Die Evaluation von Sicherheitsgesetzen - Grund- und menschenrechtliche Anforderungen - Deutsches Institut ...
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Analyse Die Evaluation von Sicherheitsgesetzen Grund- und menschenrechtliche Anforderungen Dieter Weingärtner
Das Institut Der Autor Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die Dr. iur. Dieter Weingärtner war über 30 Jahre lang unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution als Jurist in der Verwaltung des Bundestages und Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser Prinzipien in verschiedenen Bundes- und Landesministerien der Vereinten Nationen akkreditiert (A-Status). tätig. Schwerpunkte lagen dabei im Recht der äu- Zu den Aufgaben des Instituts gehören Politikbe- ßeren und der inneren Sicherheit. Seit 2019 ist ratung, Menschenrechtsbildung, Information und er Senior Fellow am Deutschen Institut für Men- Dokumentation, anwendungsorientierte Forschung schenrechte. zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zu- sammenarbeit mit internationalen Organisationen. Der Autor dankt Herrn Eric Töpfer, Wissenschaft Es wird vom Deutschen Bundestag finanziert. Das licher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Institut ist zudem mit dem Monitoring der Umset- Menschenrechte, für wertvolle Hinweise und zung der UN-Behindertenrechtskonvention und der Anregungen. UN-Kinderrechtskonvention betraut worden und hat hierfür entsprechende Monitoring-Stellen ein- Die vorliegende Analyse gibt die Auffassung des gerichtet. Deutschen Instituts für Menschenrechte wieder. Das Institut dankt Dieter Weingärtner herzlich für ihre Erstellung.
Analyse Die Evaluation von Sicherheitsgesetzen Grund- und menschenrechtliche Anforderungen Dieter Weingärtner
Vorwort Eine kaum mehr überschaubare Zahl von Sicher- Mit der vorliegenden Analyse erneuert und aktu- heitsgesetzen wurde seit dem 11. September alisiert das Institut seine Empfehlung zur Evalu- 2001 verabschiedet. Die Befugnisse von Polizei, ierung von Sicherheitsgesetzen. Wir greifen das Staatsanwaltschaften und Geheimdiensten, in Thema abermals auf, weil die gesetzliche Veran- Grund- und Menschenrechte einzugreifen, sind so kerung einer solchen Pflicht zur Evaluierung in der in den zurückliegenden 20 Jahren erheblich erwei- Sicherheitsgesetzgebung der vergangenen Jahre tert worden. Nicht wenige dieser Gesetze wurden eher die Ausnahme als die Regel war. Selbst wenn vom Bundesverfassungsgericht für verfassungs- Evaluierungen durchgeführt wurden, hinterfrag- widrig erklärt, so dass der Gesetzgeber gezwun- ten diese selten die Verhältnismäßigkeit der neuen gen war, anschließend nachzubessern. sicherheitsbehördlichen Befugnisse am Maßstab der Grund- und Menschenrechte, sondern nah- Bereits 2006 empfahl das Deutsche Institut für men meist die Perspektive der Verwaltung ein und Menschenrechte die grund- und menschenrechts- überprüften etwa Kosten und Aufwand. orientierte Evaluierung von Sicherheitsgesetzen als Instrument zur Selbstkontrolle des Gesetzgebers. Die Analyse gibt einen Überblick über die bishe- Verwiesen wurde dabei auf die verfassungsrecht- rige Evaluierungspraxis und diskutiert Konzepte liche Pflicht, Gesetze dann zu evaluieren, wenn bei und Methodik. Dabei richtet sie sich an den Ge- ihrem Erlass Konstellationen besonders gesteiger- setzgeber sowie an die rechts- und sozialwissen- ter Unsicherheit hinsichtlich der tatsächlichen Um- schaftliche Forschung und will somit einen Beitrag stände, Prognosen und Folgen vorliegen, wie es zur Stärkung und Weiterentwicklung der grund- bei der Bekämpfung des Terrorismus und anderer und menschenrechtsorientierten Evaluierung von schwerer Straftaten regelmäßig der Fall ist. Sicherheitsgesetzen leisten. Professorin Dr. Beate Rudolf Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte
Inhalt Zusammenfassung 9 1 Einleitung 10 2 Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzesevaluierung 11 3 Sicherheitsgesetzgebung und Evaluation 13 3.1 Sicherheitsgesetze als Gegenstand einer Evaluierung 13 3.2 Die Pflicht zur Evaluierung von Sicherheitsgesetzen 14 3.3 Die Staatspraxis auf der Bundesebene 15 3.3.1 Die Evaluation der Terrorismusbekämpfungsgesetze 15 3.3.2 Evaluationen sonstiger Sicherheitsgesetze 16 3.3.3 Neuere Entwicklung und Bewertung 18 3.4 Konzept und Methodik grund- und menschenrechtsbezogener Evaluierung 19 3.4.1 Die Grundrechtsbelastung 19 3.4.2 Exkurs: Die Überwachungs-Gesamtrechnung 20 3.4.3 Die Zielerreichung 21 3.4.4 Die Gesetzeswirkungen 21
4 Fazit und Empfehlungen 24 5 Literatur 26 Abkürzungen 29
Zusammenfassung Verantwortungsbewusste Gesetzgebung hat die staatlich geboten, weil Sicherheitsgesetzgebung Folgen ihres Handelns im Blick zu behalten. Dies in besonderem Maße mit Prognosen arbeitet. Zur gilt in besonderem Maß dann, wenn Grund- und Ermittlung der Folgen eines Gesetzes bedarf es ju- Menschenrechte betroffen sind. In den vergange- ristischer wie sozialwissenschaftlicher Methodik. nen Jahren hat der Bundestag zahlreiche Gesetze Bei der Frage der Grundrechtsbeeinträchtigung verabschiedet, durch welche die Befugnisse von sind sowohl quantitative als auch qualitative Fak- Sicherheitsbehörden zu Eingriffen in Grund- und toren zu berücksichtigen. Um die Auswirkungen Menschenrechte erweitert wurden. Mit wissen- einer gesetzlichen Regelung auf die Entwicklung schaftlichem Anspruch evaluiert wurden diese Ge- der inneren Sicherheit zu erfassen, erscheint aller- setze aber nur vereinzelt. Zwar misst die Bundes- dings weitere Methodendiskussion und Methoden- regierung in jüngerer Zeit der Gesetzesevaluation forschung erforderlich. Die grund- und menschen- zunehmende Bedeutung zu, doch stehen bei ihr rechtsbezogene Evaluation soll dem Gesetzgeber Faktoren wie Erfüllungsaufwand und Bürokratie- schließlich wissenschaftlich belegte Erkenntnisse kosten im Vordergrund. Die grund- und menschen- für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der ge- rechtsbezogene Evaluierung eines Sicherheits- setzlich geregelten Eingriffsrechte im Lichte in der gesetzes hat hingegen die durch neu eingeführte Praxis gewonnener Erfahrungen liefern und damit Vorschriften hervorgerufenen Grundrechtsbeein- eine Grundlage für die Entscheidung, ein Sicher- trächtigungen in Verhältnis zu setzen zu den si- heitsgesetz bestehen zu lassen, zu ändern oder cherheitsfördernden Wirkungen. Dies ist rechts- aufzuheben.
10 EINLEITUNG 1 Einleitung Die Evaluation von Gesetzen ist in Mode gekom- Nachfolgend wird die bisherige Praxis von Bundes- men – was nicht heißen soll, dass es sich um eine tag und Bundesregierung unter diesem Aspekt be- Modeerscheinung handelt. Im Gegenteil: Ein ver- trachtet. Dem schließen sich methodische Überle- antwortungsbewusster Gesetzgeber hat die Folgen gungen zur Erfassung mit einem Sicherheitsgesetz seines Handelns sowohl vorab einzuschätzen und verbundener Grundrechtsbeeinträchtigungen, zu bedenken als auch nachträglich zu analysieren, aber auch erreichter Zugewinne an Sicherheit und zu bewerten und – wenn nötig –Konsequenzen zu Rechtsgüterschutz an. Hieraus sind Empfehlungen ziehen. Bei der Überprüfung von Sicherheitsge- für die künftige Evaluierung von Sicherheitsgeset- setzen kommt der Frage der Wahrung von Grund- zen abzuleiten. und Menschenrechten besondere Bedeutung zu.
