Die auffällige Abwesenheit von Menschenmengen - Flucht oder Konfrontation? Wie die Pandemie die Rezeption von Filmen beeinflusst

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Die auffällige Abwesenheit von Menschenmengen - Flucht oder Konfrontation? Wie die Pandemie die Rezeption von Filmen beeinflusst
1 Udias volese laccus
                                                                                                                                   moluptatus, cum dolorat eos
                                                                                                                                   nus aut ea et de delibuscit,
                                                                                                                                   quosapi endellab invera
                                                                                                                                   doluptur? Cabor aut mintore
                                                                                                                                   scimiliquos autent aperror
                                                                                                                                   ecatemquae dolorerro corro et
                                                                                                                                   quibus aspis es et officides et
                                                                                                                                   harchil et iscil inctet plab incia
Foto: © trigon-film.org

                                                                                                                                   cullam inihic tore velite

                          Die auffällige Abwesenheit
                          von Menschenmengen
                          Flucht oder Konfrontation?
                          Wie die Pandemie die Rezeption von Filmen beeinflusst

                          von Isadora Campregher Paiva

                          Wie reagiert das Filmpublikum auf die               men befassten, die wir gerade durchlebten. Der
                          anhaltende Infektionsgefahr? Lassen sich            populärste Vertreter dieses Genres war »Conta-
                                                                              gion« (Soderbergh, 2011), ein relativ realisti-
                          die Menschen mithilfe von Fantasy- und
                                                                              scher Spielfilm über die weltweite Verbreitung       Die rosa Wolke: Symbol des
                          Romantik-Streifen in eine andere Welt               eines tödlichen Virus. Als dieser 2011 in die        Antifeminismus, der Natur­
                          entführen, um der Realität zumindest für            Kinos kam, war er mäßig erfolgreich, im Jahr
                                                                                                                                   zerstörung – oder der
                                                                                                                                   Pandemie? Wie unterschiedlich
                          kurze Zeit zu entkommen? Die Filmwissen-            2020 galt er als fast vergessen und war auf den      Filme abhängig vom zeitlichen
                          schaftlerin Isadora Campregher Paiva hat            meisten Streaming-Plattformen nicht mehr ver-        Kontext wahrgenommen
                                                                                                                                   werden, hat die brasilianische
                          überraschende Beobachtungen gemacht.                fügbar. Mit den immer größer werdenden Infek-
                                                                                                                                   Regisseurin Iuli Gerbase mit
                                                                              tionszahlen stieg jedoch auch die Popularität

                          A
                                                                                                                                   ihrem 2019 gedrehten und 2020
                                  ls die COVID-19-Epidemie sich zur Pan-      von »Contagion« stark an: Die Zahl der Google-       veröffentlichten Werk erfahren.
                                  demie auswuchs, kam es zu einem merk-       Suchen nach dem Film explodierte im März
                                  würdigen Phänomen: Viele Menschen           2020 geradezu, das mäßige Interesse von 2011
                          suchten nicht nach eskapistischer Unterhaltung      wurde bei Weitem übertroffen.
                          oder Zerstreuung, um sich von der beängsti-             Sicherlich verspürte nicht jeder diesen Drang,
                          genden Situation abzulenken. Stattdessen sahen      sich einen Film anzusehen, der so nah am eige-
                          sie sich Filme an, die sich mit denselben Proble-   nen Leben ist. Nach der neuen Popularität von

                                                                                                                                   Forschung Frankfurt | 1.2021   41
Die auffällige Abwesenheit von Menschenmengen - Flucht oder Konfrontation? Wie die Pandemie die Rezeption von Filmen beeinflusst
Leben in der Pandemie

