Mögliche Brexit-Folgen für den deutschen Arbeitsmarkt
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DOI: 10.1007/s10273-019-2514-9 Analysen und Berichte Brexit Mario Bossler, Johann Fuchs, Alexander Kubis, Lutz Schneider Mögliche Brexit-Folgen für den deutschen Arbeitsmarkt Der Brexit wird auch den deutschen Arbeitsmarkt beeinflussen. Viele Betriebe in Deutschland produzieren für den Export nach Großbritannien. Künftige Handelshemmnisse könnten negative Auswirkungen auf den Personalbedarf in diesen Unternehmen haben. Auf der Angebotsseite wird der Brexit die innereuropäischen Migrationsströme beeinflussen. Eine restriktivere britische Immigrationspolitik könnte migrationswillige EU-Bürger dazu bringen, verstärkt nach Deutschland zu ziehen und damit das Arbeitsangebot zu erhöhen. Die Autoren schätzen die Größenordnung dieser Effekte ein. Es zeigt sich, dass die Folgen des EU- Austritts auf beiden Seiten des deutschen Arbeitsmarktes moderat sein sollten. Viele Studien beschäftigen sich derzeit aus einer ge- Effekte des Brexits auf Betriebe und auf die samtwirtschaftlichen Perspektive mit den ökonomischen Nachfrage nach Arbeitskräften Auswirkungen des Brexits. Der vorliegende Beitrag wid- met sich den spezifischen Effekten des Brexits für den Klinger und Weber zeigen in einer kürzlich erschienen Arbeitsmarkt in Deutschland. Auf der einen Seite werden Studie,1 dass in Deutschland die Wirkung konjunktureller ökonomische Verflechtungen deutscher Unternehmen Faktoren auf die Beschäftigung seit 2009 deutlich schwä- mit dem Vereinigten Königreich (Großbritannien inklusive cher geworden ist. Der Rückgang des Wirtschaftswachs- Nordirland) auf Grundlage betrieblicher Daten beschrie- tums um 1 Prozentpunkt führte früher zu einer um 0,4 % ben. Diese Informationen werden genutzt, um zu analy- sinkenden Beschäftigung. Inzwischen hat sich dieser Wert sieren, wie sich in den vom Brexit betroffenen Betrieben halbiert. Die Autoren erklären dies mit einem starken Wachs- die Beschäftigungserwartung in den kommenden zwölf tum binnenmarktorientierter Dienstleistungsbranchen wie Monaten entwickeln könnte. Damit lässt sich die Wirkung dem Gesundheits- und Pflegebereich oder der Bildung und des Brexits auf die betriebliche Nachfrage nach Personal Erziehung. Diese Branchen sind weniger vom konjunkturell schätzen. Auf der anderen Seite erfolgt eine Einschät- sensibleren Export abhängig als etwa das Verarbeitende Ge- zung der Effekte des Brexits auf das Angebot an Arbeits- werbe. kräften. Dabei wird die Zuwanderung untersucht und die Frage geklärt, inwiefern der deutsche Arbeitsmarkt von 1 Vgl. S. Klinger, E. Weber: GDP-Employment Decoupling and the einer durch den Brexit verursachten Umlenkung der in- Slow-down of Productivity Growth in Germany, IAB-Discussion Pa- per, Nr. 12/2019. nereuropäischen Migrationsströme betroffen sein könn- te. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags sind die Diskussionen um die konkrete Ausgestaltung des Brexits Dr. Mario Bossler, Dr. Johann Fuchs und Dr. Ale- noch in vollem Gange. Auch ein sogenannter harter Brexit, xander Kubis sind wissenschaftliche Mitarbeiter am verstanden als ein Ausscheiden des Vereinigten König- Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) reiches ohne vertragliche Grundlage, ist nicht vollständig in Nürnberg. auszuschließen. Die Verunsicherung über die Stärke der Verwerfungen nimmt zu und eine empirische Einschät- Prof. Dr. Lutz Schneider lehrt Volkswirtschaftslehre zung möglicher Wirkungskanäle ist dringend geboten. Der an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Beitrag liefert Eckwerte zur Betroffenheit und erwarteten Beschäftigungsentwicklung der deutschen Betriebe so- in Coburg. wie potenziellen Umlenkeffekten der Zuwanderung aus anderen EU-Ländern. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 687
