja nicht ver- ten nicht konterkariert. Wie im dominierenden steh“). Diese Leerstellen legen nahe, dass die Masternarrativ legt der NSU-Komplex seine SR von „radikalisiert[en]“ Täter:innen gegen- entlarvende Spiegelung des Rassismus in über einer SR der Opfer, die rassistische ge- Deutschland und in der Polizei narrativ ab. Da- sellschaftliche Strukturen bezeugen, domi- bei lässt sich eine Bandbreite narrativer Stra- niert und reproduziert wird. tegien im Sinne der SIT zur Bewahrung der po- sitiven Bewertung der Eigengruppe an den Er- Wie bereits erwähnt produzierten die übrigen zählungen nachvollziehen: Rassismus wird auf Interviewten zum Zeitpunkt des Interviews die „neuen Länder[]“ (Dieter) weitab von dem kein eigenes Narrativ zum NSU-Komplex. „hier im Westen“ (Dieter) begrenzt, der da- Stattdessen treten, wie auch bei Dieter, einzel- durch aufgewertet wird. Auch die Benennung ne Fragmente des Masternarrativs auf. So des NSU als „Zelle“ (Uwe) und der Fokus auf schöpft die Semantik aller geführten Inter- Beate Zschäpe schirmen die Erzählperspekti- views aus dem dominierenden Masternarrativ, ve von der Einbettung des NSU-Komplexes in das den NSU-Komplex als eine Pannenserie rassistische Strukturen in Deutschland ab. erzählt. Als „schlampig[e]“ „Ermittlungspan- ne“ (Alex, Stefan, Kai, Uwe) zeichnet sich die Gegennarrative, die auf Rassismus in der Poli- Rolle der Polizei im Umgang mit dem NSU- zei verweisen, werden entkräftet, indem sie Komplex in erster Linie durch nicht-intentio- entweder als für die Eigengruppe nichtzutref- nales Versagen aus. Begründet wird dieses fend bewertet werden (z. B. Dieter: „Obwohl ich Versagen von Uwe, Stefan und Dieter wie folgt: jetzt von meiner Dienststelle mit den Kollegen, das jetzt nicht sagen würde“), das Versagen „Dass es [die Mordserie des NSU-Komplexes] der polizeilichen Ermittlungen als „Arbeit der ja dann auch relativ verstreut war über Kriminalpolizei“ (Uwe) von der eigenen polizei- Deutschland, über die Bundesrepublik“ (Uwe), lichen Identität abgetrennt oder aber der Ver- fassungsschutz mit Verweis auf die „V-Män- „dass einfach Informationen wahrscheinlich ner-Geschichte“ (Maren) verantwortlich ge- nicht weitergegeben wurden, nicht rechtszei- macht wird (Kai12). tig weitergegeben wurden“ (Stefan), Dennoch gelingt es den Polizist:innen in man- „dass die Polizei da nicht gut genug struktu- cher Hinsicht, Lösungsansätze für die Polizei riert ist, da auch mal bundesländerübergrei- zu formulieren, die nicht dem dominierenden fend besser kommuniziert“ (Dieter). Masternarrativ in Form von Kompetenzerwei- Entsprechend des Masternarrativs der Sicher- terungen der Sicherheitsbehörden folgen, heitsbehörden ist es in erster Linie ein Mangel sondern eigene Fehler antizipieren. an verwaltender Kommunikation durch die fö- Für einen Moment kommen keine abwehren- deralistische Struktur der Ämter, der von den den Strategien zur Wahrung der positiven Be- Interviewten als Ursache ins Zentrum gestellt wertung der Eigengruppe zum Einsatz, statt- wird. Diese Argumentation selektiert die Infor- 12 „[…] aber vielleicht ist es zur damaligen Zeit auch ein bisschen gelenkt worden vom Verfassungsschutz“. 10