                      Literatur      »Contagion« gefragt, sagte Kate Winslet, eine     Komplexität und den Risiken von echtem Erle-
                                     der Hauptdarstellerinnen: »Mich hat das total     ben aussetzen zu müssen (Kaes, 2009). Das wäre
         Gerbase, Iuli: Interview.
          Conducted I. C. Paiva,     umgehauen: Warum sollte jemand jetzt ›Conta-      für sehr unterschiedliche Inhalte denkbar vom
                 March 9, 2021.      gion‹ schauen? Da geht es um eine schreckliche    Durchleben von Todesgefahr in einem Horror-
                                     Pandemie, in der viele Menschen sterben!«         film bis hin zur Aufregung einer neuen Liebe in
     Kaes, Anton: Shell Shock
  Cinema: Weimar Culture and         (Winslet, 2021). Wie ist es jedoch zu erklären,   einem Liebesfilm.
          the Wounds of War,         dass offenbar manche Menschen ein starkes
   Princeton University Press,       Bedürfnis haben, das gerade stattfindende         Der Trost der erzählerischen Logik
              Princeton 2009.
                                     Trauma auf dem Bildschirm gespiegelt zu sehen?    Aber welchen Sinn sollte es haben, derartige
               Outka, Elizabeth:     Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass      Situationen und Empfindungen zu »üben«, die
Viral Modernism: The Influenza
                                     fiktive Geschichten es dem Zuschauer ermög-       im echten Leben ja ohnehin stattfinden? Einen
        Pandemic and Interwar
Literature, Columbia University      lichen, stellvertretend intensive Gefühle und     Pandemiefilm zu sehen während einer Pande-
         Press, New York 2020.       Zustände zu durchleben, ohne sich selbst der      mie, insbesondere einen so realistischen wie
 Sperling, Nicole: ›Contagion‹,                                                        »Contagion«, bindet und ordnet die Erfahrung
    Steven Soderbergh’s 2011                                                           in einen erzählerischen Rahmen, der einen
    Thriller, Is Climbing Up the                                                       Anfang, einen Mittelteil und – das ist wesent-
 Charts, The New York Times,                                                           lich – ein Ende hat. Das war besonders zu
   2020. https://www.nytimes.
    com/2020/03/04/business/
                                         AUF DEN PUNKT GEBRACHT                        Beginn der P   ­ andemie wichtig, genau in dem
media/coronavirus-contagion-                                                           Moment, als die Popularität von »Contagion«
movie.html (accessed 17/03/21)           •	Anstatt vor der unangenehmen               exponentiell anstieg, denn die Menschen woll-
      Rotten Tomatoes: The Pink
                                            Pandemiewirklichkeit in Heile-Welt-        ten sich gefühlsmäßig vorbereitet wissen auf
       Cloud (2021). https://www.           Filme zu fliehen, sahen sich zu Beginn     das, was auf sie zukam. Man sollte sich das
     rottentomatoes.com/m/the_              der Coronakrise viele Menschen             vorstellen als eine Art emotionaler Impfung:
                                                                                       ­
                       pink_cloud           Spielfilme über Seuchen und Katastro-      Indem wir uns selbst der Sache aussetzen, die
             (accessed 17/03/21)            phen an – etwa den 2011 ursprünglich       wir fürchten, aber dies in einer abgesicherten
    Winslet, Kate: Kate Winslet             nur mäßig erfolgreichen Hollywood-         Art und Weise tun, bereiten wir uns auf die
 on how ›Contagion‹ predicted               Film »Contagion«.
     a pandemic | The Graham                                                           echte Version vor. In Geschichten von schreck-
Norton Show – BBC, February              •	Die Ursache für dieses Verhalten           lichen Ereignissen ist immer auch ein gewisser
28, 2021. https://www.youtube.              könnte darin liegen, dass das              Anteil von Wirklichkeitsflucht, denn ungeach-
com/watch?v=g0cnGI2w6ug&                    Anschauen von fiktiven Geschichten         tet dessen, wie furchterregend die Handlung ist,
              ab_channel=BBC                als eine Art emotionaler Impfstoff für
            (accessed 17/03/21)                                                        sie folgt immer noch der erzählerischen Logik,
                                            die Realität dient. Darüber hinaus         die dem wahren Leben fehlt, wo Krankheiten
                                            folgen Spielfilme einer erzählerischen     oft Zufall sind und die Ereignisse jeglichen Sinn
                                            Logik, die im Gegensatz zum echten         vermissen lassen.
                                            Leben beruhigend wirkt.
                                                                                            Die Versessenheit auf pandemische Erzäh-
                                         •	Die Pandemie durchdringt unser Denken,     lungen scheint sich kurze Zeit nach dem
                                            so dass alle Filme aus einem neuen         anfänglichen Ausbruch gelegt zu haben zuguns-
                                            Blickwinkel interpretiert werden.          ten einer anderen Herangehensweise an Filme.
                                            Während Alltagsszenen etwa von einer       Als sich die Monate der Coronabeschränkun-
                                            geselligen Runde unter Umständen           gen hinzogen, wurde die Pandemie zu einem
                                            schwer zu ertragen sind, können            alles durchdringenden Teil unseres Lebens,
                                            dystopische Szenen plötzlich tröstlich     dem wir nicht entkommen konnten, so sehr
                                            wirken.                                    wir dies auch gewollt hätten. Für manche
                                         •	Die Umdeutung kann so weit gehen,          ­Menschen war es bereits kaum erträglich, Film-
                                            dass über manche Filme gesagt wird,         charaktere zu sehen, die die Verhaltensweisen
                                            sie hätten Corona »vorhergesagt«. Das       praktizierten, die wir vermeiden sollten (in die
                                            kann zwar das Seherlebnis bereichern,       Hand husten, eng zusammenstehen, gemein-
                                            aber auch die ursprünglichen Bedeutun-      sam aus demselben Glas trinken). Im Umkehr-
                                            gen, die im Film stecken, auslöschen,       schluss wurden mit einem Mal Szenerien
                                            wie im Fall von »The Pink Cloud«.           als tröstlich empfunden, die mit dystopischen
                                         •	Die Folgen der Spanischen Grippe            Erzählungen verbunden sind: verlassene Innen-
                                            vermitteln eine Vorstellung davon,          städte oder Menschen mit Masken. Diese
                                            welchen kulturellen Fußabdruck              unheimliche Umkehrung unserer gewohnten
                                            COVID-19 hinterlassen könnte. Nicht         Referenzen, die vermeintlich friedliche Szenen
                                            nur in direkten oder metaphorischen         spannend werden ließen und umgekehrt, ist
                                            Verweisen auf die Krankheit werden          für den Beobachter erkennbar als eine Fehl­
                                            Spuren zu finden sein, sondern auch in      interpretation der Absicht des Films. Dabei ist
                                            dem Umstand, dass manche Dinge              kaum zu übersehen, dass es dazu führen muss,
                                            nicht mehr vorkommen.                       dass sich der Zuschauer nicht in der fiktiven
                                                                                        Geschichte zurechtfindet.

