Stadt Arnsberg Demografiebericht 2019 - Stadt ...
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Lena Dettmer Michael John FB 3 Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung Stadt Arnsberg Rathausplatz 1, 59759 Arnsberg Tel.: 02932 201-1538 Fax: 02932 201-771538 E-Mail: l.dettmer@arnsberg.de 2
Inhalt 1 Einleitung ...................................................................................................................4 2 Demografische Entwicklung in Deutschland .........................................................5 2.1 aktuelle Demografiefragen .................................................................................................5 2.2 Determinanten demografischer Entwicklung und demografischer Prognosen .......5 2.2.1 Parameter für die demografische Analyse und Prognose....................................5 2.2.2 Prognosen und Bevölkerungsvorausberechnungen ............................................10 2.3 Veränderte Bedingungen des Aufwachsens .................................................................11 2.3.1 Zusammensetzung von Familien und Haushalten.................................................11 2.3.2 Aufwachsen in neuer Verantwortung .....................................................................12 2.4 Die demografische Entwicklung ländlicher Räume .....................................................12 2.4.1 was sind ländliche Regionen ....................................................................................12 2.4.2 Entwicklungsunterschiede von Gebietstypen .......................................................13 2.5 Bildungsbedingte Binnenmigration ..................................................................................17 2.6 Schwarmstädte als Ziel der jungen Generation ............................................................19 2.7 Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf die Jugend in ländlichen Regionen ............................................................................................................................................20 2.8 Resümee ................................................................................................................................22 3 Demografische Analyse für die Stadt Arnsberg...................................................23 3.1 Untersuchungsgebiet ..........................................................................................................23 3.2 Bevölkerungsbestand .........................................................................................................24 3.3 Ausländer- und Migrationsanteil .......................................................................................26 3.4 Altersstruktur ..........................................................................................................................28 3.5 Indikatoren ............................................................................................................................29 3.5.1 Jugendquotient ...........................................................................................................29 3.5.2 Altenquotient ...............................................................................................................31 3.6 Geburten ...............................................................................................................................31 3.7 Bevölkerungsentwicklung...................................................................................................33 3.8 Langfristige Bevölkerungsentwicklung .............................................................................34 3.9 Natürliche Bevölkerungsentwicklung...............................................................................34 3.10 Wanderungsbewegungen ................................................................................................35 3.11 Natürliche Bevölkerungsentwicklung und Wanderungsbewegungen .....................36 3.12 Natürliche Bevölkerungsentwicklung und Wanderungsbewegungen nach Ortsteilen ............................................................................................................................................37 3.13 Bevölkerungsprognose .......................................................................................................37 4 Zusammenfassung und Ausblick ..........................................................................56 5 Abbildungsverzeichnis ...........................................................................................58 6 Tabellenverzeichnis................................................................................................59 Literaturverzeichnis ........................................................................................................60 3
1 Einleitung Die demografische Entwicklung wird nun seit fast zwanzig Jahren bei vielen gesellschaftlichen Entwicklungen als treibende Kraft und Herausforderung beschrieben. Dabei belässt man es häufig bei der Zusammenfassung „älter, bunter, weniger“. Auch wenn dies sicherlich die Trends prägnant zusammenfasst, stellt sich doch die Frage, wie sich die demografische Entwicklung auf die zu planende Infrastrukturanforderungen auswirkt. Wie viele Kindergartenplätze werden wir in Arnsberg künftig wann benötigen. Wird die Anzahl der SchülerInnen in den Grundschulen kontinuierlich abnehmen oder zeitweise sogar zunehmen? Die Beantwortung dieser Fragen ist für viele städtische Planungen von großer Bedeutung. Bisher waren Prognosen vielfach nur auf die Gesamtstadt bezogen. Damit konnte nicht berücksichtigt werden, dass die Entwicklung in den einzelnen Stadtteilen sehr unterschiedlich ausfällt. Mit diesem Bericht und den zugrunde liegenden Analysen wurde der Auftakt zu einer kontinuierlichen demografischen Betrachtung und kleinräumigen Prognose gelegt. Mit dem Demografieprogramm demosim können kleinräumige Prognosen kontinuierlich abgerufen und verfeinert werden. Die Planungssicherheit kann damit deutlich gesteigert werden. Manche Veränderungen der Demografie erschließen sich nicht unmittelbar. Es gibt auch gegenläufige Trends wenn man die Bevölkerungsentwicklung in verschiedenen Raumtypen in Deutschland betrachtet. Daher macht es Sinn den Blick zunächst auf grundlegende Parameter der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland zu richten, um erst dann die Entwicklungen in Arnsberg zu beschreiben und zu prognostizieren. Somit wird in diesem Bericht zunächst in einem grundlegenden Kapitel die demografische Entwicklung in Deutschland beschrieben. Dabei wird auch besonders auf die Entwicklung ländlich geprägter Gebiete eingegangen, da die Stadt Arnsberg