dessen fordert beispielsweise Uwe: etwaige nötige Veränderungen im Zuge seiner Aufarbeitung letztendlich aus der polizeilichen „Ich finde aber, dass man auch sonst, viel- Identität ausgeklammert und in die Zivilgesell- leicht auch ein bisschen sensibilisieren könn- schaft verschoben. te. Also auch generell dafür, das stellt sich jetzt immer schwierig dar, ob das jetzt in der Die mehrmalige Betonung der „große[n] Fra- FH [Ausbildungsstätte der Polizist:innen] ist, ge“ und vielen „Fragezeichen“, vor denen die dass jetzt vielleicht im Beamtenrecht, dass Polizist:innen auch nach der gerichtlichen man darüber redet durch Einflüsse von außen, Aufarbeitung stehen (z. B. Stefan13), ergibt ei- tja, schwierig.“ nen Bezug zu der Gegenerzählung der Opfer, indem die Suche nach Antworten angeregt Allerdings wird die Aufgabe, kritische Fragen wird. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass zu stellen, in dem Zuständigkeitsbereich der die Polizist:innen durch ihre Zugehörigkeit zur Bürger:innen verortet, während Polizist:innen Polizei über einen Wissensvorsprung gegen- eine weniger aktive, eher auf Gehorsam beru- über den Opfern rassistischer Gewalt und de- hende Rolle zugeschrieben wird: ren Angehörigen verfügen. Die Polizist:innen betonen also ihre Unwissenheit und ihre For- „I: Und kann man daraus eine Lehre ziehen? derung nach Aufklärung bezüglich eben jener Uwe (U): Jetzt für mich als Polizist? Ja auf je- Strukturen, denen sie selber als Polizist:innen den Fall nicht voreingenommen sein, neutral angehören. Vor diesem Hintergrund bewirkt und halt sich so verhalten, wie man das ge- die Referenz auf die Gegenerzählung der Opfer lernt hat, wie es einem vorgeschrieben ist, wir auch eine Distanzierung von der eigenen poli- müssen uns selbst auch an Gesetze halten wie zeilichen Identität. Diese Umdeutung zur Wah- alle anderen auch, wir wollen das ja auch, dass rung einer positiven polizeilichen Identität wird andere sie befolgen, also sollen wir das auch besonders deutlich, wenn jene Segmente der tun. Interviews näher betrachtet werden, die den NSU-Komplex als ein dem „[D]amals“ zugehö- I: Und aus einer anderen Nicht-Polizist:innen- riges – also vergangenes – „mahnendes Bei- Perspektive? spiel“ (z. B. Kai) beschreiben. Diese Markie- rung des NSU-Komplexes entfaltet – analog zu U: Ich finde es immer gut, wenn man kritische anderen Denk- und Mahnmalen (Galle/Gross Fragen stellt. Auch die Bürger, wenn die ir- 2019) – eine kontraproduktive Wirkung, wie sie gendwas mitkriegen, wenn die bestimmte in Stefans folgender Aussage deutlich wird: Strukturen erkennen, dass sie das melden, „Das ist einfach zu lange her, als dass man sich dass man sich dafür stark macht, dass man damit jetzt noch aktuell beschäftigt. Darüber Zivilcourage zeigt in solchen Situationen und wird nicht mehr gesprochen“. Dies legt nahe, so rechten Gruppen einfach keine Chance dass die Erinnerungsform, die die Polizist:in- mehr lässt.“ nen praktizieren, weniger ein anerkennendes „Doing Memory“ darstellt als einen „Speicher Durch die Deutung der polizeilichen Rolle als abgeschlossener und damit statisch geworde- regelkonformes „sich so verhalten, wie man ner Vergangenheit“ (Thomas/Virchow 2019: das gelernt hat“ werden der NSU-Komplex und 13 „Die Fragezeichen konnten nicht beseitigt werden in dem Fall, weil die Verantwortlichen seitens der Polizei sich schwertun Fehler einzugestehen bei der eigenen Arbeit.“ 11