G ES E T Z ES F O LG EN A B S C H ÄT Z U N G U N D G ES E T Z ES E VA LU I ER U N G 11 2 Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzesevaluierung Die Gesetzesfolgenabschätzung hat in Deutsch- sich die Prüfung des Rates über die mit dem Ge- land Tradition. Sie ist im Laufe der Zeit immer wei- setz verbundenen Kosten hinaus auch auf Erwä- ter verfeinert worden. Nach der Gemeinsamen gungen zu Befristung und Evaluierung des Geset- Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO)1 zes erstrecken. Während sich die Darstellung der sind in der Begründung von Gesetzesvorlagen Kosten in Gesetzentwürfen der Bundesregierung der Bundesregierung neben Zielsetzung und Not- inzwischen in der Praxis weitgehend eingespielt wendigkeit des Gesetzentwurfs, alternativen Lö- und vereinheitlicht hat, ist dies hinsichtlich einer sungsmöglichkeiten und verschiedenen anderen Ex-post-Evaluierung3 noch nicht festzustellen. Aspekten auch die erwarteten Gesetzesfolgen dar- zustellen. Unter diese fallen nach § 44 GGO die Im Rahmen ihres Arbeitsprogramms Bessere wesentlichen Auswirkungen des angestrebten Ge- Rechtsetzung 2012 beschloss das Bundeskabi- setzes einschließlich beabsichtigter Wirkungen nett die Einführung eines Verfahrens, nach dem und unbeabsichtigter Nebenwirkungen. Zu ermit- bei wesentlichen Regelungsvorhaben in angemes- teln und darzulegen sind die Auswirkungen auf sener Frist nach dem Inkrafttreten systematisch Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Haus- überprüft werden soll, ob und inwieweit der bei halte und der Erfüllungsaufwand für Wirtschaft der Verabschiedung ermittelte Aufwand sich im und Verwaltung sowie für Bürger_innen. § 44 Nachhinein als zutreffend erwiesen hat.4 Eine Eva- Abs. 7 GGO verpflichtet das federführende Res- luierung aus anderen als Kostengründen, etwa auf- sort darüber hinaus, festzulegen, ob und nach Ab- grund von „großen Unsicherheiten über Wirkun- lauf welchen Zeitraums zu prüfen ist, ob die be- gen oder Verwaltungsvollzug“ des Gesetzes, ist absichtigten Wirkungen erreicht worden sind, ob nach dem Arbeitsprogramm ebenfalls zu erwägen. die entstandenen Kosten in einem angemessenen In Umsetzung dieses Beschlusses verabschiedete Verhältnis zu den Ergebnissen stehen und welche der Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau Nebenwirkungen eingetreten sind. der Bundesregierung im Jahr 2013 eine Konzep- tion zur Evaluierung neuer Regelungsvorhaben.5 Demgemäß enthalten Gesetzentwürfe der Bun- Danach soll die Evaluierung einen Zusammenhang desregierung in den letzten Jahren immer detail- zwischen Ziel und Zweck einer Regelung und den liertere Angaben zu Erfüllungsaufwand und Büro- tatsächlich erzielten Wirkungen sowie den damit kratiekosten der Regelungen. Bei der Darlegung verbundenen Kosten herstellen. Die Konzeption solcher Kosten unterstützt die Bundesministerien sieht vor, dass die Bundesressorts alle wesent- der Nationale Normenkontrollrat, der im Jahr 2006 lichen Regelungsvorhaben zu evaluieren haben. gebildet wurde.2 Nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 NKRG kann Die Wesentlichkeit eines Regelungsvorhabens be- 1 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO), Stand 22.1.2020, http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/ bsvwvbund_21072009_O11313012.htm (letzter Zugriff auf alle angeführten Webseiten am 10.04.2021). 2 Gesetz zur Einsetzung des Nationalen Normenkontrollrates (NKRG) vom 14.8.2006, BGBl. I 1866, zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.6.2020, BGBl. I 1328. 3 Die Literatur unterscheidet zwischen Ex-ante-, begleitenden und Ex-post-Evaluierungen, vgl. Ziekow / Debus / Piesker (2012), S. 6. Ent- sprechend der Terminologie der GGO wird im Folgenden aber unter Evaluierung nur die retrospektive Ex-post-Evaluierung verstanden. 4 Die Bundesregierung (2013). 5 Konzeption zur Evaluierung neuer Regelungsvorhaben gemäß Arbeitsprogramm bessere Rechtsetzung, 23.01.2013, https://www.normenkontrollrat.bund.de/resource/blob/300864/1573606/d5a0a19814afaf815e3a3656c1c6c1d2/ 2019-01-25-evaluierung-neuer-regelungsvorhaben-data.pdf
12 G ES E T Z ES F O LG EN A B S C H ÄT Z U N G U N D G ES E T Z ES E VA LU I ERU N G stimmt sich nach der Höhe des zu erwartenden Die Qualität von Evaluierungen, die die Ministe- jährlichen Erfüllungsaufwandes. Als wichtigstes rien selbst durchführen, soll durch eine unabhän- Evaluierungskriterium wird die Zielerreichung an- gige Stelle überprüft werden. Überschreitet der geführt, da ihr Ziel verfehlende Regelungen unnöti- jährliche Erfüllungsaufwand einen bestimmten gen Erfüllungsaufwand verursachten. Schwellenwert, soll eine Qualitätssicherung des Evaluationsberichtes stattfinden. Evaluierungen Eine Fortentwicklung erfuhr diese Konzeption mit sollen zudem grundsätzlich auf einer zentralen On- einem Beschluss des Staatssekretärsausschus- line-Plattform der Bundesregierung veröffentlicht ses aus dem November 2019.6 Diesem zufolge ist werden. Deutlich lässt dieser Beschluss erkennen, in der Begründung von Regelungsvorhaben dar- dass im Mittelpunkt von Evaluationsansätzen der zustellen, welche Ziele bei einer Evaluierung zu- Bundesregierung weiterhin Kostenaspekte wie der grunde gelegt und welche Kriterien für die Zieler- Erfüllungsaufwand des Gesetzes und verursachte reichung voraussichtlich herangezogen werden. Bürokratiekosten stehen. 6 Fortentwicklung der Evaluierungskonzeption der Bundesregierung, 27.11.2019, https://www.normenkontrollrat.bund.de/resource/ blob/300864/1710458/784303d11758802127d37fc38f49dc8a/20200107-beschluss-st-ausschuss-fortentwicklung-der- evaluierungskonzeption-der-bundesregierung-data.pdf
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N 13 3 Sicherheitsgesetzgebung und Evaluation 3.1 Sicherheitsgesetze als Gegen Die Evaluierung von Gesetzen bezweckt, der Le- stand einer Evaluierung gislative Informationen darüber zu liefern, ob die tatsächlichen Entwicklungen den Einschätzungen Sicherheitsgesetze dienen dem Schutz der inneren entsprechen, die sie zum Zeitpunkt des Gesetzes- Sicherheit. Die innere oder auch öffentliche beschlusses zugrunde gelegt hat.9 Unverzichtbar Sicherheit gewährleistet den Schutz innerstaatli- sind solche Erkenntnisse, wenn ein Gesetz eine cher Rechtsgüter. Hierzu zählen zentrale individu- Befristung seiner Geltung vorsieht. Denn für die elle Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit Entscheidung über ein Auslaufenlassen, eine Ver- und Eigentum ebenso wie die Unversehrtheit der längerung oder eine Modifizierung benötigt der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen.7 Gesetzgeber belastbare, auf wissenschaftlicher Basis beruhende Informationen über den Grad der Unter dem Eindruck aktueller Gefahrenlagen und Zielerreichung und über die Wirkungen des Ge- in der