Die Entwicklung des Flächentarifvertrages aus der Sicht der IG BCE

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Die Entwicklung des Flächentarifvertrages aus der Sicht der IG BCE

Rainer Kumlehn

Die Entwicklung des Flächentarifvertrages
aus der Sicht der IG BCE

A. Bekenntnis zum Flächentarifvertrag

D     ie IG BCE hat bereits anläßlich ihres Gründungs- bzw. Fusionskongres-
      ses 1997 in einem „Leitbild“ ein Bekenntnis zum Flächentarifvertrag
abgelegt, das nichts von seiner Aktualität verloren hat:
    „Wir wollen die Verbindlichkeit und Wirksamkeit des Flächentarifvertra-
ges mit flexiblen und differenzierten Regelungen erhalten und unsere ta-
rifliche Gestaltungsfähigkeit auch im gemeinsamen Europa entwickeln.
    Wir halten am Prinzip des Flächentarifvertrages als erfolgreiches und
wirksames Instrument für die Gestaltung gerechter Arbeitsbedingungen in
den Branchen fest und wollen die Verbindlichkeit und Wirksamkeit des Flä-
chentarifvertrages mit flexiblen und differenzierten Regelungen erhalten.
    Wir sehen in kollektiven Rahmenregelungen das Fundament für die
Weiterentwicklung flexibler betrieblicher Regelungen. Eine Ausweitung der
Differenzierungs- und Flexibilisierungsmöglichkeiten ist auch durch zu-
nehmende spezifische Anforderungen von Betrieben und Beschäftigten an
die Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Arbeitsbedingungen und zur Sicherung
von Beschäftigung notwendig. Tarifverträge können und dürfen jedoch
nicht zum Ersatz staatlicher oder betrieblicher Leistungen herangezogen
werden. Die Normsetzung der Tarifverträge basiert auf der Koalitionsfrei-
heit, den gesetzlichen Regelungen und dem Arbeitsrecht. Wir müssen un-
sere tarifliche Gestaltungsfähigkeit auch in einem gemeinsamen Europa
entwickeln.“
    Dieses „Leitbild“ wurde im Jahre 2001 mit einem „Tarifpolitischen Pro-
gramm“ weiter konkretisiert. Dort werden detailliert die tarifpolitischen
Ziele zu den Themen Arbeitszeit, Teilzeit, Arbeitszeitgestaltung, Entgelt,
Mitarbeiterkapitalbeteiligung, tarifliche Altersvorsorge, Jugend und Berufs-
ausbildung, Qualifizierung und Weiterbildung, einheitliche Arbeitsbedin-
gungen in Deutschland, neue Technologien, veränderte Arbeitsformen,

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veränderte Branchen- und Unternehmensstrukturen, Arbeitsplatzsiche-
rung und Beschäftigungsförderung, aktuelle und künftige Tarifstrukturen,
Europa und die Beteiligung der IG BCE-Mitglieder behandelt.
   Uns ist klar: Die unverzichtbaren Flächentarifverträge müssen erweitert
und ausgebaut werden. Um die heterogene Unternehmensstruktur inner-
halb der jeweiligen Branchen zu berücksichtigen und einer Tarifflucht zu
begegnen, brauchen wir in bestimmten Fällen Öffnungsklauseln. Bei Öff-
nungsklauseln, die eine Abweichung von tariflichen Mindeststandards er-
lauben, muß es sich um Ausnahmeregelungen zur Überwindung aktueller
Probleme handeln, die der Zustimmung der Tarifvertragsparteien bedür-
fen. Das ist kein Mißtrauen gegenüber Betriebsräten, wie manchmal irr-
tümlich (oder gelegentlich auch böswillig) interpretiert wird, sondern es
ist ein grundsätzlicher Schutz der Betriebsräte vor „überzogenen betrieb-
lichen Überzeugungsversuchen“.
   Die Hürde, in die Bedingungen eines Flächentarifvertrages einzugreifen,
muß mindestens so hoch sein wie die Ausnahmegenehmigung von einer
gesetzlichen Vorschrift. Niemand käme auf die Idee, die Gestaltung der
Straßenverkehrsverordnung dem Polizisten zu überlassen. Eine ganz ähnli-
che Funktion haben Betriebsräte im Unternehmen, nämlich „darüber zu
wachen, daß die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verord-
nungen Unfallverhütungsvorschriften, Tarifverträge und Betriebsvereinba-
rungen durchgeführt werden“.
   In seiner „Rheingauer Erklärung“ vom 18. Oktober 1996 hatte der
Bundesarbeitgeberverband Chemie bereits eine ganz ähnliche Position be-
schrieben. Dort heißt es unter anderem: „Es gibt keine generelle Krise des
Flächentarifvertrages in Deutschland. Die Chemie-Tarifparteien haben auf
den verschärften internationalen Kostenwettbewerb der Unternehmen
frühzeitig mit Flexibilisierungen und Öffnungsklauseln reagiert. Dieser Weg
wird weiterverfolgt. Die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs
müssen am Standort Deutschland unter seinen spezifischen Bedingungen
angenommen werden. Hierbei ist die Durchsetzung radikal-ökonomischer
Vorstellungen unrealistisch. In einem sozial hoch entwickelten Land wie
der Bundesrepublik müssen Veränderungen von Besitzständen möglichst
im sozialen Konsens unter den Betroffenen erreicht werden. Den erforder-
lichen Interessenausgleich können nur starke und reformfähige Tarifpar-
teien herbeiführen.“

