Die Evaluation von Sicherheitsgesetzen - Grund- und menschenrechtliche Anforderungen - Deutsches Institut ...

 
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Analyse

Die Evaluation von
Sicherheitsgesetzen
Grund- und menschenrechtliche Anforderungen
Dieter Weingärtner
Das Institut                                        Der Autor

Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die    Dr. iur. Dieter Weingärtner war über 30 Jahre lang
unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution     als Jurist in der Verwaltung des Bundestages und
Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser Prinzipien   in verschiedenen Bundes- und Landesministerien
der Vereinten Nationen akkreditiert (A-Status).     tätig. Schwerpunkte lagen dabei im Recht der äu-
Zu den Aufgaben des Instituts gehören Politikbe-    ßeren und der inneren Sicherheit. Seit 2019 ist
ratung, Menschenrechtsbildung, Information und      er Senior Fellow am Deutschen Institut für Men-
Dokumentation, anwendungsorientierte Forschung      schenrechte.
zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zu-
sammenarbeit mit internationalen Organisationen.    Der Autor dankt Herrn Eric Töpfer, Wissenschaft­
Es wird vom Deutschen Bundestag finanziert. Das     licher Mitarbeiter am Deutschen Institut für
Institut ist zudem mit dem Monitoring der Umset-    Menschenrechte, für wertvolle Hinweise und
zung der UN-Behindertenrechtskonvention und der     Anregungen.
UN-Kinderrechtskonvention betraut worden und
hat hierfür entsprechende Monitoring-Stellen ein-   Die vorliegende Analyse gibt die Auffassung des
gerichtet.                                          Deutschen Instituts für Menschenrechte wieder.
                                                    Das Institut dankt Dieter Weingärtner herzlich für
                                                    ihre Erstellung.
Analyse

Die Evaluation von
Sicherheitsgesetzen
Grund- und menschenrechtliche Anforderungen
Dieter Weingärtner
Vorwort
Eine kaum mehr überschaubare Zahl von Sicher-         Mit der vorliegenden Analyse erneuert und aktu-
heitsgesetzen wurde seit dem 11. September            alisiert das Institut seine Empfehlung zur Evalu-
2001 verabschiedet. Die Befugnisse von Polizei,       ierung von Sicherheitsgesetzen. Wir greifen das
Staatsanwaltschaften und Geheimdiensten, in           Thema abermals auf, weil die gesetzliche Veran-
Grund- und Menschenrechte einzugreifen, sind so       kerung einer solchen Pflicht zur Evaluierung in der
in den zurückliegenden 20 Jahren erheblich erwei-     Sicherheitsgesetzgebung der vergangenen Jahre
tert worden. Nicht wenige dieser Gesetze wurden       eher die Ausnahme als die Regel war. Selbst wenn
vom Bundesverfassungsgericht für verfassungs-         Evaluierungen durchgeführt wurden, hinterfrag-
widrig erklärt, so dass der Gesetzgeber gezwun-       ten diese selten die Verhältnismäßigkeit der neuen
gen war, anschließend nachzubessern.                  sicherheitsbehördlichen Befugnisse am Maßstab
                                                      der Grund- und Menschenrechte, sondern nah-
Bereits 2006 empfahl das Deutsche Institut für        men meist die Perspektive der Verwaltung ein und
Menschenrechte die grund- und menschenrechts-         überprüften etwa Kosten und Aufwand.
orientierte Evaluierung von Sicherheitsgesetzen als
Instrument zur Selbstkontrolle des Gesetzgebers.      Die Analyse gibt einen Überblick über die bishe-
Verwiesen wurde dabei auf die verfassungsrecht-       rige Evaluierungspraxis und diskutiert Konzepte
liche Pflicht, Gesetze dann zu evaluieren, wenn bei   und Methodik. Dabei richtet sie sich an den Ge-
ihrem Erlass Konstellationen besonders gesteiger-     setzgeber sowie an die rechts- und sozialwissen-
ter Unsicherheit hinsichtlich der tatsächlichen Um-   schaftliche Forschung und will somit einen Beitrag
stände, Prognosen und Folgen vorliegen, wie es        zur Stärkung und Weiterentwicklung der grund-
bei der Bekämpfung des Terrorismus und anderer        und menschenrechtsorientierten Evaluierung von
schwerer Straftaten regelmäßig der Fall ist.          Sicherheitsgesetzen leisten.

                                                      Professorin Dr. Beate Rudolf
                                                      Direktorin des Deutschen Instituts für
                                                      Menschenrechte
Inhalt
Zusammenfassung                                                 9

1     Einleitung                                                10

2     Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzesevaluierung 11

3     Sicherheitsgesetzgebung und Evaluation                    13

3.1   Sicherheitsgesetze als Gegenstand einer Evaluierung       13

3.2   Die Pflicht zur Evaluierung von Sicherheitsgesetzen       14

3.3   Die Staatspraxis auf der Bundesebene                      15
      3.3.1 Die Evaluation der Terrorismus­bekämpfungsgesetze   15
      3.3.2 Evaluationen sonstiger Sicherheitsgesetze           16
      3.3.3 Neuere Entwicklung und Bewertung                    18

3.4   Konzept und Methodik grund- und menschenrechtsbezogener
      Evaluierung                                               19
      3.4.1 Die Grundrechtsbelastung                            19
      3.4.2 Exkurs: Die Überwachungs-Gesamtrechnung             20
      3.4.3 Die Zielerreichung                                  21
      3.4.4 Die Gesetzeswirkungen                               21
4     Fazit und Empfehlungen   24