Folge von Verbrechen, die in der Öffentlich- setzes. Doch auch unabhängig von einer gesetz- keit Aufsehen erregen, werden regelmäßig Rufe lichen Befristung ist es geboten, neu geschaffene nach einer Stärkung der inneren Sicherheit durch Eingriffsbefugnisse von Sicherheitsbehörden nach Verschärfung von Sicherheitsgesetzen laut. Neben Ablauf eines angemessenen Zeitraums im Lichte der Ausdehnung von Straftatbeständen und der der seit dem Inkrafttreten gewonnenen Erfahrun- Anhebung von Strafdrohungen gilt auch die Erwei- gen einer Kontrolle zu unterziehen. So lässt sich terung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden als sicherstellen, dass die Sicherheitsbehörden ihre probates rechtliches Mittel, um dieses Ziel zu er- Aufgaben effektiv wahrnehmen können, auf der reichen. Derartige Maßnahmen sollen nicht nur öf- anderen Seite aber unverhältnismäßige Eingriffe in fentliche Güter sichern, sondern auch den Schutz Grund- und Menschenrechte unterbleiben.10 Ne- der Menschen im Land vor strafbaren Handlun- ben den Freiheitsrechten sind auch die Gleich- gen verbessern und die Unversehrtheit individu- heitsrechte zu beachten. Ermächtigungen in Si- eller Rechtsgüter gewährleisten. Der Gesetzgeber cherheitsgesetzen dürfen keine diskriminierende erfüllt damit aus den Grund- und Menschenrech- Wirkung entfalten. ten abzuleitende Schutzpflichten.8 Auf der ande- ren Seite bedeuten erweiterte Befugnisse von Si- Der kostenorientierte Ansatz einer Gesetzesfol- cherheitsbehörden zusätzliche Ermächtigungen zu genbewertung, den die Bundesregierung verfolgt, Eingriffen in Grund- und Menschenrechte. Neue greift für die Gesamtwürdigung eines Sicherheits- Sicherheitsgesetze schränken regelmäßig Grund- gesetzes zu kurz. Denn eine solche Betrachtung und Menschenrechte ein. Im Staat des Grundge- erfasst die grund- und menschenrechtsbezoge- setzes müssen solche Einschränkungen fortge- nen Effekte des Gesetzes nicht. Bei der Evaluie- setzt kritisch hinterfragt werden. rung von Gesetzen, die Befugnisse zu Eingriffen 7 Vgl. BVerfGE 69, 315 (352) („Brokdorf“). 8 Vgl. BVerfGE 77, 170 (214) („Lagerung chemischer Waffen“); Bundesverfassungsgericht (2019): Beschluss vom 19.06.2019, 2 BvR 2299/15, Rn. 27 im Hinblick auf waffenrechtliche Bestimmungen. 9 Albers (2006), S. 29. 10 Vgl. Tätigkeitsbericht 2009 und 2010 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationssicherheit, Deutscher Bundestag (12.04.2011), S. 82.
14 S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N in Grund- und Menschenrechte enthalten, darf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung dann eine auf finanzielle Aspekte bezogene Kosten/ an, wenn Ungewissheit über die Eignung neuer Nutzen-Analyse gerade nicht im Vordergrund ste- Instrumente oder über künftige tatsächliche Ent- hen. Zusätzliche Beschränkungen grund- und men- wicklungen besteht. So machte das Gericht es schenrechtlicher Freiheitsbereiche sind auch nicht in seiner Entscheidung zur akustischen Überwa- unbeabsichtigte Nebenwirkung der Normgebung, chung von Wohnräumen zu Strafverfolgungszwe- sondern zwangsläufige Folge einer Erweiterung si- cken dem Gesetzgeber angesichts von Prognose- cherheitsbehördlicher Befugnisse. Eine den Grund- unsicherheiten zur Auflage, „die Entwicklung zu und Menschenrechten Rechnung tragende Evalua- beobachten und fortlaufend zu prüfen, ob das Er- tion von Sicherheitsgesetzen kann sich nicht auf mittlungsinstrument tatsächlich geeignet ist, auch eine Funktionalitäts- und Effektivitätskontrolle be- das mit ihm verfolgte spezielle Ziel in hinreichen- schränken.11 Sie muss die aufgrund der gesetzge- dem Maß zu erreichen“.15 Das Urteil zur GPS-Ob- berischen Maßnahmen hervorgerufenen Eingriffe servation verpflichtet die Legislative zu beobach- in Grund- und Menschenrechte in Beziehung set- ten, ob „die bestehenden verfahrensrechtlichen zen zu den erzielten Zugewinnen an Sicherheit und Vorkehrungen auch angesichts zukünftiger Ent- zu einer hierdurch bewirkten Stärkung des Schut- wicklungen geeignet sind, den Grundrechtsschutz zes kollektiver und individueller Rechtsgüter. Zent- effektiv zu sichern“.16 Die Beobachtungspflicht raler Maßstab der Evaluation eines Sicherheitsge- schließe ein, dass der Gesetzgeber dafür Sorge setzes hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit trage, dass die für die Beurteilung der Wirkungen zu sein.12 Denn die Evaluation soll eine tatsachen- des Gesetzes notwendigen Daten planmäßig erho- gestützte Beantwortung der Frage ermöglichen, ob ben, gesammelt und ausgewertet werden. die gesetzgeberischen Maßnahmen sich als zum Erreichen des angestrebten Sicherheitsgewinns Sicherheitsgesetzgebung findet regelmäßig un- geeignet und erforderlich erwiesen haben und ob ter Bedingungen gesteigerter Ungewissheit statt.17 ihre Anwendung im Hinblick auf die verursachten Wirkungsweise, Folgen und Nebenwirkungen tech- Grundrechtsbelastungen angemessen ist. nisch gestützter Sicherheitsmaßnahmen lassen sich vorab in der Regel nicht präzise einschätzen. Auch können gesellschaftliche und sicherheitspo- 3.2 Die Pflicht zur Evaluierung von litische Entwicklungen nicht sicher vorhergesagt Sicherheitsgesetzen werden. Ungewiss ist, ob die vom Gesetzgeber zu- grunde gelegten Tatsachen und seine Prognosen Das Bundesverfassungsgericht hat in verschiede- zur Realitätsentwicklung zutreffen und welche Wir- nen Zusammenhängen festgestellt, dass der Ge- kungen seine Entscheidungen im Hinblick auf die setzgeber verpflichtet ist, die Folgen seines Han- Anwendungspraxis mit sich bringen werden.18 Eine delns und die Wirkungen der verabschiedeten solche Unsicherheit hindert die Legislative nach Gesetze nach ihrem Inkrafttreten zu beobachten der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts und zu überprüfen, ob Korrekturen oder Nachbes- nicht, Regelungen zu treffen, die Grund- und Men- serungen erforderlich sind.13 Denn die legislative schenrechte einschränken.19 Sie verschafft dem Verantwortung umfasse es auch, dafür zu sorgen, Gesetzgeber aber keinen größeren Spielraum im dass erlassene Gesetze in Übereinstimmung mit Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit seiner Maß- dem Grundgesetz bleiben.14 Eine gesteigerte Be- nahmen. Und sie rechtfertigt es, ihm die nachträg- obachtungs- und Nachbesserungspflicht nimmt liche Prüfung aufzuerlegen, ob seine Annahmen 11 Weinzierl (2006), S. 4. 12 Kugelmann (2015), S. 157. 13 Vgl. BVerfGE 25, 1 (12 f.) („Mühlengesetz“); BVerfGE 49, 89 (130) („Kalkar I“); BVerfGE 56, 54 (78 f.) („Fluglärm“). 14 BVerfGE 88, 203 (309 f) („Schwangerschaftsabbruch II“). 15 BVerfGE 109, 279 (340) („Großer Lauschangriff“). 16 BVerfGE 112, 304 (320) („Global Positioning System“). 17 Bielefeldt (2010), S. 21. 18 Albers (2010), S. 29. 19 Kötter (2015), S. 66; Weinzierl (2006), S. 5.