42    1.2021 | Forschung Frankfurt
Die auffällige Abwesenheit von Menschenmengen - Flucht oder Konfrontation? Wie die Pandemie die Rezeption von Filmen beeinflusst
Leben in der Pandemie

Ein neuer Blick auf alte Filme                                                             nicht auf die frappierende Weise zu sprechen
Aber die Projektion unserer täglichen Ängste                                               kam, in der der Film unsere aktuelle Situation
auf Filme, die nichts mit der Pandemie zu tun                                              widerspiegelt. Besonders passend ist, dass der
haben, muss nicht unbedingt ein Nachteil sein.                                             Film etwas anspricht, das selten in anderen
In manchen Fällen kann sich dadurch eine neue                                              Geschichten über fiktive Katastrophen zu fin-
Bedeutungsebene eröffnen, die die Erfahrungs-                                              den ist: die absolute Langeweile und die Fähig-
welten des Films erweitert. Die Diskussionen in                                            keit des Menschen, sich auch an die bizarrsten
Seminaren der Filmwissenschaften im vergan-                                                Bedingungen anzupassen. Auch ohne die filmi-
genen Jahr haben mir gezeigt, dass die Studie-                                             sche Wucht anderer Schlüsselfilme zum Thema
renden ständig in allen möglichen Filmgenres                                               Pandemien (wie beispielsweise moderne Zom-
unheimliche Parallelen zur Pandemie ent­                                                   bie-Filme im Stil von »28 Days Later« oder
decken, egal wie alt diese Filme waren. Als zum                                            »Train to Busan«) lässt einen der Film »Die rosa
Beispiel im Film »Jaws« (»Der weiße Hai«,                                                  Wolke« besonders betroffen zurück.
Spielberg, 1975) der Bürger-
meister einer Stadt am Meer
es ablehnt, die lokale Touris-
musindustrie zu beschädigen,
um das Leben von Badegästen
zu retten, haben viele der Stu-
dierenden sich durch sein Ver-
halten an die Aussagen einiger
politisch Handelnder während
der Coronakrise erinnert gefühlt.
Während seine Weigerung, dem
Rat von Experten zu folgen, die
ihn vor der drohenden Gefahr
eines Haiangriffs warnten, nach
früher Lesart auf groteske Weise
fehlgeleitet erschien, wirkt sie
nun durchaus realistisch – und
zugleich umso erschreckender.
                                  Foto: ullstein bild - United Archives / PictureLux / T