5     Literatur                26

Abkürzungen                    29
Zusammenfassung
Verantwortungsbewusste Gesetzgebung hat die         staatlich geboten, weil Sicherheitsgesetzgebung
Folgen ihres Handelns im Blick zu behalten. Dies    in besonderem Maße mit Prognosen arbeitet. Zur
gilt in besonderem Maß dann, wenn Grund- und        Ermittlung der Folgen eines Gesetzes bedarf es ju-
Menschenrechte betroffen sind. In den vergange-     ristischer wie sozialwissenschaftlicher Methodik.
nen Jahren hat der Bundestag zahlreiche Gesetze     Bei der Frage der Grundrechtsbeeinträchtigung
verabschiedet, durch welche die Befugnisse von      sind sowohl quantitative als auch qualitative Fak-
Sicherheitsbehörden zu Eingriffen in Grund- und     toren zu berücksichtigen. Um die Auswirkungen
Menschenrechte erweitert wurden. Mit wissen-        einer gesetzlichen Regelung auf die Entwicklung
schaftlichem Anspruch evaluiert wurden diese Ge-    der inneren Sicherheit zu erfassen, erscheint aller-
setze aber nur vereinzelt. Zwar misst die Bundes-   dings weitere Methodendiskussion und Methoden-
regierung in jüngerer Zeit der Gesetzesevaluation   forschung erforderlich. Die grund- und menschen-
zunehmende Bedeutung zu, doch stehen bei ihr        rechtsbezogene Evaluation soll dem Gesetzgeber
Faktoren wie Erfüllungsaufwand und Bürokratie-      schließlich wissenschaftlich belegte Erkenntnisse
kosten im Vordergrund. Die grund- und menschen-     für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der ge-
rechtsbezogene Evaluierung eines Sicherheits-       setzlich geregelten Eingriffsrechte im Lichte in der
gesetzes hat hingegen die durch neu eingeführte     Praxis gewonnener Erfahrungen liefern und damit
Vorschriften hervorgerufenen Grundrechtsbeein-      eine Grundlage für die Entscheidung, ein Sicher-
trächtigungen in Verhältnis zu setzen zu den si-    heitsgesetz bestehen zu lassen, zu ändern oder
cherheitsfördernden Wirkungen. Dies ist rechts-     aufzuheben.
10                                                                                         EINLEITUNG

1 Einleitung
Die Evaluation von Gesetzen ist in Mode gekom-      Nachfolgend wird die bisherige Praxis von Bundes-
men – was nicht heißen soll, dass es sich um eine   tag und Bundesregierung unter diesem Aspekt be-
Modeerscheinung handelt. Im Gegenteil: Ein ver-     trachtet. Dem schließen sich methodische Überle-
antwortungsbewusster Gesetzgeber hat die Folgen     gungen zur Erfassung mit einem Sicherheitsgesetz
seines Handelns sowohl vorab einzuschätzen und      verbundener Grundrechtsbeeinträchtigungen,
zu bedenken als auch nachträglich zu analysieren,   aber auch erreichter Zugewinne an Sicherheit und
zu bewerten und – wenn nötig –Konsequenzen zu       Rechtsgüterschutz an. Hieraus sind Empfehlungen
ziehen. Bei der Überprüfung von Sicherheitsge-      für die künftige Evaluierung von Sicherheitsgeset-
setzen kommt der Frage der Wahrung von Grund-       zen abzuleiten.
und Menschenrechten besondere Bedeutung zu.
G ES E T Z ES F O LG EN A B S C H ÄT Z U N G U N D G ES E T Z ES E VA LU I ER U N G                                                          11

2 Gesetzesfolgenabschätzung und
Gesetzesevaluierung
Die Gesetzesfolgenabschätzung hat in Deutsch-                                  sich die Prüfung des Rates über die mit dem Ge-
land Tradition. Sie ist im Laufe der Zeit immer wei-                           setz verbundenen Kosten hinaus auch auf Erwä-
ter verfeinert worden. Nach der Gemeinsamen                                    gungen zu Befristung und Evaluierung des Geset-
Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO)1                                  zes erstrecken. Während sich die Darstellung der
sind in der Begründung von Gesetzesvorlagen                                    Kosten in Gesetzentwürfen der Bundesregierung
der Bundesregierung neben Zielsetzung und Not-                                 inzwischen in der Praxis weitgehend eingespielt
wendigkeit des Gesetzentwurfs, alternativen Lö-                                und vereinheitlicht hat, ist dies hinsichtlich einer
sungsmöglichkeiten und verschiedenen anderen                                   Ex-post-Evaluierung3 noch nicht festzustellen.
Aspekten auch die erwarteten Gesetzesfolgen dar-
zustellen. Unter diese fallen nach § 44 GGO die                                Im Rahmen ihres Arbeitsprogramms Bessere
wesentlichen Auswirkungen des angestrebten Ge-                                 Rechtsetzung 2012 beschloss das Bundeskabi-
setzes einschließlich beabsichtigter Wirkungen                                 nett die Einführung eines Verfahrens, nach dem
und unbeabsichtigter Nebenwirkungen. Zu ermit-                                 bei wesentlichen Regelungsvorhaben in angemes-
teln und darzulegen sind die Auswirkungen auf                                  sener Frist nach dem Inkrafttreten systematisch
Ausgaben und Einnahmen der öffentlichen Haus-                                  überprüft werden soll, ob und inwieweit der bei
halte und der Erfüllungsaufwand für Wirtschaft                                 der Verabschiedung ermittelte Aufwand sich im
und Verwaltung sowie für Bürger_innen. § 44                                    Nachhinein als zutreffend erwiesen hat.4 Eine Eva-
Abs. 7 GGO verpflichtet das federführende Res-                                 luierung aus anderen als Kostengründen, etwa auf-
sort darüber hinaus, festzulegen, ob und nach Ab-                              grund von „großen Unsicherheiten über Wirkun-
lauf welchen Zeitraums zu prüfen ist, ob die be-                               gen oder Verwaltungsvollzug“ des Gesetzes, ist
absichtigten Wirkungen erreicht worden sind, ob                                nach dem Arbeitsprogramm ebenfalls zu erwägen.
die entstandenen Kosten in einem angemessenen                                  In Umsetzung dieses Beschlusses verabschiedete
Verhältnis zu den Ergebnissen stehen und welche                                der Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau
Nebenwirkungen eingetreten sind.                                               der Bundesregierung im Jahr 2013 eine Konzep-
                                                                               tion zur Evaluierung neuer Regelungsvorhaben.5
Demgemäß enthalten Gesetzentwürfe der Bun-                                     Danach soll die Evaluierung einen Zusammenhang
desregierung in den letzten Jahren immer detail-                               zwischen Ziel und Zweck einer Regelung und den
liertere Angaben zu Erfüllungsaufwand und Büro-                                tatsächlich erzielten Wirkungen sowie den damit
kratiekosten der Regelungen. Bei der Darlegung                                 verbundenen Kosten herstellen. Die Konzeption
solcher Kosten unterstützt die Bundesministerien                               sieht vor, dass die Bundesressorts alle wesent-
der Nationale Normenkontrollrat, der im Jahr 2006                              lichen Regelungsvorhaben zu evaluieren haben.
gebildet wurde.2 Nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 NKRG kann                               Die Wesentlichkeit eines Regelungsvorhabens be-

