Der Unbestechliche: Hans Albert zum 100.Geburtstag

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Prof. Dr. Harald Seubert (Basel / München / Nürnberg)
      Der Unbestechliche: Hans Albert zum 100.Geburtstag

1.                                             gik, Wissenschaftstheorie und Grundfra-
Hans Albert kommt aus einer Generation,        gen der Ökonomie miteinander.
die das 20.Jahrhundert noch in seiner gan-     Seit 1963 bekleidete er bis zur Emeritie-
zen Drastik, Unvernunft und Inhumanität        rung 1989, trotz zahlreicher auswärtiger
kennengelernt hat. Schon 1939 meldete er       Rufe, den auf ihn zugeschnittenen Lehr-
sich gleich nach dem Abitur als Freiwilli-     stuhl für Soziologie und Wissenschafts-
ger und wurde am Westwall eingesetzt,          lehre in Mannheim, zum Zeitpunkt der
später war er unter anderem in Frankreich      Berufung noch Wirtschaftshochschule,
und Griechenland in Kampfeinsätzen. Sein       später Universität.
akademisches Profil zeichnet sich, lange       An dem nicht an Fachgrenzen gebunde-
bevor dies ein gängiges Klischee und rhe-      nen Ansatz hält Albert bis heute fest. Ent-
torisch beschworenes Programm wurde,           scheidend daran ist allerdings die Maxi-
durch Inter- oder Transdisziplinarität aus.    me einer Methodeneinheit, die die Gren-
Nationalökonomie und Politische Theo-          zen von Natur- und Kulturwissenschaften
rie bilden von vorneherein neben Wissen-       und erst recht Fächergrenzen überschrei-
schaftstheorie und Grundfragen der Ra-         tet. In diesem Anspruch berührte sich in der
tionalität die Schwerpunkte seines Den-        Nachkriegsphilosophie nach 1945 der An-
kens. 1952 wurde Albert in Köln noch vom       spruch der Erlanger Schule (Kamlah, Lo-
alten Leopold von Wiese mit einer Unter-       renzen) mit dem Kritischen Rationalismus
suchung über ‚Politische Arithmetik und        und insbesondere mit Alberts Anspruch.
politische Anthropologie‘ promoviert.
Schon drei Jahre später legt der zeitlebens    2.
produktive Arbeiter eine Habilitations-        In hohen Jahren wird die Zeitzeugenschaft
schrift über ‚Nationalökonomie als Sozio-      wichtiger. Hans Albert wurde zum Chro-
logie der kommerziellen Beziehungen‘ in        nisten des Kritischen Rationalismus. In
Köln vor. Die Habilitation stößt, auch bei     seinen retrospektiven Gesprächen ist er
René König, dem Realisten unter den gro-       unprätentiös und eben deshalb eine aus-
ßen Nachkriegssoziologen auf Schwierig-        gezeichnete Quelle.1 Aus den hervorra-
keiten, weil Albert weder der Nationalöko-     gend edierten Briefwechseln mit Paul Fey-
nomie noch der Soziologie eindeutig zu-        erabend2 und mit Karl Popper3 erfährt
zuordnen ist. Zur kumulativen Habilitati-      man mehr als aus vielen Biographien und
on kommt es 1957 in der in Köln mit ei-        der Sekundärliteratur. Dabei erweist sich
genem Lehrstuhl und Institut vertretenen       Albert als ebenbürtiger, selbstbewusster,
Disziplin der Sozialpolitik. Daraus ging       oftmals witziger und pointierter Briefpart-
Alberts grundlegende Schrift zur ‚Kritik der   ner der Zelebritäten. Gerade der Brief-
politischen Ökonomie‘ hervor. Auch das         wechsel mit Feyerabend ist voller Esprit.