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N 15 eingetreten sind und ob die durch ein Gesetz Nachrichtendienste (BND, BfV, MAD) und das Bun- verursachten Wirkungen dem Verhältnismäßig- deskriminalamt ein. Artikel 22 Absatz 2 des Ge- keitsprinzip Rechnung tragen.20 setzes sah eine Befristung dieser Befugnisse bis zum 11. Januar 2007 vor und Artikel 22 Absatz 3 bestimmte, dass die Neuregelungen vor Ablauf der 3.3 Die Staatspraxis auf der Bundes Befristung zu evaluieren seien. Nähere Vorgaben ebene zum Evaluierungsverfahren enthielten weder der Gesetzestext noch die Begründung des Entwurfs Der Bundestag hat in den vergangenen Jahren eine oder der Bericht des federführenden Ausschus- Vielzahl von Gesetzen verabschiedet, die die Poli- ses.23 In Umsetzung des Evaluationsauftrags er- zei auf Bundes- und Landesebene, die Nachrich- stattete die Bundesregierung dem Innenausschuss tendienste und andere Sicherheitsbehörden mit des Bundestages im Mai 2005 einen Bericht, der erweiterten Befugnissen ausstatteten und straf- die gesetzgeberischen Entscheidungen als größ- rechtliche Sanktionsmöglichkeiten und damit ver- tenteils bestätigt bezeichnete, sich inhaltlich aber knüpfte Ermittlungsinstrumente weiter in das Vor- weitgehend darauf konzentrierte, die Häufigkeit feld von Rechtsgutverletzungen ausdehnten.21 Nur des Einsatzes der Maßnahmen anzugeben.24 ein kleiner Teil dieser grundrechtsbeschränken- den Gesetze wurde einer nachträglichen Überprü- Die Anschlussregelung des Terrorismusbekämp- fung in Form einer wissenschaftlich abgesicher- fungsergänzungsgesetzes25 vom Januar 2007 bein- ten Evaluation unterzogen. Eine kontinuierliche haltete in Artikel 11 wiederum eine Evaluierungs- Evaluierung fand lediglich im Zeitraum zwischen pflicht, diesmal immerhin „unter Einbeziehung 2002 und 2020 in Bezug auf die in ihrer Geltung eines wissenschaftlichen Sachverständigen“, wel- befristeten Gesetze zur Bekämpfung des Terro- cher im Einvernehmen mit dem Bundestag zu be- rismus und ihre jeweiligen Verlängerungsgesetze stellen sei. Hierzu legte die Bundesregierung dem statt. Ansonsten wurden grundrechtsorientierte Innenausschuss im Jahr 2011 einen nach wissen- Evaluationen von Sicherheitsgesetzen lediglich schaftlicher Methodenberatung erstellten Bericht in Einzelfällen und ohne einheitliche Systematik vor, dem das Gutachten eines Staatsrechtslehrers durchgeführt. Entsprechend unterschiedlich und zur Anwendungspraxis unter Berücksichtigung unbefriedigend fielen die Resultate aus. Die Infor- grundrechtlicher Fragestellungen beigefügt war.26 mationen, die die vorgelegten Evaluationsberichte enthielten, reichten für eine tragfähige Bewertung Bei der nächsten Verlängerung, dem Gesetz zur der Gesetze und ihrer Folgen aus grund- und men- Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes schenrechtlicher Sicht nicht aus. vom 7. Dezember 2011,27 war der Evaluierungsauf- trag detaillierter ausgestaltet. Artikel 9 verpflich- 3.3.1 Die Evaluation der Terrorismus tete die Bundesregierung zu einer Evaluierung bekämpfungsgesetze unter Einbeziehung wissenschaftlichen Sachver- Das Terrorismusbekämpfungsgesetz des Jahres standes; dabei seien die „Häufigkeit und Auswir- 200222 führte, unter dem Eindruck der Entwick- kungen der mit den Eingriffsbefugnissen verbun- lung des internationalen Terrorismus zu einer welt- denen Grundrechtseingriffe einzubeziehen und weiten Gefahr, neue Eingriffsbefugnisse für die in Beziehung zu setzen zu der anhand von Tat- 20 Zur verfassungsrechtlichen Herleitung der Pflicht zur Evaluierung von Sicherheitsgesetze siehe auch Gusy / Kapitza (2015), 22 ff. 21 Eine vom Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit für eine Sachverständigenanhörung des Innenausschusses des Bundestages im Februar 2021 erstellte Übersicht weist für den Zeitraum zwischen Oktober 2001 und Januar 2021 86 derartige Gesetze und Vorhaben aus, https://www.bundestag.de/resource/blob/823304/bd2db066ac8571db811ccec43e720206/A-Drs-19-4-732-A- data.pdf, S. 10 ff. 22 BGBl. 2002 I 361. 23 Deutscher Bundestag (08.11.2001), Deutscher Bundestag (13.12.2001). 24 Näher hierzu Albers (2010), S. 37. 25 BGBl. 2007 I 2. 26 Vgl. Deutscher Bundestag (20.02.2015), S. 3. 27 BGBl. 2011 I 2576.
16 S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N sachen darzustellenden Wirksamkeit zum Zweck Bundesregierung führt aus, die viermalige Evalua- der Terrorismusbekämpfung“. In Erfüllung dieses tion stütze die dauerhafte Beibehaltung der den Auftrags übermittelte die Bundesregierung dem Nachrichtendiensten eingeräumten Befugnisse. Bundestag im September 2015 eine Studie des In- Eine fortlaufende Evaluierung zur Praxisbewährung stituts für Gesetzesfolgenabschätzung und Evalua- der Regelungen erfolge gesetzesbegleitend unter tion, Speyer (InGFA).28 Diese Studie unterzog jede Gesichtspunkten der Wirksamkeit wie der Wirt- einzelne der insgesamt elf zu evaluierenden Ein- schaftlichkeit.34 zelregelungen sowohl einer empirischen als auch einer rechtswissenschaftlichen Analyse. Die empi- Die den Sicherheitsbehörden im Jahr 2002 zur Ter- rische Untersuchung ermittelte die Anwendungs- rorismusbekämpfung verliehenen Eingriffsbefug- häufigkeit der Maßnahmen und die Umstände der nisse in Grund- und Menschenrechte sind somit Anwendung, wie etwa Gründe für die Anordnung, bis zum Jahr 2020 fortlaufend auf der Grundlage und versuchte, den Nutzen der übermittelten In- eines gesetzlichen Auftrags evaluiert worden. Die formationen für die nachrichtendienstliche Arbeit Evaluationsaufträge wurden mit der Zeit konkreter zu beurteilen. Die rechtswissenschaftliche Bewer- gefasst, externer wissenschaftlicher Sachverstand tung bezeichnete die Umsetzung der Normen in wurde in zunehmendem Ausmaß herangezogen. der Praxis als verhältnismäßig. Die Bundesregie- Die Evaluationsberichte analysieren die Anwen- rung kommentierte die Studie kurz mit der Bemer- dung der Vorschriften durch die Sicherheitsbehör- kung, sie stimme mit der Bewertung überein, dass den. Nur die zwei jüngeren Berichte wurden der die Anwendung der durch die evaluierten Vor- Öffentlichkeit als Bundestagsdrucksachen zugäng- schriften geschaffenen nachrichtendienstlichen lich gemacht. Aus den Ergebnissen der Evaluation Befugnisse verantwortungsvoll und gezielt erfolgt zog der Gesetzgeber Konsequenzen, indem er Vor- sei und wichtige Ergebnisse erbracht habe.29 schläge zur Verbesserung aufgriff und nicht ge- nutzte gesetzliche Ermächtigungen strich.35 Das Gesetz zur Verlängerung der Befristung von Vorschriften nach den Terrorismusbekämpfungs- 3.3.2 Evaluationen sonstiger Sicherheits gesetzen aus dem Jahr 201530 wiederholte die For- gesetze mulierung des gesetzlichen Auftrags aus dem Jahr Von den Terrorismusbekämpfungsgesetzen abge- 2011 in seinem Artikel 5. Der dem InGFA darauf- sehen erfuhr die Idee einer retrospektiven Evalua- hin vom Bundeministerium des Innern (BMI) er- tion in der Sicherheitsgesetzgebung des Bundes teilte Untersuchungsauftrag beschränkte sich auf bis zur 19. Wahlperiode des Bundestages wenig die Beschreibung und wissenschaftliche Bewer- Beachtung. Evaluationsklauseln waren im Text tung der Folgen, die sich aus der Anwendung der von Sicherheitsgesetzen nur ganz vereinzelt an- zu evaluierenden Normen ergäben.31 Der auftrags- zutreffen, etwa bei Vorschriften, die die Grund- gemäß im Juli 2018 vorgelegte Evaluierungsbericht lage für die Errichtung behördenübergreifender des InGFA32 ist nach gleichem Muster aufgebaut Datenbanken und für damit verbundene Eingriffe wie der Bericht zu der Verlängerungsregelung des in das Grundrecht auf informationelle Selbstbe- Jahres 2015. Auf diesen Bericht beruft sich das stimmung schufen. Artikel 5 Absatz 2 des Ge- Gesetz zur Entfristung von Vorschriften zur Terro- meinsame-Dateien-Gesetzes vom 22.12.200636 rismusbekämpfung,33 welches nunmehr keine Be- schrieb die Evaluierung des Antiterrordateigeset- fristung und keine Evaluationsklausel mehr ent- zes (ATDG) unter Einbeziehung eines im Einver- hält. Die Begründung des Gesetzentwurfs der nehmen mit dem Bundestag zu bestellenden wis- 28 Deutscher Bundestag (02.09.2015); hierzu auch Gnüchtel (2016). 29 Deutscher Bundestag (02.09.2015), S. 3. 30 BGBl. 2015 I 2161. 31 Siehe Deutscher Bundestag (06.10.2020), S. 16. 32 Ebda. 33 Gesetz zur Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung vom 3.12.2020, BGBl. I 2667. 34 Deutscher Bundestag (27.10.2020 a), S. 4. 35 Siehe Deutscher Bundestag (06.09.2011), S. 10. 36 BGBl. I 3409.