1	Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO), Stand 22.1.2020, http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/
   bsvwvbund_21072009_O11313012.htm (letzter Zugriff auf alle angeführten Webseiten am 10.04.2021).
2	Gesetz zur Einsetzung des Nationalen Normenkontrollrates (NKRG) vom 14.8.2006, BGBl. I 1866, zuletzt geändert durch Gesetz vom
   19.6.2020, BGBl. I 1328.
3	Die Literatur unterscheidet zwischen Ex-ante-, begleitenden und Ex-post-Evaluierungen, vgl. Ziekow / Debus / Piesker (2012), S. 6. Ent-
   sprechend der Terminologie der GGO wird im Folgenden aber unter Evaluierung nur die retrospektive Ex-post-Evaluierung verstanden.
4	Die Bundesregierung (2013).
5	Konzeption zur Evaluierung neuer Regelungsvorhaben gemäß Arbeitsprogramm bessere Rechtsetzung, 23.01.2013,
   https://www.normenkontrollrat.bund.de/resource/blob/300864/1573606/d5a0a19814afaf815e3a3656c1c6c1d2/
   2019-01-25-evaluierung-neuer-regelungsvorhaben-data.pdf
12                                                           G ES E T Z ES F O LG EN A B S C H ÄT Z U N G U N D G ES E T Z ES E VA LU I ERU N G

stimmt sich nach der Höhe des zu erwartenden                         Die Qualität von Evaluierungen, die die Ministe-
jährlichen Erfüllungsaufwandes. Als wichtigstes                      rien selbst durchführen, soll durch eine unabhän-
Evaluierungskriterium wird die Zielerreichung an-                    gige Stelle überprüft werden. Überschreitet der
geführt, da ihr Ziel verfehlende Regelungen unnöti-                  jährliche Erfüllungsaufwand einen bestimmten
gen Erfüllungsaufwand verursachten.                                  Schwellenwert, soll eine Qualitätssicherung des
                                                                     Evaluationsberichtes stattfinden. Evaluierungen
Eine Fortentwicklung erfuhr diese Konzeption mit                     sollen zudem grundsätzlich auf einer zentralen On-
einem Beschluss des Staatssekretärsausschus-                         line-Plattform der Bundesregierung veröffentlicht
ses aus dem November 2019.6 Diesem zufolge ist                       werden. Deutlich lässt dieser Beschluss erkennen,
in der Begründung von Regelungsvorhaben dar-                         dass im Mittelpunkt von Evaluationsansätzen der
zustellen, welche Ziele bei einer Evaluierung zu-                    Bundesregierung weiterhin Kostenaspekte wie der
grunde gelegt und welche Kriterien für die Zieler-                   Erfüllungsaufwand des Gesetzes und verursachte
reichung voraussichtlich herangezogen werden.                        Bürokratiekosten stehen.

6	Fortentwicklung der Evaluierungskonzeption der Bundesregierung, 27.11.2019, https://www.normenkontrollrat.bund.de/resource/
   blob/300864/1710458/784303d11758802127d37fc38f49dc8a/20200107-beschluss-st-ausschuss-fortentwicklung-der-
   evaluierungskonzeption-der-bundesregierung-data.pdf
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N                                                                  13

