Die Bedeutung der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) in der multimodalen Behandlung depressiver Störungen
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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich University Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2020 Die Bedeutung der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) in der multimodalen Behandlung depressiver Störungen Himmighoffen, Holger ; Boeker, Heinz Abstract: Die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) ist Teil des multimodalen Behandlungskonzepts in der Behandlung insbesondere depressiver Erkrankungen. Die therapieresistente Depression ist als ein wesentlicher Indikationsbereich anzusehen. Nach jahrzehntelanger Erfahrung erweist sich EKT weiter- hin als sehr wirksame und aufgrund der heutigen Standards und Technik als sichere und relativ neben- wirkungsarme Behandlungsmethode. Daher überrascht ihre vorurteilsbeladene und negative Wahrnehmung und Bewertung. Auch die sehr häufige Einschätzung der EKT als eine «Ultima ratio» führt dazu, dass sie in vielen Fällen erst zu einem sehr späten Zeitpunkt im Krankheitsverlauf angewandt wird – trotz ander- slautender Empfehlung bspw. der S3-Leitlinie Unipolare Depression der DGPPN. Der Indikationsbereich für EKT ist klar umrissen und es gibt nur wenige absolute Kontraindikationen; auch eine Kombination von EKT mit anderen Behandlungsverfahren ist möglich und sinnvoll. Zentrales Anliegen dieses Ar- tikels ist die notwendige Enttabuisierung: EKT sollte im Rahmen einer umfassenden Therapieplanung als mögliche Behandlungsoption angeboten werden. Oftmals ermöglicht erst sie die Überwindung depressiver Blockaden, die Auseinandersetzung mit biografisch relevanten Konfliktthemen, dysfunktionalen Bewäl- tigungsmechanismen, traumatischen Erfahrungen und auch dem «existenziellen Thema der verlorenen Lebenszeit» infolge einer therapieresistenten Depression. Schlüsselwörter: Elektrokonvulsionstherapie (EKT), therapieresistente Depression, Psychotherapie, multimodale Behandlung Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-195798 Journal Article Published Version The following work is licensed under a Creative Commons: Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0) License. Originally published at: Himmighoffen, Holger; Boeker, Heinz (2020). Die Bedeutung der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) in der multimodalen Behandlung depressiver Störungen. Psychotherapie-Wissenschaft, 10(2):61-73.
Die Bedeutung der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) in der multimodalen Behandlung depressiver Störungen Holger Himmighoffen & Heinz Böker Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 61–73 2020 www.psychotherapie-wissenschaft.info CC BY-NC-ND https://doi.org/10.30820/1664-9583-2020-2-61 Zusammenfassung: Die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) ist Teil des multimodalen Behandlungskonzepts in der Behand- lung insbesondere depressiver Erkrankungen. Die therapieresistente Depression ist als ein wesentlicher Indikationsbereich anzusehen. Nach jahrzehntelanger Erfahrung erweist sich EKT weiterhin als sehr wirksame und aufgrund der heutigen Standards und Technik als sichere und relativ nebenwirkungsarme Behandlungsmethode. Daher überrascht ihre vorur- teilsbeladene und negative Wahrnehmung und Bewertung. Auch die sehr häufige Einschätzung der EKT als eine «Ultima ratio» führt dazu, dass sie in vielen Fällen erst zu einem sehr späten Zeitpunkt im Krankheitsverlauf angewandt wird – trotz anderslautender Empfehlung bspw. der S3-Leitlinie Unipolare Depression der DGPPN. Der Indikationsbereich für EKT ist klar umrissen und es gibt nur wenige absolute Kontraindikationen; auch eine Kombination von EKT mit anderen Behandlungsverfahren ist möglich und sinnvoll. Zentrales Anliegen dieses Artikels ist die notwendige Enttabuisierung: EKT sollte im Rahmen einer umfassenden Therapieplanung als mögliche Behandlungsoption angeboten werden. Oftmals ermöglicht erst sie die Überwindung depressiver Blockaden, die Auseinandersetzung mit biografisch relevanten Konflikt- themen, dysfunktionalen Bewältigungsmechanismen, traumatischen Erfahrungen und auch dem «existenziellen Thema der verlorenen Lebenszeit» infolge einer therapieresistenten Depression. Schlüsselwörter: Elektrokonvulsionstherapie (EKT), therapieresistente Depression, Psychotherapie, multimodale Behandlung Geschichte und Grundlagen der EKT Die EKT ist bei bestimmten Krankheitsbilden lebens- rettend (z. B. bei perniziöser Katatonie) und wirksam bei Die Elektrokonvulsionstherapie (EKT), früher auch als einer grossen Zahl psychopathologischer Syndrome: Sie Elektrokrampftherapie und ursprünglich als «Elektro- ist hoch wirksam antidepressiv, antimanisch, antisuizi- schocktherapie» bezeichnet, ist aktuell nach der Psy- dal, antikataton und antikonvulsiv sowie teilweise auch chopharmakotherapie das wichtigste und am häufigsten antipsychotisch und stimmungsstabilisierend (Grager & eingesetzte somatische Behandlungsverfahren in der Di Pauli, 2013; Kellner, 2019). Trotzdem wurde und Psychiatrie (Sackeim, 2017). Sie wurde 1938 von den wird sie immer wieder kritisch beurteilt (vgl. z. B. die italienischen Psychiatern Ugo Cerletti und Lucio Bini Übersichtsarbeiten von Read & Bentall, 2010; Read & entwickelt sowie erstmals angewendet und fand eine ra- Arnold, 2017), wobei dort der tatsächliche Effekt der sche internationale Verbreitung innerhalb der damaligen EKT als zu gering im Verhältnis zum Ausmass der Ne- Psychiatrie, da zu dieser Zeit die meisten der heute ver- benwirkungen gewertet wird. wendeten Psychopharmaka nicht existierten und EKT sich Die EKT wurde sicherlich in den ersten Jahrzehnten als besonders wirksam zur Behandlung verschiedenster nach ihrer Einführung 1938 sehr unkritisch und zu häu- psychischer Störungen (insbesondere schizophrene und fig und mit viel zu breiter Indikation ohne ausreichende depressive Erkrankungen) erwies (Reinke et al., 2013). Aufklärung und möglicherweise ohne Einverständnis Das grundlegende Wirkprinzip der EKT ist die Auslösung der Patient*innen durchgeführt. Auch war die EKT eines kurzandauernden (30–60 Sekunden), generalisierten bis circa Anfang der 1960er Jahre mit recht schweren cerebralen Krampfanfalles mittels elektrischer Stimulation Nebenwirkungen verbunden. So wurde bis dahin EKT des Gehirns. Die Beobachtung, dass solche Krampfanfälle ohne Narkose durchgeführt, das heisst im Wachzustand therapeutische Wirkungen haben, hatte man schon einige eingeleitet (der dann ausgelöste generalisierte cerebrale Jahre zuvor gemacht und bereits Krampfanfälle zu thera- Krampfanfall ist mit einem Bewusstseinsverlust verbun- peutischen Zwecken bei psychisch Kranken ausgelöst.1 den). Auch gab es bis Mitte der 1950er Jahre noch nicht die Möglichkeit einer sicheren und gut kontrollierbaren Muskelrelaxation, sodass die mit dem Krampfanfall 1 Zum Beispiel nutzte der ungarische Psychiater Ladislaus von Me- duna Injektionen mit Kampfer (1934) und Cardiazol (1935) zur verbundenen tonisch-klonischen Krämpfe der Körpermus- Anfallsauslösung. kulatur nicht unterdrückt werden konnten. Dies führte Psychosozial-Verlag • www.psychosozial-verlag.de 61