Lehrprofil war schon in der frühen Zeit        Philosophische Problemstellungen werden
nicht zuletzt aus kontingenten Umständen       in Werkstattform ebenso bewegt wie Ta-
vorgezeichnet. Albert verband künftig Lo-      gungen, höherer Klatsch und die Beset-

Aufklärung und Kritik 2/2021                                                            29
zung von Lehrstühlen. Viel Zeitkolorit wird   der Sozialwissenschaften erhoben. Darin
in Briefen und späteren Gesprächen le-        zeigte sich schon das ganze Elend der
bendig. Einer wie er hat viel zu berichten.   Kritischen Theorie und die Problemkon-
Bei den Alpbacher Hochschulwochen, die        stellation, die 1968/69 zur tiefen Krise die-
bis zu einem bestimmten Grad seine er-        ses Paradigmas und zur Selbstentfrem-
weiterte Universität wurden, lernte er in     dung zwischen Adorno und seinen Schü-
den fünfziger Jahren den drei Jahre jünge-    lern führte.
ren Paul Feyerabend und dann Karl Pop-        Popper und Albert setzten das sehr viel
per kennen.                                   nüchternere Konzept dagegen, dass So-
Das kritische Instrumentarium legt Albert     zialwissenschaften fallible und falsifizier-
im Rückblick auch an seine eigene intel-      bare Problemlösungen für die Probleme
lektuelle Entwicklung an: In seiner Jugend    und Verwerfungen von Gesellschaften zu
hatte er zeittypisch Oswald Spengler in-      entwickeln hätten – kontext- und situati-
tensiv gelesen. Heidegger war nicht spur-     onsvariant, durch Reformen schrittweise
los an ihm vorübergegangen, auch Hugo         anzugehen: im Rückblick die der offenen
Dingler hatte in der akademischen Früh-       Gesellschaft und ihrem liberalen Grund-
phase Einfluss auf Albert ausgeübt. Der       konzept angemessene Therapeutik.
Logische Positivismus (Victor Kraft), vor     Der zweite Werturteilsstreit war ein Test-
allem aber Karl Popper öffneten Albert die    fall für einen Wissenschaftstheoretiker
Augen und führten aus dem dogmati-            vom Rang Alberts: Jürgen Habermas, der
schen Schlummer heraus.                       acht Jahre Jüngere, erwies sich als sein
Noch vor der Berufung auf die Ordentli-       eigentlicher Gegenpart. Albert konstatier-
che Professur wurde er an der Seite Pop-      te die Ironie der Ungleichzeitigkeit. Ha-
pers in den Positivismusstreit hineingezo-    bermas habe eine Position vertreten, wie
gen,4 wie die Debatte bis heute aufgrund      er sie selbst in seiner gleichsam „vorkriti-
der Deutungsdominanz der Vertreter der        schen“, vor der Begegnung mit Popper
Frankfurter Schule unzutreffend etikettiert   datierenden Phase eingenommen habe.
wird. Denn auch die Kritischen Rationali-
sten lassen sich keineswegs sachgemäß         3.
auf positivistische Traditionen festlegen.    Bei diesem medias in res-Auftritt zeigte
Präziser und dem Kritischen Rationalis-       Albert früh sein Profil. Hans Albert philo-
mus angemessener ist die Bezeichnung als      sophiert unverkennbar in einem kantischen
„Zweiter Werturteilsstreit“,5 in dem es um    Horizont. Seine beiden Grundlegungswer-
den Kern des sozialwissenschaftlichen         ke, der ‚Traktat über kritische Vernunft‘
Selbstverständnisses geht.6 Die Vertreter     (erstmals 1968!), und der ‚Traktat über
der Frankfurter Schule suchten, in marxis-    rationale Praxis‘ zehn Jahre später, rekon-
tischer oder postmarxistischer Manier, die    struieren das Projekt der ersten drei Kan-
Totalität der Gesellschaft in ihrer Wider-    tischen Kritiken. In luzider Knappheit wird
sprüchlichkeit herauszuarbeiten: Die We-      der Zusammenhang theoretischer und
sensschau eines dialektischen Grundver-       praktischer Vernunft und der Urteilskraft
hältnisses, das um die Einsicht kreiste,      beleuchet. Fundamental ist dabei die Ein-
dass es kein richtiges Leben im falschen      sicht, dass keine propositionale Erkennt-
geben könne, wurde zu Ethos und Logos         nis, auf welche Weise sie auch erworben

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worden sein mag (Induktion, Deduktion,          wenn er aus pragmatischen Gründen eine
reine Logik), auf ein „Fundamentum in-          mögliche und oft genug sogar unvermeid-
concussum‘, eine nicht mehr kritisierbare       liche Handlungsoption ist.