3 Sicherheitsgesetzgebung und
Evaluation
3.1 Sicherheitsgesetze als Gegen­                                     Die Evaluierung von Gesetzen bezweckt, der Le-
stand einer Evaluierung                                               gislative Informationen darüber zu liefern, ob die
                                                                      tatsächlichen Entwicklungen den Einschätzungen
Sicherheitsgesetze dienen dem Schutz der inneren                      entsprechen, die sie zum Zeitpunkt des Gesetzes-
Sicherheit. Die innere oder auch öffentliche                          beschlusses zugrunde gelegt hat.9 Unverzichtbar
Sicherheit gewährleistet den Schutz innerstaatli-                     sind solche Erkenntnisse, wenn ein Gesetz eine
cher Rechtsgüter. Hierzu zählen zentrale individu-                    Befristung seiner Geltung vorsieht. Denn für die
elle Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit                      Entscheidung über ein Auslaufenlassen, eine Ver-
und Eigentum ebenso wie die Unversehrtheit der                        längerung oder eine Modifizierung benötigt der
Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen.7                     Gesetzgeber belastbare, auf wissenschaftlicher
                                                                      Basis beruhende Informationen über den Grad der
Unter dem Eindruck aktueller Gefahrenlagen und                        Zielerreichung und über die Wirkungen des Ge-
in der Folge von Verbrechen, die in der Öffentlich-                   setzes. Doch auch unabhängig von einer gesetz-
keit Aufsehen erregen, werden regelmäßig Rufe                         lichen Befristung ist es geboten, neu geschaffene
nach einer Stärkung der inneren Sicherheit durch                      Eingriffsbefugnisse von Sicherheitsbehörden nach
Verschärfung von Sicherheitsgesetzen laut. Neben                      Ablauf eines angemessenen Zeitraums im Lichte
der Ausdehnung von Straftatbeständen und der                          der seit dem Inkrafttreten gewonnenen Erfahrun-
Anhebung von Strafdrohungen gilt auch die Erwei-                      gen einer Kontrolle zu unterziehen. So lässt sich
terung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden als                     sicherstellen, dass die Sicherheitsbehörden ihre
probates rechtliches Mittel, um dieses Ziel zu er-                    Aufgaben effektiv wahrnehmen können, auf der
reichen. Derartige Maßnahmen sollen nicht nur öf-                     anderen Seite aber unverhältnismäßige Eingriffe in
fentliche Güter sichern, sondern auch den Schutz                      Grund- und Menschenrechte unterbleiben.10 Ne-
der Menschen im Land vor strafbaren Handlun-                          ben den Freiheitsrechten sind auch die Gleich-
gen verbessern und die Unversehrtheit individu-                       heitsrechte zu beachten. Ermächtigungen in Si-
eller Rechtsgüter gewährleisten. Der Gesetzgeber                      cherheitsgesetzen dürfen keine diskriminierende
erfüllt damit aus den Grund- und Menschenrech-                        Wirkung entfalten.
ten abzuleitende Schutzpflichten.8 Auf der ande-
ren Seite bedeuten erweiterte Befugnisse von Si-                      Der kostenorientierte Ansatz einer Gesetzesfol-
cherheitsbehörden zusätzliche Ermächtigungen zu                       genbewertung, den die Bundesregierung verfolgt,
Eingriffen in Grund- und Menschenrechte. Neue                         greift für die Gesamtwürdigung eines Sicherheits-
Sicherheitsgesetze schränken regelmäßig Grund-                        gesetzes zu kurz. Denn eine solche Betrachtung
und Menschenrechte ein. Im Staat des Grundge-                         erfasst die grund- und menschenrechtsbezoge-
setzes müssen solche Einschränkungen fortge-                          nen Effekte des Gesetzes nicht. Bei der Evaluie-
setzt kritisch hinterfragt werden.                                    rung von Gesetzen, die Befugnisse zu Eingriffen

7   Vgl. BVerfGE 69, 315 (352) („Brokdorf“).
8	Vgl. BVerfGE 77, 170 (214) („Lagerung chemischer Waffen“); Bundesverfassungsgericht (2019): Beschluss vom 19.06.2019, 2 BvR
    2299/15, Rn. 27 im Hinblick auf waffenrechtliche Bestimmungen.
9   Albers (2006), S. 29.
10	Vgl. Tätigkeitsbericht 2009 und 2010 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationssicherheit, Deutscher Bundestag
    (12.04.2011), S. 82.
14                                                                                   S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N