Therapie depressiver Prozesse | Thérapie des processus dépressifs durch die plötzlichen Kontrakturen der Muskulatur oft zu als eine «Ultima ratio» in der Behandlung von depressiven Muskel- und Sehnenverletzungen oder auch Knochenfrak- und anderen psychischen Störungen führt dazu, dass sie turen (insbesondere der Wirbelsäule). Das erste verfügbare in vielen Fällen erst zu einem sehr späten Zeitpunkt im und heute weiterhin bei der EKT regelmässig eingesetzte Verlauf einer Krankheitsepisode angewandt wird (vgl. Muskelrelaxans Suxamethonium (im Englischen auch als Pfaff et al., 2013). Auch wird EKT – ganz zu Unrecht – Succinylcholin bezeichnet) wurde in den 1950er-Jahren sehr oft mit Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie in eingeführt und in der Schweiz 1954 zugelassen. Seit dem Verbindung gebracht. Einsatz von Muskelrelaxantien bei der EKT ist auch eine In diesem Beitrag soll EKT als Behandlungsmethode mit Narkose obligatorisch, da die bei wachen Patient*innen ihren Wirkmechanismen und Wirkungen, ihren Indikatio- dann auftretende kurzzeitige Lähmung der Atemmusku- nen und Kontraindikationen, ihren Risiken und Nebenwir- latur als extrem beängstigend erlebt wird. Auch waren kungen sowie ihrer Bedeutung innerhalb des multimodalen kognitive Störungen wie postiktale Verwirrtheitszustände Behandlungskonzepts depressiver Störungen und ihrem und Gedächtnisstörungen in den Anfangszeiten der EKT Verhältnis zur Psychotherapie dargestellt werden. sehr viel häufiger und ausgeprägter, was mit der Intensität und der Art des verwendeten Stroms zur Anfallsauslösung zusammenhing. Ursprünglich wurde von Cerletti und Wirkmechanismen der EKT Bini sinusförmiger Wechselstrom verwendet, im weiteren Verlauf der technischen Entwicklung der EKT-Geräte ab Die Wirkung der EKT resultiert aus dem generalisierten den 1960er Jahren dann kurz gepulster Gleichstrom (sog. cerebralen Krampfanfall und nicht aus dem elektrischen Kurzpulstechnik) eingesetzt, wodurch die Menge abge- Strom, der appliziert wird. Neben dem Krampfanfall und gebener Ladung für die Auslösung eines Krampfanfalles möglicherweise auch der Suppression des Krampfanfalles reduziert und so das Ausmass der kognitiven Störungen als essenzielle Wirkmechanismen werden weitere disku- verringert werden konnte. tiert. So gibt es eine Reihe von Studien, die verschiedenste Aufgrund der ab den 1960er Jahren laufenden Ver- neurophysiologische und neurofunktionelle kurz- und änderungen und Weiterentwicklungen der EKT hin- langfristige Veränderungen durch EKT festgestellt haben: sichtlich Technik und Durchführung ist diese seitdem ➣ kurz- und langfristiger Anstieg neurotropher Faktoren sicherer, weniger belastend und mit weniger Nebenwir- wie BDNF (Brain Derived Nerve Factor; Okamoto et kungen verbunden (sog. modifizierte EKT): Es gibt eine al., 2008; Piccinni et al., 2009; Rocha et al., 2016) ausführliche mündliche und schriftliche Aufklärung und NGF (Nerve Growth Factor; Bilgen et al., 2014) (zumeist unter Einbeziehung Angehöriger) auf die ein ➣ konsekutiv Neurogenese und Neuroplastizität im schriftliches Einverständnis der Patient*innen für die Hippocampus und anderen Hirnregionen (Bolwig & Durchführung folgt (bei einer lebensbedrohlichen Not- Madsen, 2007; Lamont et al., 2005; Madsen, 2000; fallsituation und nicht bestehender Einwilligungsfähigkeit Michael et al., 2003a; Olesen et al., 2017; Otabe et der Patient*innen wird die Durchführung aufgrund einer al., 2014; Schloesser et al., 2015; Smith et al., 2014; Patient*innenverfügung und Beiziehung von Vertretungs- Svensson et al., 2016; Tendolkar et al., 2013) personen wie Beistand, Ehepartner*in, Verwandten etc. ➣ kurzfristig verstärkte Freisetzung von Neurotransmit- geklärt). Die Durchführung der EKT erfolgt durch damit tern: Dopamin , Serotonin (Baldinger et al., 2014; erfahrene Psychiater*innen in Kurznarkose (nach Prä- Ishihara & Sasa, 1999), GABA (Sanacora et al., Oxigenierung) und mit Muskelrelaxation (durchgeführt 2003), Noradrenalin (Kelly & Cooper, 1997) durch Anästhesist*innen). Vor, während und bis 2–3 ➣ Beeinflussung der Rezeptorenfunktion im Gehirn: Stunden nach der EKT-Sitzung findet ein Monitoring von 5-HT3 , 5-HT1A , 5-HT2A ¯ (Ishihara & Sasa, 1999) Blutdruck, Herzfrequenz und Sauerstoff-Sättigung im Blut ➣ Freisetzung verschiedenster Hormone wie Prolaktin statt. Obligatorisch sind ausserdem eine EEG-Ableitung, und TSH (Abrams & Sukartz, 1985; Abrams, 1992; fakultativ EMG (Elektromyografie) sowie der Einsatz von Aperia et al., 1985), Cortisol und ACTH (Fink & Gleichstrom, Rechteckimpulsen und Kurzpulstechnik. Bei Nemeroff, 1989; Florkowski et al., 1996), Endor- erfolgreicher EKT-Serie (in der Regel 10–12 Sitzungen) phine (Abrams, 1992), Oxytocin (Scott et al., 1989; wird ein Erhaltungs-EKT empfohlen. Whalley et al., 1987) Die modifizierte EKT ist heute anerkannter und inter- ➣ Reduktion der frontalen kortikalen Hyperkonnektivi- national verbreiterter Standard bei der Behandlung. Auch tät (bei depressiven Patient*innen) zwischen medialen wird die Indikation zu einer EKT heute präziser und enger Anteilen des Cortex (ACC und medialer frontaler gestellt. Doch vor dem Hintergrund der grossen Wirksam- Cortex), des DLPFC (dorsolateraler präfrontaler keit, der verbesserten und sicheren Durchführung und der Cortex) beidseits und der links unilateralen Region über viele Jahrzehnte bestehenden Erfahrungen mit der im supramarginalen und angulären Gyrus und dem EKT ist es überraschend, wie stark vorurteilsbeladen und somatosensorischen Assoziationscortex (SAC) (Perrin kritisch negativ EKT weiterhin in der Öffentlichkeit und et al., 2012) auch von Fachpersonen wahrgenommen und bewertet ➣ Normalisierung abnormer funktionaler Konnektivität wird und weniger häufig als eigentlich indiziert eingesetzt (bei depressiven Patient*innen) bei zwei Netzwerkpaa- wird (Sackeim, 2017; Lauber et al., 2005; Grözinger et ren (posteriorer Default Mode/DMPFC und posterior al., 2013). Auch die sehr häufige Einschätzung der EKT Default Mode/linker DLPFC) (Abbott et al., 2013) 62 Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 2020
