Der Unbestechliche: Hans Albert zum 100.Geburtstag
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Prof. Dr. Harald Seubert (Basel / München / Nürnberg) Der Unbestechliche: Hans Albert zum 100.Geburtstag 1. gik, Wissenschaftstheorie und Grundfra- Hans Albert kommt aus einer Generation, gen der Ökonomie miteinander. die das 20.Jahrhundert noch in seiner gan- Seit 1963 bekleidete er bis zur Emeritie- zen Drastik, Unvernunft und Inhumanität rung 1989, trotz zahlreicher auswärtiger kennengelernt hat. Schon 1939 meldete er Rufe, den auf ihn zugeschnittenen Lehr- sich gleich nach dem Abitur als Freiwilli- stuhl für Soziologie und Wissenschafts- ger und wurde am Westwall eingesetzt, lehre in Mannheim, zum Zeitpunkt der später war er unter anderem in Frankreich Berufung noch Wirtschaftshochschule, und Griechenland in Kampfeinsätzen. Sein später Universität. akademisches Profil zeichnet sich, lange An dem nicht an Fachgrenzen gebunde- bevor dies ein gängiges Klischee und rhe- nen Ansatz hält Albert bis heute fest. Ent- torisch beschworenes Programm wurde, scheidend daran ist allerdings die Maxi- durch Inter- oder Transdisziplinarität aus. me einer Methodeneinheit, die die Gren- Nationalökonomie und Politische Theo- zen von Natur- und Kulturwissenschaften rie bilden von vorneherein neben Wissen- und erst recht Fächergrenzen überschrei- schaftstheorie und Grundfragen der Ra- tet. In diesem Anspruch berührte sich in der tionalität die Schwerpunkte seines Den- Nachkriegsphilosophie nach 1945 der An- kens. 1952 wurde Albert in Köln noch vom spruch der Erlanger Schule (Kamlah, Lo- alten Leopold von Wiese mit einer Unter- renzen) mit dem Kritischen Rationalismus suchung über ‚Politische Arithmetik und und insbesondere mit Alberts Anspruch. politische Anthropologie‘ promoviert. Schon drei Jahre später legt der zeitlebens 2. produktive Arbeiter eine Habilitations- In hohen Jahren wird die Zeitzeugenschaft schrift über ‚Nationalökonomie als Sozio- wichtiger. Hans Albert wurde zum Chro- logie der kommerziellen Beziehungen‘ in nisten des Kritischen Rationalismus. In Köln vor. Die Habilitation stößt, auch bei seinen retrospektiven Gesprächen ist er René König, dem Realisten unter den gro- unprätentiös und eben deshalb eine aus- ßen Nachkriegssoziologen auf Schwierig- gezeichnete Quelle.1 Aus den hervorra- keiten, weil Albert weder der Nationalöko- gend edierten Briefwechseln mit Paul Fey- nomie noch der Soziologie eindeutig zu- erabend2 und mit Karl Popper3 erfährt zuordnen ist. Zur kumulativen Habilitati- man mehr als aus vielen Biographien und on kommt es 1957 in der in Köln mit ei- der Sekundärliteratur. Dabei erweist sich genem Lehrstuhl und Institut vertretenen Albert als ebenbürtiger, selbstbewusster, Disziplin der Sozialpolitik. Daraus ging oftmals witziger und pointierter Briefpart- Alberts grundlegende Schrift zur ‚Kritik der ner der Zelebritäten. Gerade der Brief- politischen Ökonomie‘ hervor. Auch das wechsel mit Feyerabend ist voller Esprit. Lehrprofil war schon in der frühen Zeit Philosophische Problemstellungen werden nicht zuletzt aus kontingenten Umständen in Werkstattform ebenso bewegt wie Ta- vorgezeichnet. Albert verband künftig Lo- gungen, höherer Klatsch und die Beset- Aufklärung und Kritik 2/2021 29