in Grund- und Menschenrechte enthalten, darf                               die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung dann
eine auf finanzielle Aspekte bezogene Kosten/                              an, wenn Ungewissheit über die Eignung neuer
Nutzen-Analyse gerade nicht im Vordergrund ste-                            Instrumente oder über künftige tatsächliche Ent-
hen. Zusätzliche Beschränkungen grund- und men-                            wicklungen besteht. So machte das Gericht es
schenrechtlicher Freiheitsbereiche sind auch nicht                         in seiner Entscheidung zur akustischen Überwa-
unbeabsichtigte Nebenwirkung der Normgebung,                               chung von Wohnräumen zu Strafverfolgungszwe-
sondern zwangsläufige Folge einer Erweiterung si-                          cken dem Gesetzgeber angesichts von Prognose-
cherheitsbehördlicher Befugnisse. Eine den Grund-                          unsicherheiten zur Auflage, „die Entwicklung zu
und Menschenrechten Rechnung tragende Evalua-                              beobachten und fortlaufend zu prüfen, ob das Er-
tion von Sicherheitsgesetzen kann sich nicht auf                           mittlungsinstrument tatsächlich geeignet ist, auch
eine Funktionalitäts- und Effektivitätskontrolle be-                       das mit ihm verfolgte spezielle Ziel in hinreichen-
schränken.11 Sie muss die aufgrund der gesetzge-                           dem Maß zu erreichen“.15 Das Urteil zur GPS-Ob-
berischen Maßnahmen hervorgerufenen Eingriffe                              servation verpflichtet die Legislative zu beobach-
in Grund- und Menschenrechte in Beziehung set-                             ten, ob „die bestehenden verfahrensrechtlichen
zen zu den erzielten Zugewinnen an Sicherheit und                          Vorkehrungen auch angesichts zukünftiger Ent-
zu einer hierdurch bewirkten Stärkung des Schut-                           wicklungen geeignet sind, den Grundrechtsschutz
zes kollektiver und individueller Rechtsgüter. Zent-                       effektiv zu sichern“.16 Die Beobachtungspflicht
raler Maßstab der Evaluation eines Sicherheitsge-                          schließe ein, dass der Gesetzgeber dafür Sorge
setzes hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit                           trage, dass die für die Beurteilung der Wirkungen
zu sein.12 Denn die Evaluation soll eine tatsachen-                        des Gesetzes notwendigen Daten planmäßig erho-
gestützte Beantwortung der Frage ermöglichen, ob                           ben, gesammelt und ausgewertet werden.
die gesetzgeberischen Maßnahmen sich als zum
Erreichen des angestrebten Sicherheitsgewinns                              Sicherheitsgesetzgebung findet regelmäßig un-
geeignet und erforderlich erwiesen haben und ob                            ter Bedingungen gesteigerter Ungewissheit statt.17
ihre Anwendung im Hinblick auf die verursachten                            Wirkungsweise, Folgen und Nebenwirkungen tech-
Grundrechtsbelastungen angemessen ist.                                     nisch gestützter Sicherheitsmaßnahmen lassen
                                                                           sich vorab in der Regel nicht präzise einschätzen.
                                                                           Auch können gesellschaftliche und sicherheitspo-
3.2 Die Pflicht zur Evaluierung von                                        litische Entwicklungen nicht sicher vorhergesagt
Sicherheitsgesetzen                                                        werden. Ungewiss ist, ob die vom Gesetzgeber zu-
                                                                           grunde gelegten Tatsachen und seine Prognosen
Das Bundesverfassungsgericht hat in verschiede-                            zur Realitätsentwicklung zutreffen und welche Wir-
nen Zusammenhängen festgestellt, dass der Ge-                              kungen seine Entscheidungen im Hinblick auf die
setzgeber verpflichtet ist, die Folgen seines Han-                         Anwendungspraxis mit sich bringen werden.18 Eine
delns und die Wirkungen der verabschiedeten                                solche Unsicherheit hindert die Legislative nach
Gesetze nach ihrem Inkrafttreten zu beobachten                             der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts
und zu überprüfen, ob Korrekturen oder Nachbes-                            nicht, Regelungen zu treffen, die Grund- und Men-
serungen erforderlich sind.13 Denn die legislative                         schenrechte einschränken.19 Sie verschafft dem
Verantwortung umfasse es auch, dafür zu sorgen,                            Gesetzgeber aber keinen größeren Spielraum im
dass erlassene Gesetze in Übereinstimmung mit                              Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit seiner Maß-
dem Grundgesetz bleiben.14 Eine gesteigerte Be-                            nahmen. Und sie rechtfertigt es, ihm die nachträg-
obachtungs- und Nachbesserungspflicht nimmt                                liche Prüfung aufzuerlegen, ob seine Annahmen

11   Weinzierl (2006), S. 4.
12   Kugelmann (2015), S. 157.
13   Vgl. BVerfGE 25, 1 (12 f.) („Mühlengesetz“); BVerfGE 49, 89 (130) („Kalkar I“); BVerfGE 56, 54 (78 f.) („Fluglärm“).
14   BVerfGE 88, 203 (309 f) („Schwangerschaftsabbruch II“).
15   BVerfGE 109, 279 (340) („Großer Lauschangriff“).
16   BVerfGE 112, 304 (320) („Global Positioning System“).
17   Bielefeldt (2010), S. 21.
18   Albers (2010), S. 29.
19   Kötter (2015), S. 66; Weinzierl (2006), S. 5.
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N                                                                     15