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Die Entwicklung des Flächentarifvertrages aus der Sicht der IG BCE

   Die Tarifvertragsparteien in der chemischen Industrie gehen also im Re-
spekt der unterschiedlichen und zum Teil naturgemäß kontroversen Inter-
essen ihrer jeweiligen Mitglieder von einem gemeinsamen Verständnis der
Flächentarifverträge aus. Das erleichtert die erforderliche Suche nach dem
zwingenden Konsens ganz entscheidend.
   Die IG BCE ist sich ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung bewußt;
deshalb darf sich die Tarifpolitik nicht auf die Ordnungsfunktion innerhalb
des Betriebes zurückdrängen lassen. Mit Entgelt-, Altersvorsorge- und Al-
tersteilzeittarifverträgen sowie differenzierten Arbeitszeitregelungen ist es
in der chemischen Industrie gelungen, Meilensteine in der Tarifpolitik zu
setzen.
   Tarifpolitik kann die Aufgaben des Staates und die Schutzfunktion ge-
setzlicher Regelungen nicht ersetzen. Die zunehmende Deregulierung, ins-
besondere in der Arbeits- und Sozialpolitik macht es daher aber gelegent-
lich notwendig, das entstandene Vakuum zu besetzen und mit den Instru-
menten der Tarifpolitik zu lösen.
   Viele Themen, die sich neben der Schutzfunktion von Tarifverträgen an
den individuellen Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
orientieren, müssen aufgegriffen und weiterentwickelt werden.

B. Arbeitszeiten

A   rbeitszeitverkürzung und Arbeitszeitgestaltung sind Instrumente für die
    Realisierung unserer Ziele zur Beschäftigungssicherung, zum Beschäfti-
gungsaufbau, zur Gestaltung humaner Arbeitsplätze, zur Verwirklichung
individueller Interessen und zur Steigerung der Lebensqualität der Be-
schäftigten. Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Entwicklun-
gen in den vielfältigen Tarifbereichen bedürfen differenzierter Antworten.
Tarifverträge werden in Zukunft noch stärker den Rahmen festlegen, die
konkrete Ausgestaltung muß betrieblichen Regelungen überlassen werden.
Die Schutz- und Gestaltungsfunktion der Tarifverträge ist unverzichtbar. Zu
diesem Rahmen gehören unabdingbar die Länge der Arbeitszeit und der
Verteilzeitraum, die Rahmenbedingungen für Mehrarbeit, Regelungen für
Schichtarbeit, Wertsicherung von Langzeitkonten sowie Urlaubsregelungen.
Eine moderne Arbeitszeitpolitik muß sich an den Interessen der Menschen
orientieren.

