MENSCHENHANDEL - KONTURLOSE TATBESTÄNDE DANK EU-VORGABEN? - KRIPOZ
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16 1 | 2018 Menschenhandel – konturlose Tatbestände dank EU-Vorgaben? * von Prof. Dr. Martin Böse I. Einleitung nicht nur der nationale, sondern auch der europäische Ge- setzgeber gerecht werden. Letzteres wird daher zu Recht Der Bezugsrahmen der Kriminalpolitik ist traditionell die von der European Criminal Policy Initiative (ECPI) ein- staatliche Gesetzgebung, der primäre Akteur das nationale gefordert.5 Dessen ungeachtet bleibt der nationale Gesetz- Parlament. Dies spiegelt sich auch im Programm der gebers bei der Ausfüllung der Gestaltungsspielräume, die zweiten Tagung des Kriminalpolitischen Kreises wider, ihm die Richtlinie bei der Umsetzung in das innerstaatli- allerdings mit Ausnahme des mir zugedachten Themas, che Recht belässt, weiterhin für die Wahrung grundlegen- das den Blick auf die Einflüsse des Unionsrechts auf die der Prinzipien der Strafgesetzgebung verantwortlich. deutsche Strafgesetzgebung lenkt und zugleich mit ironi- schem Unterton danach fragt, ob und in welchem Umfang Wie weit diese Spielräume auf nationaler Ebene reichen dem nationalen Gesetzgeber bei der Ausfüllung des uni- und infolgedessen eine prinzipiengeleitete Strafgesetzge- onsrechtlichen Rahmens überhaupt noch kriminalpoliti- bung überhaupt zulassen, wird der folgende Beitrag am sche Spielräume verbleiben. Besonders deutlich hervorge- Beispiel des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 49 Abs. 1 treten ist der beklagte Verlust an politischer Gestaltungs- S. 1 GrCH, Art. 103 Abs. 2 GG) untersuchen. Als Bezugs- macht (und politischem Gestaltungsanspruch) in dem gegenstand dient der Tatbestand des Menschenhandels Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zum Euro- (§ 232 StGB), der zur Umsetzung der entsprechenden päischen Haftbefehl, in dem der Bundestagsabgeordnete EU-Richtlinie6 mit dem Gesetz zur Verbesserung der Be- Hans-Christian Ströbele zu Protokoll gab, dass er sich kämpfung des Menschenhandels7 im Oktober 2016 neu aufgrund der Vorgaben des Unionsrechts bei der Abstim- gefasst worden ist. mung über den Gesetzesentwurf „normativ unfrei“ gefühlt habe.1 Der dagegen gerichtete Appell des BVerfG an den In einem ersten Schritt werden die unionsrechtlichen Vor- Gesetzgeber, die Umsetzung von Unionsrecht notfalls zu gaben der Richtlinie erläutert; dabei wird auch auf die verweigern,2 ist seit der Eingliederung der strafrechtlichen Frage einzugehen sein, ob und inwieweit die Definition Zusammenarbeit in den supranationalen Rahmen des Uni- des tatbestandlichen Unrechts grundlegenden Be- onsrechts durch den Vertrag von Lissabon keine Option stimmtheitsanforderungen gerecht wird (II.). In einem mehr. Das BVerfG hat vielmehr die Kompetenzen der zweiten Schritt (III.) wird sodann auf die Umsetzung der Union, das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu harmonisie- Richtlinie in das deutsche Recht beleuchtet, um die ein- ren und dem nationalen Gesetzgeber damit verbindliche gangs aufgeworfene Frage zu beantworten, ob und inwie- Vorgaben zur Ausgestaltung von Strafvorschriften zu ma- weit der deutsche Gesetzgeber den Tatbestand des Men- chen (Art. 83 AEUV), als mit dem Grundgesetz vereinbar schenhandels präziser hätte fassen dürfen (angesichts der anerkannt.3 Diese Prämisse liegt – ungeachtet aller Kritik unionsrechtlichen Vorgaben) und müssen (mit Blick auf an der Übertragung derartiger Zuständigkeiten auf die das Bestimmtheitsgebot). Union4 – den folgenden Ausführungen zu Grunde. II. Die Vorgaben der EU-Richtlinie und ihre Be- Im Rahmen der strafrechtlichen Zusammenarbeit sind stimmtheit