Analysen und Berichte Brexit Abbildung 1 Deutsche Betriebe mit Exporten ins Ausland und ins Vereinigte Königreich, 2018 Betriebe mit Exportbetriebe Betriebe Anteil Exportbetriebe in % aller Betriebe Exporten ins Vereinigte insgesamt in 1000 Königreich in 1000 in 1000 27,9 250 Beschäftigte und mehr 18 42 5,0 8,5 116,5 50 bis 249 Beschäftigte 13 30 15,6 23,4 250,5 20 bis 49 Beschäftigte 9 27 22,6 35,4 408,2 10 bis 19 Beschäftigte 5 19 20,8 35,6 398,4 6 bis 9 Beschäftigte 4 12 15,8 22,7 975,4 bis 5 Beschäftigte 2 9 22,9 58,5 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 2177,0 102,7 184,2 Exporte ins Vereinigte Königreich Gesamtexporte Anmerkung: vorläufige Hochrechnung des Anteils der Betriebe mit Exporten ins Vereinigte Königreich in % auf Basis der IAB-Stellenerhebung zweites Quartal 2018; Hochrechnung des Anteils der Exportbetriebe insgesamt auf Basis des IAB-Betriebspanels 2018. Quelle: IAB-Stellenerhebung; IAB-Betriebspanel. Im Einzelfall kann ein durch den Brexit hervorgerufener Verflechtungen, die im Rahmen der IAB-Stellenerhebung Exportrückgang die Beschäftigungsentwicklung eines erhoben wurden, sind Beschäftigte mit britischer Staats- Betriebs je nach Verflechtung mit dem Vereinigten König- bürgerschaft, Firmeneigentümer aus dem Vereinigten Kö- reich jedoch massiv treffen. Ein Blick auf die betrieblichen nigreich und Filialen bzw. Betriebsteile der Unternehmen Exportverflechtungen deutscher Unternehmen zeigt auf ins Vereinigte Königreich. Berechnet man die Zahl der Be- Basis des IAB-Betriebspanels, dass 2018 rund 13 % der triebe, die mindestens eine der in Abbildung 2 genannten Betriebe überhaupt Exportbeziehungen mit dem Ausland Verflechtungen haben, so ergibt sich, dass rund 8,5 % der hatten. Zahlen auf Basis der IAB-Stellenerhebung zeigen, deutschen Betriebe direkt vom Brexit betroffen sind, also dass knapp 4,7 % aller Betriebe ins Vereinigte Königreich rund 184 000 der 2,17 Mio. Betriebsstätten in Deutschland. exportieren, wobei diese Betriebe parallel auch in ande- In allen betrachteten Kategorien sind Betriebe in West- re Länder exportieren können. Diese Durchschnittswerte deutschland stärker mit dem Vereinigten Königreich ver- sind stark größenabhängig (vgl. Abbildung 1): 42 % der flochten als Betriebe in Ostdeutschland, da diese einen Großbetriebe mit mindestens 250 Beschäftigten exportie- allgemein niedrigeren Exportanteil haben. ren ins Ausland und 18 % (auch) ins Vereinigte Königreich. Kleinstbetriebe mit maximal fünf Beschäftigten exportie- Auch wenn die von den Arbeitgebern erwartete Beschäf- ren generell seltener als größere Betriebe. Mit dem Verei- tigungsentwicklung nur einen Ausblick auf die später re- nigten Königreich haben hier nur 2 % Exportbeziehungen.2 alisierten Neueinstellungen bzw. den tatsächlichen Be- schäftigungsabbau in den Betrieben gibt, können diese Neben dem Export wurden im Rahmen der IAB-Stellen- Erwartungen als guter erster Hinweis auf die tatsächliche erhebung im zweiten Quartal 2019 weitere Verflechtungen Entwicklung der Beschäftigung dienen.3 Aus aktueller der Betriebe mit dem Vereinigten