160). Wenn das „mahnende Beispiel“ (Stefan) tive Umgangsweise mit diesen Ereignissen ist des NSU-Komplexes nicht dazu führt, dass insofern für die Fragestellung interessant, als „man sich damit noch aktuell beschäftigt“ dass sie Hinweise darauf liefern, welche Me- (Stefan), etwa im Sinne einer machtkritischen chanismen des Identitätsmanagements auch Sensibilisierung und Hinterfragung der eige- für den NSU-Komplex relevant sein könnten. nen privilegierten Position, liegt der Verdacht Aus diesem Grund wurden in der Feinanalyse nahe, dass die Deklarierung als „mahnende[s] der Interviews auch narrative Umgangsstrate- Beispiel“ letztlich vielmehr der Identitätsbil- gien mit Identity-Threats abseits des NSU- dung der Polizist:innen und deren hegemonia- Komplexes fokussiert. Dabei wurde die Frage- ler Machtposition dient als einer Auseinander- stellung dahingehend präzisiert, dass nach setzung mit rassistischer Gewalt. Dies wird Hinweisen und Erklärungen gesucht wurde, dadurch umso deutlicher, dass Stefan nicht warum der NSU-Komplex für die interviewten glaubt, dass sich der NSU-Komplex „in dem Polizist:innen oft eine Leerstelle bleibt. Ausmaß“ nochmal wiederholen werde und dies wie folgt begründet: „Weil es schon mal Ähnlich wie die Rassismuskritik ergibt sich die passiert ist, weil wir es nicht mehr zulassen Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Poli- würden“. Stefan validiert damit die SR eines zeigewalt aus der Betroffenenperspektive funktionierenden Rechtsstaats, der aus seinen nicht-weißer Menschen, die im besonderen Fehlern lernt. So setzt sich in den Erzählungen Maße von Polizeigewalt betroffen sind (Melter der Polizist:innen jenes Muster durch, das in 2017). Es überrascht daher nicht, dass der Um- dem dominierenden Masternarrativ bereits gang mit dieser jenem gegenüber der Rassis- den Blick auf die Kontinuität rassistischer Ge- muskritik ähnelt. Indem von Gewalthandlun- walt in Deutschland verstellt, indem es jene gen erzählt wird, die man als Polizist „leider“ Erfahrungen der Opfer aus diesem Narrativ (Uwe) praktizieren müsse, wird ein Konse- ausschließt, die den Rechtsstaat als rassis- quenztopos bedient, der die Verantwortung tisch hinterfragen. der Gewaltanwendung relativiert, indem sie als unumgängliches Element der Polizeiarbeit rationalisiert wird: „Da muss man dann leider 6.2 Zum narrativen Umgang mit auch körperlich handeln. Aber das gehört dann potenziellen Identity-Threats: „Wir kom- auch dazu“ (Uwe). Anstatt aus einer Täter:in- men unglaublich gut weg.“ nen-Position wird so aus einer Perspektive ge- Wie bereits erwähnt wird der NSU-Komplex sprochen, die die ausübenden Polizist:innen aus der Lebenswirklichkeit der Polizist:innen nicht als willentlich handelnde Akteur:innen zumeist ausgeklammert, während andere Er- begreift. Im Sinne des Identitätsmanagements eignisse, die ebenso eine identitätsgefährden- wird so die Strategie der Umdeutung be- de Wirkung bergen, sehr wohl Teil der Erzäh- stimmter Charakteristika der Eigengruppe ge- lungen sind. So werden die narrativen nutzt: Das Ausüben direkter Gewalt wird pri- Auslassungen und Lücken, die sich aufgrund mär als gesetzlich legitimierte Maßnahme einer fehlenden NSU-Erzählung unter den Po- gefasst, die somit jeder individuellen Verant- lizist:innen auftun, durch Referenzen auf Er- wortung entbehrt. eignisse wie den Fall der Kinderpornographie in Lügde oder der Frage nach der Verhältnis- Die Frage, warum der Fall Lügde im Gegensatz mäßigkeit von Polizeigewalt gefüllt. Die narra- zum NSU einen zentralen Bezugspunkt für die 12