nicht großstädtisch geprägt ist und vor allen in den Außenorten eine deutliche ländliche Prägung aufweist. Es schließt sich dann eine Darstellung der Bevölkerungsentwicklung sowie eine Prognose für die Stadt Arnsberg an, die erwarteten Entwicklungen auch für Ortsteile und einzelne Altersgruppen darstellt. Zunächst wurden demografische Daten zur gesamten Stadt Arnsberg sowie zu deren Ortsteilen untersucht. Inhaltlich geht es um das gewählte Untersuchungsgebiet, den Bevölkerungsbestand, den Ausländeranteil, die Altersstruktur (damit verknüpft unterschiedliche Indikatoren u.a. der Jugend- und Altenquotient), die Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsprognosen. Hierfür wurde auf verschiedene Datenquellen zurückgegriffen. Dazu zählen die Einwohnermeldedaten der Stadt Arnsberg, die Immobilienbewertung und der Geodatenservice der Stadt Arnsberg und die verwendeten Daten des demografischen Analyseprogramms demosim. Durch diese Analyse konnten der Bestand, die Entwicklung der Bevölkerung inklusive Bevölkerungsprognosen aufgezeigt werden. Die Datenquellen basieren hierfür auf den Einwohnermeldedaten der Stadt Arnsberg mit dem Stichtag 4
31.12.2017, den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder und dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Für den vorliegenden Bericht wurde Bezug auf die vorhandenen Ortsteile der Stadt Arnsberg genommen. 2 Demografische Entwicklung in Deutschland 2.1 aktuelle Demografiefragen Warum Frauen in Deutschland wieder mehr Kinder bekommen. (Michler 2016, S. 1) ist ein Artikel der Welt im Jahr 2016 überschrieben. Im Artikel wird ausgeführt: „Der Rückgang der Geburtenrate ist gestoppt“, „Man kann sogar von einer Trendwende sprechen.“ (Michler 2016, S. 1) Lösen sich die in letzten Jahrzehnten beschriebenen düsteren Demografieszenarien plötzlich in Wohlgefallen auf? Ist es nicht so, dass es in fast allen Städten und Landkreisen nötig geworden ist, mehr Kindertagesstätten zu bauen, weil die Altersjahrgänger stärker als die vorhergehenden waren? Und welche Auswirkungen hat die demografische Entwicklung auf ländliche Regionen? Diese Fragen sollen im Folgenden auf der Grundlage einer Beschreibung und Analyse der demografischen Entwicklung nachgegangen werden. Dazu wird zunächst die allgemeine demografische Entwicklung in Deutschland beschrieben. Dann wird auf verschiedene demografische Parameter und deren Entwicklung eingegangen. Anschließend wird erläutert welche Auswirkungen die demografische Entwicklung allgemein hat und wie sich diese in ländlichen Regionen insbesondere auf junge Menschen auswirkt. 2.2 Determinanten demografischer Entwicklung und demografischer Prognosen Dass sich die demografische Zusammensetzung unserer Gesellschaft massiv geändert hat und sich immer noch ändert, wird jedem klar, der die Familienverhältnisse der aktuellen Kinder- und Jugendgeneration, mit der Zeit 30 bis 40 Jahre vorher vergleicht. Verwandtschaften sind kleiner geworden und Kinder und Jugendliche wachsen mit immer weniger Kindern und Jugendlichen in ihrer Umgebung auf. 2.2.1 Parameter für die demografische Analyse und Prognose Ausgangspunkt für demografische Betrachtungen und Bevölkerungsprognosen ist der Bevölkerungsbestand zum Ausgangszeitpunkt. Außerdem sind die Fertilität, die Sterblichkeit und die Wanderungen zentrale Parameter der Beschreibung und Prognose demografischer Entwicklung. Bevölkerungsbestand: Während der Bevölkerungsbaum Anfang des letzten Jahrhunderts noch einem "Weihnachtsbaum" ähnelte, der an der Basis die größte Breite hat und sich nach 5
oben kontinuierlich verschlankt, ist der aktuelle Bevölkerungsbaum von anderer Statur: Die untersten vierzig Jahrgänge sind von einem Höchstwert von 1,36 Millionen auf ein Niveau von ca. 700 Tausend bis 900 Tausend je Altersjahrgang geschrumpft. Betrachtet man einen aktuellen Bevölkerungsbaum, fällt auf, dass sowohl der zweite aber auch der erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise um 1932 "Einschnürungen" hinterlassen haben. Signifikant ist neben der inzwischen schwachen Basis des Bevölkerungsbaumes, dass dieser durch die bessere Gesundheitsversorgung und günstigere Lebensumstände wesentlich steiler als vor hundert Jahren ansteigt und auch die hohen Altersjahrgänge umfangreicher bestückt sind. Geburten: Von zentraler Bedeutung für die demografische Entwicklung ist, dass seit über 45 Jahren wesentlich weniger Kinder geboren, als für die Erhaltung der Bevölkerungszahl nötig wären. Um Geburtenzahlen besser vergleichen zu können, wird meist die zusammengefasste Geburtenkennziffer (total fertility rate, TFR) verwandt. Vereinfacht gesagt, gibt diese Zahl die durchschnittliche Anzahl der Kinder je Frau an. zusammengefasste Geburtenkennziffer 2 1,8 1,6 1,4 1,2 1 0,8 0,6 0,4 0,2 0 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Für Deutschland liegt diese Kennziffer seit 40 Jahren zwischen 1,2 und 1,6. (1,59 im Jahr 2016) Um ohne Berücksichtigung von Zuwanderungseffekten die Bevölkerungszahl erhalten zu können, würden durchschnittlich jedoch ca. 2,07 Kinder je Frau benötigt. Das heißt, dass jede Elterngeneration seit Jahrzehnten nur zu ca. zwei Drittel bis drei Viertel durch die Kindergeneration ersetzt wird. Maßgeblich trägt zur niedrigen Geburtenkennziffer der drastisch gewachsene Anteil von Frauen ohne Kinder und der über die Jahrzehnte gesunkene Anteil von Frauen mit drei und mehr Kindern bei. Die Kinderlosenquote nahm zwischen den Jahrgängen [der Mütter der Jahre] 1937 und 1967 kontinuierlich zu und hat sich von 11 Prozent auf 21 Prozent fast verdoppelt. Dieser Anstieg setzte sich allerdings bei den zwischen 1967 und 1974 geborenen Frauenjahrgängen nicht weiter fort. 6
Bei den Kohorten 1968 bis 1974 scheint sich die Kinderlosenquote zwischen 20 und 21 Prozent stabilisiert zu haben. (Pötzsch 2018, S. 83) Damit gibt es inzwischen eine Besetzung der Altersjahrgänge, die im Jahr 2017 nur noch 57 Prozent des Altersjahrgangs des Jahres 1964 ausmacht. Und diese Altersjahrgänge werden wohl im Schnitt ebenfalls wiederum nur ca. zwei Drittel der Kinder in die Welt setzen, die nötig wären, um die Bevölkerungszahl durch die Reproduktionsleistung der Generation zu erhalten. Gebildet wird die sogenannte zusammengesetzte Geburtenkennziffer durch die Berechnung des Anteils der Frauen eines jeden Altersjahrgangs, die Kinder bekommen haben. Dieser Anteil wird mit der gesamten Altersbesetzung dieses Jahrgangs in Bezug gesetzt. Anschließend werden alle einzelnen Werte, die für die Altersjahrgänge 15 bis 50 Jahre gewonnen wurden, addiert. Inhaltlich ist dieser Wert dann als Anzahl der Kinder je Frau interpretierbar. Wie viele Kinder eine Frau bekommt, ließe sich natürlich abschließend feststellen, wenn