Die Parallelen scheinen vom
heutigen Standpunkt aus so
offensichtlich, dass, wäre »Der
weiße Hai« im Jahr 2021
produziert worden, er sehr
­
wahrscheinlich als Allegorie
der Coronakrise gedeutet wor-
den wäre.
    Dieses Phänomen lässt sich
auch durch einen aktuellen
Kinofilm aus dem Jahr 2021
belegen. Iuli Gerbases Film »Die
rosa Wolke« (»A Nuvem Rosa«) ist ein brasiliani-                                           Bedeutungsgewinn und Bedeutungsverlust
sches Science-Fiction-Drama, das von einer töd-                                            Beiden Filmen – »Contagion« wie »Die rosa
lichen Wolke erzählt, die sich auf rätselhafte                                             Wolke« – wird bescheinigt, sie hätten Corona in
Weise um die Welt legt und alle Menschen in                                                einer Art und Weise vorhergesagt, die an Magie      Kommt uns irgendwie bekannt
einen Lockdown zwingt, der sich über viele                                                 grenzt. Was dabei außer Acht gelassen wird, ist     vor: Der US-amerikanische
                                                                                                                                               Film »Contagion« aus dem
Jahre hinzieht. Der Film konzentriert sich auf                                             die Tatsache, dass diese Filme – wie alle Kunst-
                                                                                                                                               Jahr 2011 scheint in vielen
ein Paar, das gerade einen One-Night-Stand hatte                                           werke – sich aus Themen und Ereignissen ablei-      Aspekten die Corona-Pandemie
und sich nun dazu verdammt fühlt, eine häusli-                                             ten aus der Zeit, in der sie entstanden sind. Und   vorausgesagt zu haben,
che Beziehung zu führen, um mit den strengen                                               so, wie unser Erleben dieser Filme von unserer      zum Beispiel erzählt er von
                                                                                                                                               geplünderten Supermarkt­
Beschränkungen leben zu können. Obwohl im                                                  aktuellen Situation geprägt ist, geht die Bedeu-
                                                                                                                                               regalen. 2020 erlebte der
Jahr 2017 geschrieben und abgedreht im Jahr                                                tung, die dem Werk bei seinem Entstehen inne-       ursprünglich mäßig erfolgeiche
2019, fühlten sich die Macher bei der Veröffent-                                           wohnte, mit der Zeit verloren. Im Fall von          Film eine beeindruckende
lichung 2021 verpflichtet, sowohl im Trailer als                                           »Contagion« waren nicht nur frühere Epide-          Renaissance.
auch im Vorspann eine Erklärung abzugeben,                                                 mien wie SARS und H1N1 Quellen der Inspira-
die besagt, dass »jegliche Ähnlichkeiten mit                                               tion; der Film basierte vor allem auf Recherchen
aktuellen Ereignissen rein zufällig« seien. Aber                                           von Wissenschaftlern, die sorgfältig skizzieren
natürlich gab es keine einzige Rezension, die                                              wollten, was im Fall einer Pandemie passieren