interviewten Polizist:innen darstellt, führt un- rationalisiert werden, um eine positive soziale mittelbar zu einem gravierenden Unterschied Identität nicht zu gefährden. Diesen Verdrän- zwischen den beiden Ereignissen. Direkte Ge- gungs- und Rationalisierungsstrategien kann walt gegen Kinder ist ein fester Bestandteil dadurch vorgebeugt werden, dass Polizist:in- des Vulnerabilitätsparadigmas (Lorenz 2018), nen die Möglichkeit geboten wird, die Fehler demnach das Schützen oder Retten von Kin- ihrer Eigengruppe aktiv zu bearbeiten und das dern als „die Vulnerabelsten unter den Vulne- eigene Image dadurch wiederherzustellen, in- rablen“ (ebd. 61) im besonderen Maße zu einer dem eine zukünftige Besserung antizipiert Helfer:innen-Identität beitragen kann (Lorenz wird (van der Toorn/Ellemers/Doosje 2015). 2018), wie sie auch die hegemoniale SR der Wie in Kapitel 6.1 bereits erwähnt, deutet sich Polizei propagiert: ein Entwurf von Verbesserungsvorschlägen durchaus in einigen Passagen der Interviews „wenn ein Kioskbesitzer oder en‘ Blumen- an. Dennoch entfallen mit einer Fehleraufarb- händler erschossen wird, kannste‘ dich damit eitung für Polizist:innen in der Regel auch dis- groß profilieren? Ich denke es mal eher nicht, ziplinarische oder strafrechtliche Konse- ne? Also mit so nem‘ Kindermord wie der Mir- quenzen und damit auch ein weiteres Instru- ko eben, da kannste‘ natürlich …, wenn de‘ den ment, die moralische Integrität der Eigengrup- kriegst –Auja, das ist gut! Mit Kindern, wenn pe wiederherzustellen. Dies gibt auch dem Po- de‘ das löst, ist immer gut, ne?“ (Dieter) lizisten Dieter zu bedenken: Auffällig und abweichend von der theoreti- „Wir kommen unheimlich gut weg, wenn wir schen Annahme, dass die Reaktion auf Identi- Scheiße bauen, finde ich. Man kann nicht sa- ty-Threats umso emotionaler ausfalle, je sali- gen, dass wir keinen Quatsch machen, also enter die Identifizierung mit dieser Gruppe sei das stimmt nicht. Wenn man sieht, wie oft es (Fischer/Haslam/Smith 2010), ist die emotio- letztendlich mal zu einer Verurteilung kommt nale Sparsamkeit, mit der die Interviewten von bei Kollegen, die was falsch gemacht haben. dem Fall erzählen: Puh, das sind aber, das kannste‘ aber an einer Hand abzählen. Das passiert ja ganz wenig. „(I): Wie war da Ihre persönliche Reaktion auf Und das kann irgendwo auch nicht sein. Ich den Fall? weiß nicht, ob das ne‘ gute Entwicklung ist.“ Stefan: Das war tatsächlich mehr auf sachli- (Dieter) cher Ebene. Ich weiß nicht ob ihnen [den er- Insgesamt stellen sich die Erzählenden wie- mittelnden Polizist:innen im NSU-Komplex] da derholt in mehreren Interviewpassagen als die Motivationen gefehlt hat oder die Erfah- „nicht beteiligt[e]“ Individuen dar, die von rung gefehlt hat bei den Kollegen, die da gear- nichts wissen und nichts „kenne[n]“ (z. B. Ste- beitet haben. Grundsätzlich wütend macht es fan, Uwe). Im Sinne des SIT dient diese Um- mich nicht.“ deutung der eigenen Rolle als eher passiv Die Abwesenheit negativer Emotionen verfehlt denn aktiv handelnde Personen der Wahrung ein wichtiges Moment der Selbstreflexion der eigenen positiven Identität, auch wenn (Tißberger 2017) und der Solidarität mit Be- dies auf Kosten der eigenen postulierten troffenen (Zembylas 2018). Es ist möglich, Handlungsfähigkeit erfolgt. Denn, während dass negative Emotionen hier verdrängt und sich die Darstellung der Polizist:innen in den 13