Holger Himmighoffen & Heinz Böker: Die Bedeutung der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) … ➣ Normalisierung bei depressiven Patient*innen im Ver- massen ist EKT – gemäss der Behandlungsleitlinie der gleich zu psychisch Gesunden verminderter Glutamat/ Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) Glutamin (Glx)-Konzentrationen im linken anterioren und DGPPN (DGBS & DGPPN, 2020) – auch indiziert für Cingulum (ACC) (Pfleiderer et al., 2003) und linken die Behandlung depressiver Episoden bei einer bipolaren dorsolateralen präfrontalen Cortex (DLPFC) (Mi- Störung (bipolare Depression). Die Indikationen für eine chael et al., 2003b) EKT sind in Tabelle 1 übersichtlich dargestellt. Durch die Forschung mit neuen Untersuchungsmethoden bei Menschen in vivo sind neue Erkenntnisse betreffend perniziöse Katatonie der erwünschten und unerwünschten Effekte der EKT zu (unbehandelt hohe Letalität) erwarten (z. B. mittels Single Spectron Emission Computed akute Suizidalität oder sonstige Tomography [SPECT], Positron Emission Tomography lebensbedrohliche Zustände [PET], functional Magnetic Resonance Imaging [fMRI], Notfall- (wie z. B. Nahrungs- und Trinkverweige- indikationen rung) bei schweren affektiven, schizoaf- Magnetic Resonance Spectroscopy [MRS], Computer- fektiven oder schizophrenen Störungen Assisted Quantitative Electroencephalography [QUEEG] manisches Delir oder EEG-Mapping/low resolution brain electro-magnetic therapierefraktäres malignes tomography [LORETA]). neuroleptisches Syndrom schwere (unipolare oder bipolare) Depression mit hoher Suizidalität, Indikationen für eine EKT Wahn und/oder ausgeprägtem Stupor schizoaffektive Störung mit schwerer Die Hauptindikationen für EKT sind schwere depres- Depression sive Episoden (bei unipolar depressiven und bipolaren Therapie der bekanntes gutes Ansprechen auf EKT Störungen), manische Episoden, schizophrene Störungen ersten Wahl zu grosses Risiko bei Anwendung an- und katatone Zustandsbilder (Kellner, 2019) und EKT derer Behandlungen (insb. bei älteren ist die Behandlungsoption erster Wahl, wenn schwere Patient*innen oder in der Schwanger- schaft/Postpartum) und oft lebensbedrohliche psychiatrische Symptome und Patient*innenwunsch (bei gegebener Zustandsbilder vorliegen (wie akute Suizidalität, Malnu- grundsätzlicher Indikation) trition, schwere katatone oder psychotische Symptomatik). In den Behandlungsempfehlungen der psychiatrischen therapieresistente Fachgesellschaften der Schweiz (SGAD, SGBP, SGPP) für (unipolare oder bipolare) Depression therapieresistente, die somatische Behandlung unipolar depressiver Störun- nicht lebensbedrohliche Katatonien gen (Holsboer-Trachsler et al., 2016a, b) ist EKT indiziert Therapie der therapieresistente Psychose, bei schweren depressiven Episoden mit psychotischen zweiten Wahl Schizophrenie, schizoaffektive Störung Symptomen, depressiven Episoden mit Therapieresistenz therapieresistente Manie oder in besonderen Situationen (wie z. B. schwere Suizi- therapieresistente gemischte dalität u. a.), die eine rasche Besserung erfordern. Dabei affektive Episode kann EKT zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung erwogen werden und wird neben der Akutbehandlung Tab. 1: Indikationen für eine Elektrokonvulsionstherapie auch für die Erhaltungstherapie empfohlen, insbeson- dere dann, wenn Patient*innen in der akuten Phase der Behandlung auf EKT angesprochen haben oder mehrere Kontraindikationen für eine EKT rezidivprophylaktische Therapieversuche mit Psychophar- maka nicht erfolgreich waren. Es gibt nur wenige absolute oder relative Kontraindika- In der Behandlungsleitlinie der Deutschen Gesellschaft tionen für eine Elektrokonvulsionstherapie. Grundsätz- für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde liche Voraussetzung für die Durchführung einer EKT ist (DGPPN) wird als Hauptanwendungsbereich der EKT eine Narkosefähigkeit. Ansonsten gibt es eine Reihe von vor allem die therapieresistente Depression angegeben Hirn-, Herz- und Gefässerkrankungen, die eine Kontra- (DGPPN, 2017; DGBS & DGPPN, 2020). Dort wird indikation darstellen, da sie aufgrund des kurzzeitigen EKT als klar indiziert gesehen, wenn nach zwei Behand- Blutdruckanstiegs während des Krampfanfalles bei der lungsversuchen mit Antidepressiva eine fehlende oder EKT mit einem erhöhten Komplikationsrisiko vor al- unzureichende Besserung der Symptomatik vorliegt. EKT lem für Blutungen einhergehen können (s. hierzu insb. ist dort die Behandlung erster Wahl bei hoher Dringlich- Zeile 1 von Tab. 2). So gibt es zwar mehrere Fallberichte keit (z. B. bei vitaler Bedrohung, schwerer Suizidalität über komplikationsfreie Durchführungen bei sorgfältiger u.ä.), bei Kontraindikationen oder erhöhten Risiken für Blutdruckkontrolle (Mueller et al., 2009), aber auch ei- andere Behandlungen, bei Patient*innenwunsch oder nen Einzelfallbericht mit fatalem Ausgang nach Ruptur auch anderen positiven prognostischen Faktoren für eine eines Bauchaortenaneurysmas (Dogan et al., 2016). Bei EKT (gute Erfahrungen bei früherer EKT, psychotische cerebralen Aneurysmen gibt es bisher einen Fallbericht Symptome, psychomotorische Verlangsamung). Gleicher- einer Ruptur nach einer EKT (Gugger & Dunn, 2019), Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 2020 63
Therapie depressiver Prozesse | Thérapie des processus dépressifs in der gleichen Publikation aber auch Übersicht zu einer Erläuterungen von Erfahrungsbeispielen aus der Praxis), grösseren Fallzahl von Patient*innen mit vorbehandelten ehe ein schriftliches Einverständnis in die EKT (informed und nicht vorbehandelten Aneurysmen, bei denen die consent) erfolgt. Ausnahmesituationen wurden bereits EKT komplikationsfrei verlief. Auch ein unzureichend genannt. Hier ist eine rasche Klärung auf Basis der in eingestellter arterieller Hypertonus, eine koronare Herz- solchen Situationen vorgegeben gesetzlichen Regelungen krankheit und ein erhöhter Hirndruck stellen relative angezeigt. Zusätzlich zur Aufklärung und Einverständ- Kontraindikationen und sollten vor Beginn einer EKT niserklärung müssen vor dem Beginn der EKT einige gut behandelt und eingestellt sein. Zeile 3 in Tabelle 2 somatische Routineabklärungen erfolgen: Wie vor jeder nennt Umstände oder Erkrankungen, die keine Kontra- Narkose neben einer körperlichen Untersuchung ein indikation für eine EKT darstellen. Bei zusätzlichen Routinelabor und ein Elektrokardiogramm (EKG); dann komorbiden psychischen Störungen muss berücksichtigt eine Magnetresonanztomografie (MRI) des Kopfes (nicht werden, wie das Ausmass ist und ob aktuell andere älter als 1 Jahr) zum Ausschluss intracerebraler Verände- spezifische Behandlungsmassnahmen nötig sind. Auch rungen und gegebenenfalls eine Abdomen-Sonografie oder sollten Patient*innen darüber aufgeklärt werden, dass ein Röntgen-Thorax sowie bei relevanten somatischen die komorbide Störung und deren spezifischen Symptome Vorerkrankungen eine fachärztliche Kontrolle (s. Tab. 2). von der EKT nicht gebessert werden. Neben der klinischen psychischen Symptomatik und der Erhebung des psychopathologischen Befundes vor Beginn der EKT sollten quantitative Erhebungen der akuter Myokardinfarkt (