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Wir brauchen Lösungen für unterschiedliche Anforderungen an die Ar-
beitszeitpolitik, je nach Arbeitsumfeld und Arbeitsaufgabe, je nach Lebens-
phase und Lebenssituation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
   Die Verkürzung der Arbeitszeit ist und bleibt ein Ziel gewerkschaftlicher
Tarifpolitik. Dabei geht es in erster Linie nicht mehr nur um die generelle
Verkürzung der Wochenarbeitszeit als vielmehr um differenzierte Lösun-
gen, zum Beispiel: Arbeitszeitverkürzung für besonders belastete Arbeit-
nehmergruppen, Lebensarbeitszeitverkürzung durch Altersteilzeitverträge
und Regelungen zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, Auf-
bau von tariflich garantierten Qualifizierungszeiten, Verbesserung von Teil-
zeitregelungen auch für temporäre Teilzeitwünsche. Arbeitszeitverkürzun-
gen dürfen dabei nicht zu Leistungsverdichtung führen. Deshalb ist eine
darauf ausgerichtete Personalplanung notwendig. Die Lage und Verteilung
der Arbeitszeit muß die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer und der Betriebe widerspiegeln.
   Teilzeitarbeit ist heute weit verbreitet, deshalb sind die Arbeitsbedin-
gungen der Teilzeitbeschäftigten in die Tarifverträge einzubeziehen; dazu
gehört insbesondere: Teilzeitbeschäftigte müssen an betrieblichen Lei-
stungen, wie Altersvorsorge, Bonuszahlungen, übertarifliche Zulagen, Lei-
stungszulagen und anderen sozialen Leistungen entsprechend ihrem Ar-
beitszeitanteil beteiligt werden. Für Vollzeitbeschäftigte, die ihre indivi-
duelle Arbeitszeit reduzieren wollen, müssen Rückkehroptionen vereinbart
werden. Teilzeitbeschäftigte müssen gleichermaßen an betrieblichen
Weiterbildungsangeboten teilnehmen können. Teilzeitbeschäftigte, die ih-
re Arbeitszeit aufstocken wollen, müssen in der betrieblichen Personalpla-
nung vorrangig berücksichtigt werden. Werden Vollzeitarbeitsplätze in
Teilzeitarbeitsplätze umgewandelt, darf dies nicht zu höherer Leistungs-
verdichtung und damit letztendlich zu Personalreduzierung führen.
   Die Umsetzung und Ausgestaltung der tarifvertraglich geregelten Ar-
beitszeiten obliegt der Verantwortung der Betriebsparteien. Tarifverträge
schaffen hierfür den notwendigen Rahmen. Dies umfaßt die Ausgestaltung
von Arbeitszeitkonten, Arbeitszeiterfassung, Nutzung der Verteilzeiträume,
Fragen der Schichtplangestaltung und anderer differenzierter Arbeitszeit-
regelungen oder Regelungen zur Teilzeitarbeit. Viele Beschäftigte haben
den Wunsch nach mehr Lebensqualität durch die Reduzierung von Ar-
beitszeiten, zum Teil nur für bestimmte Lebensphasen.

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Die Entwicklung des Flächentarifvertrages aus der Sicht der IG BCE

   Hierfür sind verbindliche Regelungen notwendig. Eine Möglichkeit, das
betriebliche Interesse an flexiblen Arbeitszeitformen mit dem Interesse
vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach individuellen Arbeits-
zeitregelungen zu verbinden, sind Langzeitkonten. Sie ermöglichen zum
Beispiel, früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden oder eine längere
Arbeitspause in Form von Sabbaticals einzulegen.
   Dazu sind tarifvertragliche Regelungen, insbesondere zum Insolvenz-
schutz und zur Wertsicherung und Wertentwicklung, notwendig. Langzeit-
konten dürfen jedoch nicht zu einer Belastungszunahme in bestimmten
Lebensphasen und zur Arbeitszeitverlängerung durch entgeltliche Entnah-
me der Konten führen. Kollektive Arbeitszeitverlängerungen in Verbindung
mit Langzeitkonten lehnen wir deshalb ab. Die Anzahl der Überstunden
hängt oft mit konjunkturellen Schwankungen und/oder einer unzurei-
chenden Personalbemessung zusammen. Um der Beschäftigungspolitik
Vorrang zu gewähren, treten wir weiter für einen Abbau von Mehrarbeit
ein. Wo Mehrarbeit unvermeidlich ist, soll sie durch Freizeit ausgeglichen
werden.
   Im kontinuierlichen Schichtbetrieb sind grundsätzlich bezahlte Pausen
anzustreben. Für besonders belastete Arbeitnehmer, wie zum Beispiel für
im Leistungslohn Beschäftigte, sind bezahlte Mindesterholzeiten wichtig.
Viele der heutigen Urlaubsvorschriften müssen der betrieblichen und tarif-
vertraglichen Arbeitszeitentwicklung angepaßt und neu gestaltet werden,
insbesondere bei differenzierten Arbeitszeitregelungen im Schicht- oder
24-Stunden-Dienst. Längere Schichtzeiten dürfen nicht zu einer Reduzie-
rung von Urlaubstagen führen. Trotz Erfolgen bei der humanen Gestaltung
von Schichtarbeit wird es weiterhin gesundheitliche Risiken und gesell-
schaftliche Nachteile mit sich bringen, in Schichtsystemen zu arbeiten. Die
besonderen Belastungen der Schichtarbeitnehmer müssen weiter abge-
mildert werden durch Vermeidung von personellen Unterbesetzungen,
Verkürzung der Arbeitszeit, Maßnahmen für den Belastungsabbau und des
präventiven Gesundheitsschutzes, humane Schichtplangestaltung durch
zusätzliche Schichtgruppen und kurze Schichtwechsel, Einbeziehung von
Teilzeit, Sonn- und Feiertagsarbeit muß die Ausnahme bleiben.
   Immer mehr Beschäftigte wollen ihre tägliche Arbeitszeit selbst bestim-
men. Vertrauensarbeitszeit bietet zum einen die Möglichkeit einer hohen
Selbststeuerung und damit mehr Freiheit für den einzelnen Arbeitnehmer.