absolute Gewissheit, führt. Die Cartesi-        So wird deutlich: Eine infallible Wahrheits-
sche Gewissheitssuche bleibt eine trans-        gewissheit anzunehmen, ist selbst irratio-
zendentale Träumerei. Die Suche nach            nal. Der Versuch verfällt in Dogmatismus
Letztbegründungen, die vom deutschen            bzw. Dezisionismus und ist gegenüber kri-
Idealismus bis zu jüngeren Ansätzen ei-         tischer Vernunft nicht rechenschaftsfähig.
nes Karl-Otto Apel und später Vittorio          Daraus folgt aber nun keineswegs gegen-
Hösle7 immer wieder aufflammt und eben-         läufig ein Skeptizismus, der die Entzogen-
so rasch versiegt, kann, wie Albert zeigte,     heit und Unfassbarkeit der Wirklichkeit be-
nicht zum Ziel führen. Eine propositiona-       haupten würde. Hans Albert ist bekannt-
le, der Kritik entzogene Wahrheit kann sich     lich weder radikaler Dekonstruktivist noch
nicht einstellen. Aufgewiesen wird dies mit     Skeptizist noch Sophist geworden, dem
dem Münchhausen-Trilemma, das Hans              Wahrheit ein an die Macht der Rede ge-
Albert in die Debatte als einen Probier-        knüpftes Konstrukt wäre. Sein vielberu-
stein eingeführt hat, an dem Letztbegrün-       fener Grundsatz, gleichsam das Albert-
der regelmäßig scheitern, auch wenn sie         Axiom: „Alle Sicherheiten in der Erkennt-
es mit ihren Volten letztlich immer erfolg-     nis sind selbst fabriziert und damit für die
los auszuhebeln versuchten. Es besagt,          Erfassung der Wirklichkeit wertlos“8 führt
dass Letztbegründungen in keiner Weise          auf den kritischen oder fallibilistischen
gelingen, aber in dreifacher Weise schei-       Weg, der ähnlich wie bei Kant, allein der
tern können: (1) Scheitern ist möglich am       gangbare Weg sei und Arbeit verlangt. Der
infiniten Regress. Behauptungen einer           kritische Weg ist der konstante, desillu-
Letztbegründung führen, wenn man sie ge-        sionierte Weg der Abarbeitung an Idee
nauer unter die Lupe nimmt, zur Notwen-         und Realität.9
digkeit einer weiteren Begründung. Sie sind     Diese Position ist zugleich Programm und
also gerade nicht ausreichend und valide.       Haltung. Theorien behalten hypothetischen
(2) Ein anderes mögliches Scheitern ist         Charakter, zum anhypotheton eidos wird
der Zirkelschluss, die Petitio principii. Die   man nicht gelangen, und sollte es nach Al-
vermeintliche Letztbegründung enthält schon     bert nicht einmal hoffen. Theorien sind wie-
als implizite Prämisse, was sie zeigen soll.    derum an Realitäten zu überprüfen, und
(3) Der Letztbegründer bricht das Verfah-       Realitäten durch Theorien mit größerer
ren schlicht ab und landet im Dezisionis-       Präzision zu erfassen. Unter den Instanzen,
mus.                                            die Wahrheit garantieren sollen, kommt
Bezeichnend und eindrucksvoll ist auch          indes keiner eine bevorzugte oder gar aus-
hier der methodische Holismus: Alberts          schließliche Bedeutung zu. Philosophiehis-
Münchhausen-Trilemma greift gleicherma-         torische Zuweisungen mit Ausschließlich-
ßen für axiomatische Logiksysteme wie           keitsanspruch, sei es an die apriorische
für induktiv gewonnene Wahrheitsbehaup-         Ratio oder an die Sinne, erweisen sich
tungen. Der Dogmatismus, der ein solches        letztlich als unhaltbar. Die als Fundament
Fundament behauptet, ist allerdings kein        bezeichneten Instanzen werden ohne ein-
Argument. Er ist nicht theoriefähig, auch       gehende Prüfung fixiert, was nach Alberts

Aufklärung und Kritik 2/2021                                                             31
Auffassung auch mit der Vermutung zu-            tesvergiftung kennt, sondern mit philo-
sammenhängen kann, dass sie einer sol-           sophischer Nüchternheit auf Inkonsis-
chen Prüfung am wenigsten standhalten            tenzen und ethische Übergriffe blickt. Es
würden. Ein autoritatives, kritikimmunisier-     mag sein, dass er sich schon früh eine
tes Gehabe hat Albert immer konkret er-          Klarheit des Blickes erwarb, die den Heils-
kannt und decouvriert. Dies ist eine be-         verheißungen zu widerstehen wusste.