zung von Lehrstühlen. Viel Zeitkolorit wird der Sozialwissenschaften erhoben. Darin in Briefen und späteren Gesprächen le- zeigte sich schon das ganze Elend der bendig. Einer wie er hat viel zu berichten. Kritischen Theorie und die Problemkon- Bei den Alpbacher Hochschulwochen, die stellation, die 1968/69 zur tiefen Krise die- bis zu einem bestimmten Grad seine er- ses Paradigmas und zur Selbstentfrem- weiterte Universität wurden, lernte er in dung zwischen Adorno und seinen Schü- den fünfziger Jahren den drei Jahre jünge- lern führte. ren Paul Feyerabend und dann Karl Pop- Popper und Albert setzten das sehr viel per kennen. nüchternere Konzept dagegen, dass So- Das kritische Instrumentarium legt Albert zialwissenschaften fallible und falsifizier- im Rückblick auch an seine eigene intel- bare Problemlösungen für die Probleme lektuelle Entwicklung an: In seiner Jugend und Verwerfungen von Gesellschaften zu hatte er zeittypisch Oswald Spengler in- entwickeln hätten – kontext- und situati- tensiv gelesen. Heidegger war nicht spur- onsvariant, durch Reformen schrittweise los an ihm vorübergegangen, auch Hugo anzugehen: im Rückblick die der offenen Dingler hatte in der akademischen Früh- Gesellschaft und ihrem liberalen Grund- phase Einfluss auf Albert ausgeübt. Der konzept angemessene Therapeutik. Logische Positivismus (Victor Kraft), vor Der zweite Werturteilsstreit war ein Test- allem aber Karl Popper öffneten Albert die fall für einen Wissenschaftstheoretiker Augen und führten aus dem dogmati- vom Rang Alberts: Jürgen Habermas, der schen Schlummer heraus. acht Jahre Jüngere, erwies sich als sein Noch vor der Berufung auf die Ordentli- eigentlicher Gegenpart. Albert konstatier- che Professur wurde er an der Seite Pop- te die Ironie der Ungleichzeitigkeit. Ha- pers in den Positivismusstreit hineingezo- bermas habe eine Position vertreten, wie gen,4 wie die Debatte bis heute aufgrund er sie selbst in seiner gleichsam „vorkriti- der Deutungsdominanz der Vertreter der schen“, vor der Begegnung mit Popper Frankfurter Schule unzutreffend etikettiert datierenden Phase eingenommen habe. wird. Denn auch die Kritischen Rationali- sten lassen sich keineswegs sachgemäß 3. auf positivistische Traditionen festlegen. Bei diesem medias in res-Auftritt zeigte Präziser und dem Kritischen Rationalis- Albert früh sein Profil. Hans Albert philo- mus angemessener ist die Bezeichnung als sophiert unverkennbar in einem kantischen „Zweiter Werturteilsstreit“,5 in dem es um Horizont. Seine beiden Grundlegungswer- den Kern des sozialwissenschaftlichen ke, der ‚Traktat über kritische Vernunft‘ Selbstverständnisses geht.6 Die Vertreter (erstmals 1968!), und der ‚Traktat über der Frankfurter Schule suchten, in marxis- rationale Praxis‘ zehn Jahre später, rekon- tischer oder postmarxistischer Manier, die struieren das Projekt der ersten drei Kan- Totalität der Gesellschaft in ihrer Wider- tischen Kritiken. In luzider Knappheit wird sprüchlichkeit herauszuarbeiten: Die We- der Zusammenhang theoretischer und sensschau eines dialektischen Grundver- praktischer Vernunft und der Urteilskraft hältnisses, das um die Einsicht kreiste, beleuchet. Fundamental ist dabei die Ein- dass es kein richtiges Leben im falschen sicht, dass keine propositionale Erkennt- geben könne, wurde zu Ethos und Logos nis, auf welche Weise sie auch erworben 30 Aufklärung und Kritik 2/2021