eingetreten sind und ob die durch ein Gesetz                          Nachrichtendienste (BND, BfV, MAD) und das Bun-
verursachten Wirkungen dem Verhältnismäßig-                           deskriminalamt ein. Artikel 22 Absatz 2 des Ge-
keitsprinzip Rechnung tragen.20                                       setzes sah eine Befristung dieser Befugnisse bis
                                                                      zum 11. Januar 2007 vor und Artikel 22 Absatz 3
                                                                      bestimmte, dass die Neuregelungen vor Ablauf der
3.3 Die Staatspraxis auf der Bundes­                                  Befristung zu evaluieren seien. Nähere Vorgaben
ebene                                                                 zum Evaluierungsverfahren enthielten weder der
                                                                      Gesetzestext noch die Begründung des Entwurfs
Der Bundestag hat in den vergangenen Jahren eine                      oder der Bericht des federführenden Ausschus-
Vielzahl von Gesetzen verabschiedet, die die Poli-                    ses.23 In Umsetzung des Evaluationsauftrags er-
zei auf Bundes- und Landesebene, die Nachrich-                        stattete die Bundesregierung dem Innenausschuss
tendienste und andere Sicherheitsbehörden mit                         des Bundestages im Mai 2005 einen Bericht, der
erweiterten Befugnissen ausstatteten und straf-                       die gesetzgeberischen Entscheidungen als größ-
rechtliche Sanktionsmöglichkeiten und damit ver-                      tenteils bestätigt bezeichnete, sich inhaltlich aber
knüpfte Ermittlungsinstrumente weiter in das Vor-                     weitgehend darauf konzentrierte, die Häufigkeit
feld von Rechtsgutverletzungen ausdehnten.21 Nur                      des Einsatzes der Maßnahmen anzugeben.24
ein kleiner Teil dieser grundrechtsbeschränken-
den Gesetze wurde einer nachträglichen Überprü-                       Die Anschlussregelung des Terrorismusbekämp-
fung in Form einer wissenschaftlich abgesicher-                       fungsergänzungsgesetzes25 vom Januar 2007 bein-
ten Evaluation unterzogen. Eine kontinuierliche                       haltete in Artikel 11 wiederum eine Evaluierungs-
Evaluierung fand lediglich im Zeitraum zwischen                       pflicht, diesmal immerhin „unter Einbeziehung
2002 und 2020 in Bezug auf die in ihrer Geltung                       eines wissenschaftlichen Sachverständigen“, wel-
befristeten Gesetze zur Bekämpfung des Terro-                         cher im Einvernehmen mit dem Bundestag zu be-
rismus und ihre jeweiligen Verlängerungsgesetze                       stellen sei. Hierzu legte die Bundesregierung dem
statt. Ansonsten wurden grundrechtsorientierte                        Innenausschuss im Jahr 2011 einen nach wissen-
Evaluationen von Sicherheitsgesetzen lediglich                        schaftlicher Methodenberatung erstellten Bericht
in Einzelfällen und ohne einheitliche Systematik                      vor, dem das Gutachten eines Staatsrechtslehrers
durchgeführt. Entsprechend unterschiedlich und                        zur Anwendungspraxis unter Berücksichtigung
unbefriedigend fielen die Resultate aus. Die Infor-                   grundrechtlicher Fragestellungen beigefügt war.26
mationen, die die vorgelegten Evaluationsberichte
enthielten, reichten für eine tragfähige Bewertung                    Bei der nächsten Verlängerung, dem Gesetz zur
der Gesetze und ihrer Folgen aus grund- und men-                      Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes
schenrechtlicher Sicht nicht aus.                                     vom 7. Dezember 2011,27 war der Evaluierungsauf-
                                                                      trag detaillierter ausgestaltet. Artikel 9 verpflich-
3.3.1 Die Evaluation der Terrorismus­                                 tete die Bundesregierung zu einer Evaluierung
bekämpfungsgesetze                                                    unter Einbeziehung wissenschaftlichen Sachver-
Das Terrorismusbekämpfungsgesetz des Jahres                           standes; dabei seien die „Häufigkeit und Auswir-
200222 führte, unter dem Eindruck der Entwick-                        kungen der mit den Eingriffsbefugnissen verbun-
lung des internationalen Terrorismus zu einer welt-                   denen Grundrechtseingriffe einzubeziehen und
weiten Gefahr, neue Eingriffsbefugnisse für die                       in Beziehung zu setzen zu der anhand von Tat-

20 Zur verfassungsrechtlichen Herleitung der Pflicht zur Evaluierung von Sicherheitsgesetze siehe auch Gusy / Kapitza (2015), 22 ff.
21	Eine vom Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit für eine Sachverständigenanhörung des Innenausschusses des
    Bundestages im Februar 2021 erstellte Übersicht weist für den Zeitraum zwischen Oktober 2001 und Januar 2021 86 derartige Gesetze
    und Vorhaben aus, https://www.bundestag.de/resource/blob/823304/bd2db066ac8571db811ccec43e720206/A-Drs-19-4-732-A-
    data.pdf, S. 10 ff.
22	BGBl. 2002 I 361.
23 Deutscher Bundestag (08.11.2001), Deutscher Bundestag (13.12.2001).
24 Näher hierzu Albers (2010), S. 37.
25 BGBl. 2007 I 2.
26 Vgl. Deutscher Bundestag (20.02.2015), S. 3.
27 BGBl. 2011 I 2576.
16                                                                              S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N