Holger Himmighoffen & Heinz Böker: Die Bedeutung der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) … Anpassung und Umstellung der eingesetzten Narkose- eine erfolgte EKT-Serie und sich anschliessende Erhal- mittel und zusätzlicher Medikamente u. a. m.), die man tungs-EKT später eine Demenz zu entwickeln, ist nicht nutzen kann. erhöht (Chu et al., 2018; Osler et al., 2018). Das Risiko Eine einzelne EKT-Sitzung hat in der Akutbehandlung für Schlaganfälle ist durch eine EKT-Behandlung nicht keinen ausreichenden klinischen Effekt, was bedeutet, erhöht, auch nicht nach vorangegangenem Schlaganfall dass eine Serie von Sitzungen erfolgen muss. Dabei werden (Rozing et al., 2019). EKT ruft keine nachweisbaren insgesamt 10–12 Sitzungen geplant (die Anzahl kann je Hirnschädigungen hervor; bisherige Studien zeigen im nach klinischem Verlauf und Krankheitsbild etwas vari- Gegenteil sogar Hirnvolumenzunahmen in bestimmten ieren) und pro Woche 2–3 Sitzungen durchgeführt. Erste Regionen (Nuninga et al., 2019; Sartorius et al., 2019; klinische Effekte sind in aller Regel nach der 5.–6. Sitzung Takamiya et al., 2019; zwei Metaanalysen: Gbyl & Vide- spürbar (was aber auch sehr variieren kann). bech, 2018; Takamiya et al., 2018). Es gibt keinen klaren Die meisten Medikamente, die die Patient*innen vor Hinweis auf ein erhöhtes Risiko nach einer EKT an einer der EKT eingenommen haben, insbesondere Antidepres- Epilepsie zu erkranken (Bøg et al., 2018). siva wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Die meisten tatsächlichen unerwünschten Wirkungen (SSRI), Antipsychotika und andere (für andere somatische treten während der EKT-Serie mit 2–3 Sitzungen pro Erkrankungen), können und sollen unverändert beibe- Woche auf. Dabei zählen zu den häufigsten kurzfristigen halten werden. Die Einnahme von Medikamenten sollte unerwünschten Wirkungen (während oder direkt nach wegen der Narkose (relative Nüchternheit) bis zu zwei einer EKT-Sitzung): Kopf- und Muskelschmerzen, Benom- Stunden vor der Behandlung mit wenig Wasser erfolgen. menheit und kurze Verwirrtheit nach dem Anfall, Übel- Es gibt einige Medikamente, deren Dosis reduziert werden keit, kurzzeitig erhöhter Blutdruck und ein beschleunigter muss oder die abgesetzt werden müssen: Puls (Tachykardie) sowie eine Verlangsamung des Pulses ➣ Lithium (der Lithium-Spiegel sollte unter 0,4 mmol/l (Bradykardie) postiktal (Häufigkeiten nach Benbow & liegen) Crentsil, 2004; s. Tab. 3). Diese lassen sich bei Bedarf gut ➣ Antiepileptika, Benzodiazepine, Barbiturate (absetzen symptomatisch behandeln (Schmerzmittel, Medikamente oder auf geringe Dosis reduzieren; diese sind antikon- gegen Übelkeit, hohen Blutdruck u. a.) und klingen sehr vulsiv und erhöhen die Schwelle zur Auslösung eines rasch nach der EKT-Sitzung wieder ab. Krampfanfalles, was die Durchfü hrung einer EKT verhindern kann) ➣ tri- und tetrazyklische Antidepressiva, SNRI (Sero- Nebenwirkung schwer mild/mo- gesamt tonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wie (%) (%) derat (%) (%) Venlafaxin und Duloxetin) (Dosis reduzieren oder Gedächtnis- evtl. absetzen, da das Risiko kardialer Arrhythmien störungen 10 62 72 durch diese erhöht ist) ➣ bei Schizophrenien und Katatonien können Clozapin Kopfschmerzen 11 44 55 und andere Antipsychotika hingegen synergistisch Schwindel mit der EKT wirken und das Ansprechen auf EKT 10 52 62 verbessern (Schulz-Du Bois & Conca, 2013) Verwirrung 3 41 44 Sollte eine EKT-Serie erfolgreich sein, das heisst eine Erbrechen 0 9 9 (Teil-)Response oder eine Remission bewirken, dann ist andere* 7 11 18 in aller Regel im Anschluss dringend eine Fortsetzung der EKT (sog. Erhaltungs-EKT) und eine Psychopharmako- * Muskelschmerzen, Inkontinenz, trockener Mund, Palpita- therapie (inkl. Re-Evaluation) empfohlen. tionen, Schwächegefühl, Übelkeit Tab. 3: Anteil Patient*innen (in %, n=70), die über Unerwünschte Wirkungen und Risiken von EKT milde/moderate und schwere Nebenwirkungen durch EKT berichteten Die EKT hat – wie jede medizinische Behandlung – un- erwünschte Wirkungen und Risiken, die aber von den Patient*innen, der allgemeinen Öffentlichkeit und auch Seltene kurzfristige unerwünschte Wirkungen, die schwer- medizinischen Fachpersonen sehr häufig überschätzt und wiegender sind, sind nach dem Krampfanfall auftretende von Medien wie EKT-Gegner*innen und -Kritiker*innen (postiktale) stärkere Verwirrtheits- und Agitationszu- deutlich überzeichnet werden. So gibt es einige vermeint- stände, Zahn- oder Zungenverletzungen, Herzrhythmus- liche der EKT zugeschriebene unerwünschte Wirkungen, störungen (kardiale Arrhythmien) und eine Asystolie, die durch Studien klar widerlegt wurden: prolongierte Anfälle und im Rahmen der Narkose ein Die Mortalität einer EKT-Behandlung liegt in grossen Larynxspasmus oder eine Aspiration. nationalen Kohorten unter 1:400000 Behandlungen und Neben der kurzzeitigen Verwirrtheit, den kurzen Ge- damit sehr deutlich unter der allgemeinen Mortalität bei dächtnis- und Orientierungsstörungen direkt nach einer Depressionen (Torring et al., 2017). Das Risiko, durch EKT-Sitzung und dem Krampfanfall treten mittelfristig im Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 2020 65
Therapie depressiver Prozesse | Thérapie des processus dépressifs Verlauf einer EKT-Serie sehr häufig temporäre kognitive Depressionen liegt zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr, Störungen auf, die insbesondere das Gedächtnis und selten ein zweiter zwischen dem 50. und 60. Frauen sind von die Orientierung oder auch exekutive Funktionen betref- einer Depression zwei- bis dreimal häufiger betroffen als fen. Dabei finden sich folgende kognitive Störungen: Sehr Männer und etwa die Hälfte aller Depressionen bleibt häufig sind anterograde Amnesien (Gedächtnisstörungen unbehandelt. Nach einer ersten schweren depressiven ab Beginn der EKT-Serie, wobei neue Informationen nicht Episode besteht im ersten Jahr nach einer wirksamen Be- abgespeichert werden und später deswegen auch nicht handlung eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 21–22 % erinnert werden können). Weniger häufig sind retrograde (Keller et al., 1983; Kanai et al., 2003), nach 2–5 Jahren Amnesien (Gedächtnisstörungen kürzlich zurückliegender eine von 30 % bzw. 42 % (ebd.) und bezogen auf die Le- Ereignisse vor Beginn der EKT). Selten sind retrograde benszeit besteht nach einer ersten depressiven Episode eine Amnesien, die das autobiografische Gedächtnis und Lang- sehr hohe Rückfallwahrscheinlichkeit von 80 % (APA, zeitgedächtnis betreffen (gestörte Erinnerung deutlich 1994). Bei 20–40 % der depressiv Erkrankten nimmt länger, das heisst Jahre zurückliegender Ereignisse, die in die Erkrankung einen chronischen Verlauf, das heisst der Regel nur durch eine Erfassung des autobiografischen diese sprechen nicht oder zu wenig auf Psychopharma- Gedächtnisses feststellbar sind). Ebenfalls selten sind kotherapie an (Kocsis, 2000). Auch besteht bei depressiv Orientierungsstörungen (räumlich und zeitlich) und Stö- Erkrankten ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko im Vergleich rungen einzelner exekutiver Funktionen (z. B. Störungen zur Allgemeinbevölkerung: Das Lebenszeitrisiko beträgt der Handlungsplanung und -ausführung). 