                                                                                                                                               Forschung Frankfurt | 1.2021   43
Leben in der Pandemie

                                                                                    Foto: picture alliance/PictureLux/The Hollywood Archive | The Legacy Collection
                                                                                                                                                                      Revolte der Natur handelt oder sogar, dass es
                                                                                                                                                                      eine Metapher für die städtische Gewalt ist und
                                                                                                                                                                      dafür, wie wir alle enden werden, nämlich ein-
                                                                                                                                                                      geschlossen in unseren Häusern. Als die Pande-
                                                                                                                                                                      mie kam, war das Erste, was ich dachte: »Mein
                                                                                                                                                                      Gott, die Leute werden den Film sehen und
                                                                                                                                                                      sagen: ›die Covid-Wolke‹« (aus einem Interview
                                                                                                                                                                      mit Gerbase vom 9. März 2021).
                                                                                                                                                                          Tatsächlich übernehmen nur eine Handvoll
                                                                                                                                                                      Rezensenten die allegorische Lesart der Wolke
                                                                                                                                                                      als eine Verkörperung der traditionellen Weib-
                                                                                                                                                                      lichkeit, die wahrscheinlich die vorherrschende
                                                                                                                                                                      gewesen wäre, wenn der Film ein Jahr früher
                                                                                                                                                                      in die Kinos gekommen wäre. Die weibliche
                                                                                                                                                                      Hauptperson in »Die rosa Wolke«, zu Beginn
                                                                                                                                                                      eine leidenschaftlich unabhängige Frau, die
                                     könnte. Die Tatsache, dass das Virus im Film sich                                                                                keine Kinder will, wird durch die Umstände in
         Alte Filme neu gesehen:     von China aus ausbreitet und ursprünglich von                                                                                    eine monogame heterosexuelle Beziehung und
           Bürgermeister Vaughn      einer Fledermaus übertragen wurde, ist nicht                                                                                     zur Mutterschaft gezwungen. Durch den Gebrauch
      (links, Murray Hamilton) in
                                     irrsinnig prophetisch, sondern fußt auf wissen-                                                                                  von Filtern durchdringt das trügerisch schöne
         »Jaws« lehnt es ab, den
     Tourismus zu beschränken,       schaftlichen Kenntnissen über Risikogebiete,                                                                                     Licht der Wolke jede Szene und taucht den Film
     um Badegäste zu schützen.       die man zur Entstehungszeit des Films im                                                                                         in eine rosafarbene Ironie.
     Aus heutiger Sicht ein zwar     Bewusstsein hatte.                                                                                                                   Gerbase kann dem Timing des Kinostarts
        fehlgeleitetes, aber nicht
                                         Wegen seiner Veröffentlichung während der                                                                                    aber auch etwas Positives abgewinnen: Sie weist
      unrealistisches Verhalten.
                                     COVID-19-Pandemie war die mediale Debatte                                                                                        darauf hin, dass die Zuschauer die Figuren auf
                                     um den Film »The Pink Cloud« sogar noch mys-                                                                                     eine viel tiefergehende Art wahrnehmen, als
                                     tischer. In Rezensionen wurde Drehbuchautorin                                                                                    sie es hatte erwarten können. Die zusätzliche
                                     und Regisseurin Iuli Gerbase wiederholt als                                                                                      Aufmerksamkeit, die das Zusammentreffen von
                                     »Prophetin« und »Hellseherin« bezeichnet. Auf                                                                                    Film und Pandemie mit sich brachte, hat dem
                                     der Rezensions-Website »Rotten Tomatoes« heißt                                                                                   Film wahrscheinlich auch dabei geholfen, beim
                                     es in einer Zusammenfassung: »›Die rosa Wolke‹,                                                                                  renommierten Sundance Film Festival aufge-
                                     ein überaus relevantes Debüt von Autorin und                                                                                     nommen zu werden, wo er seine Premiere feiern
                                     Regisseurin Iuli Gerbase, greift in die emotio-                                                                                  konnte. Andererseits, so bemerkt Gerbase, lasse
                                     nalen Bruchlinien des Pandemielebens ein und                                                                                     die Aktualität von »Die rosa Wolke« Filmver-
                                     liefert bemerkenswerte Beobachtungen über                                                                                        treiber unter Umständen vorsichtig werden,
                                     menschliches Verhalten.« Hier wird von »Pan-                                                                                     den Film für den Vertrieb zu kaufen, da sie
                                     demie« gesprochen, nicht von »Quarantäne«,                                                                                       befürchten, dass sich die Menschen nach einem
                                     was eigentlich zutreffender wäre. Die giftige                                                                                    Jahr der Zurückgezogenheit mehr eskapistische
                                     Wolke im Film hat wenig gemein mit dem                                                                                           Kost wünschen.
                                     Coronavirus – abgesehen von der Tatsache, dass
                                     es sich um ein weltweites Phänomen handelt,                                                                                      Spanische Grippe als Blaupause
                                     das die Menschen zwingt, zu Hause zu bleiben.                                                                                    Für diese Vorsicht der Vertriebsfirmen gibt es
                                                                                                                                                                      gute Gründe, denn es ist schwer vorherzusagen,
                                     »Die rosa Wolke« – Pandemie schlägt Feminismus                                                                                   wohin es die Zuschauer in Zukunft ziehen wird.
                                     Als Iuli Gerbase gefragt wurde, wie sie die Aus-                                                                                 Die Erfahrung der Grippepandemie von 1918/
                                     wirkungen dieses zufälligen Zusammentreffens                                                                                     1919 könnte uns eine Vorstellung davon ver-
                                     von Film und Pandemie einschätzt, sagte sie, sie                                                                                 mitteln, wie sich COVID-19 darauf auswirken
                                     habe sofort befürchtet, dass dies die möglichen                                                                                  könnte, welche Filme künftig realisiert werden.
                                     Lesarten des Films einschränken würde:                                                                                           Die sogenannte Spanische Grippe, vom Histori-
                                         »Als ich das Drehbuch geschrieben habe,                                                                                      ker Albert Crosby 2003 als die »vergessene
                                     konnte ich mir viele mögliche Bedeutungen der                                                                                    ­Pandemie« tituliert, hat in den darauffolgenden
                                     rosa Wolke vorstellen. Die offensichtlichsten                                                                                     Jahrzehnten angeblich einen geringen Fußab-
                                     und vordringlichsten sind die Unterdrückung                                                                                       druck in Kunst und Unterhaltung hinterlassen.
                                     der Frau und die erzwungene Monogamie. Die                                                                                        Jüngere Forschungsarbeiten haben dieses Nar-
                                     Protagonistin wird in ein weibliches Rollenmo-                                                                                    rativ jedoch revidiert und darauf hingewiesen,
                                     dell gepresst, und die Gesellschaft erwartet, dass                                                                                dass die Auswirkungen dieser tödlichen Pande-
                                     sie dem gerecht wird. Hier kommt auch die rosa                                                                                    mie sich in einer großen Bandbreite von kultu-
                                     Farbe der Wolke ins Spiel. Aber es gab auch                                                                                       rellen Werken beobachten ließen, allerdings
                                     viele andere mögliche Interpretationen, zum                                                                                       auf eine indirekte oder metaphorische Weise
                                     Beispiel, dass es sich um eine Art Strafe oder                                                                                    (Outka, 2020).