der Zeitraum abgelaufen ist, in denen die Frauen Kinder bekommen können. So lange will man aber nicht warten, um Aussagen über die Geburtensituation zu treffen, weshalb sich die zusammengesetzte Geburtenkennziffer als gängige Maßzahl etabliert hat. Da in den letzten Jahrzehnten das Alter der Frauen bei der ersten Geburt eines Kindes und auch bei weiteren Geburten kontinuierlich gestiegen ist, maß die zusammengesetzte Geburtenkennziffer längere Zeit etwas weniger als der Jahrgang der Frauen tatsächlich langfristig an Geburten beitrug. Die Geburten sind zum Zeitpunkt der Messung durch die Geburtenkennziffer nicht erfolgt, werden aber später nachgeholt. Dieser Effekt wird in den Demografiewissenschaften als Tempoeffekt bezeichnet. (Bongaarts und Feeney Griffith 2006) Inzwischen steigt das Alter der Mütter bei den Geburten aber nur noch geringfügig an, so dass dieser Effekt durch eine Verschiebung der Geburten in ein höheres Alter in Bezug auf die Unterschätzung der Geburten durch die Geburtenkennziffer inzwischen kaum mehr neue Wirkung entfaltet. Unterm Strich ist somit der Anstieg der Geburtenkennziffer um ca. 0,3 in den letzten 20 Jahren mindestens zur Hälfte - wenn nicht sogar zu zwei Drittel - durch den Tempoeffekt - also sozusagen durch einen „Messfehler“ - zu erklären. Ein Anstieg um 0,15 ist zwar dennoch erfreulich, aber eben eher gering. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren die Anzahl der Geburten in Deutschland erhöht, wie auch der Anstieg der Geburtenkennziffer vermuten lässt. Die Anzahl der Geburten nahm in Deutschland seit 2012 jedes Jahr zu. Mit rund 792 000 Neugeborenen kamen im Jahr 2016 zwar immer noch etwa 100 000 Babys weniger zur Welt als 1990, jedoch ist die Wende zu mehr Geburten bemerkenswert und Anlass, ihre Faktoren und ihr Zukunftspotenzial zu untersuchen. (Pötzsch 2018, S. 72) Als Gründe für den Geburtenanstieg können zum einen die Geburten ausländischer Frauen angeführt werden. Diese sind auch auf den veränderten Charakter der Zuwanderung zurückzuführen. Frauen holen Geburtenwünsche nach, wenn sie sich in Sicherheit befinden. Dadurch dass die Zuwanderung von Flüchtlingen inzwischen wieder stark zurückgegangen ist, ist dieser Faktor aber temporär. Bei den deutschen Frauen hat die gestiegene Geburtenhäufigkeit mehrere Ursachen. Zum einen ist das veränderte Geburtentiming der jetzigen Frauengeneration ein Grund für diesen Anstieg. Innerhalb einer engen Altersspanne zwischen 30 und 40 Jahren werden hauptsächlich deren Kinder 7
geboren. Zudem ist die Kinderlosenquote nicht weiter angestiegen und die Anzahl der Kinder je Mutter hat sich bei 2,0 Kindern verfestigt. Dass viele Frauen erst jenseits von 30 Jahren Kinder bekommen, vollzog sich in einer guten wirtschaftlichen Lage mit niedriger Arbeitslosigkeit. Auch die Wirkung familienpolitischer Maßnahmen, wie der Ausbau der Kinderbetreuung und des Elterngeldes können hier als begünstigende Faktoren angeführt werden. (Pötzsch 2018, S. 87) Diese Stabilisierungstendenzen reichen jedoch noch nicht aus für einen weiteren kontinuierlichen Anstieg der Kohortenfertilität (endgültige Kinderzahl je Frau) über 1,6 Kinder je Frau hinaus. Dafür wäre es erforderlich, dass die Kinderlosenquote deutlich unter 20 Prozent sinkt, beziehungsweise die durchschnittliche Kinderzahl je Mutter deutlich über 2,0 steigen würde. Aus den bisher relativ kontinuierlichen Verläufen in der Fertilität der deutschen Frauen lassen sich keine Hinweise auf derartige Veränderungen ableiten. (Pötzsch 2018, S. 87) Sterblichkeit: Zur Beschreibung der Sterblichkeit (Mortalität) wird vielfach auf die durchschnittliche Lebenserwartung zurückgegriffen. Die Lebenserwartung ist insbesondere seit Mitte des letzten Jahrhunderts deutlich gestiegen. Die gestiegene Lebenserwartung gibt der Gesellschaft und jedem Einzelnen völlig neue Perspektiven. Das Erreichen eines Alters jenseits der 70 ist innerhalb eines Jahrhunderts vom Ausnahmephänomen zur Regel geworden. Dass der Anstieg der Lebenserwartung auch in den nächsten Jahrzehnten im gleichen Tempo voranschreitet, wie in den vergangenen Jahrzehnten ist kaum wahrscheinlich, da sich die Säuglings- und Kindersterblichkeit inzwischen auf sehr niedrigem Niveau befindet und eine weitere Erhöhung nahezu allein von einer längeren Lebenserwartung der über 65-Jährigen abhängt. Von einer weiteren Steigerung um einige wenige Jahre ist allerdings auszugehen, wobei sich der Unterschied der Lebenserwartung zwischen Frauen und Männern weiter angleichen wird. (Slupina 2018, 22-13) 8
Migration: Eine sehr sprunghafte Entwicklung ist bei der Zuwanderung nach Deutschland in den letzten 50 Jahren festzuhalten. Abbildung 1: Bilanz der Zu- und Fortzüge (Grünheid und Sulak 2016, S. 7) Während in den 1990er-Jahren im Saldo durchschnittlich fast 400.000 Personen pro Jahr nach Deutschland zuwanderten, waren es ein Jahrzehnt später nicht einmal mehr 100.000 pro Jahr. In den Jahren 2008 und 2009 verzeichnete Deutschland in der Folge der Finanzkrise unterm Strich sogar eine leichte Abwanderung (Vgl. Abb. 11). Seitdem sind die Zuwanderungszahlen jedoch schnell gestiegen. (Destatis 2017, S. 1) Im Unterschied zu den beiden anderen Einflussfaktoren lässt sich vom aktuellen Wanderungsgeschehen kaum auf die künftige Entwicklung schließen. Denn Ausschläge nach unten wie nach oben waren in der Vergangenheit stets von kurzer Dauer. Aktuelle Entwicklungen sind damit als Blaupause für die Zukunft ungeeignet. (Destatis, S. 24) Beim Blick auf den Nettozuwanderungssaldo darf nicht vergessen werden, dass letztlich je Jahr zumeist wesentlich mehr Personen zuwandern, als der Nettozuwanderungssaldo suggeriert. Im Schnitt waren dies in den letzten Jahrzehnten ca. 600 Tausend pro Jahr. 400 Tausend wanderten im Schnitt pro Jahr ab. Der Integrationsbedarf bezieht sich folglich auf die 600 Tausend Zugewanderten.1 Die Aufgabe Integration wurde lange nur sehr unzureichend gelöst. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat auch im Rahmen der Entstehung des neuen Zuwanderungsgesetzes eine intensive Diskussion bzgl. einer optimierten Integrationsleistung unserer Gesellschaft Fahrt 1 Natürlich sind unter den im Schnitt 600 Tausend Zugewanderten auch deutschstämmige oder Ausländer mit geringerem Integrationsbedarf. 9