Union und Mitgliedstaaten gemeinsam für die Strafge- setzgebung verantwortlich (geteilte Zuständigkeit, Art. 2 Die EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV): Die Union legt (im Folgenden: EU-Richtlinie) ist die erste Richtlinie zur durch Richtlinien Mindestvorgaben zu Straftaten und Strafrechtsangleichung, die auf der Grundlage des Lissa- Strafen fest (Art. 83 Abs. 1, 2 AEUV), die von den Mit- bonner Vertrages erlassen worden ist, und ersetzt den ent- gliedstaaten in das innerstaatliche Recht, d.h. in unmittel- sprechenden Rahmenbeschluss aus dem Jahr 2002.8 Die bar anwendbare Strafgesetze, umgesetzt werden. Den An- unionsrechtlichen Vorgaben zur Strafbarkeit des Men- forderungen an eine rationale, rechtsstaatlichen Grundsät- schenhandels gehen auf völkervertragliche Regelungen zen verpflichtete Strafgesetzgebung muss also nunmehr 5 * Der Verfasser ist Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht so- Asp/Bitzilekis/Bogdan/Elholm/Foffani/Frände/Fuchs/Kaiafa- wie Internationales und Europäisches Strafrecht an der Rheinischen Gbandi/Leblois-Happe/Nieto/Martín/Prittwitz/Satzger/Syme- Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Der Beitrag beruht auf einem onidou-Kastanidou/Zerbes, European Criminal Policy Initiative Vortrag, der auf der Tagung des Kriminalpolitischen Kreises „Kri- (ECPI) Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik, ZIS 2009, minalpolitik – Rückblick und Ausblick“ am 10.11.2017 an der Uni- 697 ff. 6 versität zu Köln gehalten wurde. Richtlinie 2011/36/EU v. 5.4.2011 zur Verhütung und Bekämpfung 1 Zitiert nach Schorkopf (Hrsg.), Der Europäische Haftbefehl vor dem des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer, ABl. EU L Bundesverfassungsgericht (2006), S. 247. 101/1. 2 7 BVerfGE 113, 273 (301). Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels v. 3 BVerfGE 123, 267 (369 ff., 406 ff.). 11.10.2016, BGBl. I 2016, S. 2452. 4 8 S. zuletzt Noltenius, Die Europäische Idee der Freiheit und die Etab- Rahmenbeschluss 2002/629/JI v. 19.7.2002 zur Bekämpfung des lierung eines Europäischen Strafrechts, 2017, S. 344 ff. Menschenhandels, ABl. EU L 203/1.
1 | 2018 17 gegen den Sklavenhandel zurück, deren Ursprünge sich Prostitution oder andere Formen sexueller Ausbeutung, bis zum Wiener Kongress von 1815 zurückverfolgen las- Zwangsarbeit oder erzwungene Dienstleistungen, Sklave- sen.9 Zentrale Bedeutung hat insoweit die UN-Konven- rei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder tion gegen grenzüberschreitende Kriminalität mit dem Zu- die Organentnahme. Darüber hinaus werden – über die satzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestra- bisherige völkervertragliche Definition hinaus – auch die fung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Ausnutzung zu Betteltätigkeiten oder Begehung strafbarer Kinderhandels.10 Die in Art. 3 des Protokolls enthaltene Handlungen erfasst. Definition des Menschenhandels wurde in der EU-Richt- linie (Art. 2) nahezu wortgleich übernommen und nur ge- Sind diese unionsrechtlichen Vorgaben konturlos? Unge- ringfügig ergänzt (s. dazu sogleich).11 Der nationale Ge- achtet der klaren Struktur der Beschreibung des tatbe- setzgeber hat danach als Menschenhandel folgendes Ver- standlichen Unrechts ist einzuräumen, dass die verwende- halten unter Strafe zu stellen: ten Begriffe zum Teil recht vage sind (z.B. Missbrauch von Macht, Ausnutzung besonderer Schutzbedürftig- Die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherber- keit).14 Dies gilt auch für die Definition der besonderen gung oder Aufnahme von Personen, einschließlich der Schutzbedürftigkeit, die dann vorliegen soll, wenn das Übergabe oder