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Auf der anderen Seite verzichtet der Beschäftigte auf den Schutz kollektiver
Regelungen. Dies kann zum Belastungsaufbau bis hin zu Selbstausbeutung
führen. Um den positiven Grundgedanken der Vertrauensarbeitszeit stär-
ker in den Vordergrund zu stellen und negative Folgen zu vermeiden,
brauchen wir klare Rahmenbedingungen. Diese dürfen nicht zu freier Ver-
fügbarkeit der Beschäftigten und zu Verlängerung der tariflichen Arbeits-
zeit führen. Individuelle und betriebliche Belange sind gleichermaßen zu
berücksichtigen. Betriebsräte müssen die Einführung und Umsetzung sol-
cher Regelungen im Rahmen ihrer Mitbestimmungsmöglichkeiten gestal-
ten.

C. Einkommen

D    ie Weiterentwicklung der Einkommen hat in unserer Tarifpolitik einen
     vorrangigen Stellenwert. Das Einkommen der Zukunft wird sich aus
mehreren Bestandteilen zusammensetzen. Die Grundabsicherung muß
nach wie vor durch tarifliche Mindesteinkommen gesichert werden. Die
Leistungsentlohnungssysteme vieler Unternehmen müssen den tariflichen
und arbeitsorganisatorischen Veränderungen angepaßt werden. Akkord-
und Prämiensysteme bewerten ausschließlich Vergangenheitsdaten.
   Zukünftige Leistungssysteme müssen auch vorhandene Potentiale und
Erwartungen bewerten, um so auch wirkliche Leistungsanreize zu bieten.
Beschäftigte müssen zukünftig stärker am wirtschaftlichen Erfolg ihrer
Unternehmen beteiligt werden. Hierzu müssen tarifliche Regelungen ent-
wickelt werden. Auch die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivver-
mögen spielt zukünftig eine stärkere Rolle.
   Den Beschäftigten werden in zunehmendem Maße multifunktionale
Einsatzfähigkeit und ständige Erneuerung des Könnens, der Fertigkeiten
und des Wissens abverlangt. Die Anforderungen an Kooperationsfähigkeit
und an selbständiges Handeln sind für alle Beschäftigten – nicht nur für
hoch qualifizierte Angestelltengruppen – erheblich gewachsen. Auch dar-
auf muß sich Tarifpolitik künftig einstellen.
   Die vertragliche und dauerhafte Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer am Produktivvermögen des Unternehmens ist eine über vie-
le Jahre bestehende gewerkschaftliche Forderung, konnte bisher aber nur
in Einzelfällen vereinbart werden. Es handelt sich dabei stets um betrieb-

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Die Entwicklung des Flächentarifvertrages aus der Sicht der IG BCE

liche Lösungen, die das Ziel hatten, durch einen finanziellen Anreiz die
Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden und somit eine eigenständige
Unternehmenskultur aufzubauen. In Großunternehmen existieren schon
seit vielen Jahren Modelle zur Ausgabe von Belegschaftsaktien.
   Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist es, im Flächentarifvertrag Hand-
lungsoptionen zu vereinbaren, die bei Vorliegen entsprechender Unter-
nehmensergebnisse dem Betriebsrat ein Initiativrecht einräumen, in Ver-
handlungen einzutreten. Dazu sind Bewertungs- und Informationskrite-
rien für die jeweiligen Unternehmensergebnisse vorzugeben. Bestandteil
der betrieblichen Regelung müssen unter anderem die Höhe, deren Anla-
geform und Mindestanlagelaufzeit im Unternehmen sein.

D. Altersvorsorge

S  eit der Rentenreform 2001 ist der Aufbau der betrieblichen Altersvorsor-
   ge eine langfristige und permanente Aufgabe der Tarifpolitik geworden.
Wir haben in der chemischen Industrie als erste Tarifverträge zur Altersvor-
sorge abgeschlossen. In den kommenden Jahren gilt es, die Bedingungen
materiell weiter auszubauen, allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern einen angemessenen Lebensstandard im Alter zu ermöglichen. Mit
dem Chemie-Pensionsfonds wurde 2002 der erste deutsche Fonds dieser
Art von den Aufsichtsbehörden genehmigt.