10–15 % der depressiv Erkrankten gegenüber 0,7 % in Patient*innen sollten über kognitive Störungen, mit der Allgemeinbevölkerung (Baldessarini et al., 2003). denen bei einer EKT-Serie gerechnet werden muss, einge- Vor diesem Hintergrund ist klar, dass ein grosser Be- hend informiert werden, und in dieser Zeit von wichtigen darf an wirksamen Therapien für Depressionen besteht Entscheidungen ohne Unterstützung durch Angehörige und dass insbesondere bei unzureichender Wirksamkeit und Vertrauenspersonen (wie z. B. Vertragsabschlüsse der am häufigsten eingesetzten antidepressiven Behand- u. a.) Abstand nehmen. Die kognitiven Störungen durch lungsmassnahmen (Psychotherapie und Psychopharma- die EKT müssen von bereits vor der EKT bestehenden kotherapie) weitere Behandlungsmöglichkeiten vonnöten und durch die Grunderkrankung bedingten oft sehr aus- sind. In dieser Hinsicht nimmt EKT als sehr wirksames, geprägten kognitiven Störungen abgegrenzt werden. Wenn gut anwendbares und verträgliches Therapieverfahren zusätzliche kognitive Störungen im Rahmen einer EKT- eine wichtige Rolle ein und wird von den meisten psychi- Serie auftreten, sind diese zumeist so ausgeprägt, dass in atrischen Fachgesellschaft empfohlen. Studien belegen dieser Zeit in der Regel keine Arbeitsfähigkeit gegeben die Wirksamkeit von EKT bei depressiven Störungen ist. Die durch die EKT verursachten kognitiven Störungen (UK ECT Review Group, 2003; Pagnin et al., 2004; Gra- bestehen nur temporär und bilden sich in der Regel in- ger & Di Pauli, 2013; Luccarelli et al., 2020), anderen nerhalb eines Zeitraums von 4–8 Wochen nach Abschluss psychiatrischen Krankheitsbildern und Syndromen wie einer EKT-Serie spürbar zurück (Kalisova et al., 2018; Schizophrenien (Lally et al., 2016; Petrides et al., 2015) Semskova et al., 2010) und sind nach 6 Monaten bei den und bipolaren Störungen (Perugi et al., 2017; Bahji et al., meisten Patient*innen nicht mehr nachweisbar (Nuninga 2019), Suizidalität (Kellner et al., 2005) und Katatonie et al., 2018); dies trifft auch für ältere Patient*innen zu (Luchini et al., 2015). Dabei ist die Wirksamkeit von EKT (Obbels et al., 2018). Einzelne Patient*innen berichten sehr hoch: Man kann davon ausgehen, dass bei Depres- über persistierende kognitive Störungen, insbesondere sionen ohne Therapieresistenz (also ohne vorherige andere retrograde Amnesien, die zum Teil mit verbleibenden Behandlungsmassnahmen) oder schweren psychotischen depressiven Symptomen und nicht mit objektiv messba- Depressionen 80–90 % der Patient*innen auf die EKT ren Störungen korreliert sind und dann nicht klar von ansprechen; im Falle von Depressionen mit Therapiere- durch die Depression bedingten kognitiven Störungen sistenz (also mit vorherigen, nicht erfolgreichen anderen abgegrenzt werden können (Fernie et al., 2014; Fraser Behandlungsmassnahmen) sind dies etwa 50–70 % (Mi- et al., 2008). Nach Ende einer EKT-Serie sollte die davor lev et al., 2016; Grager & Di Pauli, 2013). Nach einer bestehende kognitive Leistungsfähigkeit innerhalb von Meta-Analyse von Haq et al. (2015) gelten als positive Wochen bis wenigen Monaten wieder erreicht werden. Prädiktoren für das Ansprechen einer Depression auf EKT Eine Erhaltungs-EKT hat in aller Regel keine anhaltenden eine vorgängige kurze Episodendauer, wenige Vormedika- negativen Auswirkungen auf die Kognition. tionsversuche, höheres Alter und psychotische Symptome, das heisst, die Wirksamkeit von EKT bei Depressionen nimmt vor allem mit längerer Dauer der Vorbehandlung Herausforderungen in der Behandlung ab. Ohne Einfluss auf das Ansprechen können gelten: von Depressionen und die Bedeutung der EKT Geschlecht, Alter bei Beginn der depressiven Episode, Anzahl Episoden, Symptomschwere, unipolare versus Depressionen sind sehr häufige Erkrankungen, das heisst, bipolare Depression und auch psychiatrischen Komor- man kann davon ausgehen, dass im Laufe eines Jahres biditäten. Das bedeutet, dass bei zusätzlich zu einer circa 7–12 % der Bevölkerung und im Verlauf ihres Depression bestehenden anderen psychischen Störungen Lebens circa 20 % aller Menschen an einer Depression keine Kontraindikation für eine EKT besteht (s. zuvor). erkranken. Ein erster Erkrankungsgipfel bei unipolaren Zwar kann bei diesen keine Besserung durch eine EKT 66 Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 2020
Holger Himmighoffen & Heinz Böker: Die Bedeutung der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) … erwartet werden, Patient*innen können sich aber durch unterschiedliche Antidepressiva eingesetzt (Streuung: die Besserung der Depressivität insgesamt besser fühlen 1–17!), Kombinationstherapien wurden in 86 %, Aug- und dann auch eher in der Lage sein, komorbide Stö- mentationsstrategien in 87 % der Fälle durchgeführt rungen zum Beispiel psychotherapeutisch zu behandeln. (Lithium 72 %, Antiepileptika 47 %, T3/T4 16 %, Neu- Sämtliche depressiven Symptome und Beschwerden roleptika 76 %). Die Antidepressiva waren in 61 % – können sich durch die EKT bessern, dabei sind deutliche nach Arzneimittel-Kompendium – ausdosiert worden. Besserungen im Sinne einer Response, das heisst Reduk- Serum-Spiegelkontrollen waren allerdings nur bei 40 % tion des Ausprägungsgrades der depressiven Symptome der Patient*innen erfolgt. 