Übernahme der Kontrolle über diese Per- Opfer keine wirkliche oder annehmbare andere Möglich- sonen, durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt keit hat, als sich dem Missbrauch zu beugen (Art. 2 Abs. 2 oder anderer Formen der Nötigung, durch Entführung, EU-Richtlinie).15 Mit Blick auf den Bestimmtheitsgrund- Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnut- satz wäre dies allerdings nur dann problematisch, wenn zung besonderer Schutzbedürftigkeit oder durch Gewäh- man mit den Begründern der European Criminal Policy rung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen Initiative davon ausgeht, dass der Unionsgesetzgeber zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die die beim Erlass von Richtlinien an diesen Grundsatz gebun- Kontrolle über eine andere Person hat, zum Zwecke der den ist (vgl. Art. 49 Abs. 1 S. 1 GrCH).16 Ausbeutung (Art. 2 Abs. 1 EU-Richtlinie). Genau diese Prämisse erscheint indes nicht zweifelsfrei. Diese Definition besteht aus drei Unrechtselementen, Art. 83 AEUV ermächtigt zur Festlegung von Mindest- nämlich der Tathandlung, dem Tatmittel und dem Zweck vorschriften, d.h. dem nationalen Gesetzgeber bleibt es der Tat:12 unbenommen, über diesen strafrechtlichen Mindeststan- dard hinauszugehen, indem er den Tatbestand weiter Als Tathandlungen werden zunächst eine Reihe von Tä- fasst.17 Dementsprechend legt die Richtlinie fest, welche tigkeiten auf der Nachschub- und Logistikebene genannt, Ausbeutungsformen der nationale Straftatbestand „min- die sämtliche Phasen von der Rekrutierung bis zur Aus- destens“ erfassen muss (Art. 2 Abs. 3 EU-Richtlinie). So- beutung der Opfer erfassen:13 Anwerbung, Beförderung, weit der nationale Gesetzgeber sich jedoch auf den uni- Verbringung, Beherbergung und Aufnahme von Personen onsrechtlichen Mindeststandard beschränken will, wird (einschließlich der Übergabe oder Übernahme der Kon- die Grenze zwischen straflosem und strafbarem Verhalten trolle über diese Personen). im Ausgangspunkt durch Unionsrecht festgelegt. Damit, so könnte man meinen, bleibt der Unionsgesetzgeber in Zur Ausführung der Tat muss sich der Täter bestimmter der Pflicht, die entsprechenden Vorgaben für das natio- Tatmittel bedienen, die es ihm ermöglichen, Kontrolle nale Strafrecht klar und präzise festzulegen. über das Tatopfer auszuüben: Androhung oder Anwen- dung von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung, Ent- Durch diese Vorgaben des Bestimmtheitsgebot gerät der führung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Unionsgesetzgeber indes in einen Zielkonflikt, denn die Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit, Gewährung Beschränkung der in Art. 83 AEUV vorgesehenen Har- oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur monisierungskompetenz auf das Instrument der Richtlinie Erlangung des Einverständnisses einer Person, die die soll gewährleisten, dass den Mitgliedstaaten bei der Um- Kontrolle über eine andere Person hat. setzung der unionsrechtlichen Vorgaben substantielle Spielräume verbleiben.18 Dieser Umsetzungsspielraum ist Schließlich muss mit der Tat der Zweck verfolgt werden, notwendig, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, die das Opfer auszubeuten. Nach Art. 2 Abs. 3 der EU-Richt- neuen Strafvorschriften in die bestehende Strafrechtsord- linie umfasst der Begriff Ausbeutung die Ausnutzung zur nung einzufügen, ohne dass Wertungswidersprüche und 9 13 Eingehend zur historischen Entwicklung Knospe, ZESAR 2017, 69 Renzikowski, Strafvorschriften gegen Menschenhandel und (70 ff.). Zwangsprostitution de lege lata und de lege ferenda, 2014, S. 7. 