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N 17 senschaftlichen Sachverständigen vor. Das Gesetz Grundlage eingegriffen wird, und denjenigen, zu vom 20.8.201237, das die Rechtsgrundlage für deren Schutz es geschaffen wurde.41 den Aufbau der Rechtsextremismus-Datei bildete (RED-G), verpflichtete die Bundesregierung in Arti- Häufiger als Evaluationsaufträge übertragen Si- kel 3 Absatz 2 zu einer Evaluierung unter Einbezie- cherheitsgesetze des Bundes der Exekutive Be- hung wissenschaftlicher Sachverständiger, bei der richtspflichten gegenüber der Legislative. Auch „die Häufigkeit und die Auswirkungen der mit den das Grundgesetz selbst erlegt der Bundesregie- Datenerhebungen, -verarbeitungen und -nutzun- rung in Artikel 13 Absatz 6 eine jährliche Unter- gen verbundenen Grundrechtseingriffe einzube- richtung des Bundestags über den Einsatz techni- ziehen und in Beziehung zu setzen sind zu der an- scher Mittel zur Überwachung von Wohnräumen hand von Tatsachen darzustellenden Wirksamkeit in ihrem Zuständigkeitsbereich auf. Nach § 88 des zum Zweck der Bekämpfung des gewaltbezogenen Bundeskriminalamtgesetzes aus dem Jahr 201742 Rechtsextremismus“. muss das Bundeskriminalamt dem BMI über die Ausübung der ihm neu eingeräumten Befugnisse Der dem Bundestag übermittelte Bericht des BMI berichten. Das BMI hat diese Berichte dem Bun- zur Evaluierung des ATDG38 beschrieb Betrieb und destag zuzuleiten. Der Bericht des BKA vom No- Nutzung der Antiterrordatei und ging auf die Frage vember 2019 über die Anwendung verdeckter nach der Zielerreichung des Gesetzes – Verbes- Überwachungsmaßnahmen im Rahmen der Ge- serung der Zusammenarbeit der Sicherheitsbe- fahrenabwehr43 nennt die Zahl der Fälle, in denen hörden bei möglichst weitgehender Wahrung der die Behörde von ihren Befugnissen zur Abwehr Grundrechte Betroffener39 – ein. Im Ergebnis sah von Gefahren des internationalen Terrorismus, im der Bericht durch das Gesetz Informationsaus- Rahmen der Strafverfolgung und zum Schutz ge- tausch und Kooperationsbereitschaft der Sicher- fährdeter Personen Gebrauch gemacht hat. Be- heitsbehörden intensiviert und im Hinblick auf die wertende Aussagen über das Erreichen mit der Intensität der Grundrechtseingriffe den Verhältnis- Gesetzesänderung verfolgter Ziele enthält der mäßigkeitsgrundsatz gewahrt. Zur Erfüllung des Bericht nicht. Ebenso fehlt eine Kommentierung Evaluierungsauftrags des RED-G leitete das BMI durch das BMI. dem Bundestag einen Evaluationsbericht des von ihm beauftragten InGFA unkommentiert zu.40 Die- Evaluationsklauseln finden sich nicht nur im Ge- ser Bericht enthielt eine empirische Analyse der setzeswortlaut, sondern auch in der Begründung Anwendung des Gesetzes mittels Auswertung vor- des Entwurfs von Sicherheitsgesetzen. Die Be- liegender und begleitend erhobener Daten, Nut- gründung des Entwurfs des Gesetzes zur Ausland- zerbefragungen und Interviews in Behörden. Die Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnach- Evaluation wurde in Form einer verfassungsrecht- richtendienstes (BND) aus dem Jahr 2016 sagte lichen Begutachtung des Gesetzes insgesamt und eine Evaluierung der Änderung des BND-Gesetzes seiner einzelnen Vorschriften vorgenommen. Die spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten zu, die zusammenfassende Betrachtung kam zu dem Er- zu untersuchen habe, „wie sich der Erfüllungsauf- gebnis, dass das RED-G seiner Zielsetzung, der Ef- wand entwickelt hat und ob die Entwicklung in ei- fektivierung des Informationsaustausches zwi- nem angemessenen Verhältnis zu den festgestell- schen den Sicherheitsbehörden, gerecht werde ten Regelungswirkungen steht“.44 Mit dem Entwurf und einen angemessenen Ausgleich gefunden des Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundes- habe zwischen den Rechtsgütern, in die auf seiner kriminalamtes 2017 sicherte die Bundesregierung 37 Art. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus vom 12.8.2012, BGBl. I 1798. 38 Deutscher Bundestag (07.03.2013). 39 Vgl. hierzu Deutscher Bundestag (16.10.2006), 12 f. 40 Deutscher Bundestag (07.04.2016). 41 Ebda., S. 129. 42 BGBl. I 1354. 43 Deutscher Bundestag (21.11.2019). 44 Deutscher Bundestag (05.07.2016), S. 21.