Königreich erhoben (vgl. Sicht (Stand August 2019) bleibt die tatsächliche Ausge- Abbildung 2). Im direkten Wettbewerb mit konkurrieren- staltung des Brexits abzuwarten, die derzeitigen Erwar- den Firmen aus dem Vereinigten Königreich stehen et- tungen der Arbeitgeber können dementsprechend noch wa 2,9 % der hiesigen Betriebe. Inwieweit der Brexit die verzerrt sein. Im Gegenzug dürfte es nachfragesteigernde Wettbewerbssituation deutscher Betriebe verbessert, ist indirekte Effekt geben. Beispielsweise könnte der Brexit unklar. Zumindest müssten britische Betriebe dann bei öf- zu einer EU-weiten Importsubstitution führen. Andere EU- fentlichen Ausschreibungen auf dem europäischen Markt Länder würden vormals aus dem Vereinigten Königreich aus rechtlicher Sicht schlechter gestellt sein. Weitere stammende Güter aus anderen EU-Ländern importieren, 3 Zum Zusammenhang zwischen erwarteter und tatsächlich realisier- 2 Diese repräsentativen Zahlen gelten für alle Betriebe in Deutschland ter Beschäftigungsentwicklung und der Mindestlohneinführung in mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Deutschland, vgl. M. Bossler: Employment expectations and uncer- Anzumerken ist, dass sich diese Zahlen auf die Zahl der Betriebe und tainties ahead of the new German minimum wage, in: Scottish Journal nicht auf den jeweils dahinterstehenden Umsatz beziehen. of Political Economy, 64. Jg. (2017), H. 4, S. 327-348. Wirtschaftsdienst 2019 | 10 688
Analysen und Berichte Brexit Abbildung 2 Tabelle 1 Verflechtung deutscher mit britischen Betrieben Erwartete Beschäftigungsentwicklung nach Brexit- Betroffenheit der Betriebe % aller Betriebe In den kommenden zwölf Monaten 6 westdeutsche Betriebe Betriebe mit... (1) (2) (3) (4) (5) ostdeutsche Betriebe deutsche Betriebe insgesamt Britischen -0,00184 0,000762 4 Beschäftigten (-0,17) (0,06) Filialen/Betrieben im -0,0160* -0,0215* Vereinigten Königreich (-1,90) (-1.86) 2 Britischen 0,0166 -0,00463 Wettbewerbern (0,75) (-0,49) Exporten ins 0,0102 0,00162 0 Vereinigte Königreich (0,83) (0,29) Britische Britische Britische Britische Export ins Beschäftigte Eigentümer1 Filiale Wettbewerber Vereinigte Zahl der Betriebe 8768 8818 8803 8664 8739 Königreich Anmerkungen: OLS-Regressionskoeffizienten. Die im jeweiligen Betrieb 1 Zu geringe Fallzahl. erwartete Beschäftigungsentwicklung in den kommenden zwölf Mona- ten ist die abhängige Variable. Kontrollvariablen beinhalten Dummies für Anmerkung: vorläufige Hochrechnung der Anteile an allen Betrieben in %. Bundesländer, ländliche Regionen, 24 Wirtschaftszweige, Betriebsgröße, Existenz eines Betriebsrates sowie die Beschäftigungsentwicklung im Quelle: IAB-Stellenerhebung, Befragung zweites Quartal 2019. letzten Halbjahr bzw. in den letzten eineinhalb Jahren. In Klammern befin- den sich T-Statistiken unter Verwendung von heteroskedastie-robusten Standardfehlern. Statistische Signifikanz: * 10 %, ** 5 % und *** 1 %. sicher teilweise auch aus Deutschland. Damit stiege die Quelle: IAB-Stellenerhebung, Befragung zweites Quartal 2019. Nachfrage nach deutschen Gütern und Dienstleistungen. Tabelle 1 zeigt Regressionsergebnisse mit der von den gungsentwicklung. Wie in Abbildung 2 gezeigt wurde, ma- Arbeitgebern erwarteten Beschäftigungsentwicklung für chen diese Betriebe jedoch weniger als 1 % aller Betriebe den befragten Betrieb als abhängige Variable, die durch in Deutschland aus. Es handelt sich also um einen Effekt unterschiedliche Betroffenheit vom Brexit