10 14 Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Satzger/Zimmermann/Langheld, EuCLR 2013, 107 (114); s. auch Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels die allgemeine Kritik von Corral-Maraver, EuCLR 2017, 123 v. 15.11.2000 (BGBl. II 2005, S. 995); s. auch das Europarats-Über- (136 f.). 15 einkommen gegen Menschenhandel v. 16.5.2005 (SEV Nr. 197). Satzger/Zimmermann/Langheld, a.a.O.; vgl. dagegen ECPI, ZIS 11 S. auch den Verweis auf das Zusatzprotokoll und das Europarats- 2009, 697 (703). 16 Übereinkommen (jeweils Fn. 10) in Erwägungsgrund (9) der Richt- ECPI, ZIS 2009, 697 (698); dezidiert Satzger, in: Böse (Hrsg.), linie. EnzEuR Bd. 9 (2013), § 2 Rn. 41 ff. 12 17 Erläuternder Bericht zum Europarats-Übereinkommen gegen Men- Zumindest in Bezug auf den hier thematischen Art. 83 Abs. 1 AEUV schenhandel, Rn. 74 ff.; McClean, Transnational Organized Crime ist dies allgemein anerkannt, s. insoweit Böse, in: ders. (Hrsg.), – A Commentary on the UN Convention and its Protocols, 2007, EnzEuR Bd. 9 (2013), § 4 Rn. 13 m.w.N. 18 S. 323; Pintaske, Das Palermo-Übereinkommen und sein Einfluss S. auch ECPI, ZIS 2009, 697 (698). auf das deutsche Strafrecht, 2014, S. 281 ff.
18 1 | 2018 Inkohärenzen entstehen. Mit der Beschränkung der uni- Macht“ und „Ausnutzung besonderer Schutzbedürftig- onsrechtlichen Vorgaben auf das zur Angleichung unbe- keit“. Natürlich lassen sich diese Begriffe über Definitio- dingt erforderliche Maß trägt der Unionsgesetzgeber den nen präzisieren, indem etwa die Kriterien angegeben wer- vertraglichen Schranken für die Kompetenzausübung den, auf denen die Machtstellung des Täters bzw. die Rechnung, die sich aus dem Prinzip der Verhältnismäßig- Schutzbedürftigkeit (besser: Hilflosigkeit) des Opfers be- keit ergeben (Art. 5 Abs. 4 EUV).19 ruht (Alter, Krankheit, wirtschaftliche Not).23 Es ist je- doch mit Blick auf die vertragliche Kompetenzordnung Unbestimmte Begriffe und vage Formulierungen in den grundsätzlich legitim, wenn der Unionsgesetzgeber den unionsrechtlichen Vorgaben mögen daher unter dem As- Mitgliedstaaten insoweit Umsetzungsspielräume eröffnet pekt mangelnder Bestimmtheit kritikwürdig sein, sind und es damit dem nationalen Gesetzgeber überlässt, diese aber zugleich mit Blick auf die Wahrung von Umset- Begriffe zu präzisieren.24 zungsspielräumen des nationalen Gesetzgebers zu begrü- ßen. Bei der Ausfüllung dieser Spielräume ist der natio- Damit ergibt sich als Zwischenfazit eine erste Antwort auf nale Gesetzgeber dann freilich gehalten, die Anforderun- die eingangs gestellte Frage: Soweit die unionsrechtlichen gen des Bestimmtheitsgebotes zu beachten. Vorgaben unbestimmte Begriffe enthalten, ist der natio- nale Gesetzgeber keineswegs gehalten, diese zu überneh- Exemplarisch: Nach der Richtlinie müssen die Mitglied- men, sondern vielmehr im Rahmen der Umsetzung zu ei- staaten eine erhöhte Strafe vorsehen, wenn dem Opfer ner Präzisierung dieser Begriffe berechtigt, wenn nicht so- durch die Tat ein besonders schwerer Schaden zugefügt gar verpflichtet. Der Tatbestand des Menschenhandels ist wurde (Art. 4 Abs. 2 lit. d EUV). Der deutsche Gesetzge- schon aus diesem Grund nicht „dank EU-Vorgaben“ kon- ber hat diese recht ungenaue Vorgabe20 durch eine Quali- turenlos. fikation umgesetzt, indem er den „besonders schweren Schaden“ durch den Begriff der schweren körperlichen III. Die Konturlosigkeit des § 232 StGB Misshandlung präzisiert hat, der seinerseits an den Begriff der schweren Gesundheitsschädigung (vgl. § 221 Abs. 1 Damit stellt sich die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber StGB) anknüpft.21 Dem nationalen Gesetzgeber wird es seiner Verantwortung gerecht geworden ist, die unions- auf diese Weise ermöglicht, an