aufgenommen. Überlagert wurde die Integrationsdebatte durch eine Abweisungsdiskussion, die durch den starken Flüchtlingszustrom der Jahre 2015 bis 2017 ausgelöst wurde. Seit 2014 ziehen im Saldo mehr Menschen von außerhalb der EU nach Deutschland als aus anderen EU-Mitgliedsstaaten. Besonders deutlich ist die Zahl der syrischen Zuwanderer gestiegen. Waren im Jahr 2012 im Saldo gerade einmal rund 8.000 Personen aus dem Bürgerkriegsland nach Deutschland gekommen, stieg dieser Wert bis 2015 auf über 325.000 Zuzügler. Ebenfalls stark ist zuletzt auch die Zahl der Zuzügler aus Afghanistan und dem Irak angewachsen – von rund 18.000 Personen im Jahr 2014 auf über 170.000 Personen im Jahr 2015.39 Insgesamt kletterte der Wanderungssaldo mit sogenannten Drittstaaten im Jahr 2015 auf über 800.000 Personen und machte damit über 70 Prozent des deutschen Gesamtwanderungssaldos aus. (Destatis 2017, S. 25) Seit 2014 ziehen im Saldo mehr Menschen von außerhalb der EU nach Deutschland als aus anderen EU- Mitgliedsstaaten (Vgl. Abb. 12). (Destatis 2017, S. 25) 2.2.2 Prognosen und Bevölkerungsvorausberechnungen Nachdem nun alle grundlegenden Parameter für eine Bevölkerungsvorausberechnung skizziert sind, sollen zentrale Ergebnisse der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 2015 dargestellt werden (Destatis, 2015). Sinn von Bevölkerungs- vorausberechnungen kann nicht die exakte Vorhersage von tatsächlich eintretenden Bevölkerungszahlen sein. Durch die Gegenüberstellung verschiedener Varianten soll vielmehr verdeutlicht werden, in welchem Korridor die zukünftige Entwicklung wahrscheinlich verlaufen wird. In der Demografie wird bei Aussagen, die sich auf die nächsten 20 Jahre beziehen, von Prognosen und bei längeren Zeiträumen von Vorausberechnungen gesprochen. Damit wird darauf hingewiesen, dass bei sehr langfristigen Vorhersagen selbst sehr kleine Änderungen an den Prognoseparametern eine große Wirkung entfalten können. Somit sinkt der Genauigkeitsgrad von Vorhersagen mit der Zeitspanne über die Aussagen getroffen werden sollen deutlich. Die 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2015 geht in der Variante 8 von einer Geburtenrate von 1,6 Kindern je Frau, einer Lebenserwartung für Jungen von 86,7 und bei Mädchen von 90,4 Jahren sowie einem langfristigen Wanderungssaldo von 200 Tausend Menschen je Jahr aus. Auf der Grundlage dieser Parameter kommt die Vorausberechnung zum Ergebnis, dass die Bevölkerungsanzahl bis zum Jahr 2060 nur leicht zurückgeht. Über 82,51 Mio. im Jahr 2020 und 81,45 Mio. im Jahr 2040, sollen demnach im Jahr 2060 78,61 Mio. Menschen in Deutschland leben. Während dieser Vorausberechnung nach die Anzahl der Menschen unter 20 Jahren nun von 14,63 Mio. im Jahr 2020 auf 14,12 Mio. im Jahr 2060 zurückgehen wird, ist der Rückgang bei den 20 bis 60 Jährigen von 43,36 Mio. auf 34,92 Mio. ebenso deutlich wie der Zuwachs bei den über 60-Jährigen von 24,27 Mio. auf 29,56 Mio. Zu anderen Ergebnissen kam im Jahr 2003 die 10. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung: Bei einer mittleren Wanderungsannahme (mind. 200 Tausend Nettozuwanderer pro Jahr) und einer mittleren Annahme der Lebenserwartung (2050: 81 bzw. 87 Jahre) würde die Bevölkerung Deutschlands bis zum Jahr 2050 um ca. 7 Millionen schrumpfen. Variiert man die Parameter auf 10
ca. 100 Tausend Nettozuwanderer und eine niedrigere Lebenserwartung (2050: 79 bzw. 86 Jahre) hat dies bereits gravierende Auswirkungen. Demnach würde dann der Bevölkerungsrückgang 15 Millionen Personen betragen. Beiden Varianten liegt eine Geburtenkennziffer (TFR) auf dem aktuellen Niveau (1,4) zu Grunde. (Destatis 2003) Die Vorausberechnungen aus den Jahren 2003 und 2015 kommen somit zu deutlich verschiedenen Aussagen. Ist also die Erstellung von Vorausberechnungen Kaffeesatzleserei? Nein! Sicher sind die durchgeführten Berechnungen korrekt. Unterschiede ergeben sich aber dadurch, dass - wie ausgeführt - die Geburtenkennziffer längere Zeit unterschätzt wurde und heute ein Wert von 1,6 in eine Vorausberechnung eingebracht werden kann. Auch die angenommene Lebenserwartung ist gestiegen. Außerdem ist die Bevölkerung durch die Zuwanderung der letzten Jahrzehnte jünger geblieben, als sich das durch eine reine Binnenentwicklung der Demografie ergeben hätte. Klar wird dadurch, dass im ersten Moment als eher klein erscheinende Veränderungen der Prognoseparameter bzw. der Zusammensetzung der Ausgangsbevölkerung langfristig umfassende Auswirkungen haben können. Auch wenn das Szenario der Variante 8 der 13. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung nur geringfügige Veränderungen der Gesamtanzahl der Menschen in Deutschland vorhersagt, wird sich die Alterszusammensetzung der Gesellschaft sehr deutlich ändern. Dabei ist zu bedenken, dass die Bruttogröße der Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten lange Zeit die Nettozahl um ein Mehrfaches überstieg! Der starke flüchtlingsbedingte Zuzug nach Deutschland ist eher als Sondersituation einzuordnen und hat keine Fortsetzung gefunden. Einige Gedankenspiele machen deutlich, dass weder der kommende demografisch bedingte Arbeitskräftemangel noch der ansteigende Altersquotient (Verhältnis von Bevölkerung im Rentenalter zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter) durch Einwanderung ausgeglichen werden kann. Für die Erhaltung des aktuellen Arbeitskräftepotentials müssten bis zum Jahr 2050 320 Tausend Personen (Nettosaldo) je Jahr einwandern. Um den Altersquotienten auf dem heutigen Stand zu halten, müssten jährlich 3,4 Millionen Menschen bis zum Jahr 2050 zuwandern. Dies zeigt, dass die Alterung unserer Gesellschaft nicht aufzuhalten, sondern allenfalls abzumildern ist. 2.3 Veränderte Bedingungen des Aufwachsens Durch die demografische Entwicklung, aber auch durch gesamtgesellschaftliche Tendenzen (Wahl anderer Familienformen, höhere Akzeptanz von Scheidungen etc.) setzen sich Haushalte, aber auch Familien inzwischen anders zusammen als in vorhergehenden Jahrzehnten. 2.3.1 Zusammensetzung von Familien und Haushalten Während um 1900 noch fast 45 Prozent aller Haushalte von fünf und mehr Personen bewohnt wurden, waren es 50 Jahre später nur noch 16 Prozent und heute ist es mit 3,4 Prozent nicht einmal mehr jeder 30. Haushalt. Dieser Trend scheint sich weiter fortzusetzen. Entgegengesetzt dazu verläuft die nahezu kontinuierliche Zunahme der kleinen Haushalte mit ein oder zwei Personen. (Grünheid und Sulak 2016, S. 67) 11