beeinflusst sein von sehr geringer Größenordnung. kann. Die unterschiedlichen Dimensionen der betriebli- chen Betroffenheit werden in den Spalten (1) bis (4) sepa- Insgesamt zeigen sich für die unterschiedlich vom Brexit rat und in Spalte (5) zusammen als erklärende Variablen betroffenen Betriebe kaum Unterschiede in der Beschäf- verwendet. Im unkonditionellen Durchschnitt erwarten tigungserwartung. Zu beachten ist, dass dieses Ergebnis die Betriebe, dass ihre Beschäftigung in den kommen- nur dann als kausal zu interpretieren ist, wenn sich die Be- den zwölf Monaten um durchschnittlich 3,5 % wächst. triebe auch ohne den bevorstehenden Brexit wie die Refe- Die in Tabelle 1 präsentierten marginalen Effekte zeigen, renzgruppe entwickeln würden. Zusätzlich ist die aktuell wie sich die Beschäftigungserwartung von betroffenen noch unklare Gestaltung des Austritts zu beachten, wobei Betrieben (in der jeweiligen Dimension) von allen anderen die generelle Unsicherheit über den konkreten Zeitpunkt Betrieben unterscheidet. Kontrolliert wird dabei für die und die Form des Austritts von den Arbeitgebern in deren Branche, Ost-/Westdeutschland, Stadt/Land, die Größe, Antworten bereits eingepreist sein sollte. das Vorhandensein eines Betriebsrats und die Beschäfti- gungsentwicklung im letzten Halbjahr bzw. in den letzten Effekte des Brexits auf das Arbeitskräfteangebot eineinhalb Jahren. Es werden also Betriebe in ihrer erwar- tenden Beschäftigungsentwicklung verglichen, wobei die Aus theoretischer Sicht liegt die Vermutung nahe, dass die realisierte Beschäftigungsentwicklung in der jüngsten Ver- Personalnachfrage der deutschen Unternehmen im Zuge gangenheit konstant gehalten wird. des Brexits sinken könnte, auch wenn die Dimension des Rückgangs – wie gesehen – moderat sein sollte. Grund für Die Ergebnisse zeigen, dass die jeweils unterschiedlich die Reduktion sind die erwarteten Produktionsrückgänge in vom Brexit betroffenen Betriebe kaum von der generell Betrieben, die ihre Güter auch ins Vereinigte Königreich ex- erwarteten Entwicklung anderer Betriebe abweichen. So portieren. Neben diesen nachfrageseitigen Folgen des Bre- sind deren marginale Effekte sowohl ökonomisch als auch xits auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind aber auch Folgen statistisch kaum von Null verschieden. Lediglich Betriebe für das der deutschen Wirtschaft aufgrund der Migration zur mit einer Filiale oder einem anderen Betriebsteil im Verei- Verfügung stehende Arbeitskräfteangebot wahrscheinlich. nigten Königreich erwarten eine statistisch schwach sig- Dabei ist zwischen der Neumigration und dem Bestand an nifikante, um ca. 2 Prozentpunkte schwächere Beschäfti- bereits zugewanderten Personen zu differenzieren. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 689
Analysen und Berichte Brexit Bestand an Migranten und Neumigration werden. Höhere Zuwanderungshürden in Richtung Verei- nigtes Königreich könnten dazu führen, dass diese umge- Für den Bestand ist zu fragen, welchen Status die bereits lenkten europäischen Wanderungsströme zumindest teil- im Vereinigten Königreich lebenden nicht-britischen EU- weise auch dem deutschen Arbeitsmarkt zugutekommen. Bürger mit dem Vollzug des Brexits erhalten: Gegenwär- Im Übrigen sind auch die Post-Brexit-Einwanderungsre- tig sind es ca. 3,8 Mio. nicht-britische EU-Bürger.4 Dabei gelungen Deutschlands gegenüber britischen Bürgern bilden die Polen mit über 1 Mio. Personen die bei weitem