81 % der Patient*innen waren vor Beginn der EKT um 50 %, sehr häufig und auch neben der antidepressiv-medikamentösen Behandlung eine weitestgehende oder vollständige Rückbildung (Re- zuvor auch mit Psychotherapie behandelt worden (im mission) keine Seltenheit. EKT ist zudem sehr wirksam Mittel etwa 7 Jahre). Bei etwa der Hälfte der überwiese- gegen Suizidalität: Kellner et al. (2005) konnten in ei- nen Patient*innen lag eine Therapieresistenz (n=21) vor. ner Untersuchung von mit EKT behandelten suizidalen Bei den depressiv Erkrankten, die mit EKT behandelt Patient*innen zeigen, dass nach 1 Woche Behandlung wurden, ergab sich eine signifikante Besserung der Symp- bei 38 %, nach 2 Wochen bei 61 % und nach Abschluss tomatik (HAMD-Mittelwert bei Eintritt 35,8, bei Austritt der EKT-Serie bei 81 % der Patient*innen die Suizidalität 12,8; BDI-Mittelwert bei Eintritt 33, bei Austritt 16). komplett verschwunden war. Auch bestehende kognitive Etwa 30 % der mittels EKT behandelten Patient*innen Störungen durch die Depression (Konzentration, Auf- waren bei Austritt vollständig remittiert. Hinweise auf merksamkeit) können sich bessern, was aber aufgrund erhebliche kognitive Nebenwirkungen der EKT fanden der durch EKT verursachten temporären kognitiven sich bei dieser Stichprobe nicht. Störungen (vor allem Gedächtnisstörungen) nicht wahr- Zusammenfasst wurden im Untersuchungszeitraum genommen wird, sodass subjektiv und objektiv zunächst in beide psychiatrische Kliniken (PUK Zürich, Psychi- insgesamt eine kognitive Verschlechterung durch die EKT atrische Klinik Königsfelden) überwiegend schwerst- besteht, die aber spätestens nach 6 Monaten nicht mehr kranke Patient*innen mit jahrelanger Krankheits- und nachweisbar ist (Nuninga et al., 2018). Behandlungsdauer überwiesen. Die meisten waren mit Studien haben auch gezeigt, dass bei einer erfolgreichen einer Vielzahl von Antidepressiva vorbehandelt worden. EKT-Serie ohne sich anschliessende Erhaltungs-EKT bei Der Wunsch der Klärung der Indikation seitens der über- depressiven Störungen das Risiko eines Rückfalls deutlich weisenden Psychiater*innen bezog sich insbesondere auf höher ist als mit Erhaltungs-EKT (Sackeim et al., 2001; Patient*innen mit chronischer Depression. So lässt sich Kellner et al., 2006; Brown et al., 2014; Luccarelli et al., schlussfolgern, dass die Zuweisungen zur EKT bei der 2020). Die Erhaltungs-EKT erfolgt zunächst in einwö- untersuchten Stichprobe nicht den Kriterien von «Thera- chentlichen Abständen, die dann im Verlauf schrittweise pieresistenz» entsprachen, sondern die EKT offensichtlich vergrössert werden (bis zu vierwöchentlichen Abständen). als «letzte Wiese» in der Behandlung der therapieresis- So kann man dann zum Beispiel nach 6 Monaten weite- tenten Depression aufgefasst wurde. rer Behandlung mit circa 10 Erhaltungs-EKT-Sitzungen und Evaluation des Verlaufs über das weitere Vorgehen entscheiden (Abschluss der EKT oder doch weitere EKT und Psychotherapie Fortsetzung in gleichen oder weiter grösser werdenden Abständen). Auch ist eine Re-Evaluation der Psychophar- Wie sieht nun das Verhältnis von EKT zu psychothera- makotherapie sinnvoll, da viele Patient*innen von einer peutischen Behandlungsverfahren bei der Depression aus? zusätzlichen medikamentösen Behandlung profitieren, Geht es hier um einen Widerspruch oder eine Ergänzung? selbst wenn vor der EKT Psychopharmaka nicht wirksam Schliessen EKT und Psychotherapie einander aus? (Vgl. waren (Sackeim et al., 2001; Brown et al., 2014). Conca et al., 2005). Ein Grund, beide Behandlungs- Trotz der nachgewiesen Wirksamkeit und recht guten methoden in einem Widerspruch zu sehen, könnte darin Verträglichkeit der EKT bei depressiven Störungen dau- liegen, dass zu wenig die multiple Ätiologie depressiver ert es sehr oft sehr lange bis es zu einer Zuweisung zur Störungen gesehen wird, bei denen psychosoziale und EKT und Behandlung kommt: So wurde in einer Studie somatische Aspekte gleichermassen von grosser Relevanz der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) Zürich sind. So kann es passieren, dass biologisch orientierte und der Psychiatrischen Klinik Königsfelden (Pfaff et Psychiater*innen zu wenig die psychosozialen, nicht- al., 2013) die Überweisungspraxis zur Behandlung von biologischen Aspekte von Depressionen berücksichtigen therapieresistenten Depressionen mit EKT untersucht. und Psychotherapeut*innen die somatischen, biologischen Das mittlere Alter der Stichprobe betrug 51 Jahre, 67,5 % Aspekte und Korrelate von Depressionen übersehen (vgl. der Patient*innen waren Frauen, 32,5 % Männer. Die Pandarakalam, 2018). Dauer der aktuellen Episode betrug im Mittel 68 Wo- Es ist unumstritten, dass psychotherapeutische Verfah- chen (!), die mittlere Krankheitsdauer 15,2 Jahre, die ren in der Depressionsbehandlung sehr wirksam und von Behandlungsdauer 13 Jahre. Im Mittel befanden sich zentraler Bedeutung sind (Meister et al., 2018). Dabei ist die angemeldeten Patient*innen bisher etwa viermal in Psychotherapie bei leichter bis mittelgradiger Ausprägung stationärer psychiatrischer Behandlung. Bei den ange- der depressiven Symptomatik gegenüber einer alleinigen meldeten depressiv Erkrankten wurden im Mittel 5,7 Psychopharmakotherapie als gleichwertig anzusehen, bei Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 2020 67
Therapie depressiver Prozesse | Thérapie des processus dépressifs schwerer depressiver Symptomatik ist die Kombination Behandelnden «abgespeist» fühlen und den Eindruck von Psychotherapie und Pharmakotherapie der alleinigen gewinnen, dass diese ihre Gefühle und Gedanken nicht Behandlung mit Psychotherapie überlegen und somit die ertragen und nicht zum Thema machen möchten. Es ist Behandlung der Wahl (ebd.; Thase et al., 1997). sehr gut denkbar, dass Behandelnde ihre Patient*innen Verschiedene Autor*innen haben sich mit der Frage eine EKT vorschlagen, um sich selbst vor deren schwer der Kombination von Psychotherapie und Psychophar- aushaltbaren Gefühlen, Gedanken und Beschwerden zu maka beschäftigt und deren Vor- und Nachteile diskutiert schützen, denen sie in der therapeutischen Begegnung (König, 1999; Kay, 2007; Himmighoffen, 2009). In Ana- mit ihnen ausgesetzt sind. Die temporären kognitiven logie dazu kann man die Vorteile und Nachteile der Kom- Störungen während einer EKT-Serie und in den ersten bination von Psychotherapie und somatischen Behand- 1–2 Monaten danach (Gedächtnisstörungen) können lungsverfahren im Allgemeinen (d. h. Psychopharmaka, für eine gewisse Zeit eine laufende intensive psychothe- EKT und andere somatische Verfahren), also auch die rapeutische Arbeit erschweren, das heisst, es kann in Kombination von Psychotherapie und EKT diskutieren. dieser Zeit sinnvoll sein bspw. psychotherapeutisch mehr Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund schwerer oder «ich-stützend» und begleitend vorzugehen. chronischer und therapieresistenter Depressionen von Anhand von zwei Fallbeispielen möchten wir ab- wichtiger Bedeutung (McIntyre et al., 2014; Pandaraka- schliessend die Wirkungen und Möglichkeiten von EKT lam, 2018), da hier der multimodale Behandlungsansatz bei depressiven Störungen und ihr Verhältnis zur Psycho- mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. therapie illustrieren.2 Mögliche Vorteile: Durch die Besserung bzw. Remis- sion der depressiven Symptomatik durch die EKT sind Patient*innen wieder besser in der Lage, die Psycho- Fallbeispiel 1 therapie für sich zu nutzen und dabei thematisierte As- pekte zu bearbeiten und umzusetzen. Die Überwindung Frau S., eine 69-jährige Patientin, die