worden sein mag (Induktion, Deduktion, wenn er aus pragmatischen Gründen eine reine Logik), auf ein „Fundamentum in- mögliche und oft genug sogar unvermeid- concussum‘, eine nicht mehr kritisierbare liche Handlungsoption ist. absolute Gewissheit, führt. Die Cartesi- So wird deutlich: Eine infallible Wahrheits- sche Gewissheitssuche bleibt eine trans- gewissheit anzunehmen, ist selbst irratio- zendentale Träumerei. Die Suche nach nal. Der Versuch verfällt in Dogmatismus Letztbegründungen, die vom deutschen bzw. Dezisionismus und ist gegenüber kri- Idealismus bis zu jüngeren Ansätzen ei- tischer Vernunft nicht rechenschaftsfähig. nes Karl-Otto Apel und später Vittorio Daraus folgt aber nun keineswegs gegen- Hösle7 immer wieder aufflammt und eben- läufig ein Skeptizismus, der die Entzogen- so rasch versiegt, kann, wie Albert zeigte, heit und Unfassbarkeit der Wirklichkeit be- nicht zum Ziel führen. Eine propositiona- haupten würde. Hans Albert ist bekannt- le, der Kritik entzogene Wahrheit kann sich lich weder radikaler Dekonstruktivist noch nicht einstellen. Aufgewiesen wird dies mit Skeptizist noch Sophist geworden, dem dem Münchhausen-Trilemma, das Hans Wahrheit ein an die Macht der Rede ge- Albert in die Debatte als einen Probier- knüpftes Konstrukt wäre. Sein vielberu- stein eingeführt hat, an dem Letztbegrün- fener Grundsatz, gleichsam das Albert- der regelmäßig scheitern, auch wenn sie Axiom: „Alle Sicherheiten in der Erkennt- es mit ihren Volten letztlich immer erfolg- nis sind selbst fabriziert und damit für die los auszuhebeln versuchten. Es besagt, Erfassung der Wirklichkeit wertlos“8 führt dass Letztbegründungen in keiner Weise auf den kritischen oder fallibilistischen gelingen, aber in dreifacher Weise schei- Weg, der ähnlich wie bei Kant, allein der tern können: (1) Scheitern ist möglich am gangbare Weg sei und Arbeit verlangt. Der infiniten Regress. Behauptungen einer kritische Weg ist der konstante, desillu- Letztbegründung führen, wenn man sie ge- sionierte Weg der Abarbeitung an Idee nauer unter die Lupe nimmt, zur Notwen- und Realität.9 digkeit einer weiteren Begründung. Sie sind Diese Position ist zugleich Programm und also gerade nicht ausreichend und valide. Haltung. Theorien behalten hypothetischen (2) Ein anderes mögliches Scheitern ist Charakter, zum anhypotheton eidos wird der Zirkelschluss, die Petitio principii. Die man nicht gelangen, und sollte es nach Al- vermeintliche Letztbegründung enthält schon bert nicht einmal hoffen. Theorien sind wie- als implizite Prämisse, was sie zeigen soll. derum an Realitäten zu überprüfen, und (3) Der Letztbegründer bricht das Verfah- Realitäten durch Theorien mit größerer ren schlicht ab und landet im Dezisionis- Präzision zu erfassen. Unter den Instanzen, mus. die Wahrheit garantieren sollen, kommt Bezeichnend und eindrucksvoll ist auch indes keiner eine bevorzugte oder gar aus- hier der methodische Holismus: Alberts schließliche Bedeutung zu. Philosophiehis- Münchhausen-Trilemma greift gleicherma- torische Zuweisungen mit Ausschließlich- ßen für axiomatische Logiksysteme wie keitsanspruch, sei es an die apriorische für induktiv gewonnene Wahrheitsbehaup- Ratio oder an die Sinne, erweisen sich tungen. Der Dogmatismus, der ein solches letztlich als unhaltbar. Die als Fundament Fundament behauptet, ist allerdings kein bezeichneten Instanzen werden ohne ein- Argument. Er ist nicht theoriefähig, auch gehende Prüfung fixiert, was nach Alberts Aufklärung und Kritik 2/2021 31