Dadurch sind die Unterstützungsmöglichkeiten im unmittelbaren häuslichen Umfeld drastisch geschrumpft. Dies hat Auswirkungen auf die Familiensituationen: Unterstützung der Pflege sowohl von Kindern als auch bei Hilfsbedürftigkeit von älteren Menschen lässt sich inzwischen oft nur noch im geringerem Maße (wenn überhaupt) aus dem unmittelbaren Umfeld des Haushalts heraus gewinnen, wenn die eigentlichen Pflegepersonen (Eltern bei Kindern, Kinder bei älteren Erwachsenen) ausfallen. Wird heute die erwachsene Bevölkerung nach ihrer Lebensform betrachtet, so wohnen 29 Prozent von ihnen als Ehepaar ohne Kind zusammen, die zweitgrößte Gruppe stellen die Alleinstehenden mit 27 Prozent und erst an dritter Stelle kommen mit 23 Prozent die Ehepaare mit Kindern (minderjährige oder erwachsene Kinder) im Haushalt. Das ist das Ergebnis des seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenniveaus, der steigenden Lebenserwartung und des geringeren Verheiratungsgrades jüngerer Menschen. Noch 1996 bildeten Ehepaare mit Kindern die am weitesten verbreitete Lebensform erwachsener Personen. (Grünheid und Sulak 2016, S. 71) Somit ist inzwischen die Situation eingetreten, dass Haushalte mit Kindern mit unter einem Viertel aller Haushalte eine Minderheit bilden. 2.3.2 Aufwachsen in neuer Verantwortung Die Frage welche Auswirkungen die Veränderung der Gesellschaft auf die Lebensbedingungen von Familien und dem Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen hat, beschäftigt die Jugendhilfe in Deutschland schon lange. Gerade in vielen ländlichen Räumen wurden die öffentlichen Angebote an Kindertagesbetreuung nur sehr zögerlich ausgebaut. Für eine Anpassung an die Erfordernisse einer modernen Gesellschaft, inklusive der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind solche Angebote unverzichtbar. Soll das Geburtenniveau angehoben werden, ist die Wahlfreiheit der Lebensführung bestmöglich zu gewährleisten. Beeinträchtigungen dieser Wahlfreiheit finden sich derzeit weniger für das Modell der traditionellen Hausfrauen- oder Hinzuverdienerehe, sondern dort, wo beide Partner Erwerbstätigkeit und Elternschaft in für sie befriedigender Weise vereinbaren wollen. (Dorbritz und Schneider 2011, S. 5) 2.4 Die demografische Entwicklung ländlicher Räume 2.4.1 was sind ländliche Regionen In der Raumordnung wurden als ländliche Raume häufig all die Gebiete bezeichnet, die nicht städtisch sind bzw. außerhalb von Verdichtungsgebieten liegen. Ländliche Räume sind die Räume außerhalb der Stadtregionen mit einer geringeren Siedlungs- und Bevölkerungsdichte als in den Agglomerationen, kleineren Städten und Orten, mehr Natur und (schöner) Landschaft sowie einem höheren Anteil land- und forstwirtschaftlicher Flächennutzung. (Henckel 2010, S. 284) Zunehmend wurde in der wissenschaftlichen Debatte darauf hingewiesen, dass dieses Bild der ausdifferenzierten Entwicklung den unterschiedlichen Regionen außerhalb der großen Stadtregionen nicht mehr gerecht wird. (Henckel 2010) Es reicht nicht aus, ländliche Räume negativ von städtischen Räumen 12
abzugrenzen. Ein anderer Definitionsversuch wäre, über die Siedlungsdichte oder Funktion von Räumen eine Einordnung herzustellen. Nach der OECD ist eine Region überwiegend ländlich, wenn über 50 Prozent der Einwohner in ländlichen, dünn besiedelten Gemeinden mit weniger als 150 Einwohnern je qkm leben. (Henckel 2010) Für eine differenzierte Betrachtung scheinen aber sowohl der negative Definitionsversuch, als auch der Versuch nur Stadt und Land anhand der Einwohnerzahl zu unterscheiden, zu wenig aussagekräftiges Material zu liefern. Daher werden mehr Kategorien bei der Betrachtung städtischer und ländlicher Räume benötigt. Dazu werden die Kreistypen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) verwendet, für die laufende Raumbeobachtung sind dies folgende vier Kreistypen: • Kreisfreie Großstädte: Kreisfreie Städte mit mind. 100.000 Einwohnern • Städtische Kreise: Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten von mind. 50 Prozent und einer Einwohnerdichte von mind. 150 Einwohnern/km²; sowie Kreise mit einer Einwohnerdichte ohne Groß- und Mittelstädte von mind. 150 Einwohnern/km² (Arnsberg fällt mit 381 Einwohnern je Quadratkilometer in diese Kategorie) • Ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen: Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten von mind. 50 Prozent, aber einer Einwohnerdichte von unter 150 Einwohnern/km², sowie Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten von unter 50 Prozent mit einer Einwohnerdichte ohne Groß- und Mittelstädte von mind. 100 Einwohnern/km² • Dünn besiedelte ländliche Kreise: Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten von unter 50 Prozent und Einwohnerdichte ohne Groß- und Mittelstädte von unter 100 Einwohnern/km². (Grünheid 2015, S. 9) 2.4.2 Entwicklungsunterschiede von Gebietstypen Unterscheidet man Gebiete nach diesen Kategorien ergeben sich folgende Unterschiede bzgl. der Geburtenkennziffer: Abbildung 2: Grünheid 2015 - Regionale (2).jpg (Grünheid 2015, S. 26) 13
Bzgl. der Geburtenkennziffer fallen lediglich die kreisfreien Großstädte etwas zurück. Wie lässt sich aber erklären, dass gerade die Städte einen deutlichen Geburtenzuwachs zu verzeichnen haben, obwohl dort die Geburtenkennziffer niedriger liegt? Die Erklärung dafür ist, dass sich in den letzten Jahren verstärkt Bildungswanderungen in die Städte ergeben haben. Dies wird mittel- und langfristig die Geburtenkennziffer auch in den Städten nach oben bringen. Da die Geburtenkennziffer aber sehr träge auf Veränderungen reagiert, wird diese Veränderung erst nach und nach sichtbar werden. Die unterschiedliche Entwicklung der Geburtenzahlen hat aber nichts mit einer tatsächlichen Veränderung des regenerativen Verhaltens zu tun. Es ist also nicht so, dass Frauen in Ballungsräumen mehr Kinder gebären als in ländlichen Regionen. Ganz im Gegenteil: Auf dem Land bekommen Mütter im Schnitt mehr Nachwuchs als in der Stadt. Der springende Punkt ist die Altersstruktur. Die Anzahl von Frauen im reproduktiven Alter ist in den Städten um ein Vielfaches höher als in den Landkreisen. Das wiederum hat hauptsächlich mit der Zuwanderung zu tun. (Zerche 2017, S. 3) Die Raumtypen des ländlichen Raumes realisieren durchgängig ein leicht überdurchschnittliches Geburtenniveau. Besonders hoch ist es in den strukturschwächeren Raumtypen. Da in allen Raumtypen des ländlichen Raumes der Ersatz der Elterngeneration nicht mehr gesichert ist, resultiert aus dieser Entwicklung für alle Regionen im ländlichen Raum Bevölkerungsrückgang und Alterung, die nur über Wanderungsgewinne kompensiert werden können. (Maretzke, S. 177) Die Anzahl der Kinder ist in zehn Jahren in Mittel- und Großstädten um fast 13 Prozent gestiegen. In Landkreisen hingegen sank die Quote um sechs Prozent. [von 2005 bis 2015] (Zerche 2017, S. 1) In städtischen Ballungsräumen wachsen immer mehr Kinder auf. Hauptursache dafür ist aber nicht eine höhere Geburtenrate, sondern eine Bildungswanderung ... Diese Erkenntnis überrascht nicht. Die wirkliche Neuigkeit ist, dass diejenigen, die für ihre Ausbildung in einen Ballungsraum umziehen, diesen im Anschluss oftmals nicht mehr verlassen. Die Bildungswanderer gründen Familien und führen somit zu einer steigenden Anzahl von Geburten in kreisfreien Städten. (Zerche 2017, S. 1) Im Westen Deutschlands liegen die kreisfreien Großstädte in der Ausbaustufe der Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige über dem Ausbaugrad im ländlichen Raum. Dort wird aufgrund traditioneller Rollenmuster der Ausbau nur zögerlich vorangebracht. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann so tlw. nicht realisiert werden. Im Osten Deutschlands weisen die ländlichen Gebiete eine doppelt so hohe Versorgungsquote auf wie im Westen. 14