E. Berufsausbildung

S   eit Mitte der 90er-Jahre wurden unter dem Stichpunkt einer qualitati-
    ven Tarifpolitik neben Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung
auch Maßnahmen zur Förderung der Berufsausbildung getroffen. Solange
kein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot vorhanden ist, wollen wir
tarifliche Möglichkeiten nutzen, möglichst vielen jungen Menschen eine
qualifizierte Berufsausbildung zu ermöglichen, um dem erkennbaren
Fachkräftemangel zu begegnen. Durch den Grundsatz „Ausbildung geht
vor Übernahme“ legen wir weiterhin eine klare Priorität auf die Schaffung
von zusätzlichen Ausbildungsplätzen.
   Trotzdem ist auch die zweite Schwelle, die Übernahme durch tarifliche
und betriebliche Regelungen, anzustreben. Die Altersteilzeit ist dabei ein

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gutes Beispiel des gelebten Generationenvertrages. Die Ausbildungsvergü-
tung wollen wir so gestalten, daß ein Leben unabhängig von Dritten er-
möglicht wird. Daher dürfen die Vergütungssätze nicht von der allgemei-
nen Entgeltentwicklung abgekoppelt werden. Leistungsgeminderte Ju-
gendliche sind in besonderer Weise von Arbeitslosigkeit betroffen. Ihnen
müssen auch qualifizierte Ausbildungsplätze angeboten werden, eventuell
in Verbindung mit vorbereitenden Maßnahmen.

F. Qualifizierung und Weiterbildung

D   er Wandel der Beschäftigungsstrukturen hin zu besser qualifizierten
    Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und die demographische
Entwicklung erfordern, daß Qualifizierung und Weiterbildung zu einem
zentralen Thema der Tarifpolitik werden. Die gewerkschaftliche Qualifika-
tionspolitik bezieht sich mit ihren tariflichen Regelungen auf die betriebli-
che Qualifizierung und Weiterbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer. Eine Ausbildung allein reicht heute nicht mehr, um sich für sein
gesamtes Arbeitsleben zu qualifizieren. Die technologischen und arbeits-
organisatorischen Veränderungen erfordern eine ständige Weiterbildung.
Neben der fachlichen berufsbezogenen Qualifizierung tritt die soziale
Kompetenz immer mehr in den Vordergrund. Veränderte Arbeitsformen
wie Team- und Gruppenarbeit erfordern interdisziplinäres Denken und
Handeln.
   Daraus entwickeln sich neue Herausforderungen für die betriebliche
Weiterbildung. Hierfür müssen wir Konzepte entwickeln, die dem lebens-
langen Lernbedarf Rechnung tragen und in Tarifverträgen Rahmenbedin-
gungen schaffen, damit alle Beschäftigten eine kontinuierliche Weiterbil-
dung in Anspruch nehmen können. Diese Weiterbildung muß auf dem
Grundlagenwissen der jeweiligen Mitarbeiter aufbauen, betrieblich not-
wendige Spezialisierungen und Aktualisierungen beinhalten und soziale
Kompetenz vermitteln. Sie muß es den Beschäftigten zudem ermöglichen,
in der Weiterbildung Qualifikationen zu erwerben, die sie für die veränder-
ten Arbeitsanforderungen und zur Veränderung ihrer Arbeitssituation befä-
higen. Bei der Arbeitsplatzbewertung und der Eingruppierungspraxis müs-
sen die entsprechenden Qualifikationen berücksichtigt werden und die
notwendigen zeitlichen Freiräume zur Qualifizierung geschaffen werden.

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G. Differenzierungen nach Branchen und Regionen