Auffassung auch mit der Vermutung zu- tesvergiftung kennt, sondern mit philo- sammenhängen kann, dass sie einer sol- sophischer Nüchternheit auf Inkonsis- chen Prüfung am wenigsten standhalten tenzen und ethische Übergriffe blickt. Es würden. Ein autoritatives, kritikimmunisier- mag sein, dass er sich schon früh eine tes Gehabe hat Albert immer konkret er- Klarheit des Blickes erwarb, die den Heils- kannt und decouvriert. Dies ist eine be- verheißungen zu widerstehen wusste. eindruckend ideologiekritische Position. Albert hat dabei den Finger auf den neural- Von Albert kann man wie von wenigen gischen Punkt gelegt, dass die Annahme anderen lernen, dass Ideologiekritik nicht numinoser Wesenheiten zugleich zum Macht- aus einer anderen ideologischen Warte instrument wird. Hier zeigt sich eine ethi- kommen kann: sche Korrumpierung, die durch eine Li- Faktisch wertlos ist daher etwa eine mar- beralisierung und Ermäßigung theologi- xistische Ideologiekritik, die ihrerseits aus scher Machtansprüche im Lauf der Säku- einem geschlossenen Weltbild mit prophe- larisierungsgeschichte minimiert zu wer- tischem Anspruch hervorgeht. den scheint. Dennoch ist es ein auszeich- nendes Merkmal an Alberts Kritik, dass 4. er gerade auch die hermeneutisch ermä- Hans Albert läuft dort zu höchster, auch ßigten Formen von Theologie unter sein stilistischer Form auf, wo er die großen Seziermesser nimmt. Bultmann, Ebeling Kathedralbauten, welcher Disziplin auch auf der protestantischen, Küng auf der li- immer, entzaubern kann. beral-linkskatholischen Seite hat er einge- Es geht dabei aber niemals nur, oder auch hende Versuche gewidmet.10 Auch hier nur zuerst, um Polemik, sondern um Kri- trifft Alberts kritische Sonde ins Zentrum. tik als weitergehende Approximation an In der Auseinandersetzung mit Ebeling be- Wahrheit. Dies zeigt sich exemplarisch und merkt Albert unverschleiert: „Was diese grundsätzlich an seinen religions- und ganze Situation für mich besonders schwer theologiekritischen Schriften. Das Eine ist erträglich macht, ist jener Gestus der tie- es, dass Albert sich selbst explizit als Athe- feren und breiteren Einsicht“, den der theo- isten versteht. Doch unabhängig davon logische Metakritiker zur Schau trägt.11 bestehen aus guten objektiven Gründen Verweise er doch, wie es Theologen ger- gegenüber Religionsinstitutionen und Heils- ne tun, auf ein höheres Humanum gegen- anstalten mit Heilstechnologien starke Vor- über der „technisch orientierten Auffas- behalte. Mit dem Heilsanspruch geht näm- sung“ des Kritischen Rationalismus, ein lich die Anmaßung von Gericht und Ver- Überlegenheitspostulat, das aber nicht be- geltung einher, die nicht nur das menschli- gründet und auch nicht in offener Debatte che Leben in der Zeit, sondern seit den erprobt werde. Albert hat gute Gründe, platonischen Gerichtsreden darüber hin- wenn er angesichts solcher Volten seine aus bis in die Ewigkeit erfassen möchte. Skepsis und Vorbehalte noch bestärkt Ich halte Hans Alberts Form der funda- sieht. mentalen Religionskritik nach wie vor für Gegenüber Küng und anderen macht Al- eine der überzeugendsten und intelligen- bert eine menschliche Neigung, nicht zur testen unserer Zeit. Dies rührt daher, dass Metaphysik, sondern zu einem Wunsch- er keine Religionsverwundung und Got- denken, geltend. Auch theologische Rede 32 Aufklärung und Kritik 2/2021