eindruckend ideologiekritische Position.         Albert hat dabei den Finger auf den neural-
Von Albert kann man wie von wenigen              gischen Punkt gelegt, dass die Annahme
anderen lernen, dass Ideologiekritik nicht       numinoser Wesenheiten zugleich zum Macht-
aus einer anderen ideologischen Warte            instrument wird. Hier zeigt sich eine ethi-
kommen kann:                                     sche Korrumpierung, die durch eine Li-
Faktisch wertlos ist daher etwa eine mar-        beralisierung und Ermäßigung theologi-
xistische Ideologiekritik, die ihrerseits aus    scher Machtansprüche im Lauf der Säku-
einem geschlossenen Weltbild mit prophe-         larisierungsgeschichte minimiert zu wer-
tischem Anspruch hervorgeht.                     den scheint. Dennoch ist es ein auszeich-
                                                 nendes Merkmal an Alberts Kritik, dass
4.                                               er gerade auch die hermeneutisch ermä-
Hans Albert läuft dort zu höchster, auch         ßigten Formen von Theologie unter sein
stilistischer Form auf, wo er die großen         Seziermesser nimmt. Bultmann, Ebeling
Kathedralbauten, welcher Disziplin auch          auf der protestantischen, Küng auf der li-
immer, entzaubern kann.                          beral-linkskatholischen Seite hat er einge-
Es geht dabei aber niemals nur, oder auch        hende Versuche gewidmet.10 Auch hier
nur zuerst, um Polemik, sondern um Kri-          trifft Alberts kritische Sonde ins Zentrum.
tik als weitergehende Approximation an           In der Auseinandersetzung mit Ebeling be-
Wahrheit. Dies zeigt sich exemplarisch und       merkt Albert unverschleiert: „Was diese
grundsätzlich an seinen religions- und           ganze Situation für mich besonders schwer
theologiekritischen Schriften. Das Eine ist      erträglich macht, ist jener Gestus der tie-
es, dass Albert sich selbst explizit als Athe-   feren und breiteren Einsicht“, den der theo-
isten versteht. Doch unabhängig davon            logische Metakritiker zur Schau trägt.11
bestehen aus guten objektiven Gründen            Verweise er doch, wie es Theologen ger-
gegenüber Religionsinstitutionen und Heils-      ne tun, auf ein höheres Humanum gegen-
anstalten mit Heilstechnologien starke Vor-      über der „technisch orientierten Auffas-
behalte. Mit dem Heilsanspruch geht näm-         sung“ des Kritischen Rationalismus, ein
lich die Anmaßung von Gericht und Ver-           Überlegenheitspostulat, das aber nicht be-
geltung einher, die nicht nur das menschli-      gründet und auch nicht in offener Debatte
che Leben in der Zeit, sondern seit den          erprobt werde. Albert hat gute Gründe,
platonischen Gerichtsreden darüber hin-          wenn er angesichts solcher Volten seine
aus bis in die Ewigkeit erfassen möchte.         Skepsis und Vorbehalte noch bestärkt
Ich halte Hans Alberts Form der funda-           sieht.