Erzählungen überwiegend als Helfer:innen und des Identitätsmanagements wirken, indem sie somit als aktive Akteur:innen charakterisieren Rassismus vereinfacht und seine strukturelle lässt, erscheint die Selbstbeschreibung hier politische Dimension ausblendet, sodass ein eher als passiv und unbeteiligt. Diese Abschot- Vergleich zwischen weißen und nicht-weißen tung des eigenen Handlungsraums gegenüber Bürger:innen automatisch zu Gunsten ersterer einer kollektiven Verantwortung (Eis/Moulin- ausfällt: Doos 2013/2014) geht dabei so weit, dass sie die Erzählungen angesichts des NSU verstum- „Also es ist oft so, dass wenn du nen‘ Deut- men14 und den NSU „weit weg“ (Dieter) rut- schen kontrollierst, also wir reden jetzt von schen lässt. dem Phänotyp Deutschen, der sagt dann nicht ‘Ey, Sie kontrollieren mich nur, weil ich Deut- scher bin‘. Das sagt dir keiner. Aber so oft, 6.3 Zur Diskriminierung im Polizei-Alltag: wenn ich, sag mal ich kontrollier jetzt zwei zwischen Silencing und Color-blind [nicht-weiße Personen] oder ein [nicht-weißes Racism Pärchen]. Und dann würde ich zehn kontrollie- „Die Mordserie [des NSU] stellt einen markan- ren, dann bin ich mir sicher, dass fünf oder sa- ten, gewalttätigen Pol in einem Kontinuum gen wir mal, dass vier bis fünf davon sagen rassistischer Einstellungen und Praktiken dar, würden, ‘Sie kontrollieren mich nur, weil ich an dessen anderem Pol die subtilen Formen schwarz bin‘.“ (Alex) eines alltäglichen Rassismus stehen“ (Dürr/ Becker 2019: 8). Nicht nur vor diesem Hinter- Aus der Machtposition eines weißen Polizis- grund, sondern auch das Datenmaterial selbst ten, die das Ausblenden von Rassismus-Erfah- drängte immer wieder die Frage nach diskri- rungen nicht-weißer Bürger:innen ermöglicht, minierenden Praktiken und Alltagsrassismus werden die von Rassismus negativ Betroffe- bei der Polizei auf. Insbesondere das Interview nen im Sinne einer Täter:innen-Opfer-Umkehr mit Alex thematisiert diese Frage umfassend, (Tißberger 2017) zu denjenigen, die ethnische wohingegen nicht-weiße Personen in den Be- Unterschiede konstruieren und ausnutzen: richten von Kai, Stefan und Uwe – abgesehen von den Passagen zum NSU-Komplex – keine „ich kontrollier die ja nicht, weil die [nicht- Rolle spielen. Dies weist darauf hin, dass nicht- weiß] sind, sondern weil die vielleicht was weiße Menschen in der Lebenswirklichkeit der falsch gemacht haben oder weil die auffällig Interviewten wenig Raum einnehmen. Für Alex sind, dass die selber dann immer diesen Ras- hingegen spielen nicht-weiße Menschen als sistenjoker, so nenne ich das in Anführungs- eine potentiell identitätsgefährdende Gruppe zeichen, dass die den dann ziehen.“ (Alex) von Bürger:innen eine zentrale Rolle in seiner Alex erläutert, dass die Wirkweise dieses Erzählung. „Rassistenjokers“ darin bestehe, ihm ein Er propagiert „color blindness“ (Plaut 2010: 82) schlechtes Gewissen zu machen: als einen bewussten Umgang mit rassistisch „Das sagen die so oft und dann machen die diskriminierten Gruppen: „Mir ist das wirklich mir unterbewusst ein schlechtes Gewissen, komplett egal, was der für ne‘ Hautfarbe hat“. obwohl ich gar kein schlechtes Gewissen ha- Die Brille der „Colorblindness“ kann als Form 14 So häufen sich die Negationen von Verben, die einen Verbalisierungsprozess beschreiben: „kann ich nicht beantworten“, „kann ich nicht sagen“, „kann man nicht sagen“ (Stefan). 14
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