muss sich an Rationalitätsmaßstäben mes- statt Methode‘, oder ‚Wahrheit oder Me- sen lassen. Sie kann sich nicht im luftlee- thode‘ umgeschrieben werden. Hermeneu- ren Raum einer „duplex veritas“ betäti- tisch vollziehe sich die Behauptung einer gen. Albert leugnet überhaupt nicht, dass Wahrheits- und Sinnerfahrung außerhalb Religionen Orientierungsfunktionen ha- des Kontrollbereichs der wissenschaftli- ben.12 Doch wahrheitsfähig sind sie da- chen Methodik. Auch hier fordert die in- durch noch nicht. „Es wäre ein sinnloses tellektuelle Redlichkeit Alberts, dass der Unternehmen, das menschliche Erkennt- Ausweg in eine Zwei-Welten- oder Zwei- nisstreben, das zur Erosion des alten Welt- Wahrheiten-Theorie nicht gegangen wird, bildes und der mit ihm verbundenen reli- ein Ausweg, den der kritische Rationalist giösen Auffassungen geführt hat, in einer und Nietzsche-Forscher Walter Kaufmann Weise umsteuern zu wollen, die es mög- zutreffend als gängigen Fluchtweg be- lich machen würde, in Zukunft unsere Il- schrieben hat. lusionen besser gegen die Suche nach Die Architektur der beiden Hauptströmun- Wahrheit abzuschirmen.“13 Jacobi oder gen der Nachkriegsphilosophie, Herme- Kierkegaard wären demgegenüber vorzu- neutik und Sprachanalyse in Wittgenstein- ziehen, weil sie die argumentative Grundlo- schen Spuren, hat Albert einer nach wie sigkeit des „Sprungs in den Glauben“ zu- vor hoch instruktiven grundlegenden Ana- gestehen. Doch ein erhobener vornehmer lyse unterzogen. Er erkennt ihre Verwandt- Ton, der in Religionsfragen Begründungs- schaft, doch diese ist gerade das Proble- standards außer Kraft setzt, sei deshalb matische. Die Sprachanalysen in Wittgen- noch längst nicht mit dem Argument zu steinscher Manier erweckten den Eindruck, verwechseln. Man wird heute Charles Tay- dass es sich um kontextfreie, Empirie und lors ambivalente Säkularisierungsdiagno- Begründung nicht zugängliche logische se gegen Alberts Befund halten müssen, Formen handle. Dies ist aber gerade nicht und die gesamte Literatur zur Religions- der Fall. Hermeneutik und Sprachanalyse frage aus den letzten beiden Jahrzehnten kommen, Albert zufolge, auf ein Gegebe- zwischen Habermas und Holm Tetens nes zurück, das weiterer Befragung unter muss sich ihrerseits die Messlatte von Al- kritischen Rationalitätsstandards nicht zu- berts Kritischem Rationalismus gefallen gänglich sein soll. Der Anspruch kritischer lassen. Jeder Theologe, jede Theologin Philosophie wird damit unterlaufen.15 sollten, bevor sie in eine kirchliche Son- derlogik abdriften, die oftmals depoten- 5. tialisierte Magie oder schlechte Literatur So grundlegend die erkenntnistheoreti- wird, sich mit Hans Albert als genauem schen Einsichten sind, die man von Al- Advocatus Diaboli auseinandersetzen. bert gewinnen kann, seine Kritik der prak- Der Schattenwurf der Theologie reicht tischen Vernunft scheint mir das wesent- weit: Bezeichnend ist, dass Albert klar lichste und relevanteste Stück seines Werks macht, wie das „hermeneutische Denken zu sein. Ein hoher Anspruch ist damit ver- als Fortsetzung der Theologie“14 angelegt bunden, wenn Albert die einschlägige Pu- ist. Gadamers berühmtester Werktitel, blikation aus dem Jahr 1979 dem Ge- ‚Wahrheit und Methode‘, müsste im Licht dächtnis zweier großer rationaler Libera- von Alberts Metakritik dann in ‚Wahrheit ler, Adam Smith und Max Weber, wid- Aufklärung und Kritik 2/2021 33