mentalen Religionskritik nach wie vor für        Gegenüber Küng und anderen macht Al-
eine der überzeugendsten und intelligen-         bert eine menschliche Neigung, nicht zur
testen unserer Zeit. Dies rührt daher, dass      Metaphysik, sondern zu einem Wunsch-
er keine Religionsverwundung und Got-            denken, geltend. Auch theologische Rede

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muss sich an Rationalitätsmaßstäben mes-      statt Methode‘, oder ‚Wahrheit oder Me-
sen lassen. Sie kann sich nicht im luftlee-   thode‘ umgeschrieben werden. Hermeneu-
ren Raum einer „duplex veritas“ betäti-       tisch vollziehe sich die Behauptung einer
gen. Albert leugnet überhaupt nicht, dass     Wahrheits- und Sinnerfahrung außerhalb
Religionen Orientierungsfunktionen ha-        des Kontrollbereichs der wissenschaftli-
ben.12 Doch wahrheitsfähig sind sie da-       chen Methodik. Auch hier fordert die in-
durch noch nicht. „Es wäre ein sinnloses      tellektuelle Redlichkeit Alberts, dass der
Unternehmen, das menschliche Erkennt-         Ausweg in eine Zwei-Welten- oder Zwei-
nisstreben, das zur Erosion des alten Welt-   Wahrheiten-Theorie nicht gegangen wird,
bildes und der mit ihm verbundenen reli-      ein Ausweg, den der kritische Rationalist
giösen Auffassungen geführt hat, in einer     und Nietzsche-Forscher Walter Kaufmann
Weise umsteuern zu wollen, die es mög-        zutreffend als gängigen Fluchtweg be-
lich machen würde, in Zukunft unsere Il-      schrieben hat.
lusionen besser gegen die Suche nach          Die Architektur der beiden Hauptströmun-
Wahrheit abzuschirmen.“13 Jacobi oder         gen der Nachkriegsphilosophie, Herme-
Kierkegaard wären demgegenüber vorzu-         neutik und Sprachanalyse in Wittgenstein-
ziehen, weil sie die argumentative Grundlo-   schen Spuren, hat Albert einer nach wie
sigkeit des „Sprungs in den Glauben“ zu-      vor hoch instruktiven grundlegenden Ana-
gestehen. Doch ein erhobener vornehmer        lyse unterzogen. Er erkennt ihre Verwandt-
Ton, der in Religionsfragen Begründungs-      schaft, doch diese ist gerade das Proble-
standards außer Kraft setzt, sei deshalb      matische. Die Sprachanalysen in Wittgen-
noch längst nicht mit dem Argument zu         steinscher Manier erweckten den Eindruck,
verwechseln. Man wird heute Charles Tay-      dass es sich um kontextfreie, Empirie und
lors ambivalente Säkularisierungsdiagno-      Begründung nicht zugängliche logische
se gegen Alberts Befund halten müssen,        Formen handle. Dies ist aber gerade nicht
und die gesamte Literatur zur Religions-      der Fall. Hermeneutik und Sprachanalyse
frage aus den letzten beiden Jahrzehnten      kommen, Albert zufolge, auf ein Gegebe-
zwischen Habermas und Holm Tetens             nes zurück, das weiterer Befragung unter
muss sich ihrerseits die Messlatte von Al-    kritischen Rationalitätsstandards nicht zu-
berts Kritischem Rationalismus gefallen       gänglich sein soll. Der Anspruch kritischer
lassen. Jeder Theologe, jede Theologin        Philosophie wird damit unterlaufen.15
sollten, bevor sie in eine kirchliche Son-
derlogik abdriften, die oftmals depoten-      5.