andere, bereits bestehende rechtlichen Vorgaben in dem Tatbestand des Menschen- Qualifikationen zu anderen Tatbeständen anzuknüpfen. handels in einer Weise zu präzisieren, die den Vorgaben Auf diese Weise wird zweierlei gewährleistet, nämlich ei- des Bestimmtheitsgebotes entspricht. nerseits die Kohärenz der nationalen Strafrechtsordnung, andererseits ein höheres Maß an Rechtssicherheit, da die Anders als die vorherige Konzeption, folgt die seit dem Rechtsprechung bei der Auslegung und Anwendung der vergangenen Jahr geltende Fassung im Ausgangspunkt Qualifikation an ein bestehendes Begriffsverständnis an- der völker- bzw. unionsrechtlichen Beschreibung des tat- knüpfen kann. bestandlichen Unrechts.25 Die Umsetzung der drei Ele- mente (Tathandlung, Tatmittel, Tatzweck) variiert dabei Nun mag man dagegen einwenden, dass jede Präzisierung allerdings erheblich. durch den nationalen Gesetzgeber das Risiko birgt, die unionsrechtlichen Vorgaben zu verfehlen (z.B. indem in In Bezug auf die Tathandlung werden die unionsrechtli- dem oben genannten Beispiel finanzielle Schäden nicht chen Vorgaben nahezu wörtlich übernommen („anwirbt, erfasst werden).22 Im Ergebnis liefe dieser Einwand indes befördert, weitergibt, beherbergt oder aufnimmt“). Die auf eine Forderung nach maximaler Bestimmtheit hinaus, Übernahme oder Übergabe der Kontrolle wird nicht ei- die dem nationalen Gesetzgeber jeden Spielraum bei der gens erwähnt, aber der Gesetzgeber geht offenbar davon Ausgestaltung der betreffenden Strafvorschrift nähme. aus, dass diese von den anderen Handlungen (Weitergabe, Das Ziel, den Mitgliedstaaten solche Spielräume zu belas- Aufnahme) bereits erfasst werden;26 auch die Richtlinie sen, ist jedoch in der vertraglichen Zuständigkeitsvertei- legt nahe, dass die selbstständige Erwähnung vor allem lung zwischen Union und Mitgliedstaaten verankert. Das eine klarstellende Funktion hat („einschließlich“). Die Bestimmtheitsgebot (Art. 49 Abs. 1 S. 1 GrCH) gilt inso- Tathandlungen werden insoweit hinreichend bestimmt be- weit nicht absolut, sondern der Unionsgesetzgeber muss schrieben. zugleich das kompetenzrechtliche Verhältnismäßigkeits- prinzip (Art. 5 Abs. 4 EUV) beachten. Bei den Tatmitteln wird der Überblick dadurch er- schwert, dass der deutsche Gesetzgeber diese zum Teil in Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Kritik an der § 232 Abs. 1, zum Teil in § 232 Abs. 2 StGB erfasst hat, Vagheit der unionsrechtlichen Begriffe „Missbrauch von 19 23 S. allgemein F. Meyer, Strafrechtsgenese in Internationalen Organi- S. insoweit die Vorschläge bei Satzger/Zimmermann/Langheld, Eu- sationen, 2012, S. 355 m.w.N.; s. insoweit zur Harmonisierung von CLR 2013, 107 (118). 24 Strafen und Strafrahmen: Generalanwalt Mazak, Schlussanträge v. S. auch zu ausdrücklich eingeräumten Umsetzungsspielräumen: 28.6.2007, in: EuGH Rs. C- 440/05, Slg. 2007, I-9097 Rn. 106 ff. Satzger, in: Böse (Hrsg.), EnzEuR Bd. 9 (2013), § 2 Rn. 61; s. auch 20 S. die entsprechende Kritik von Satzger/Zimmermann/Langheld, ECPI, ZIS 2009, 697 (698). 25 EuCLR 2013, 107 (115). S. insoweit Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, NK-StGB, 21 S. insoweit BT-Drs. 18/9095, S. 31. 5. Aufl. (2017), vor § 232 Rn. 1, § 232 Rn. 2 f.; Renzikowski, in: 22 Satzger/Zimmermann/Langheld, EuCLR 2013, 107 (115); Satzger, MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 232 Rn. 29 ff. 26 in: Böse (Hrsg.), EnzEuR Bd. 9 (2013), § 2 Rn. 61. BT-Drs. 18/9095, S. 23 f.