relevant. Insgesamt gesehen lassen sich direkte und in- größte Gruppe, gefolgt von den Rumänen, Iren und Italie- direkte Effekte unterscheiden. Die direkten Effekte betref- nern. Die Deutschen belegen mit ca. 155 000 den neunten fen die Wanderungsbewegungen der deutschen und der Platz in der Liste der größten EU-Bevölkerungsgruppen im britischen Staatsbürger. Die indirekten Effekte betreffen Vereinigten Königreich. Umgekehrt sind britische Staats- Wanderungsströme der übrigen EU-Bürger, die statt ins bürger in Deutschland ebenfalls vom Brexit betroffen, Vereinigte Königreich partiell nach Deutschland „umge- denn auch sie können die Freizügigkeitsrechte abhängig lenkt“ werden könnten. von der Ausgestaltung der EU-Regelungen mit dem Ver- einigten Königreich verlieren. Derzeit leben in Deutschland Bei den aktuellen Wanderungsdaten lassen sich bereits ca. 93 000 britische Staatsangehörige. Im Folgenden wird einige Trendänderungen erkennen, die mit Brexit-Erwar- davon ausgegangen, dass die beabsichtigten, sehr nie- tungen zusammenhängen könnten, auch wenn der Brexit derschwelligen Anerkennungsverfahren auf beiden Seiten selbst de jure noch nicht erfolgt ist. Bezüglich der direkten verhindern werden, dass bereits im Vereinigten König- Effekte sprechen die jüngsten Wanderungszahlen dafür, reich lebende EU-Bürger in nennenswertem Umfang aus dass Deutschland Brexit-bedingt per Saldo mehr Mig- rechtlichen Gründen das Vereinigte Königreich verlassen ranten anzieht bzw. weniger verliert. In Abbildung 3 wird müssen bzw. umgekehrt in Deutschland lebende Briten ersichtlich, dass seit 2016 weniger Deutsche ihre Heimat zur Ausreise gezwungen sind.5 Freilich könnte die Gruppe in Richtung Vereinigtes Königreich verlassen. Lag der ent- der Deutschen eine Rückkehr nach Deutschland im Zuge sprechende Nettowanderungsverlust zwischen 2013 und des Brexits in Erwägung ziehen; auch polnische Bürger 2015 bei durchschnittlich knapp 2500 Personen, so re- kommen aufgrund der räumlichen Nähe und der großen duzierte sich der Verlust auf nur noch 800 Personen von polnischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland für einen 2016 bis 2018. Ebenso wird deutlich, dass sich die Wan- Umzug aus den Vereinigten Königreich nach Deutschland derungsbilanz verbessert. In der Summe kann man für infrage. Die exakte Größenordnung dieses Effekts ist der- die Jahre seit dem Referendum belegen, dass Deutsch- zeit nicht seriös quantifizierbar. Die Nettomigration dürfte land gegenüber dem Vereinigten Königreich deutlich mehr dadurch aber nur kurzzeitig und in geringem Umfang be- Briten qua Migration gewinnt als es Deutsche in Richtung einflusst werden.6 Vereinigtes Königreich verliert. Dies war vor 2016 noch an- ders. Allerdings ist die Dimension dieses direkten Effektes Der Brexit dürfte vor allem die Neumigration beeinflus- überschaubar. Er liegt jährlich im niedrigen vierstelligen sen und damit zu Verschiebungen des innereuropäischen Bereich. Angesichts der sehr viel umfangreicheren Wan- Wanderungsregimes beitragen. Trotz der immer noch an- derungsbewegungen zwischen dem Vereinigten König- dauernden Unsicherheit hinsichtlich der rechtlichen Aus- reich und den nicht-deutschen EU-Bürgern dürften die gestaltung des Brexits ist es wenig wahrscheinlich, dass indirekten Umlenkungseffekte der innereuropäischen Mi- eine uneingeschränkte Einwanderung von EU-Bürgern ins gration für Deutschland quantitativ bedeutsamer sein. Vereinigte Königreich mit dem Verlassen