tialisierte Magie oder schlechte Literatur    So grundlegend die erkenntnistheoreti-
wird, sich mit Hans Albert als genauem        schen Einsichten sind, die man von Al-
Advocatus Diaboli auseinandersetzen.          bert gewinnen kann, seine Kritik der prak-
Der Schattenwurf der Theologie reicht         tischen Vernunft scheint mir das wesent-
weit: Bezeichnend ist, dass Albert klar       lichste und relevanteste Stück seines Werks
macht, wie das „hermeneutische Denken         zu sein. Ein hoher Anspruch ist damit ver-
als Fortsetzung der Theologie“14 angelegt     bunden, wenn Albert die einschlägige Pu-
ist. Gadamers berühmtester Werktitel,         blikation aus dem Jahr 1979 dem Ge-
‚Wahrheit und Methode‘, müsste im Licht       dächtnis zweier großer rationaler Libera-
von Alberts Metakritik dann in ‚Wahrheit      ler, Adam Smith und Max Weber, wid-

Aufklärung und Kritik 2/2021                                                          33
met. Methodologie verwandelt sich dabei         der messianische Zustand ausgerufen wie
in eine rationale Heuristik des Handelns:       in prophetischen marxistischen oder neo-
Dass es der praktischen Philosophie des         marxistischen Diktionen, und nicht das
Kritischen Rationalismus gerade um das          Lob einer Natalität im freien politischen
Humanum geht, das aber nur mit Mitteln          Handeln artikuliert. Doch mit Alberts Dia-
rationaler Praxis gesichert werden kann.        gnosen kann man operieren, den jähen
Fächer übergreifend widmet sich Albert          Wechsel von Utopismus und Anarchis-
in diesem Zusammenhang sowohl der so-           mus vermeiden und die Ordnung der Frei-
zialen Verankerung der Rechtsdogmatik als       heit weiterbilden. Es waren nicht die
auch den Ambivalenzen des Staates, die          schlechtesten Politiker, die wie Helmut
sich in den ideologischen Horizonten von        Schmidt an Kant, Max Weber und Pop-
Rechts- und Linkshegelianismus jeweils          per anschlossen. Diese Tradition der Ver-
einseitig Bahn brachen: Etatismus und Anar-     antwortungsethik wäre dringend zu er-
chie bilden die auseinanderlaufenden Ex-        weitern, und sie kann viel von Hans Al-
treme.16 Die regulative Idee der Friedens-      bert profitieren.
sicherung eröffnet aber gewisse Chancen,
dass die Weltlage nicht in internationale       6.
Anarchie verfällt und dass der Staat seine      Kritischer Rationalismus, wie ihn Hans
Normalform, despotisch zu sein, schritt-        Albert vor Augen führt, ist kein Dogma,
weise korrigiert. Auch in dem weiteren To-      sondern eine Haltung. In einer Zeit, in der
pos der Anatomie des Wohlstands erweist         Wissenschaftsgläubigkeit mit der Unfähig-
sich der Realismus Alberts, der eher bei        keit und Unwilligkeit, methodisch den fak-
Hobbes als bei Platon oder Rousseau in          tischen Ergebnissen wissenschaftlicher For-
die Lehre gegangen ist.                         schung nachzugehen, in der Gesinnung
Ökonomie hat es ebenso mit Realitäten           und Dogmen mit „Aufklärung“ verwech-
zu tun, vor allem der Realität der Konkur-      selt werden und die Gesprächsfähigkeit
renz und Ressourcenknappheit, die einer         und Toleranz zwischen den verschiede-
Wohlfahrtsökonomie enge Grenzen set-            nen Echoräumen weiter zurückgeht, fällt
zen. Sozialstaatliche Wohlfahrtssicherung       der 100. Geburtstag von Hans Albert. Sein
erweist sich hier als die entscheidende re-     Denken ist aktueller denn je in einer Zeit,
gulative Idee.                                  in der Fake News und postmoderne De-
Rechtsphilosophisch führt Albert die kan-       konstruktivismen die Szene beherrschen
tische Linie einer Verfassung der Freiheit      und Folgelasten der Zivilisation nicht mit
weiter. Sie ist geradezu die Ermöglichungs-     hohen Gesinnungslosungen, aber auch
voraussetzung von Politik und ständig als       nicht mit auf Sicht fahrendem Okkasio-
regulative Idee zur Geltung zu bringen. Die     nalismus zu bewältigen sein werden. Es
Notwendigkeit der Sozialtechnologie be-         ist deshalb richtig und wichtig, mehr Kri-
streitet Albert nicht. Sie erfordert aber den   tischen Rationalismus und mehr Hans Al-
Ausblick auf Alternativoptionen und eine        bert zu wagen. Dass zum 99. Geburtstag
Politik, die deren Folgen weiter und zu         ein hochrangig besetztes Institut unter sei-
Ende denkt. All dies ist gegenüber der          nem Namen begründet wurde, ist ein wich-
Schwungkraft von Utopismen oder reinen          tiges Zeichen.