Abbildung 3: Grünheid 2015 - Regionale (4).jpg (Grünheid 2015, S. 44) Für die demografische Entwicklung sehr bedeutsam ist der Anteil ausländischer Personen, da diese im Schnitt über eine für die Reproduktion günstigere Altersstruktur verfügen. In kreisfreien Großstädten liegt der Anteil über dreimal so hoch wie in dünn besiedelten ländlichen Räumen. Im Osten Deutschlands ist der Unterschied zwischen Großstadt und ländlichem Raum sogar fünfmal so hoch. Diese Kennwerte sind Indikatoren dafür, dass der ländliche Raum kaum Außenzuwanderungen aufnimmt, weshalb ein Bevölkerungsschwund auch nicht durch Außenzuwanderungen gemindert oder ausgeglichen werden kann. Ähnliche Werte ergeben sich auch bezüglich der Menschen mit Migrationshintergrund. Abbildung 4: Grünheid 2015 - Regionale (6).jpg (Grünheid 2015, S. 47) Alle Gebietstypen haben zwischen 1995 und 2013 Bewohner durch Außenwanderungen gewonnen. Am wenigsten war dies aber in dünn besiedelten ländlichen Kreisen der Fall. In Ostdeutschland lag der Zuwachs durch Außenwanderungen generell auf niedrigerem Niveau als im Westen Deutschlands. Das Gesamtwanderungssaldo ist vor allem in den kreisfreien Großstädten positiv, wobei dieses im Osten sogar höher als im Westen ausfällt. Ländliche Kreise im Westen liegen nur auf einem Drittel bei dünn besiedelten ländlichen Kreisen oder knapp unter der Hälfte des Wanderungssaldos westdeutscher Großstädte. Im Osten sind hingegen städtische Kreise und ländliche Kreise im Saldo von Abwanderung geprägt. 15
Abbildung 5: Grünheid 2015 - Regionale (8).jpg (Grünheid 2015, S. 53) Auf der Grundlage des Raumordnungsberichts wird bis zum Jahr 2035 im Westen allen Raumtypen mit Ausnahme der städtischen Kreise ein im Durchschnitt negatives Wanderungssaldo vorhergesagt. Im Osten Deutschlands wird nach dieser Prognose das negative Wanderungssaldo auf hohem Niveau fortbestehen. Der ländliche Raum profitierte in den Jahren 2012 und 2013 deutlich weniger von den Wanderungsbewegungen als der städtische Raum. Das gilt vor allem in Bezug auf die Binnenwanderungen. Per Saldo musste der ländliche Raum sogar leichte Verluste hinnehmen. Hinsichtlich der Außenwanderungen lagen die Gewinne (Saldo aus Zu- und Fortzügen) deutlich niedriger als im städtischen Raum. (Maretzke, S. 180) Auch für die künftige Entwicklung bis 2035 wird vor allem den dünn besiedelten ländlichen Räumen ein deutlich negativ ausgeprägtes Wanderungssaldo vorhergesagt. Für die regionalen Unterschiede der demografischen Entwicklung sind eben weniger der Stadt-Land- bzw. Ost-West-Gegensatz, als vielmehr die Strukturschwäche oder -stärke einer Region entscheidend. Korreliert man beispielsweise typische Indikatoren zur Messung der Wirtschaftsstruktur, Wirtschaftskraft bzw. sozialer Disparitäten mit wesentlichen Indikatoren der Siedlungsstruktur (Einwohnerdichte, Bevölkerungspotenzial, Erreichbarkeitsindikatoren), dann zeigt sich, dass diese oft nicht einmal signifikant korrelieren. Und wenn doch, dann auf einem oft eher niedrigen Niveau. (Maretzke, S. 169) Zwar sind alle Kreise und Regionen durch den demografischen Wandel betroffen, allerdings in sehr unterschiedlicher Intensität und Differenziertheit. Geburtenentwicklung, Sterblichkeitsverhältnisse, Zu- und Abwanderungen und die vorhandene Altersstruktur stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang mit sozioökonomischen Strukturen, mit vorhandenen Lebens- und Arbeitsbedingungen und mit regionalen und kulturellen Gegebenheiten. Aber nicht nur die Alterung stellt die Kreise und Kommunen vor neue Entscheidungen, auch der Rückgang der Bevölkerungszahlen erfordert neue Überlegungen, wie die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und eine erforderliche Mindestversorgung bezüglich der Infrastruktur gesichert werden können. Hier stellen sich neben den schon genannten Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen auch Probleme wie die Sicherung der Nachrichten-, 16
Energie-, Wasser- und Abwasserversorgung, des öffentlichen Verkehrs und anderer öffentlicher Einrichtungen. (Grünheid 2015, S. 7) Die strukturschwachen ländlichen Räume in peripherer Lage drohen zunehmend abgehängt zu werden, was sich auch in ihren demografischen Strukturen und Trends niederschlägt. Ihre strukturellen Defizite, ihre fehlende Standortattraktivität werden sie kurz- und mittelfristig allein kaum überwinden können, sodass sie auch in den nächsten Jahren ein Schwerpunkt selektiver Abwanderungen bleiben werden. Diese Abwanderungen verstärken die Bevölkerungsverluste aus den latenten, ohnehin schon überdurchschnittlichen Sterbeüberschüssen noch weiter. (Maretzke, S. 184) Für die aktuell besonders stark vom demografischen Wandel betroffenen ländlichen Regionen wird die künftige demografische Entwicklung also keine Entlastung bringen. Überdurchschnittliche Bevölkerungsverluste und die höchste Intensität demografischer Alterung werden den infrastrukturellen Anpassungsdruck weiter verschärfen, der sich aufgrund fehlender Auslastung von Infrastrukturen ja schon heute gerade auf diese Regionen konzentriert. (Maretzke, S. 185) Danach setzt das neoklassische Wachstumsmodell vor allem auf den exogenen Faktor „technischer Fortschritt“. Neuere Ansätze regionaler Wachstumstheorien stellen demgegenüber die endogenen Potenziale der Regionen immer stärker auch als wesentliche Determinanten regionaler Wachstumsprozesse heraus. (Maretzke, S. 170) 2.5 Bildungsbedingte Binnenmigration Ein wesentlicher Treiber der Binnenmigration in Deutschland ist die Wanderung aus Bildungsgründen. Dies hat mehrere Gründe: Strukturschwache Räume stehen vor der Herausforderung, auch zukünftig ein auf die Bedürfnisse der Bevölkerung angepasstes Bildungsangebot zu gewährleisten: In ländlichen Gebieten zeigt sich seit 2006 eine Abnahme der durchschnittlichen Zahl der Schülerinnen und Schüler je Bildungseinrichtung, die vermutlich mit den Bemühungen zusammenhängen, eine wohnortnahe Schulversorgung zu gewährleisten Im gleichen Zeitraum wurden dennoch in strukturschwachen Landkreisen viele Grundschulen (–11 Prozent) und berufliche Schulen (–26 Prozent) geschlossen Zudem sind die Bildungsbeteiligung und der Bildungsstand in städtischen und strukturstarken Räumen höher als in eher ländlichen und strukturschwachen Landesteilen. (Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hg.) 2018, S. 5) Zweitens erleben zurückfallende ländliche Regionen massive bildungsbedingte Abwanderungen, wenn der kontinuierlich gestiegene Anteil von Abiturienten zum Studium in die Städte zieht. Da aber heute – nach der massiven Bildungsausweitung und einem Anstieg der Studienanfängerquote von 29 Prozent eines Jahrgangs Ende der 1990er-Jahre auf 53 Prozent im Jahre 2013 – fast alle kreisfreien Städte über eine mehr oder weniger große Hochschule verfügen, profitieren sie auch fast alle von der Ausbildungswanderung (Ausnahmen Suhl, Remscheid, Bottrop, Dessau-Roßlau). Die Untersuchung der Friedrich Ebert Stiftung „Stadtkinder“ unterteilt Regionen in die Kategorien „stabile Regionen“, „zurückfallende Regionen“ und „gefährdete Regionen“. Betrachtet man in dieser 17