I  n den tariflichen Regelungen gibt es historisch gewachsene Differenzie-
   rungen nach Branchen und Regionen. Die deutsche Einigung hat diese
Situation verstärkt, denn nach 40 Jahren unterschiedlicher Entwicklung
waren die tariflichen Standards der Bundesrepublik und der DDR nicht
vergleichbar. Bis Mitte der 90er-Jahre konnten wir mit relativ großen
Schritten die Einführung und die Angleichung der Tarifverträge in den
neuen Bundesländern erreichen.
    Der Flächentarifvertrag ist gerade in den neuen Bundesländern ein
wichtiges Instrument, um die Tarifstrukturen branchenbezogen zu ent-
wickeln. Wir lehnen Arbeitgeberverbände ohne Tarifbindung (OT) ab. Sie
gefährden die Entwicklung funktionsfähiger Tarifstrukturen. Daß diese
Entwicklung in den einzelnen Branchen unterschiedlich verlaufen ist,
macht ein Vergleich der Tarifverträge deutlich.
    Bei den direkten Einkommen und der Arbeitszeit haben wir in vielen Ta-
rifbereichen aber noch beträchtliche materielle Unterschiede im Vergleich zu
den entsprechenden Tarifverträgen der alten Bundesländer. Eine Bewertung
von Tarifergebnissen darf sich jedoch nicht nur auf die direkten Tarifentgelte
bzw. Lohn- und Gehaltssätze beschränken, sondern muß auch andere Ele-
mente wie Regelungen zum Urlaub und Urlaubsgeld, der Arbeitszeit und der
tariflichen Altersvorsorge mit einbeziehen. Die unterschiedlichen wirtschaft-
lichen Entwicklungen zwischen den einzelnen Branchen unseres Organisa-
tionsbereiches machen differenzierte Tarifregelungen notwendig.
    Tarifpolitische Zielsetzung der IG BCE ist es, daß wir in Deutschland ent-
sprechend der jeweiligen Branchenstruktur vergleichbare Tarifverträge er-
reichen. Wir wollen die Angleichung der Tarifentgelte an das Westniveau in
absehbarer Zeit erreichen. Die tarifliche Entwicklung muß durch betriebli-
che Entgeltregelungen ergänzt werden, um damit Unternehmen mit be-
sonders hoher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen.
    Neue Produktions- und Informationstechnologien verändern betriebli-
che Führungs- und Organisationsstrukturen und damit die Arbeitsbedin-
gungen von vielen Beschäftigten in erheblichem Ausmaß. Bei veränderten
oder neuen Arbeitsformen und Arbeitstechniken müssen die bestehenden
Regelungen überprüft, gegebenenfalls müssen die tariflichen Rahmenbe-
dingungen erweitert bzw. ergänzt werden.

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Zeitliche Selbstbestimmung geht oftmals einher mit Überlastung oder
mit sozialer Isolierung. Da neue Formen wie Tele-Heimarbeit, Projektar-
beit, Gruppen- und Teamarbeit weiter zunehmen, müssen Grundsätze für
diese Arbeitsformen tarifiert werden. Neben der Anpassung von Entgelt-
rahmentarifverträgen müssen auch Aus- und Weiterbildung diese Verän-
derungen aufnehmen.
    Gerade bei jungen Unternehmen (Start-ups) entstehen auch neue Ar-
beitsverhältnisse, in denen hohe variable Bezüge (Unternehmensbeteili-
gung und erfolgsabhängige Entgelte) feste Tarifgehälter ersetzen. Dies
kann keine Lösung sein. Arbeitnehmer dürfen nur bedingt am unterneh-
merischen Risiko beteiligt werden. Das Grundeinkommen muß durch tarif-
vertragliche Mindesteinkommen gesichert werden. Die Einkommen der Zu-
kunft werden sich jedoch aus mehreren Komponenten zusammensetzen.
Hierfür müssen wir tarifliche Konzepte weiterentwickeln.
    Veränderte Branchen- und Unternehmensstrukturen, Fusionen und Be-
triebsübernahmen sind Merkmale von globaler Unternehmenspolitik, die
oft mit Ausgliederungen und Betriebsaufspaltungen verbunden sind. „Ko-
stenminderung statt Innovation“ ist leider allzu oft die unternehmerische
Triebfeder zur Reduzierung tarifvertraglicher Ansprüche. Dagegen sollten
sich die Tarifvertragsparteien in der Chemie gemeinsam stemmen.
    Die Ausgliederungen industrieller Dienstleistungen nehmen nicht zuletzt
durch die Konzentration vieler Unternehmen auf ihr sogenanntes Kernge-
schäft zu. Unser Ziel ist es, diese zu verhindern und sich in jedem Fall da-
für einzusetzen, vergleichbare Arbeits- und Einkommensbedingungen ta-
riflich zu erhalten. Durch die Entwicklung neuer Produkte und Herstel-
lungsverfahren und die Einführung neuer Informations- und Produktions-
technologien entstehen neue Unternehmen und neue Branchen. Dies be-
trifft Bereiche wie Bio- und Gentechnologie, Umwelttechnik, Energietech-
nik, Produktion von Bauteilen und Datenträgern für die Computerindu-
strie, Informations- und Kommunikationstechnologie und die Herstellung
und Verarbeitung neuer Werkstoffe. Hier müssen wir Tarifverträge ent-
wickeln, die die Arbeits- und Einkommensbedingungen der Beschäftigten
zukunftsfähig gestalten und die Entwicklungsmöglichkeiten der Unterneh-
men unterstützen.