Normativitäten ernüchternd. Es wird nicht

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Anmerkungen:                                           Zum Autor:
 1
   Gespräche mit Hans Albert, hg von R. Zimmer         Prof. Dr. Harald Seubert, geb. 1967 in
und M. Morgenstern, Münster 2011; sowie H. Al-
                                                       Nürnberg, Promotion 1997 in Erlangen,
bert, In Kontroversen verstrickt. Vom Kulturpes-
simismus zum kritischen Rationalismus, Münster         Habilitation 2003 in Halle/Saale, nach aka-
2007.                                                  demischen Stationen in Erlangen, Halle-
 2
   Hans Albert und Paul Feyerabend, Briefwech-         Wittenberg, Bamberg, Erlangen, Poznan
sel Band I. 1958-1972, Band II. 1972-1986, hgg.        und München seit 2012 Ordentlicher Pro-
von W. Baum. Klagenfurt, Wien 2008 f.                  fessor für Philosophie und Religionswis-
 3
   Hans Albert und Karl R. Popper, Briefwechsel,
                                                       senschaften an der STH Basel und (seit
hgg. von M. Morgenstern und R. Zimmer. Frank-
furt/Main 2005.                                        2010) nebenamtlicher Dozent an der Hoch-
 4
   Dazu In Kontroversen verstrickt, a.a.O.             schule für Politik München. Seit 2016 Prä-
 5
   Vgl. H. Keuth, Wissenschaft und Werturteil. Zu      sident der Internationalen Heidegger-Ge-
Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.          sellschaft. Jüngste Buchveröffentlichun-
Tübingen 1989.                                         gen: Heidegger. Ende der Philosophie
 6
   Th.W. Adorno u.a.: Der Positivismusstreit in der
                                                       oder Sache des Denkens? Freiburg/Br.
deutschen Soziologie. 6. Aufl., Luchterhand, Darm-
stadt/Neuwied 1978; Nachdruck München 1993.            2019 und: Die Digitalisierung von Seele
Siehe auch H.-J.Dahms, Positivismusstreit. Die         und Polis. Nüchterne Überlegungen.
Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule            Baden-Baden 2019. In Vorbereitung:
mit dem logischen Positivismus, dem amerika-           Magna-Minima Moralia. Versuch über
nischen Pragmatismus und dem Kritíschen Ra-            Ethik im 21. Jahrhundert. (für 2021),
tionalismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994.
                                                       Heideggger-Lexikon, UTB, Brill 2020
 7
   V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Ver-
antwortung der Philosophie. Transzendental-            und Philosophie im 20. Jahrhundert (für
pragmatik, Letztbegründung, Ethik. München             2021)
1990.
 8
   H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tü-
bingen 51991, S. 36.
 9
   Hierzu H. Albert, Die Wissenschaft und die Fehl-
barkeit der Vernunft, Tübingen 1982.
 10
    H. Albert, Theologische Holzwege. Gerhard
Ebeling und der rechte Gebrauch der Vernunft,
Tübingen 1973; Ders., Das Elend der Theologie.
Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng,
Hamburg 1979.
 11
    H. Albert, Theologische Holzwege, a.a.O., S.
106 f.
 12
    H. Albert, Das Elend der Theologie, a.a.O., S.
200.
 13
    Ibid.
 14
     H. Albert, Traktat über praktische Vernunft.
Tübingen 51991, S. 160 ff.
 15
    Ibid., S. 170 ff. Die Nähe zwischen Wittgenstein
und der Hermeneutik, zumeist ausgehend von Hei-
degger, wurde vielfach bemerkt, aber eher als Po-
sitivum verbucht, etwa bei K.-O. Apel.
 16
    H. Albert, Traktat über rationale Praxis, Tü-
bingen 1978, S. 87ff.

Aufklärung und Kritik 2/2021                                                                   35
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