met. Methodologie verwandelt sich dabei der messianische Zustand ausgerufen wie in eine rationale Heuristik des Handelns: in prophetischen marxistischen oder neo- Dass es der praktischen Philosophie des marxistischen Diktionen, und nicht das Kritischen Rationalismus gerade um das Lob einer Natalität im freien politischen Humanum geht, das aber nur mit Mitteln Handeln artikuliert. Doch mit Alberts Dia- rationaler Praxis gesichert werden kann. gnosen kann man operieren, den jähen Fächer übergreifend widmet sich Albert Wechsel von Utopismus und Anarchis- in diesem Zusammenhang sowohl der so- mus vermeiden und die Ordnung der Frei- zialen Verankerung der Rechtsdogmatik als heit weiterbilden. Es waren nicht die auch den Ambivalenzen des Staates, die schlechtesten Politiker, die wie Helmut sich in den ideologischen Horizonten von Schmidt an Kant, Max Weber und Pop- Rechts- und Linkshegelianismus jeweils per anschlossen. Diese Tradition der Ver- einseitig Bahn brachen: Etatismus und Anar- antwortungsethik wäre dringend zu er- chie bilden die auseinanderlaufenden Ex- weitern, und sie kann viel von Hans Al- treme.16 Die regulative Idee der Friedens- bert profitieren. sicherung eröffnet aber gewisse Chancen, dass die Weltlage nicht in internationale 6. Anarchie verfällt und dass der Staat seine Kritischer Rationalismus, wie ihn Hans Normalform, despotisch zu sein, schritt- Albert vor Augen führt, ist kein Dogma, weise korrigiert. Auch in dem weiteren To- sondern eine Haltung. In einer Zeit, in der pos der Anatomie des Wohlstands erweist Wissenschaftsgläubigkeit mit der Unfähig- sich der Realismus Alberts, der eher bei keit und Unwilligkeit, methodisch den fak- Hobbes als bei Platon oder Rousseau in tischen Ergebnissen wissenschaftlicher For- die Lehre gegangen ist. schung nachzugehen, in der Gesinnung Ökonomie hat es ebenso mit Realitäten und Dogmen mit „Aufklärung“ verwech- zu tun, vor allem der Realität der Konkur- selt werden und die Gesprächsfähigkeit renz und Ressourcenknappheit, die einer und Toleranz zwischen den verschiede- Wohlfahrtsökonomie enge Grenzen set- nen Echoräumen weiter zurückgeht, fällt zen. Sozialstaatliche Wohlfahrtssicherung der 100. Geburtstag von Hans Albert. Sein erweist sich hier als die entscheidende re- Denken ist aktueller denn je in einer Zeit, gulative Idee. in der Fake News und postmoderne De- Rechtsphilosophisch führt Albert die kan- konstruktivismen die Szene beherrschen tische Linie einer Verfassung der Freiheit und Folgelasten der Zivilisation nicht mit weiter. Sie ist geradezu die Ermöglichungs- hohen Gesinnungslosungen, aber auch voraussetzung von Politik und ständig als nicht mit auf Sicht fahrendem Okkasio- regulative Idee zur Geltung zu bringen. Die nalismus zu bewältigen sein werden. Es Notwendigkeit der Sozialtechnologie be- ist deshalb richtig und wichtig, mehr Kri- streitet Albert nicht. Sie erfordert aber den tischen Rationalismus und mehr Hans Al- Ausblick auf Alternativoptionen und eine bert zu wagen. Dass zum 99. Geburtstag Politik, die deren Folgen weiter und zu ein hochrangig besetztes Institut unter sei- Ende denkt. All dies ist gegenüber der nem Namen begründet wurde, ist ein wich- Schwungkraft von Utopismen oder reinen tiges Zeichen. Normativitäten ernüchternd. Es wird nicht 34 Aufklärung und Kritik 2/2021