18 S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N zu, das Regelungsvorhaben spätestens fünf Jahre Die Befristung der Geltung eines Sicherheitsgeset- nach seinem Inkrafttreten mit Schwerpunkt auf zes wird dabei durchweg abgelehnt und auch zur dem verursachten Erfüllungsaufwand zu evaluie- Evaluation findet sich mitunter nur der Hinweis, ren.45 eine solche sei nicht vorgesehen.48 Verwiesen wird auf eine fortlaufende gesetzesbegleitende Evalu- Unabhängig von einem konkreten Gesetzgebungs- ierung der Praxisbewährung des Gesetzes durch verfahren und einem parlamentarischen Auftrag die Sicherheitsbehörden selbst49 oder auf zu er- betraute die Bundesregierung im August 2011 eine stellende Berichte zur Effektivität der Anwen- sechsköpfige Kommission mit der Überprüfung dung oder ihrer Kontrolle. In zunehmendem Maß der Sicherheitsgesetzgebung in Deutschland. Die kündigt die Bundesregierung in diesem Rahmen Kommission sollte aus rechtsstaatlicher Perspek- aber auch die Erstellung einer Gesetzesevalua- tive die Auswirkungen der Gesetzgebung zur Ter- tion durch das federführende Ressort nach Ab- rorismusbekämpfung seit dem Jahr 2001 unter- lauf eines festgelegten Zeitraums an. Dabei stellt suchen und Empfehlungen für Gesetzgebung und sie aber zumeist den durch das Gesetz verursach- Sicherheitsarchitektur erarbeiten. Im Fokus der ten Erfüllungsaufwand in den Vordergrund.50 So Untersuchung stand eine kritische Gesamtschau sieht die Begründung des Entwurfs des Gesetzes der Aufgaben und Befugnisse der Sicherheitsbe- zur Neuregelung des Zollfahndungsdienstes aus hörden und ihrer Zusammenarbeit, mit Augenmerk dem Mai 2019 anknüpfend an eine Empfehlung auf der Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen. des Normenkontrollrates spätestens fünf Jahre Fragen der Grundrechtsbeeinträchtigung waren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes eine Unter- nicht unmittelbarer Gegenstand des Auftrags der suchung vor, ob die Entwicklung des Erfüllungs- Kommission, doch hatten unterschiedliche Auf- aufwandes in einem angemessenen Verhältnis zu fassungen der Mitglieder über das Verhältnis zwi- den Regelungswirkungen steht. Hierbei sei ein be- schen Sicherheitsaspekten und Freiheitsrechten sonderes Augenmerk auf Ergebnisse datenschutz- zur Folge, dass im Abschlussbericht der Regie- rechtlicher Kontrollen und Geschäftsprüfungen zu rungskommission46 größtenteils divergierende Vo- legen. Unbeabsichtigte Nebenwirkungen, Akzep- ten zu Schlussfolgerungen und Empfehlungen zu tanz und Praktikabilität der Regelungen seien in finden sind. die Evaluierung einzubeziehen.51 3.3.3 Neuere Entwicklung und Bewertung Vereinzelt enthalten auch in der 19. Wahlperi- Während die Frage einer Evaluierung noch vor we- ode Texte von Sicherheitsgesetzen Evaluierungs- nigen Jahren oft weder im Gesetzestext noch in aufträge52 oder Berichtspflichten.53 Evaluations- der Entwurfsbegründung eines Sicherheitsgeset- klauseln im Text eines Gesetzes normieren eine zes angesprochen wurde,47 enthalten Gesetzent- gesetzliche Verpflichtung, die an die Bundesre- würfe der Bundesregierung in der 19. Legislatur- gierung gerichtet ist. Evaluationsklauseln in der periode in ihrer Begründung regelmäßig einen mit Begründung eines Gesetzentwurfs der Bundes- „Befristung, Evaluation“ überschriebenen Absatz. regierung bewirken hingegen lediglich eine Selbst- 45 Vgl. Deutscher Bundestag (14.02.2017), S. 83. 46 Bäcker / Giesler / Harms / Hirsch / Kaller / Wolff (2013). 47 Vgl. z.B. den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes und zur Neuregelung der Bestandsdatenauskunft, Deutscher Bundestag (09.01.2013). 48 Vgl. Deutscher Bundestag (17.03.2021) („Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften“), S. 53; ebenso Deutscher Bundestag (23.01.2017) („Videoüberwachungsverbesserungsgesetz“), S. 9; Deutscher Bundestag (09.06.2015) („Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“), S. 31. 49 Deutscher Bundestag (27.11.2020) („Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts“), S. 16, Deutscher Bundestag (27.10.2020 a) („Gesetz zur Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung“), S. 5. 50 Deutscher Bundestag (09.02.2021) („Gesetz zur Modernisierung der Rechtsgrundlagen der Bundespolizei“), S. 34; Bundesrat (02.06.2016) („Gesetz zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus“), S. 19, Bundesrat (02.02.2017) („Gesetz zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes“), S. 84. 51 Deutscher Bundestag (31.07.2019), S. 84. 52 Art. 17 des Gesetzes zur Anpassung der Regelungen über die Bestandsdatenauskunft vom 30.03.2021, BGBl. I 441. 53 Art. 6 des Zweiten Gesetzes zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme vom 18.05.2021, BGBl. I 1122.
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N 19 bindung der Exekutive zur Evaluierung des Ge- solcher Evaluationsansatz erscheint für eine Be- setzes. Gesetzliche Berichtspflichten gegenüber wertung des Gesetzes aus Sicht des Schutzes der Parlament und Öffentlichkeit stellen zwar ein Mit- Grund- und Menschenrechte sachgerecht. Die tel zur Gewährleistung von Transparenz und Kon- Berichte, die dem Bundestag in Ausführung sol- trolle dar,54 doch ersetzen Berichte, die die Häu- cher Evaluationsaufträge vorgelegt wurden, erfül- figkeit der Nutzung gesetzlicher Ermächtigungen len diesen Zweck indes nur zum Teil. Sie liefern ausweisen, keine Evaluation. Sie ermöglichen rechtswissenschaftliche Analysen der Vorschriften keine Bewertung der gesetzlichen Bestimmungen unter Grundrechtsaspekten und empirische Unter- unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit suchungen der Anwendungspraxis. Sie enthalten der Grundrechtseinschränkungen. jedoch keine belastbaren Aussagen über den Grad der Zielerreichung und über von den Gesetzen be- Festzuhalten ist somit, dass die Bundesregierung wirkte Verbesserungen der Sicherheitslage. Sie vor dem Hintergrund von § 44 Abs. 7 GGO und bilden eine notwendige, aber keine hinreichende des Beschlusses des Staatssekretär-Ausschusses Grundlage für eine Abwägung zwischen Grund- vom November 201955 und ebenso der Bundes- rechtseingriffen und Sicherheitsgewinn. tag der nachfolgenden Beobachtung und Bewer- tung von Gesetzesfolgen auch bei Sicherheitsge- 3.4.1 Die Grundrechtsbelastung setzen zunehmend Bedeutung beimessen. Da sich Die Bestimmung der durch ein Sicherheitsgesetz der Schwerpunkt der Untersuchung auf Erfüllungs- hervorgerufenen Grundrechtsbelastungen erfolgt aufwand und Bürokratiekosten der Regelungen mittels einer verfassungsrechtlichen Analyse der richtet, werden Grundrechtsaspekte aber, wenn Normen und einer Begutachtung der Anwendungs- überhaupt, nur als Nebenwirkungen des Gesetzes praxis. Die normative Analyse prüft zunächst, einbezogen. Ein einheitliches Evaluationskonzept welche Schutzbereiche welcher Grundrechte die ist bei beiden Organen nicht zu erkennen.56 Teil- Maßnahmen tangieren, zu denen die gesetzlichen weise ist der Evaluierungsauftrag im Gesetzestext Vorschriften ermächtigen. Anhaltspunkte bie- enthalten, teilweise in der Begründung des Ge- tet hier die Erfüllung des Zitiergebotes des Art. setzentwurfs. Mitunter sind ein für die Evaluierung 19 Abs. 1 S. 2 GG, nach dem ein Gesetz, durch Verantwortlicher und ein Adressat des Untersu- das oder auf Grund dessen ein Grundrecht einge- chungsergebnisses genannt, mitunter nicht. Auf- schränkt werden kann, dieses Grundrecht unter trag, Gegenstand, Träger, Verfahren, Kriterien und Angabe des entsprechenden Verfassungsartikels Methoden der Evaluierung werden nicht vorgege- benennen muss. Im Text von Sicherheitsgeset- ben und variieren daher stark. zen werden die ausgelösten Beschränkungen von Grundrechten oft nur pauschal für das Gesetz ins- gesamt angegeben. Auf ihre Grundrechtsrelevanz 3.4 Konzept und Methodik grund- hin zu untersuchen sind aber jeweils die einzelnen und menschenrechtsbezogener behördlichen Maßnahmen, zu denen das Gesetz Evaluierung ermächtigt. Zudem begründen Rechtsgrundlagen, die Behörden zum Umgang mit personenbezoge- Mehrfach haben vom Bundestag beschlossene Si- nen Daten ermächtigen, regelmäßig verschiedene, cherheitsgesetze den Auftrag zu einer späteren aufeinander aufbauende Grundrechtseingriffe, die Untersuchung erteilt, die die Häufigkeit und die eigenständig beurteilt werden müssen.58 Zur Fest- Auswirkungen der legitimierten Grundrechtsein- stellung der Grundrechtsbelastung reicht daher griffe ins Verhältnis zur Wirksamkeit des Geset- ein Abstellen auf die im Gesetz zitierten Grund- zes für den Rechtsgüterschutz setzen sollte.57 Ein rechtsartikel nicht aus. Es bedarf vielmehr einer 54 BVerfGE 133, 277 (372) („Antiterrordateigesetz“). 55 Siehe oben Kapitel 2. 56 Gusy (2015), S. 234. 57 Siehe oben Kapitel 3.3.1, Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus aus dem Jahr 2012 und Art. 5 des Terrorismusmusbekämpfungsgesetzes 2015. 58 Vgl. Bundesverfassungsgericht (2020), Bestandsdatenauskunft II, Beschluss vom 27.05.2020, 1 BvR 1873/13, Rn. 93 ff.; siehe auch die Beispiele bei Weinzierl (2006), S. 6.