1 | 2018 19 da er bestimmten Tatmitteln einen höheren Unrechtsgeh- Damit bleibt als drittes Unrechtselement der Tatzweck alt beigemessen hat.27 Zusammenfassend ergibt sich dabei (Ausbeutung). Die Umsetzung lehnt sich auch insoweit folgendes Bild:28 sehr eng an die unionsrechtlichen Vorgaben an. Tatmittel nach Art. 2 Abs. 1 Tatmittel nach § 232 StGB Tatzweck nach Art. 2 Abs. 3 Tatzweck nach § 232 StGB Richtlinie 2011/36 Richtlinie 2011/36 Androhung oder Anwendung Gewalt, Drohung mit einem emp- Prostitution, sexuelle Ausbeu- Prostitution, Vornahme/Duldung von Gewalt oder anderer For- findlichen Übel (Abs. 2 Nr. 1) tung sexueller Handlungen (Abs. 1 men der Nötigung S. 1 Nr. 1 lit. a) Entführung Entführen (Abs. 2 Nr. 2) Zwangsarbeit, erzwungene Schuldknechtschaft und entspre- Betrug, Täuschung List (Abs. 2 Nr. 1) Dienstleistungen chende / ähnliche Verhältnisse Missbrauch von Macht, Aus- • Ausnutzung ihrer persönli- (Abs. 1 S. 1 Nr. 2) nutzung besonderer Schutzbe- chen oder wirtschaftlichen Ausbeuterische Beschäftigung dürftigkeit Zwangslage oder ihrer (Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b, Abs. 1 Hilflosigkeit, die mit dem S. 2) Aufenthalt in einem frem- Betteltätigkeiten Ausübung der Bettelei (Abs. 1 den Land verbunden ist S. 1 Nr. 1 lit. c) (Abs. 1) Sklaverei oder sklavereiähnli- Sklaverei und entsprechende / • Opfer mit einem Alter von che Praktiken ähnliche Verhältnisse (Abs. 1 weniger als 21 Jahren S. 1 Nr. 2) Erlangung der Kontrolle Sich-Bemächtigen (Abs. 2 Nr. 2) Leibeigenschaft Leibeigenschaft und entspre- (durch Gewährung von Zah- chende / ähnliche Verhältnisse lungen oder Vorteilen) (Abs. 1 S. 1 Nr. 2) Übertragung der Kontrolle Vorschub-Leisten der Bemächti- Ausnutzung strafbarer Hand- Begehung von mit Strafe bedroh- (durch Entgegennahme von gung durch Dritte (Abs. 2 Nr. 2) lungen ten Handlungen (Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Zahlungen oder Vorteilen) lit. d) Organentnahme Entnahme von Organen (Abs. 1 S. 1 Nr. 3) Der Gesetzgeber orientiert sich auch insoweit eng an den unionsrechtlichen Vorgaben, präzisiert diese allerdings Der einzige Punkt, in dem der deutsche Gesetzgeber von weiter, indem er sinngemäß auf entsprechende Tathand- der unionsrechtlichen Definition abweicht, betrifft die lungen in den Delikten zum Schutz der Freiheit Bezug Ausbeutung im Wege der Zwangsarbeit. An die Stelle des nimmt (§§ 234 ff. StGB). unions- bzw. völkerrechtlichen Begriffs („forced labour or services“) tritt in weiten Teilen die ausbeuterische Be- Von besonderem Interesse ist insoweit die Umsetzung der schäftigung und damit ein Konzept, das weit über die uni- als zu unbestimmt kritisierten Tatmittel (Missbrauch von onsrechtlichen Vorgaben hinausgeht. Macht, Ausnutzung besonderer Schutzbedürftigkeit). Der Gesetzgeber fasst diese beiden Tatmittel zusammen, was Eine ausbeuterische Beschäftigung liegt vor, wenn die Be- insofern plausibel erscheint, als Macht und Schutzbedürf- schäftigung aus rücksichtslosem Gewinnstreben zu Ar- tigkeit denselben Sachverhalt aus der unterschiedlichen beitsbedingungen erfolgt, die in einem auffälligen Miss- Perspektive von Täter und Opfer darstellen: Es ist regel- verhältnis zu den Arbeitsbedingungen solcher Arbeitneh- mäßig die besondere Hilflosigkeit des Opfers, die dem Tä- mer stehen, welche der gleichen oder einer vergleichbaren ter eine entsprechende Machtposition verleiht.29 Mit der Beschäftigung nachgehen (§ 232 Abs. 1 S. 2 StGB). Umsetzung hat der Gesetzgeber dieses Tatmittel kontu- riert, indem er Kriterien angibt, auf denen die besondere Das auffällige Missverhältnis ist dem Tatbestand des Wu- Schutzbedürftigkeit des Opfers beruhen muss (persönli- chers (§ 291 StGB) entlehnt.31 Diese Bezugnahme trägt che oder wirtschaftliche Zwangslage, auslandsspezifische jedoch nur bedingt zu einer Konturierung des tatbestand- Hilflosigkeit, Alter unter 21 Jahren). Im Schrifttum ist in- lichen Unrechts bei.32 So stellt sich bereits die Frage, ob soweit die Sorge geäußert worden, dass die unionsrechtli- die Kriterien des § 291 StGB (eines Vermögensdelikts) chen Vorgaben mit dieser Konkretisierung recht eng ge- sinnvollerweise auf einen Tatbestand angewandt werden fasst worden seien und es daher unter Umständen einer können, der vor Zwang zur Erbringung von Arbeitsleis- richtlinienkonformen Auslegung bedürfe. 