Anmerkungen: Zum Autor: 1 Gespräche mit Hans Albert, hg von R. Zimmer Prof. Dr. Harald Seubert, geb. 1967 in und M. Morgenstern, Münster 2011; sowie H. Al- Nürnberg, Promotion 1997 in Erlangen, bert, In Kontroversen verstrickt. Vom Kulturpes- simismus zum kritischen Rationalismus, Münster Habilitation 2003 in Halle/Saale, nach aka- 2007. demischen Stationen in Erlangen, Halle- 2 Hans Albert und Paul Feyerabend, Briefwech- Wittenberg, Bamberg, Erlangen, Poznan sel Band I. 1958-1972, Band II. 1972-1986, hgg. und München seit 2012 Ordentlicher Pro- von W. Baum. Klagenfurt, Wien 2008 f. fessor für Philosophie und Religionswis- 3 Hans Albert und Karl R. Popper, Briefwechsel, senschaften an der STH Basel und (seit hgg. von M. Morgenstern und R. Zimmer. Frank- furt/Main 2005. 2010) nebenamtlicher Dozent an der Hoch- 4 Dazu In Kontroversen verstrickt, a.a.O. schule für Politik München. Seit 2016 Prä- 5 Vgl. H. Keuth, Wissenschaft und Werturteil. Zu sident der Internationalen Heidegger-Ge- Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit. sellschaft. Jüngste Buchveröffentlichun- Tübingen 1989. gen: Heidegger. Ende der Philosophie 6 Th.W. Adorno u.a.: Der Positivismusstreit in der oder Sache des Denkens? Freiburg/Br. deutschen Soziologie. 6. Aufl., Luchterhand, Darm- stadt/Neuwied 1978; Nachdruck München 1993. 2019 und: Die Digitalisierung von Seele Siehe auch H.-J.Dahms, Positivismusstreit. Die und Polis. Nüchterne Überlegungen. Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule Baden-Baden 2019. In Vorbereitung: mit dem logischen Positivismus, dem amerika- Magna-Minima Moralia. Versuch über nischen Pragmatismus und dem Kritíschen Ra- Ethik im 21. Jahrhundert. (für 2021), tionalismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994. Heideggger-Lexikon, UTB, Brill 2020 7 V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Ver- antwortung der Philosophie. Transzendental- und Philosophie im 20. Jahrhundert (für pragmatik, Letztbegründung, Ethik. München 2021) 1990. 8 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tü- bingen 51991, S. 36. 9 Hierzu H. Albert, Die Wissenschaft und die Fehl- barkeit der Vernunft, Tübingen 1982. 10 H. Albert, Theologische Holzwege. Gerhard Ebeling und der rechte Gebrauch der Vernunft, Tübingen 1973; Ders., Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng, Hamburg 1979. 11 H. Albert, Theologische Holzwege, a.a.O., S. 106 f. 12 H. Albert, Das Elend der Theologie, a.a.O., S. 200. 13 Ibid. 14 H. Albert, Traktat über praktische Vernunft. Tübingen 51991, S. 160 ff. 15 Ibid., S. 170 ff. Die Nähe zwischen Wittgenstein und der Hermeneutik, zumeist ausgehend von Hei- degger, wurde vielfach bemerkt, aber eher als Po- sitivum verbucht, etwa bei K.-O. Apel. 16 H. Albert, Traktat über rationale Praxis, Tü- bingen 1978, S. 87ff. Aufklärung und Kritik 2/2021 35
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