20 S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N vertieften juristisch-normativen Betrachtung der 3.4.2 Exkurs: Die Überwachungs-Gesamt Ermächtigungsnormen.59 Zudem sind für die Er- rechnung mittlung der Grundrechtsbelastung Schwere und Die Erfassung der Grundrechtsbeschränkungen Intensität des Eingriffs zu bewerten. Dabei ist die durch ein Gesetz, das Sicherheitsbehörden zusätz- Dauer des Eingriffs zu berücksichtigen. Auch er- liche Befugnisse verschafft, trägt dazu bei, einen höht die Heimlichkeit das Gewicht eines staat- Überblick über die Summe staatlicher Überwa- lichen Eingriffs.60 Bei Eingriffen in das Recht auf chungs- und Eingriffskompetenzen zu ermögli- informationelle Selbstbestimmung spielen Art, chen. Mit jeder neuen gesetzlichen Ermächtigung Umfang und Verwendungsmöglichkeiten der be- steigt die grundrechtliche Gesamtbelastung, in die troffenen Daten eine maßgebliche Rolle.61 Maßnahmen auf Landes- und europäischer Ebene einzubeziehen sind. Nach der Rechtsprechung des Die juristische Analyse einer Norm liefert keine Bundesverfassungsgerichts ist die „Rundumüber- Erkenntnisse über ihren Vollzug, über die Aus- wachung“ eines Betroffenen, bei der alle Bewe- legung und Anwendung durch die Exekutive. Zu gungen und Lebensäußerungen lückenlos regist- deren Ermittlung stehen sowohl quantitative als riert werden und aufgrund derer ein umfassendes auch qualitative Erhebungs- und Auswertungsme- Persönlichkeitsprofil erstellt werden kann, un- thoden zur Verfügung.62 Hinsichtlich der Zahl der zulässig.66 Die Wahrnehmung von Freiheitsrech- Anwendungsfälle einer gesetzlichen Regelung lie- ten darf nicht total erfasst und registriert werden. gen oft Statistiken vor, die auswertbar sind. Dar- Eine Sicherheitsgesetzgebung, die solches ermög- über hinaus können Befragungen von Behörden- lichte, wäre verfassungswidrig. mitarbeiter_innen, externer Expert_innen und von den Maßnahmen Betroffener Aufschluss über die Eine Überwachungs-Gesamtrechnung,67 die alle Vollzugspraxis geben. Ergebnis der Praxisanalyse gesetzlich geregelten Überwachungsmaßnahmen kann etwa die Einschätzung sein, dass die Sicher- und ihre Nutzung durch die zuständigen Behörden heitsbehörden von den ihnen eingeräumten Be- zusammenstellt, existiert bislang nicht.68 Auch ist fugnissen zurückhaltend63 oder aber im Übermaß64 die methodische Diskussion, wie eine solche Gebrauch gemacht haben, oder auch die Feststel- Bilanzierung realisiert werden könnte, noch nicht lung, dass eine neue Eingriffsermächtigung in der weit fortgeschritten.69 Doch stellt jede neue Eva- Praxis nicht genutzt wurde. Aus dieser Erkenntnis luation eines Sicherheitsgesetzes, die Breite und kann der Gesetzgeber den Schluss ziehen, Befug- Tiefe der jeweiligen Grundrechtsbelastungen er- nisregelungen, die im Evaluierungszeitraum nicht fasst, einen Beitrag zu einer Gesamtbetrachtung angewandt wurden, zu ändern oder ersatzlos zu dar, welche die Auswirkungen der Sicherheits streichen.65 gesetzgebung auf die Grundrechte bilanziert und einschätzt, ob die Grundrechtssituation noch mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben in Einklang steht. Auch zur Erstellung einer Über- wachungs-Gesamtbilanz ist sowohl eine ver fassungsrechtliche Analyse der Regelungen als 59 Kötter (2015), 74 f. Eine solche Untersuchung hat die Regierungskommission Sicherheitsgesetzgebung 2013 vorgenommen, vgl. Bäcker / Giesler / Harms / Hirsch / Kaller / Wolff (2013). 60 Vgl. BVerfGE 115, 320 (353) („Rasterfahndung II“). 61 Vgl. Bundesverfassungsgericht (2020): Bestandsdatenauskunft II, Beschluss vom 27.05.2020, 1 BvR 1873/13, Rn. 206. 62 Näher Ziekow / Debus / Piesker (2012), 49 ff. 63 So z. B. der Evaluationsbericht in Deutscher Bundestag (02.09.2015), 77 ff. 64 Vgl. Albers (2010), 41 f. 65 Vgl. Deutscher Bundestag (06.09.2011). 66 BVerfGE 109, 279 (323) („Großer Lauschangriff“); BVerfGE 112, 304 (319) („Global Positioning System“); BVerfGE 125, 260 (324) („Vorratsdatenspeicherung“). 67 Hierzu Roßnagel (2010). 68 Siehe aber den Antrag der Fraktion der FDP: Deutscher Bundestag (27.10.2020 b). 69 Vgl. die Beiträge zu der Öffentlichen Anhörung im BT-Innenausschuss am 22.02.2021, https://www.bundestag.de/resource/ blob/822370/0c23a01db6474969e69780af24327958/TO-121-Sitzung-Anhoerung-data.pdf
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N 21 auch eine empirische Untersuchung ihrer Anwen- setzes gefasst ist, desto weniger kann ein Grad dung in der Praxis unverzichtbar. von Zielerreichung gemessen werden. 3.4.3 Die Zielerreichung Zudem läuft eine allein auf die Erfüllung eines be- Als Kriterium der Evaluation eines Gesetzes bietet stimmten Gesetzeszieles gerichtete Evaluation Ge- sich der Grad der Zielerreichung an.70 Eine retros- fahr, nicht intendierte Effekte zu übersehen.79 Die pektive Evaluation, die Aussagen zu der Frage tref- Evaluation eines Sicherheitsgesetzes kann sich fen soll, inwieweit sich die mit der Gesetzgebung daher nicht auf die Frage der Zielerreichung be- verfolgten Ziele verwirklicht haben, muss aber zu- schränken. Will sie eine Verhältnismäßigkeitsprü- nächst einmal diese Ziele ermitteln. In der Begrün- fung ermöglichen, muss sie den durch das Ge- dung der Entwürfe von Sicherheitsgesetzen ist setz legitimierten Beschränkungen von Grund- und deren Ziel aber oft nicht ausdrücklich oder allen- Menschenrechten die gesamten Gesetzeswirkun- falls abstrakt beschrieben.71 So werden als Geset- gen gegenüberstellen, insbesondere die erzielten zeszweck die Umsetzung verfassungsgerichtlicher Verbesserungen der inneren Sicherheit und des Vorgaben72 oder von Richtlinien der Europäischen Schutzes individueller Rechtsgüter. Union73 angeführt. Als andere Zielbeschreibungen werden die Verbesserung der Effektivität der Auf- 3.4.4 Die Gesetzeswirkungen gabenerfüllung der Nachrichtendienste74 oder die Eine Darstellung der Anwendungspraxis eines Si- Gewährleistung der Aufklärung schwerer Bedro- cherheitsgesetzes liefert noch keine Rückschlüsse hungen für den demokratischen Rechtsstaat ge- über seinen Beitrag zu einer Verbesserung der Si- nannt.75 cherheitslage.80 In den bisher vorgelegten Evalua- tionsberichten zu Sicherheitsgesetzen des Bun- Erschwerend kommt hinzu, dass Entwürfe von des fehlen Aussagen zu einer durch das Gesetz Bundesgesetzen und ihre Begründungen in der bewirkten Stärkung der inneren Sicherheit weit- Praxis zumeist von der Bundesregierung erstellt gehend oder sie