seit mehreren depressiver Blockaden und weiterer einschränkender Jahrzehnten an einer bipolaren affektiven Störung lei- depressiver Symptome (wie Gefühle von Hilflosigkeit det, wurde wegen einer schweren, therapieresistenten und Sinnlosigkeit, Passivität etc.) durch die EKT er- Depression in der PUK Zürich aufgenommen. Zuvor war möglicht es Patient*innen, wieder Zugang zur eigenen sie vergeblich über zwei Jahre lang mit unterschiedlichen psychischen Innenwelt zu finden, und erleichtert damit Kombinationen von Antidepressiva und stimmungsstabi- die Auseinandersetzung mit biografisch relevanten Kon- lisierenden Mitteln behandelt worden. Die erste schwere fliktthemen, dysfunktionalen Bewältigungsmechanismen, depressive Episode war nach Geburt des ersten Sohnes traumatischen Erfahrungen und nicht zuletzt auch dem aufgetreten. In den folgenden Jahrzehnten traten – neben «existenziellen Thema der verlorenen Lebenszeit» infolge den Depressionen – zunehmend gehäuft manische Episo- einer Depression. Auch können Patient*innen wieder den mit ausgeprägter Agitation auf. Bei der stationären eigene, depressionsmindernde Ressourcen nutzen, die Aufnahme bestand ein depressiver Stupor, das heisst, die zuvor durch die schwere depressive Symptomatik einge- Patientin war völlig erstarrt und blockiert, war mutis- schränkt waren. So können mittels der EKT nicht nur die tisch und verweigerte Kontaktaufnahme und Nahrung. Wahrscheinlichkeit, sondern auch die Geschwindigkeit Ein weiterer medikamentöser Behandlungsversuch nach und das Ausmass des Ansprechens auf Psychotherapie Klinikeintritt führte ebenfalls nicht zu einer Besserung. und deren Nachhaltigkeit erhöht werden. Nach einer Daraufhin wurde der Patientin die Durchführung einer EKT-Serie und bei Erhaltungs-EKT kann die zusätzliche EKT empfohlen. Frau S. und ihr Ehemann wurden aus- Psychotherapie die Fähigkeiten zu Anpassung und Co- führlich informiert und willigten schliesslich ein. ping und die Akzeptanz einer somatischen Behandlung Bereits nach 4 EKT-Sitzungen trat eine deutliche und verbessern sowie das Risiko von Rückfällen vermindern zunehmende Besserung der Stimmung ein. Die psychomo- (vgl. Brakemeier et al., 2014). torische Erstarrung der Patientin löste sich schrittweise. Mögliche Nachteile: Patient*innen könnten Verbes- Frau S. konnte nach 12 EKT-Sitzungen nahezu beschwer- serungen ihres Befindens durch EKT ausschliesslich auf defrei nach Hause entlassen werden. Im Anschluss an die diese zurückführen und dann eine Psychotherapie als EKT-Serie wurde die Patientin erneut auf ein Antidepres- nicht erforderlich ansehen. So kann es passieren, dass sivum eingestellt, ferner wurde ein Mood Stabilizer, den depressionsfördernde Persönlichkeitsaspekte ausgeblendet die Patientin auch in der Vergangenheit gut vertragen und nicht bearbeitet werden bzw. antidepressive Eigen- hatte, eingesetzt. schaften und Ressourcen nicht aktiviert und gefördert Im Verlauf der ambulanten Nachbetreuung wurde werden. Eine daraus folgende negative Bewertung von die Verabreichung der Psychopharmaka angepasst. An- Psychotherapie und die Idealisierung der «wirksamen» gesichts der Vorgeschichte mit zahlreichen depressiven EKT durch Patient*innen können auch im Sinne einer und manischen Episoden und zunächst weiterhin beste- Abwehr oder Verleugnung schwer erträglicher Gefühle hender Stimmungsschwankungen wurde eine ambulante und Gedanken verstanden werden, die sicherlich wei- Erhaltungs-EKT durchgeführt (zunächst wöchentlich, tere Exploration und psychotherapeutische Bearbeitung im weiteren Verlauf EKT-Sitzungen in vier- bis sechswö- erfordern würden. Ganz im Gegensatz dazu können Patient*innen sich durch den Einsatz von EKT von 2 Alle personenbezogenen Angaben wurden anonymisiert. 68 Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 2020
Holger Himmighoffen & Heinz Böker: Die Bedeutung der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) … chentlichen Abständen). Die Stimmung der Patientin blieb Lithium (Quilonorm Retard 1-0-1 Tabletten) fortgesetzt schliesslich auch im längeren, mehrjährigen Verlauf stabil. bzw. angepasst und Herr C. war neben der weiteren Heute ist Frau S. weiterhin sehr unternehmungslustig, Erhaltungs-EKT wöchentlich in ambulanter psychiatrisch- treibt Sport (was sie jahrelang während der depressiven psychotherapeutischer Behandlung bei einer niedergelas- Erkrankung nicht tun konnte) und unterhält vielfältige senen Psychiaterin. soziale Beziehungen innerhalb und ausserhalb ihrer Zwar hinsichtlich der depressiven Symptomatik deut- Familie. Auch ihre Angehörigen sind sehr froh und ent- lich gebessert (deutliche Response), erlebt sich Herr C. lastet. Sie nehmen eine – nach Jahren des Rückzugs und zuerst jedoch weiterhin als unfähig, im lebendigen Kon- der Erstarrung – «unglaubliche, positive Veränderung» takt mit der Ehefrau und seinen Kindern zu stehen. Seine wahr. Kritisch fragen sie, warum Jahrzehnte vergehen Arbeit konnte er mit einem Pensum von 20 % wieder mussten, bevor die Behandlung mittels EKT begonnen aufnehmen und im weiteren Verlauf schrittweise langsam wurde. In der begleitenden Psychotherapie der Patientin steigern. Im weiteren Verlauf erfolgte über einen Zeitraum und in den Paargesprächen mit ihrem Ehemann stellten von 11 Monaten eine Erhaltungs-EKT mit insgesamt der «Schmerz über die verlorene Lebenszeit» und die Ohn- 10 Sitzungen. Danach war eine weitere Besserung der De- macht des stets hilfreich-unterstützenden Ehemannes, der pression bis zur Remission festzustellen (BDI-II: 4 Punkte, zunehmend erschöpft war, wesentliche Therapiefoki dar. HAMD-21: 1 Punkt). Darüber hinaus konnten erstmals traumatische Erfahrun- Herr C. arbeitet nun wieder zu 100 %, ist psychisch gen der Patientin in ihrer durch den Krieg überschatteten stabil und hat keine affektiven Schwankungen mehr. Er Kindheit und im Zusammenhang mit erlebter emotionaler fühle sich wieder so wie vor der Depression, erlebe sich Deprivation bearbeitet werden. wieder viel besser im Kontakt mit seiner Ehefrau und seinen Kindern. Auch äusserte er von sich aus, dass er in den letzten Monaten das, was in der weiterhin laufenden Fallbeispiel 2 wöchentlichen Psychotherapie erörtert werde, nun für sich nutzen und umsetzen könne. Es wurden noch zwei Herr C., 35 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, wird weitere Erhaltungs-EKT-Sitzungen im Verlauf der fol- ambulant wegen einer seit einem Jahr anhaltenden und genden 4 Monate durchgeführt. Danach erfolgte ein Ver- therapieresistenten schweren depressiven Episode bei laufsgespräch, indem aufgrund anhaltenden psychischen rezidivierender depressiver Störung zur Frage einer EKT Wohlbefindens und konstanter psychischer Stabilität der zugewiesen. Eine erste depressive Episode hatte er im Abschluss der EKT