sachen darzustellenden Wirksamkeit zum Zweck                          Bundesregierung führt aus, die viermalige Evalua-
der Terrorismusbekämpfung“. In Erfüllung dieses                       tion stütze die dauerhafte Beibehaltung der den
Auftrags übermittelte die Bundesregierung dem                         Nachrichtendiensten eingeräumten Befugnisse.
Bundestag im September 2015 eine Studie des In-                       Eine fortlaufende Evaluierung zur Praxisbewährung
stituts für Gesetzesfolgenabschätzung und Evalua-                     der Regelungen erfolge gesetzesbegleitend unter
tion, Speyer (InGFA).28 Diese Studie unterzog jede                    Gesichtspunkten der Wirksamkeit wie der Wirt-
einzelne der insgesamt elf zu evaluierenden Ein-                      schaftlichkeit.34
zelregelungen sowohl einer empirischen als auch
einer rechtswissenschaftlichen Analyse. Die empi-                     Die den Sicherheitsbehörden im Jahr 2002 zur Ter-
rische Untersuchung ermittelte die Anwendungs-                        rorismusbekämpfung verliehenen Eingriffsbefug-
häufigkeit der Maßnahmen und die Umstände der                         nisse in Grund- und Menschenrechte sind somit
Anwendung, wie etwa Gründe für die Anordnung,                         bis zum Jahr 2020 fortlaufend auf der Grundlage
und versuchte, den Nutzen der übermittelten In-                       eines gesetzlichen Auftrags evaluiert worden. Die
formationen für die nachrichtendienstliche Arbeit                     Evaluationsaufträge wurden mit der Zeit konkreter
zu beurteilen. Die rechtswissenschaftliche Bewer-                     gefasst, externer wissenschaftlicher Sachverstand
tung bezeichnete die Umsetzung der Normen in                          wurde in zunehmendem Ausmaß herangezogen.
der Praxis als verhältnismäßig. Die Bundesregie-                      Die Evaluationsberichte analysieren die Anwen-
rung kommentierte die Studie kurz mit der Bemer-                      dung der Vorschriften durch die Sicherheitsbehör-
kung, sie stimme mit der Bewertung überein, dass                      den. Nur die zwei jüngeren Berichte wurden der
die Anwendung der durch die evaluierten Vor-                          Öffentlichkeit als Bundestagsdrucksachen zugäng-
schriften geschaffenen nachrichtendienstlichen                        lich gemacht. Aus den Ergebnissen der Evaluation
Befugnisse verantwortungsvoll und gezielt erfolgt                     zog der Gesetzgeber Konsequenzen, indem er Vor-
sei und wichtige Ergebnisse erbracht habe.29                          schläge zur Verbesserung aufgriff und nicht ge-
                                                                      nutzte gesetzliche Ermächtigungen strich.35
Das Gesetz zur Verlängerung der Befristung von
Vorschriften nach den Terrorismusbekämpfungs-                         3.3.2 Evaluationen sonstiger Sicherheits­
gesetzen aus dem Jahr 201530 wiederholte die For-                     gesetze
mulierung des gesetzlichen Auftrags aus dem Jahr                      Von den Terrorismusbekämpfungsgesetzen abge-
2011 in seinem Artikel 5. Der dem InGFA darauf-                       sehen erfuhr die Idee einer retrospektiven Evalua-
hin vom Bundeministerium des Innern (BMI) er-                         tion in der Sicherheitsgesetzgebung des Bundes
teilte Untersuchungsauftrag beschränkte sich auf                      bis zur 19. Wahlperiode des Bundestages wenig
die Beschreibung und wissenschaftliche Bewer-                         Beachtung. Evaluationsklauseln waren im Text
tung der Folgen, die sich aus der Anwendung der                       von Sicherheitsgesetzen nur ganz vereinzelt an-
zu evaluierenden Normen ergäben.31 Der auftrags-                      zutreffen, etwa bei Vorschriften, die die Grund-
gemäß im Juli 2018 vorgelegte Evaluierungsbericht                     lage für die Errichtung behördenübergreifender
des InGFA32 ist nach gleichem Muster aufgebaut                        Datenbanken und für damit verbundene Eingriffe
wie der Bericht zu der Verlängerungsregelung des                      in das Grundrecht auf informationelle Selbstbe-
Jahres 2015. Auf diesen Bericht beruft sich das                       stimmung schufen. Artikel 5 Absatz 2 des Ge-
Gesetz zur Entfristung von Vorschriften zur Terro-                    meinsame-Dateien-Gesetzes vom 22.12.200636
rismusbekämpfung,33 welches nunmehr keine Be-                         schrieb die Evaluierung des Antiterrordateigeset-
fristung und keine Evaluationsklausel mehr ent-                       zes (ATDG) unter Einbeziehung eines im Einver-
hält. Die Begründung des Gesetzentwurfs der                           nehmen mit dem Bundestag zu bestellenden wis-

28   Deutscher Bundestag (02.09.2015); hierzu auch Gnüchtel (2016).
29   Deutscher Bundestag (02.09.2015), S. 3.
30   BGBl. 2015 I 2161.
31   Siehe Deutscher Bundestag (06.10.2020), S. 16.
32   Ebda.
33   Gesetz zur Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung vom 3.12.2020, BGBl. I 2667.
34   Deutscher Bundestag (27.10.2020 a), S. 4.
35   Siehe Deutscher Bundestag (06.09.2011), S. 10.
36   BGBl. I 3409.
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N                                                     17

senschaftlichen Sachverständigen vor. Das Gesetz                      Grundlage eingegriffen wird, und denjenigen, zu
vom 20.8.201237, das die Rechtsgrundlage für                          deren Schutz es geschaffen wurde.41
den Aufbau der Rechtsextremismus-Datei bildete
(RED-G), verpflichtete die Bundesregierung in Arti-                   Häufiger als Evaluationsaufträge übertragen Si-
kel 3 Absatz 2 zu einer Evaluierung unter Einbezie-                   cherheitsgesetze des Bundes der Exekutive Be-
hung wissenschaftlicher Sachverständiger, bei der                     richtspflichten gegenüber der Legislative. Auch
„die Häufigkeit und die Auswirkungen der mit den                      das Grundgesetz selbst erlegt der Bundesregie-
Datenerhebungen, -verarbeitungen und -nutzun-                         rung in Artikel 13 Absatz 6 eine jährliche Unter-
gen verbundenen Grundrechtseingriffe einzube-                         richtung des Bundestags über den Einsatz techni-
ziehen und in Beziehung zu setzen sind zu der an-                     scher Mittel zur Überwachung von Wohnräumen
hand von Tatsachen darzustellenden Wirksamkeit                        in ihrem Zuständigkeitsbereich auf. Nach § 88 des
zum Zweck der Bekämpfung des gewaltbezogenen                          Bundeskriminalamtgesetzes aus dem Jahr 201742
Rechtsextremismus“.                                                   muss das Bundeskriminalamt dem BMI über die
                                                                      Ausübung der ihm neu eingeräumten Befugnisse
Der dem Bundestag übermittelte Bericht des BMI                        berichten. Das BMI hat diese Berichte dem Bun-
zur Evaluierung des ATDG38 beschrieb Betrieb und                      destag zuzuleiten. Der Bericht des BKA vom No-
Nutzung der Antiterrordatei und ging auf die Frage                    vember 2019 über die Anwendung verdeckter
nach der Zielerreichung des Gesetzes – Verbes-                        Überwachungsmaßnahmen im Rahmen der Ge-
serung der Zusammenarbeit der Sicherheitsbe-                          fahrenabwehr43 nennt die Zahl der Fälle, in denen
hörden bei möglichst weitgehender Wahrung der                         die Behörde von ihren Befugnissen zur Abwehr
Grundrechte Betroffener39 – ein. Im Ergebnis sah                      von Gefahren des internationalen Terrorismus, im
der Bericht durch das Gesetz Informationsaus-                         Rahmen der Strafverfolgung und zum Schutz ge-
tausch und Kooperationsbereitschaft der Sicher-                       fährdeter Personen Gebrauch gemacht hat. Be-
heitsbehörden intensiviert und im Hinblick auf die                    wertende Aussagen über das Erreichen mit der
Intensität der Grundrechtseingriffe den Verhältnis-                   Gesetzesänderung verfolgter Ziele enthält der
mäßigkeitsgrundsatz gewahrt. Zur Erfüllung des                        Bericht nicht. Ebenso fehlt eine Kommentierung
Evaluierungsauftrags des RED-G leitete das BMI                        durch das BMI.
dem Bundestag einen Evaluationsbericht des von
ihm beauftragten InGFA unkommentiert zu.40 Die-                       Evaluationsklauseln finden sich nicht nur im Ge-
ser Bericht enthielt eine empirische Analyse der                      setzeswortlaut, sondern auch in der Begründung
Anwendung des Gesetzes mittels Auswertung vor-                        des Entwurfs von Sicherheitsgesetzen. Die Be-
liegender und begleitend erhobener Daten, Nut-                        gründung des Entwurfs des Gesetzes zur Ausland-
zerbefragungen und Interviews in Behörden. Die                        Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnach-
Evaluation wurde in Form einer verfassungsrecht-                      richtendienstes (BND) aus dem Jahr 2016 sagte
lichen Begutachtung des Gesetzes insgesamt und                        eine Evaluierung der Änderung des BND-Gesetzes
seiner einzelnen Vorschriften vorgenommen. Die                        spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten zu, die
zusammenfassende Betrachtung kam zu dem Er-                           zu untersuchen habe, „wie sich der Erfüllungsauf-
gebnis, dass das RED-G seiner Zielsetzung, der Ef-                    wand entwickelt hat und ob die Entwicklung in ei-
fektivierung des Informationsaustausches zwi-                         nem angemessenen Verhältnis zu den festgestell-
schen den Sicherheitsbehörden, gerecht werde                          ten Regelungswirkungen steht“.44 Mit dem Entwurf
und einen angemessenen Ausgleich gefunden                             des Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundes-
habe zwischen den Rechtsgütern, in die auf seiner                     kriminalamtes 2017 sicherte die Bundesregierung