30 Diese Kritik tung schützen soll.33 Ausweislich der Gesetzesmaterialien lässt erkennen, dass das Umsetzungsgesetz jedenfalls in will der Gesetzgeber selbst nicht an der im Rahmen des höherem Maße bestimmt ist als die unionsrechtliche Un- Wuchertatbestandes entwickelten Auslegung festhalten, rechtsbeschreibung. Zudem kann die Rechtsanwendung wonach ein auffälliges Missverhältnis bei Zahlung von auch insoweit auf einem weitgehend entwickelten Be- weniger als 66 % des Tariflohns anzunehmen ist, sondern griffsverständnis aufbauen. Ein grundlegendes Defizit an ein auffälliges Missverhältnis erst ab einer Unterschrei- Bestimmtheit ist daher nicht auszumachen. tung des Mindestlohns um mindestens 50 % annehmen,34 ohne dass ein Grund für diese Abweichung angegeben 27 32 BT-Drs. 18/9095, S. 26. Vgl. dagegen die grundsätzlich positive Stellungnahme zu § 232 28 S. insoweit BT-Drs. 18/9095, S. 24 f., 30. Abs. 1 S. 2 StGB bei Bürger, ZIS 2017, 169 (175). 29 33 S. dagegen die Kritik an der fehlenden Umsetzung des Elements Vgl. die entsprechende Kritik am wirtschaftlichen Konzept der Aus- „Missbrauch von Macht“: Bürger, ZIS 2017, 169 (176). beutung in § 232 StGB: Renzikowski, Stellungnahme zur Sachver- 30 Eisele, Schriftliche Stellungnahme, Sachverständigenanhörung im ständigenanhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundes- des Deutschen Bundestages am 8.6.2016, S. 6. 34 tages am 8.6.2016, S. 5 f.; Petzsche, KJ 50 (2017), 236 (241). BT-Drs. 18/9095, S. 28. 31 BT-Drs. 18/9095, S. 27 f.
20 1 | 2018 wird.35 begründet. Soweit sich der Wortlaut des § 232 StGB eng an den unionsrechtlichen Vorgaben orientiert, gibt er in Weitere Unsicherheiten ergeben sich daraus, dass die puncto Bestimmtheit kaum Anlass zu Kritik (s. oben zu Feststellung einer ausbeuterischen Beschäftigung eine Tathandlungen, Tatmittel und Tatzweck). Demgegenüber „Gesamtbetrachtung“ erfordert, bei der alle Aspekte des wird der neue Tatbestand – wie auch die Vorläuferfassung Beschäftigungsverhältnisses zu berücksichtigen sind. Be- – vor allem dort wegen seiner Unbestimmtheit kritisiert, deutsam sind u.a. die wöchentliche und tägliche Arbeits- wo der deutsche Gesetzgeber über die unionsrechtlichen zeit, Ruhe- und Pausenzeiten, freie Tage, Urlaubsansprü- Pflichten hinausgegangen ist (s. oben zur ausbeuterischen che, Provisionen, die Gewährung anderer geldwerter Leis- Beschäftigung). tungen durch den Arbeitgeber, z. B. von freier Kost und Logis, mögliche unzulässige Lohnkürzungen oder „Stra- Darüber hinaus begegnet die Ausgangsthese auch grund- fen" des Arbeitgebers und sonstige Arbeitsbedingungen sätzlichen Bedenken: Soweit die EU-Richtlinie Vorgaben am Arbeitsplatz, einschließlich der Einhaltung anerkann- enthält, die vage und unbestimmt sind, steht es dem deut- ter Regeln des Arbeitsschutzes.36 Ungeachtet der strenge- schen Gesetzgeber nicht an, diese in stiller Demut hinzu- ren Anforderungen an das auffällige Missverhältnis nehmen und möglichst wortlautgetreu („eins zu eins“) in (s. oben zur Unterschreitung des Mindestlohns) trägt der das deutsche Recht umzusetzen. Mit Blick auf die vertrag- Tatbestand trägt damit – wie bereits das entsprechende liche Kompetenzverteilung zwischen Union und Mit- Merkmal in § 233 