überzeugen angesichts ihrer Pau- werden. So müssen Erwartungen und Ziele des schalität oder mangelnder Belege wenig. Hinge- Gesetzgebers mittels Auswertung der gesamten wiesen wird darauf, dass sich die Wirksamkeit der Gesetzesmaterialien festgestellt werden.76 Dabei zu evaluierenden Maßnahmen nur schwer anhand sind mitunter Einzelziele erkennbar, deren Errei- von Erfolgskriterien messen lässt.81 Der Evaluie- chen eine Evaluation belegen kann, wie die Effek- rungsbericht der Bundesregierung zum ATDG führt tivierung des Datenverkehrs zwischen Sicherheits- aus, eine quantitative Erfassung der Wirkung der behörden77 oder die erfolgte Nutzung eines neuen Datei und eine Identifikation von Ermittlungserfol- Ermittlungsinstrumentes.78 Oft ist aber die Identifi- gen seien nicht möglich.82 In der Begründung ihres zierung eines derart konkreten Gesetzesziels nicht Gesetzentwurfs zur Anpassung des Verfassungs- möglich. Zwar sind Gesetze, die Sicherheitsbehör- schutzrechtes vom November 2020 legt die Bun- den zusätzliche Eingriffsbefugnisse verschaffen, desregierung dar, dass eine Operationalisierung letztlich darauf ausgerichtet, die innere Sicherheit statistischer Messbarkeit der Wirkungen des Ge- zu stärken. Doch je allgemeiner das Ziel eines Ge- setzes nicht möglich sei.83 70 Gusy / Kapitza (2015), S. 22. 71 Hierzu Gusy (2015), 236 f.; Ziekow / Debus / Piesker (2012), S. 29. 72 Vgl. Deutscher Bundestag (14.02.2017), S. 1. 73 Deutscher Bundestag (31.07.2019), S. 76. 74 Deutscher Bundestag (06.09.2011), S. 10. 75 Deutscher Bundestag (27.10.2020 a). 76 Kötter (2015), S. 70. 77 Deutscher Bundestag (07.04.2016), S. 129. 78 Zum IMSI-Catcher vgl. Deutscher Bundestag (02.09.2015), 43 ff. 79 Ziekow / Debus / Piesker (2012), S. 30. 80 Kötter (2015), S. 76. 81 So Deutscher Bundestag (06.10.2020), S. 18. 82 Deutscher Bundestag (07.03.2013), S. 48. 83 Deutscher Bundestag (27.11.2020), 15 f.
22 S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N In der Tat sind von einer gesetzlichen Befugnisre- blick auf eine Erfassung der Wirkungen von Si- gelung ausgehende sicherheitsfördernde Wirkun- cherheitsgesetzen allerdings gewisse Schwächen gen nur ausnahmsweise zahlenmäßig erfassbar. auf. So können systematische Vergleiche zwar Eine solche Ausnahme bildet etwa die Evalua- Aussagen über Wirkungszusammenhänge ermögli- tion der Änderung des Soldatengesetzes, die die chen.90 Ein Vergleich der Sicherheitslagen vor und Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung vor nach dem Inkrafttreten eines Sicherheitsgesetzes der Einstellung von Soldat_innen in die Bundes- wird jedoch oft lediglich Anhaltspunkte und keine wehr vorsieht.84 Sie ergab, dass in den ersten zwei belastbaren Resultate erbringen. Denn zahlreiche Jahren der Anwendung der Vorschrift in 63 Fällen Faktoren beeinflussen die Sicherheitslage. Ab- ein Sicherheitsrisiko erkannt und von einer Einstel- schreckungs- und Vermeidungseffekte und damit lung der betreffenden Person in die Bundeswehr verbundene Fortschritte beim Rechtsgüterschutz und damit von ihrer Ausbildung an Waffen abgese- sind als unmittelbare Folge eines neuen Sicher- hen wurde.85 Diese Zahl kann in Verhältnis gesetzt heitsgesetzes kaum nachzuweisen.91 Auch Inter- werden zu den knapp 44 000 durchgeführten Si- views von Behördenmitarbeiter_innen, die mittels cherheitsüberprüfungen und den mit ihnen ver- einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet wer- bundenen Eingriffen in das Recht auf informatio- den,92 sind als Erhebungsinstrument zur Wirkungs- nelle Selbstbestimmung.86 analyse von Normen mit Unsicherheiten verbun- den. So ist zu bezweifeln, ob eine Befragung von Auch wenn Wirkungen eines Sicherheitsgesetzes Sicherheitsbehörden über den Nutzen der ihnen nicht quantifizierbar sind, kann eine Evaluation Er- eingeräumten Ermächtigungen93 zu einer objek- kenntnisse erbringen, die über die lapidare Fest- tiven Bewertung von Erforderlichkeit und Ange- stellung, die zu prüfenden Normen hätten sich messenheit der Regelung führt.94 Besser geeignet in der Praxis bewährt, hinausgehen. So stellt der erscheint eine aktenbasierte Auswertung von Ein- Evaluierungsbericht der Bundesregierung zum zelvorgängen. Diese setzt indes Zugang zu diesen ATDG einen aufgrund des Gesetzes verbesserten Informationen voraus und erfordert einen erhebli- Informationsaustausch zwischen den Sicherheits- chen Aufwand, um verallgemeinerbare Schlussfol- behörden fest und legt so einen dadurch erziel- gerungen zu ermöglichen.95 ten Zugewinn an Sicherheit nahe.87 Auch kann die häufige Nutzung eines Ermittlungsinstrumentes All dies macht deutlich, dass weitere Methoden- darauf hindeuten, dass es zum Gewinnen sicher- forschung und -diskussion zur Gesetzesevaluation heitsrelevanter Informationen beiträgt und so si- geboten ist.96 Für den Sicherheitsbereich müssen cherheitsfördernde Wirkungen entfaltet.88 tragfähigere Evaluierungskonzepte ausgearbeitet werden,97 sowohl hinsichtlich allgemeiner Verfah- Zur Evaluierung eines Sicherheitsgesetzes kann rensstandards als auch für den Einzelfall geeigne- auf sozialwissenschaftlich etablierte Methoden ter Methoden.98 Letztlich kann nur ein integrativer und Instrumente empirischer Wirkungsforschung Evaluierungsansatz dem Gesetzgeber das Wissen zurückgegriffen werden.89 Diese weisen im Hin- vermitteln, das für die nachträgliche Bewertung 84 16. Gesetz zur Änderung des Soldatengesetzes und weiterer soldatenrechtlicher Vorschriften vom 27.3.2017 BGBl. I 562. 85 Näher hierzu Siems (2020), S. 75 f. 86 Bei der Abwägung ist das Einverständnis der Bewerber mit der Durchführung der SÜ zu berücksichtigen. 87 Ähnlich der Bericht zur Evaluierung des RED-G, vgl. Deutscher Bundestag (07.04.2016), S. 129. 88 Vgl. Deutscher Bundestag (06.10.2020), 127 f. 89 Siehe Gusy (2015), 229 f.; Kugelmann (2015), S. 156. 90 Ziekow / Debus / Piesker (2012), 62 ff. 91 Gusy (2015), S. 237. 92 Ziekow / Debus / Piesker (2012), 58 ff. 93 Vgl. Deutscher Bundestag (02.09.2015), 14 f., Deutscher Bundestag (06.10.2020), 52 f. 94 So wird zu dem Bericht des InGFA zur Evaluation der Verlängerung der Terrorismusbekämpfungsgesetze 2015 konstatiert, er orientiere sich an Bewertungen und Wünschen der Nachrichtendienste, vgl. Meister / Busch (16.07.2020). 95 Vgl. Deutscher Bundestag (06.10.2020), 17 f. 96 Kugelmann (2015), S. 156. 97 Albers (2010), S. 48. 98 Gusy (2015), 239 f.
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