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Die Entwicklung des Flächentarifvertrages aus der Sicht der IG BCE

H. Beschäftigungsfördernde Instrumente

D    urch unsere Tarifpolitik konnten wir eine Vielzahl von Regelungen zur
     Standortsicherung, Beschäftigungssicherung und -förderung vereinba-
ren. Unser Ziel ist es, durch eine qualitative Tarifpolitik betriebsbedingte
Kündigungen zu vermeiden. Deshalb müssen die beschäftigungsfördern-
den Instrumente der Tarifpolitik ausgebaut und weiterentwickelt werden:
Vereinbarung von Arbeitsplatzsicherungsabkommen und Standortsiche-
rungsverträgen, tarifliche Erweiterung des Kündigungsschutzes, Einführung
von Qualifizierungstarifverträgen, Umsetzung von Transfersozialplänen
statt Abfindungszahlung bei Arbeitsplatzverlust, befristete Einstiegsentgel-
te für Langzeitarbeitslose, Vereinbarung und Nutzung von Arbeitszeitkorri-
doren bei wirtschaftlichen Notlagen, Entwicklung betrieblicher Qualifizie-
rungs- und Vermittlungsprojekte.

I. Europa: Abstimmung der Tarifpolitik und der Mitbe-
   stimmung

E   uropäisch und global agierende Unternehmen erfordern, daß auch die
    Tarifpolitik und die Mitbestimmung europäisch abgestimmt werden
muß. Europäische Betriebsräte und die geplante Europäische Aktiengesell-
schaft und der Tarifausschuß bei der EMCEF sind erste Elemente einer euro-
päischen Zusammenarbeit auf Arbeitnehmerseite. Die gemeinsame Währung
und die Erweiterung der EU erhöhen den Druck zur Harmonisierung im Sozi-
al- und Steuerrecht. Die heute noch national ausgerichtete Tarifpolitik wird
sich diesem Prozeß öffnen müssen. Auch wenn ein nicht nur wirtschaftlich,
sondern auch sozial geeintes Europa noch wie eine Utopie klingt, sind die
vor uns liegenden Aufgaben klar: Schaffung einheitlicher Sozialstandards in
Europa, ohne die bestehenden nationalen Regelungen auszuhöhlen. Mehr
Mitbestimmung auf europäischer Ebene durch Ausbau der europäischen Be-
triebsräte und Schaffung von europäischen Aufsichtsräten. Koordinierung
der Tarifpolitik auf europäischer Ebene, um die Schere zwischen Hoch- und
Niedriglohnländern zu beseitigen. Angleichung der Arbeits- und Sozial-
rechtsnormen. Einrichtung eines europäischen Arbeitsgerichtshofs. Die Er-
weiterung der Europäischen Union wird die Aufgaben nicht leichter ma-
chen, umso wichtiger ist es, die beschriebenen Schritte voranzubringen.

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J. Zusammenfassung

A   us der Chemie-Tarifpolitik lernen heißt: Tarifpolitik ist Zukunftsgestal-
    tung. In der Bundesrepublik Deutschland sind derzeit 59.636 Tarifver-
träge abgeschlossen und in Anwendung. Davon sind 33.159 Tarifverträge
als Verbandstarifverträge und 26.477 Tarifverträge als Haustarifverträge ver-
einbart worden. Jährlich werden etwa 7.000 Tarifverträge neu abgeschlos-
sen. Allein diese Dimension macht deutlich, wie differenziert und flexibel
das Tarifvertragssystem auf die Bedingungen der Branchen und Betriebe
reagiert. Daraus resultiert ein für die Arbeitnehmer wie auch für die Ar-
beitgeber verläßliches Ordnungs- und Normensystem, das eigentlich nur
mit Blindheit geschlagene Politiker oder Unternehmer in Frage stellen
können (solche haben sich in den vergangenen Jahren und besonders in
den letzten Monaten leider öffentlich verstärkt zu Wort gemeldet).
   Das Tarifvertragssystem garantiert acht wirksame Funktionen. Tarifver-
träge erfüllen eine Schutzfunktion für die abhängig Beschäftigten. Sie sor-
gen dafür, daß diese an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben (Ver-
teilungsfunktion) und ermöglichen ihnen insgesamt eine Beteiligung an
der autonomen Gestaltung der Arbeitsbedingungen (Gestaltungsfunktion).
Aus Arbeitgebersicht übernehmen die Tarifverträge eine Ordnungsfunktion,
denn sie garantieren einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Ar-
beitskosten.
   Hinzu kommt ihre Planungsfunktion, denn sie geben den Unternehmen
eine gesicherte Planungs- und Kalkulationsgrundlage während der Lauf-
zeit der Verträge. Darüber hinaus erfüllen sie eine Friedensfunktion durch
die Friedenspflicht während der Laufzeit der Tarifverträge. Bei Verbands-
und Flächentarifverträgen kommt hinzu, daß der Konflikt um Löhne und
Arbeitszeiten von den Betrieben ferngehalten und auf die Verbände verla-
gert wird (Koordinierungsfunktion).
   Aus Sicht des Staates ist mit dem Tarifvertragssystem vor allem eine wir-
kungsvolle Entlastungsfunktion verbunden. Er kann sich auf eine Schlich-
terrolle bei schweren Tarifkonflikten zurückziehen.
   Verschärfte Wettbewerbsbedingungen und anhaltender Globalisierungs-
druck sowie zunehmende spezifische Anforderungen von Beschäftigten
und Unternehmen an die Gestaltung von Arbeitsbedingungen und zur Si-
cherung der Beschäftigung machen im Einzel- und Ausnahmefall Differen-