StGB a.F. – die Gefahr einer nahezu gliedstaaten und die Eigenheiten der Richtlinie als Instru- uferlosen Anwendung in sich.37 ment der Strafrechtsangleichung ist es vielmehr Aufgabe des deutschen Gesetzgebers, die ihm auf diese Weise er- Schließlich setzt ein ausbeuterisches Verhältnis noch ein öffneten Spielräume in eigener Verantwortung auszufül- „rücksichtsloses Gewinnstreben“ voraus. Mit diesem len und in Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben Merkmal wollte der Gesetzgeber Konstellationen aus- Strafgesetze zu erlassen, die dem Bestimmtheitsgebot hin- schließen, in denen der Täter aus einer persönlichen Not- reichend Rechnung tragen.40 lage heraus handelt.38 Ob dem Merkmal damit eine sinn- volle Funktion zugewiesen werden kann, wird jedoch mit Dies entspricht auch der individualschützenden Funktion der (rhetorischen) Frage nach dem „rücksichtsvollen Aus- des Bestimmtheitsgebotes: Anders als der Unionsgesetz- beuter“ zu Recht bezweifelt.39 geber, der über Richtlinien nur punktuell auf die Strafge- setzgebung einwirkt, kann der nationale Gesetzgeber an Die Feststellung eines ausbeuterischen Beschäftigungs- Begriffe und Rechtsnormen anknüpfen, die in der natio- verhältnisses ergibt sich damit aus einer Gesamtwürdi- nalen Strafrechtsordnung und ihrer strafrechtlichen Dog- gung objektiver und subjektiver Umstände, die im Gesetz matik fest verankert sind und damit Orientierung für die nur ansatzweise beschrieben sind und deren Inhalt und Auslegung und Anwendung des harmonisierten Straf- Gewicht weitgehend unklar bleiben; das Ergebnis der Prü- rechts bieten können. Daraus ergibt sich eine reduzierte fung ist daher für den Normadressaten kaum vorherseh- Bindung des Unionsgesetzgebers an das Bestimmtheits- bar. gebot, der bei dem Erlass von Richtlinien zur Strafrechts- angleichung eine praktische Konkordanz zwischen Be- Als Zwischenfazit ist daher auch mit Blick auf die Neu- stimmtheitsgebot (Art. 49 Abs. 1 S. 1 GrCH) und der fassung des § 232 StGB festzuhalten, dass ein Mangel an Rücksicht auf die Kompetenz des nationalen Strafgesetz- Bestimmtheit nicht auf die unionsrechtlichen Vorgaben, gebers (Art. 5 Abs. 4 EUV) herzustellen hat. sondern auf die Entscheidung des Gesetzgebers zurückzu- führen ist, den Tatbestand des Menschenhandels auf aus- Die Europäische Kriminalpolitik liegt damit in der ge- beuterische Beschäftigungsverhältnisse zu erstrecken. meinsamen Verantwortung des unionalen und des natio- nalen Strafgesetzgebers. Ungeachtet der Verbindlichkeit IV. Ergebnis und Schlussbetrachtung der nach Art. 83 AEUV erlassenen Richtlinien sollte der deutsche Gesetzgeber daher genau prüfen, welche Umset- Die im Titel dieses Beitrags enthaltene These, dass die zungsspielräume ihm verbleiben. Die Vagheit sekundär- Unbestimmtheit des § 232 StGB den Vorgaben des Uni- rechtlicher Vorgaben stellt ihn keineswegs von der Bin- onsgesetzgebers zu verdanken ist, ist nach alledem nicht dung an den Bestimmtheitsgrundsatz frei. 35 40 Kritisch auch Petzsche, KJ 50 (2017), 236 (242); Renzikowski Diese Spielräume sind enger, soweit der nationale Gesetzgeber über (Fn. 33), S. 9. eine Richtlinie nach Art. 83 Abs. 2 AEUV zur Kriminalisierung von 36 BT-Drs. 18/9095, S. 28. Verstößen gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verpflichtet 37 S. bereits die Kritik von Eydner, NStZ 2006, 10 (11, 13). wird. Das Unionsrecht kann insoweit allerdings auch eine strafbar- 38 BT-Drs. 18/9095, S. 28. keitsbegrenzende Wirkung entfalten, s. zum Kapitalmarktstrafrecht 39 Renzikowski (Fn 33), S. 10; s. auch Petzsche, KJ 50 (2017), 236 Böse, wistra 2018 (im Erscheinen). (242).
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