Unterscheidung verschiedene Altersklassen, fällt auf, dass vor allem die Altersgruppe 18-25 Jahre die größten Abwanderungsverluste zu verzeichnen hat. Während stabile Regionen hier kaum Abwanderungen hinnehmen müssen, sind für zurückfallende Regionen deutliche und für gefährdete Regionen sehr deutliche Wanderungsverluste. (Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.) 2017, S. 23) Das zentrale Ergebnis der Analyse der Friedrich Ebert Stiftung liegt darin, dass die steigende Anzahl von Kindern und Familien in den Städten auf Familiengründungen zuvor zugezogener Bildungswanderer_innen zurückzuführen ist – und nicht etwa auf einen Zuzug von Familien selbst. Gleichzeitig gibt es immer noch gegenläufige Tendenzen: Aus den Städten sind weiterhin eine Abwanderung von Familien und eine Suburbanisierung zu beobachten. Allerdings fallen diese Abwanderungen quantitativ geringer aus als die Zunahme der Familiengründungen in den Städten. (Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.) 2017, S. 3) Die Generation der Bildungswander_innen – also der Alterskohorte, die für eine Ausbildung oder einem Studium aus dem Heimatort wegzieht – lebt zunehmend in den Städten. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: - Hier gründen viele der vormaligen Bildungswander_innen Familien. - Die vielerorts gute Arbeitsmarktsituation hält Familien in den Städten. - Zunehmend sind beide Elternteile berufstätig und damit auf eine ausgebaute Betreuungsinfrastruktur und möglichst kurze Wege zwischen Wohnung, Arbeitsstelle und öffentlicher Infrastruktur – wie sie typischerweise in Städten vorhanden ist – angewiesen. Für Alleinerziehende ist dieses dichte Infrastrukturnetzwerk noch einmal verschärft Voraussetzung für Berufstätigkeit überhaupt. (Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.) 2017, S. 3) Die Studie „Stadtkinder“ der Friedrich Ebert Stiftung zeigt: - Kinder wachsen zunehmend in städtischen Ballungszentren auf. - Im Zeitraum 2005 bis 2015 ist es zu einer deutlichen Verschiebung der Kinderzahlen vom westdeutschen ländlichen Raum hin zu den städtischen Zentren in West- und Ostdeutschland gekommen. - Der ostdeutsche Raum, der 2005 noch besonders kinderarm war, hat sich im Hinblick auf die Kinderzahlen stabilisiert. Aber auch hier stechen die Städte besonders hervor, wo teilweise Steigerungsraten von fast 50 Prozent (z. B. Leipzig) zu verzeichnen sind. - Dieser Trend wird sich fortsetzen, da die Elterngeneration der Kinder von morgen bereits in den Städten angekommen ist. (Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.) 2017, S. 3) [Es verlieren] ... insgesamt 174 von 402 Kreisen bei der Berufsanfängerwanderung, davon 136 sogar ein zweites Mal, da sie nach der Ausbildungswanderung auch die Berufsanfängerwanderung auszehrt. Dieses Muster kann zum einen dahingehend interpretiert werden, dass nach Abschluss der Ausbildung oder des Studiums bzw. den ersten beruflichen Erfahrungen statt einer Rückwanderung aus den Studienorten in die Heimat vor allem ein Weiterwandern in die „Schwarmstädte“ (siehe 2.6) stattfindet. (Simons und Weiden, S. 266) In einem Teil der ländlichen Regionen gibt es bereits jetzt nicht mehr ausreichend wohnortnahe (öffentliche) Bildungsangebote. Das betrifft insbesondere das Schulwesen Auch zwischen Ausbildungsangebot und -nachfrage gibt es Passungsprobleme, die 18
dazu führen können, dass sich ungünstige wirtschaftliche und infrastrukturelle Rahmenbedingungen einzelner Regionen weiter verschlechtern Damit sinken die Chancen junger Menschen, sich persönlich und beruflich zu entfalten. Die unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven bieten letztlich Standortvorteile oder -nachteile. Sie haben Folgeeffekte für die Attraktivität der Regionen als Wohn- und Arbeitsort und können zu einer weiteren Zu- oder Abwanderung führen. Dies gilt vor allem auch für Hochschulen, die neben ihren primären wissenschaftlichen Leistungen wesentliche arbeitsmarktpolitische und kulturelle Funktionen für ihre Region haben und nicht zuletzt erhebliche Kaufkraft erzeugen (Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.) 2017, S. 15) 2.6 Schwarmstädte als Ziel der jungen Generation Die Binnenwanderungen haben sich nicht allein entlang rationaler Überlegungen vollzogen. Es scheint Regionstypen oder Stadtgebiete zu geben, deren Image eine hohe Anziehungskraft ausübt. Diesbezüglich wurde der Begriff der „Schwarmstadt“ in die demografische Debatte eingebracht. Der Begriff des Schwarmverhaltens und der Schwarmstädte soll bildhaft verdeutlichen, dass die Reurbanisierung tatsächlich einer Konzentration auf einige ausgesuchte Städte entspricht. (Simons und Weiden, S. 263) Die wirklich spannende Lebensphase, die letztlich zum deutlichen Bevölkerungsanstieg in den Schwarmstädten und zum Ausbluten der anderen Regionen führt, beginnt danach, also in der Phase des Berufseinstiegs und der beruflichen Festigung. Diesen Schwarmstädten gelingt es, die Gewinne aus der Bildungswanderung nicht nur zu halten, sondern weiter und zum Teil deutlich auszubauen. Junge Schwarmstädte definieren wir als Städte, in denen die Kohortenwachstumsrate2 für 15- bis 34-Jährige bei über 200 liegt, sich im Saldo also jeder Geburtsjahrgang verdoppelt. (Simons und Weiden, S. 264–265) [Es verlieren] ... insgesamt 174 von 402 Kreisen bei der Berufsanfängerwanderung, davon 136 sogar ein zweites Mal, da sie nach der Ausbildungswanderung auch die dahingehend interpretiert werden, dass nach Abschluss der Ausbildung oder des Studiums bzw. den ersten beruflichen Erfahrungen statt einer Rückwanderung aus den Studienorten in die Heimat vor allem ein Weiterwandern in die Schwarmstädte stattfindet. (Simons und Weiden, S. 266) Das zum Teil starke Wachstum ausgewählter Städte lässt sich wahrscheinlich nicht auf eine allgemeine Präferenzänderung zugunsten des städtischen Lebens zurückführen. Vielmehr rührt das Wachstum fast aller Schwarmstädte einzig und allein von Wanderungsgewinnen jüngerer Menschen zwischen 25 und 34 Jahren her, während die Mittelalten (35 bis 44, abgeschwächt 45 bis 59) weiterhin suburbanisieren und die Älteren die Städte in Richtung attraktiver ländlicher Räume verlassen. Die Wanderungsgewinne bei den 35- bis 44-Jährigen sind dabei nicht auf veränderte Präferenzen, sondern auf veränderte Rahmenbedingungen zurückzuführen. Der Pillenknick hat dafür gesorgt, dass die heute schwärmenden jungen Menschen eine Minderheit geworden sind, die sich in ausgesuchten Schwarmstädten zusammenrottet. (Simons und Weiden, S. 274) 2 [Die Kohortenwachstumsrate] lässt sich wie folgt interpretieren: „Wenn sich die heute jeweils nachrückenden Kohorten so verhalten wie ihre Vorgänger (also z. B. 20 % abwandern), dann werden bis zum Alter von x Jahren y % abgewandert sein.