festgelegt wurde. Alter von 20 Jahren und war danach 14 Jahre remittiert. Ein möglicher Auslöser der aktuellen depressiven Episode kann der unerwartete Tod des Schwagers nur einen Monat Zusammenfassung und Ausblick vor Beginn der depressiven Episode gewesen sein. Im Verlauf des Jahres vor Zuweisung war eine drei- EKT ist ein wichtiger Teil des multimodalen Behandlungs- malige psychiatrische Hospitalisation mit jeweils einer konzeptes in der Behandlung insbesondere depressiver gewissen Besserung durch die medikamentösen und Erkrankungen. Dabei ist die therapieresistente Depres- psychotherapeutischen Behandlungen, die ambulant regel- sion als ein wesentlicher Indikationsbereich anzusehen. mässig fortgesetzt wurden, erfolgt. Trotz medikamentöser Nach jahrzehntelanger Erfahrung und Verbesserung der Mehrfachkombinationen und Augmentationsstrategien Durchführung und Technik seit den 1960er Jahren erweist gab es jedoch auch immer wieder depressive Rückfälle sich die EKT als eine sehr wirksame, sichere und relativ bis hin zur Arbeitsunfähigkeit. Innerhalb seiner Familie nebenwirkungsarme Behandlungsmethode. fühlte sich Herr C. isoliert, erlebte sich unfähig, ein Teil Bemerkenswert ist eine weiterhin oftmals negative der Familie zu sein, sich einzubringen und im lebendigen Wahrnehmung dieser für eine Untergruppe depressiv Kontakt mit der Ehefrau und seinen Kindern zu stehen, Erkrankter sehr wichtigen Therapieoption in der Öf- wie dies vor der Depression problemlos möglich gewe- fentlichkeit (Einer flog über das Kuckucksnest), zum Teil sen war. Vor Beginn der EKT-Serie bestand ein schweres auch bei Vertreter*innen der Medizin und Psychiatrie, depressives Syndrom ohne psychotische Symptome, aber der Psychologie und Psychotherapie. Bei den zuletzt ge- mit häufigen Suizidgedanken (ohne konkrete Handlungs- nannten Professionellen ist dies offensichtlich Folge der ansätze) und ohne Hoffnung auf Besserung. unzureichenden Verankerung des Themas und Ausein- Nach Durchführung einer ambulanten EKT-Serie mit andersetzung mit der EKT in den jeweiligen beruflichen insgesamt 12 Sitzungen innerhalb von 5 Wochen stellten Weiterbildungen. sich eine deutlich positive Wirkung (Response) und sehr Die Überweisungspraxis («EKT als letzte Wiese») steht gute Verträglichkeit, das heisst kaum kognitive Störungen, oftmals nicht im Einklang mit einer leitlinienorientierten ein. Sein Depressions-Rating vor Beginn der EKT-Serie Behandlung der therapieresistenten Depression. So emp- war: BDI-II: 40 Punkte, HAMD-21: 27 Punkte, MMS fiehlt beispielsweise die S3-Leitlinie Unipolare Depression, 30/30 Punkte; und nach Abschluss der EKT-Serie: BDI-II: die EKT bei schweren, therapieresistenten depressiven 14 Punkte, HAMD-21: 11 Punkte, MMS 30/30 Punkte. Episoden als Behandlungsalternative in Betracht zu zie- Es wurde eine medikamentöse Kombinationsbehand- hen. Demnach kann die EKT auch zur Erhaltungstherapie lung mit einem SNRI (Venlafaxin ER 112,5 mg/d) und eingesetzt werden bei Patient*innen, die während einer Psychotherapie-Wissenschaft 10 (2) 2020 69
Therapie depressiver Prozesse | Thérapie des processus dépressifs Krankheitsepisode auf EKT angesprochen haben, auf eine Bilgen, A.E., Bozkurt Zincir, S., Zincir, S. et al. (2014). Effects of andere leitliniengerechte antidepressive Therapie nicht electroconvulsive therapy on serum levels of brain-derived neuro- angesprochen haben, psychotische Merkmale aufweisen trophic factor and nerve growth factor in treatment resistant major depression. Brain Res Bull, 104, 82–87. oder eine entsprechende Präferenz haben. Bøg, F.K., Jørgensen, M.B., Andersen, Z.J. & Osler, M. (2018). Elec- Untersuchungen unter anderem mittels bildgebender troconvulsive therapy and subsequent epilepsy in patients with Verfahren haben Kenntnisse zu den neurophysiologischen affective disorders: A register-based Danish cohort study. Brain und neurochemischen Substraten der Wirkung der EKT Stimul, 11(2), 411–415. geliefert bzw. werden weitere liefern. Anwendungsstu- Bolwig, T.G. & Madsen, T.M. (2007). Electroconvulsive therapy in dien werden es ermöglichen, Applikationsmethoden zu melancholia: the role of hippocampal neurogenesis. Acta Psychiatr Scand, (Suppl. 433), 130–135. entwickeln, die mit geringeren neuropsychologischen Brakemeier, E.L., Merkl, A., Wilbertz, G. et al. (2014). Cognitive-be- Nebenwirkungen verknüpft sind. havioral therapy as continuation treatment to sustain response Ein zentrales Anliegen besteht jedoch in der weiterhin after electroconvulsive therapy in depression: a randomized con- notwendigen Enttabuisierung der EKT: «Die immer wie- trolled trial. Biol Psychiat, 76(3), 194–202. der gezielt in die Öffentlichkeit getragene Darstellung der Brown, E.D., Lee, H., Scott, D. & Cummings, G.G (2014). Efficacy Elektrokrampftherapie als veraltete, überholte oder gar of continuation/maintenance electroconvulsive therapy for the pre- inhumane und grausame Behandlungsmethode ist falsch vention of recurrence of a major depressive episode in adults with unipolar depression: a systematic review. J ECT, 30(3), 195–202. und beruht weitgehend auf einer mangelhaften Informa- Chu, C.W., Chien, W.C., Chung, C.H. et al. (2018). Electroconvulsive tion» (Stellungnahme der Deutschen Bundesärztekam- Therapy and Risk of Dementia – A Nationwide Cohort Study in mer; Folkerts et al., 2003). Die skeptische Einschätzung Taiwan. Front Psychiat, 9, 397. der EKT entspricht nicht dem Forschungsstand, vielmehr Conca, A., Prapotnik, M., Di Pauli, J. & Wild, B. (2005). Psychothe- sollte die EKT im Rahmen einer umfassenden Therapie- rapie und Elektrokonvulsionstherapie. Widerspruch oder Ergän- planung als eine mögliche Behandlungsoption angeboten zung. Nervenheilkunde, 24, 729–735. DGBS & DGPPN (2020). Diagnostik und Therapie bipolarer Stö- werden – und nicht nur als «Ultima ratio» (Tölle, 2008). rungen. In S3-Leitlinie, Langvers. 2.1 (Update v. Feb. 2019, letzte Trotz der grundsätzlichen Unterschiede der theoretischen Anpassung Mai 2020). Konzeptualisierung der jeweiligen psychiatrischen Er- DGPPN (2017). S3-Leitlinie/Nationale Versorgungs-Leitlinie «Uni- krankungen besteht kein grundsätzlicher Widerspruch polare Depression», Kurzfassung. 2. Aufl., Vers. 1. http://www. zwischen einer indizierten Behandlung mittels EKT und versorgungsleitlinien.de der Durchführung einer Psychotherapie: Im Gegenteil, Dogan, S., Aksoy, I. & Kupka, R.W. (2016). Aortaruptuur als fatale oftmals ermöglicht erst die EKT die Überwindung de- complicatie bij elektroconvulsietherapie [Fatal aortarupture follow- ing electroconvulsive therapy]. Tijdschr Psychiatr, 58(2), 150–153. pressiver Blockaden, die Auseinandersetzung mit bio- Fernie, G., Bennett, D.M., Currie, J. et al. (2014). 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