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zierungs- und Flexibilisierungsmöglichkeiten bei gegebenen Flächentarif-
verträgen notwendig. Hierauf kann und muß mit dem Instrument des Flä-
chentarifvertrages reagiert werden. Nur so können Mißbrauch ausge-
schlossen, spezifische Regelungen, die für die Beschäftigten sichernde Be-
dingungen enthalten, und die Ordnungsfunktion des Tarifvertragssystems
erhalten bleiben.
   Die Chemie-Tarifvertragsparteien haben frühzeitig mit einem ganzen
Strauß von Differenzierungs- und Flexibilisierungsinstrumenten in den be-
stehenden Flächentarifverträgen reagiert: einen Arbeitszeitkorridor von
+/- 2,5 Stunden, die erfolgsabhängige Gestaltung der Jahresleistung, Ein-
stellungstarife für Langzeitarbeitslose, Absenkung der tariflichen Grund-
entgelte zur Sicherung der Beschäftigung und Verbesserung der Wettbe-
werbsfähigkeit sowie Ausnahmeregelungen zu Höhe und Auszahlungszeit-
punkt von Jahresleistung, Urlaubsgeld und vermögenswirksamen Leistun-
gen bei tiefgreifenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
   Die Erfahrung mit diesen Instrumenten zeigt, daß sie sehr verantwort-
lich und stets mit sichernden Bedingungen für die Beschäftigten in den
jeweiligen Betrieben Anwendung finden. Die Tatsache, daß derzeit (2004)
lediglich 99 Genehmigungen für insgesamt ca. 50.000 Beschäftigte (also
weniger als 10% der Beschäftigten) erteilt wurden, macht den Ausnahme-
charakter und die spezifische betriebliche Anwendung deutlich.
   Im Gegensatz dazu erleben wir derzeit einige konservativ-liberale Poli-
tiker, Unternehmer und Vertreter von Wirtschaftsverbänden, marktradika-
len Kräften aus Politik, Wirtschaft, Banken, Wissenschaft und Medien, die
seit Monaten eine beispiellose Kampagne gegen die Tarifautonomie, Flä-
chentarifverträge und die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften führen.
Der Boden einer sachlichen Auseinandersetzung wird allzu häufig verlas-
sen, die Grenze zur Diffamierung überschritten. Die Beispiele aus der
jüngsten Vergangenheit sind vielfältig und eindeutig.
   Gerade in einem solchen Klima des wachsenden Mißtrauens sind es die
Chemie-Sozialpartner, die auch öffentlich in Klarheit und Fairneß Positio-
nen beziehen, Flagge zeigen, Interessen vertreten und trotzdem – bzw.
gerade deshalb – im Vertrauen auf die gemeinsame Gestaltungskraft zei-
gen, wie zuletzt mit der gemeinsamen Positionierung zu „Standort- und
Beschäftigungssicherung durch Flächentarifverträge in der chemischen In-
dustrie“ vom November 2004.

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Es ist zu hoffen und zu wünschen, daß diese Überlegungen, Gedanken
und Zielsetzungen auch die anderen Branchen der Industrie erfassen,
denn nur so ist die erfolgreiche Gestaltung der Zukunft in einer globali-
sierten Wirtschaft möglich.

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