der EU weiterhin möglich sein wird – gehörte doch die hohe Einwande- Die Nettomigration nicht-britischer EU-Bürger ins Verei- rung aus den (neuen) EU-Staaten zu den entscheidenden nigte Königreich sinkt seit 2016 deutlich (vgl. Abbildung 4). Motiven der Brexit-Befürworter.7 Es ist eher zu erwarten, Der historische Höchststand der EU-Nettozuwanderung dass die Regelungen für die EU-Zuwanderung nach dem mit 184 000 Personen (2015) ist mittlerweile auf 75 000 Verlassen der EU den Regeln für Drittstaatler angenähert Personen (2018)abgeschmolzen. Auch wenn nicht der gesamte Rückgang der Zuwanderung ins Vereinigte Kö- 4 Eurostat: Population and migration statistics. Population database nigreich in andere europäische Staaten und Deutschland (demo_pop: migr_pop1ctz). umgelenkt wird, lohnt es sich, die Größenordnung dieser 5 Vgl. J. Fuchs et al.: Zuwanderung und Digitalisierung: Wie viel Mig- Umlenkung zu schätzen. ration aus Drittstaaten benötigt der deutsche Arbeitsmarkt künftig, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2019. 6 Vgl. ebenda. Schätzung der Migrationsumlenkung nach Deutschland 7 Vgl. C. Vargas-Silva: EU Migration to and from the UK after Brexit, in: Intereconomics, 51. Jg. (2016), H. 5, S. 251-255, https://archive.inte- reconomics.eu/year/2016/5/eu-migration-to-and-from-the-uk-after- Bislang befassen sich nur wenige quantitative Studien mit brexit/ (7.10.2019). den möglichen Folgen des Brexits auf die Migration ins Wirtschaftsdienst 2019 | 10 690
Analysen und Berichte Brexit Abbildung 3 Abbildung 4 Britische Migration nach Deutschland und deutsche Migration von nicht-britischen EU-Bürgern Migration ins Vereinigte Königreich ins/aus dem Vereinigten Königreich 1000 Personen Personen 10 250 5 150 0 50 -50 -5 -150 -10 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2013 2014 2015 2016 2017 2018 EU-Bürger Fortzüge EU-Bürger Zuzüge Zuzug Briten Fortzug Deutsche Fortzug Briten ins Vereinigte Königreich EU-Bürger Saldo Saldo Briten Zuzug Deutsche Quellen: Office for National Statistics (ONS), Home Office, Central Statis- Saldo Deutsche aus dem Vereinigten Königreich tics Office (CSO) Ireland, Northern Ireland Statistics and Research Agen- Quelle: Statistisches Bundesamt. cy (NISRA). Vereinigte Königreich. Eine Studie der Organisation für angesetzten Rückgängen der Nettomigration der Anteil wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)8 der Mobilen geschätzt, der nach dem Wegfall des Ziellan- hat im Rahmen einer Schätzung der ökonomischen Wir- des Vereinigtes Königreich nicht im Heimatland verbleibt, kungen des Brexits Annahmen über das Migrationsge- sondern sich für eine Wanderung in ein anderes EU-Land schehen getroffen. Sie definierte drei Szenarien in Ab- entscheidet. Dieser Anteil wird im unteren Szenario auf hängigkeit der Restriktionen, die nach dem Brexit für die 50 % gesetzt, im Maximalszenario auf 100 %. Die resultie- Zuwanderung aus den verbliebenen EU-Staaten in Kraft rende Gruppe von potenziellen Migranten wird dann ge- treten. Demgemäß wird die Nettomigration im weniger re- mäß der gegenwärtigen Verteilung der Migrantengruppen striktiven Szenario um 56 000 Personen pro Jahr gegen- auf die verbliebenen EU26-Zielländer (ohne das jeweilige über der Größenordnung von 2015 zurückgehen, sowie Heimatland) verteilt. um 84 000 bzw. 116 000 Personen pro Jahr in den restrik- tiveren Szenarien.9 Im Folgenden werden diese Szenarien Dieser umgelenkte Migrantenstrom setzt sich