“ Eine KWR von 100 bedeutet keine Veränderung, eine KWR von über 100 einen Gewinn und von unter 100 einen Verlust an Einwohnern. (Simons und Weiden, S. 264) 19
Schwarmstädte sind dieser Erklärung nach die Folge einer langanhaltenden demografischen Entwicklung mit wenigen Kindern, die vor allem in ländlichen Räumen dazu geführt hat, dass Infrastruktur kontinuierlich abgebaut wurde und sich junge Menschen in städtischen Räumen zusammenfinden, in denen Infrastrukturangebote für verschiedene Lebensalter auf hohem Niveau gehalten werden konnten. Selbstverständlich treiben weiterhin die Wohnkosten oder genauer gesagt das Wohnkostengefälle zwischen Stadt und Umland die Suburbanisierung (Wanderung aus den Städten in die umliegenden Räume) an. Sind die Wohnkosten in der Stadt niedrig, kommt die Suburbanisierung zum Erliegen. Es gilt nicht alle Aufmerksamkeit auf die Schwarmstädte zu konzentrieren, sondern auf attraktive kleine und mittlere Städte, die dann eine hinreichende Dichte von jungen Menschen und vielfältigem Angebot aufweisen würden. (Simons und Weiden, S. 273) 2.7 Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf die Jugend in ländlichen Regionen Eine Schrumpfung und Überalterung der Bevölkerung, die Abwanderung junger Menschen in städtische Regionen, die Migration sowie die Veränderungen von Lebensweisen sind wesentliche Merkmale des demografischen Wandels in vielen Regionen. Gerade in ländlichen Gebieten sind die Auswirkungen der demografischen Entwicklung für junge Menschen besonders deutlich spürbar, weil eher negative Folgen der demografischen Entwicklung dort kumulieren. Denn der demografische Wandel beeinflusst nicht nur die Bevölkerungszusammensetzung, sondern auch das Lebensumfeld in den Räumen. Meist in ländlichen Gebieten sehen sich die Jugendlichen mit Veränderungen der Angebotsstruktur konfrontiert. (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2018) (Beierle et al. 2016) Insbesondere die Jugend stellt eine wichtige Lebensphase dar, in der sowohl die Entwicklung als auch der Erwerb von Fähigkeiten, das Herausbilden einer Identität und das Teilnehmen am sozialen und kulturellen Leben im Fokus stehen. (Hurrelmann und Quenzel 2016) Dazu ist die Phase Jugend zum einen auf Bildung und das Vorbereiten auf das Erwachsenenleben ausgelegt, und zum anderen darauf, die lebensphasenspezifischen Optionen zu nutzen und Bedürfnissen nachzukommen. (Sander und Witte 2011) Gerade in schrumpfenden ländlichen Gebieten wird die Infrastruktur immer weiter reduziert oder vernachlässigt (Kindertageseinrichtungen, Schulen, Freizeitangebote). Auch die Vereine, die für ländliche Regionen typisch sind, haben immer weniger jungen Nachwuchs. Dadurch kann sich eine Abwärtsdynamik für Regionen entwickeln. (Schlemmer et al. 2017) Hinzu kommt, dass – wie beschrieben – gerade in ländlichen Regionen Infrastruktur zur Kindertagesbetreuung und zur Ganztagsschule zögerlicher ausgebaut wurde, als in städtischen Räumen. Wachsenden Ansprüchen an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kommt man dadurch nur eingeschränkt nach. Die beschriebene Reduzierung der Haushalts- und Familiengrößen ist auch im ländlichen Raum 20
wirksam und macht Angebote der außerfamiliären Kinderbetreuung zunehmend nötig. Verschiedene Studien benennen sogenannte „Push-Faktoren“, die zu Abwanderungen junger Menschen aus ländlichen Regionen führen. Hierzu zählen die eingeschränkten Bildungs- und Berufsperspektiven, die begrenzten Freizeitmöglichkeiten, der oftmals erschwerte Zugang zu Einrichtungen und Angeboten aufgrund der weiten Entfernungen und schlechten öffentlichen Verkehrsanbindungen. Insbesondere der Mangel an sozialer und kultureller Infrastruktur der ländlichen Räume stellt sich als wesentlicher Faktor heraus. Städtische Regionen bieten nicht nur vielfältige Bildungseinrichtungen, sondern auch ein attraktives Arbeitsplatzangebot und eine hohe kulturelle Vielfalt, was als Pull-Faktor zu einer Abwanderung aus den ländlichen Regionen führt. (Wochnik 2015)(Beierle et al. 2016) Damit die junge Bevölkerung sich für ländliche Gebiete entscheidet, müssen folglich ausreichend Möglichkeiten zur Verwirklichung der eigenen Lebensziele junger Menschen gegeben sein. Die Kernbereiche, die das BMFSFJ (2018) hierfür nennt, sind: - Berufsperspektiven - Bildungsangebote - Mobilitätsangebote - Familienfreundlichkeit. Das BFSFJ bezeichnet die junge Bevölkerung mit folgender Begründung auch als Schlüsselgruppe der nachhaltigen Demokratiepolitik: - „Das Wanderungsverhalten junger Menschen ist ein zentraler Indikator für die aktuelle Lebensqualität vor Ort. - Ausreichend junge Menschen sind ein entscheidender Faktor für die zukünftige Entwicklung der Standortattraktivität.“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2018) Zudem sollten junge Menschen an Maßnahmen teilhaben und ihre Bedürfnisse und Bedarfe äußern. So gibt es auch rechtliche Vorgaben zur Beteiligung dieser Altersgruppe. Unter anderem zählt hierzu der Paragraph 8 SGB XIII, der vorsieht, die junge Bevölkerung an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Genauso gibt es Vorgaben für die Jugendhilfeplanung nach Paragraf 80 Absatz 1 Nr. 2 SGB VIII, in dem festgeschrieben ist, dass der Bedarf unter Berücksichtigung von Bedürfnissen, Interessen und Wünschen der jungen Menschen ermittelt wird. Dies bezieht sich u.a. auch auf das Gestalten des demografischen Wandels. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Jugend besonders in vielen ländlichen Regionen den demografischen Wandel deutlich zu spüren bekommt. Die Jugend stellt aber auch eine wesentliche Gruppe für die Entwicklung der Region dar. Diese sollte den demografischen Wandel aktiv mitgestalten Daher ist die Partizipation junger Menschen für die weitere ländliche Entwicklung von großer Bedeutung. 21
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