44    1.2021 | Forschung Frankfurt
Leben in der Pandemie

    Wenn wir erst einmal wissen, wonach wir
suchen sollen, können wir die Spuren der Pan-
demie tatsächlich in vielen Erscheinungsformen
finden – im grippegeschwächten Herzen von
Mrs. Dalloway in Virginia Woolfs gleichnamiger
Novelle (1925), aber auch in der Plage, die
der Vampir im deutschen Stummfilmklassiker
»Nosferatu« (Murnau, 1922) übers Land ver-
breitete. Das kulturelle Erbe von COVID-19 wird
wahrscheinlich ähnlich aussehen, und es wird
nicht nur in direkten oder metaphorischen
Bezugnahmen auf die Pandemie zu finden sein,
sondern auch in der auffälligen Abwesenheit
von Menschenmengen und geteilten Trinkhal-
men. Sicher sein können wir nur in der einen
Sache: dass die Bedeutung, die wir Filmen
zuschreiben, von den Umständen abhängig ist,
unter denen wir sie anschauen, und dass diese
Bedeutung sich somit im Lauf der Zeit ändert.
Wir werden es künftigen Filmwissenschaftlern
und Historikern überlassen müssen, die langfris-
tigen filmischen Effekte der Pandemie zu analy-
sieren und neu einzuschätzen. 

    Die Autorin
    Isadora Campregher Paivak, 28, lehrt und
    forscht am Institut für Filmwissenschaft an
    der Goethe-Universität. Sie hat einen Master­
    studiengang in Soziologie an der Universidade
    Federal do Rio Grande do Sul (UFRGS) in
    Brasilien absolviert. Im Anschluss studierte
    sie im Studiengang »International Master in
    Audiovisual and Cinema Studies« (IMACS) an
    der Goethe-Universität, verbunden mit Aus-
    tauschsemestern an der Universität Lüttich
    (Belgien) und der Universität Amsterdam
    (Niederlande). Derzeit ist sie wissenschaftliche
    Mitarbeiterin im Projekt »Digital Cinema-Hub«,
    das sich der Entwicklung und Anwendung
    digitaler Methoden für die Erforschung des
    Films widmet. In ihrer eigenen Forschung
    beschäftigt sie sich mit den Veränderungen
    der amerikanischen Filmindustrie im Zeitalter
    des Streamings.
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    CampregherPaiva@tfm.uni-frankfurt.de

                                                                     Forschung Frankfurt | 1.2021   45
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