annahme- verwendet, um die Umlenkungswirkung des Brexits für gemäß nach Nationalität genauso zusammen wie die ge- Deutschland in ihrer Größenordnung einzugrenzen. genwärtig im Vereinigten Königreich lebenden EU-Migran- ten. Dies bedeutet beispielsweise im mittleren Szenario Eine überschlagsartige Schätzung des Umlenkungsef- mit einem Rückgang von 84 000 Personen, dass bei der fekts nach Deutschland wird der Studie von Fuchs et al. Annahme einer 50 %igen Migrationsumlenkung 42 000 entnommen.10 Dabei wird aus den in den OECD-Szenarien Personen in andere EU-Länder migrieren. Von diesen 42 000 sind dann entsprechend 14 000 polnische Staats- 8 Vgl. OECD: The Economic Consequences of Brexit: A Taxing Decisi- angehörige, da die polnische Immigrantengruppe im Ver- on, OECD Economic policy paper, Nr. 16, April 2016. einigten Königreich etwa ein Drittel der gesamten EU-Mi- 9 Andere Studien schätzen, dass die Nettozuwanderung um bis zu granten ausmacht. Diese 14 000 Polen werden gemäß der 115 000 Personen p. a. zurückgehen kann (Migration Watch UK: UK immigration policy outside the EU, European Union: MW 371, 2017). EU-weiten Verteilung der Immigranten auf die EU26 (ohne Portes und Forte gehen von einer Reduktion um 91 000 Personen p. a. Polen) aufgeteilt, im vorliegenden Fall werden ca. 60 % im ihrem Normalszenario aus. Im extremeren Szenario fällt der Wan- Deutschland zugeordnet; das sind ca. 8 500 Personen. derungssaldo gegenüber der EU27 sogar um 150 000 Personen. Vor dem Hintergrund der Reduktion um über 100 000 Personen seit 2015 erscheint die in den Studien unterstellte Dimension der Schrumpfung Tabelle 2 zeigt für die drei OECD-Szenarien und die jewei- durchaus realistisch zu sein, vgl. J. Portes, G. Forte: The economic lig angesetzten Umlenkungsquoten von 50 % bzw. 100 % impact of Brexit-induced reductions in migration, in: Oxford Review of Economic Policy, 33. Jg. (2017), S. 31-44. den durchschnittlichen jährlichen Zuwachs an EU-Netto- 10 Vgl. J. Fuchs et al., a. a. O. migrationspotenzial nach Deutschland, der durch den bri- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 691
Analysen und Berichte Brexit Tabelle 2 Fazit: mögliche Brexit-Folgen für den deutschen Jährliche Reduktion der Migration ins Vereinigte Arbeitsmarkt Königreich gemäß OECD-Szenarien Der Brexit wird auch den deutschen Arbeitsmarkt be- Jährliche Reduktion der Migration ins Vereinigte Königreich um einflussen. Viele Betriebe in Deutschland produzieren 56 000 84 000 116 000 für den Export ins Vereinigte Königreich. Sollten künftige Personen Personen Personen Handelshemmnisse diesen Export beeinträchtigen, könn- Umlenkung te das negative Auswirkungen auf den Personalbedarf in innerhalb der EU deutschen Unternehmen haben. Allerdings zeigen Be- (in %) 50 100 50 100 50 100 schäftigungserwartungen der ins Vereinigte Königreich Zuwanderung exportierenden Arbeitgeber, dass dieser Effekt nicht sta- nach Deutschland tistisch signifikant ist. Die durch Exporte vom Brexit be- 2018 bis 2025 8 400 16 800 12 500 25 000 16 700 33 400 troffenen Betriebe scheinen also nicht in dem Maße von Quelle: J. Fuchs et al.: Zuwanderung und Digitalisierung: Wie viel Migrati- diesen Exporten abhängig zu sein, dass sie erwarten, ihre on aus Drittstaaten benötigt der deutsche Arbeitsmarkt künftig?, Bertels- mann-Stiftung, Gütersloh 2019; eigene Berechnungen. Beschäftigung reduzieren zu müssen. Auf angebotsseitiger Ebene legt unsere Studie den Fokus tischen EU-Austritt in Verbindung mit einem restriktiveren auf die innereuropäischen Migrationsströme. Der Brexit Migrationsregime generiert wird. Über einen Projektions- und eine damit verbundene restriktivere britische Immi- zeitraum bis 2025 gesehen wird der Brexit die Nettoimmi- grationspolitik könnte migrationswillige EU-Bürger dazu gration nach Deutschland bei einer 50%igen Umlenkung bringen, verstärkt nach Deutschland zu ziehen. Unser Bei- um 8000 bis 17 000 Immigranten pro Jahr erhöhen. Im Ma- trag schätzte diesen Umlenkungseffekt für den Zeitraum ximalszenario, bei dem die gesamte Reduktion der Net- bis 2025 auf der Basis einer Analyse der früheren Migrati- tozuwanderung ins Vereinigte Königreich in die übrige EU onsströme voraus (Diaspora-Ansatz). Eine Brexit-bedingte umgelenkt wird, verdoppeln sich diese Werte. Erhöhung der EU-Nettomigration nach Deutschland um jährlich 10 000 bis 20 000 Personen ist nach unserer Ein- Angesichts der hohen gegenwärtigen Rückgänge der schätzung für die nächsten fünf bis zehn Jahre durchaus EU-Migration ins Vereinigte Königreich wirkt das obere realistisch. OECD-Szenario aktuell plausibler – zumal rechtliche Res- triktionen bei der Einwanderung für die EU-Bürger derzeit Alles in allem scheint der Brexit die – langfristig gesehen noch gar nicht greifen. Freilich könnten Erwartungseffekte – eher angespannte Lage am deutschen Arbeitsmarkt eine Rolle spielen und die Migration von EU-Bürgern ins kaum zu beeinflussen. Der Zustrom an erwerbsorientier- Vereinigte Königreich gewissermaßen vorgezogen wer- ten EU-Immigranten und damit das Angebot an Arbeits- den. Zudem ist die EU-Migration auch in Deutschland in kräften steigt durch den Brexit in nennenswertem Maße den letzten beiden Jahren etwas zurückgegangen. Das lediglich in kurzer und mittlerer Frist. Die tatsächliche be- wiederum spricht dafür, dass neben einem Brexit-Effekt triebliche Nachfrage nach Personal sollte sich aus theore- die EU-Migration insgesamt – nach dem anfänglichen Mi- tischer Sicht abschwächen. In Bezug auf die betriebliche grationsschub im Zuge der Öffnung für Immigranten aus Beschäftigungserwartung zeigen sich kaum Effekte. Un- den neuen EU-Staaten – wieder nachlässt. Damit ließe abhängig von der Ausgestaltung des Brexits und der künf- sich dann aber auch argumentieren, dass der Brexit-Effekt tigen Beziehung zwischen EU und dem Vereinigten König- eher im Bereich des unteren OECD-Szenarios angesiedelt reich, werden die beschriebenen potenziellen Folgen des sein dürfte. Welche Argumentation hier zutrifft, lässt sich EU-Austritts auf dem deutschen Arbeitsmarkt verkraftbar gegenwärtig nicht belastbar entscheiden. sein. Title: Brexit and Its Potential Effects on the German Labour Market Abstract: Brexit will undoubtedly affect the German labour market. Many German establishments produce for export to the United Kingdom (UK) and future trade barriers could reduce demand for their products and consequently, the labour demand of those estab- lishments. On the labour supply side, Brexit will affect European migration flows. A more restrictive UK immigration policy could prompt EU citizens willing to migrate to choose to move to Germany instead, for example, thereby increasing the receiving country’s labour sup- ply. Our empirical analysis suggests only modest consequences due to Brexit on both sides of the German labour market. JEL Classification: F16, F22, J21 Wirtschaftsdienst 2019 | 10 692
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