37   Art. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus vom 12.8.2012, BGBl. I 1798.
38   Deutscher Bundestag (07.03.2013).
39   Vgl. hierzu Deutscher Bundestag (16.10.2006), 12 f.
40   Deutscher Bundestag (07.04.2016).
41   Ebda., S. 129.
42   BGBl. I 1354.
43   Deutscher Bundestag (21.11.2019).
44   Deutscher Bundestag (05.07.2016), S. 21.
18                                                                             S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N

zu, das Regelungsvorhaben spätestens fünf Jahre                       Die Befristung der Geltung eines Sicherheitsgeset-
nach seinem Inkrafttreten mit Schwerpunkt auf                         zes wird dabei durchweg abgelehnt und auch zur
dem verursachten Erfüllungsaufwand zu evaluie-                        Evaluation findet sich mitunter nur der Hinweis,
ren.45                                                                eine solche sei nicht vorgesehen.48 Verwiesen wird
                                                                      auf eine fortlaufende gesetzesbegleitende Evalu-
Unabhängig von einem konkreten Gesetzgebungs-                         ierung der Praxisbewährung des Gesetzes durch
verfahren und einem parlamentarischen Auftrag                         die Sicherheitsbehörden selbst49 oder auf zu er-
betraute die Bundesregierung im August 2011 eine                      stellende Berichte zur Effektivität der Anwen-
sechsköpfige Kommission mit der Überprüfung                           dung oder ihrer Kontrolle. In zunehmendem Maß
der Sicherheitsgesetzgebung in Deutschland. Die                       kündigt die Bundesregierung in diesem Rahmen
Kommission sollte aus rechtsstaatlicher Perspek-                      aber auch die Erstellung einer Gesetzesevalua-
tive die Auswirkungen der Gesetzgebung zur Ter-                       tion durch das federführende Ressort nach Ab-
rorismusbekämpfung seit dem Jahr 2001 unter-                          lauf eines festgelegten Zeitraums an. Dabei stellt
suchen und Empfehlungen für Gesetzgebung und                          sie aber zumeist den durch das Gesetz verursach-
Sicherheitsarchitektur erarbeiten. Im Fokus der                       ten Erfüllungsaufwand in den Vordergrund.50 So
Untersuchung stand eine kritische Gesamtschau                         sieht die Begründung des Entwurfs des Gesetzes
der Aufgaben und Befugnisse der Sicherheitsbe-                        zur Neuregelung des Zollfahndungsdienstes aus
hörden und ihrer Zusammenarbeit, mit Augenmerk                        dem Mai 2019 anknüpfend an eine Empfehlung
auf der Entwicklung der gesetzlichen Grundlagen.                      des Normenkontrollrates spätestens fünf Jahre
Fragen der Grundrechtsbeeinträchtigung waren                          nach dem Inkrafttreten des Gesetzes eine Unter-
nicht unmittelbarer Gegenstand des Auftrags der                       suchung vor, ob die Entwicklung des Erfüllungs-
Kommission, doch hatten unterschiedliche Auf-                         aufwandes in einem angemessenen Verhältnis zu
fassungen der Mitglieder über das Verhältnis zwi-                     den Regelungswirkungen steht. Hierbei sei ein be-
schen Sicherheitsaspekten und Freiheitsrechten                        sonderes Augenmerk auf Ergebnisse datenschutz-
zur Folge, dass im Abschlussbericht der Regie-                        rechtlicher Kontrollen und Geschäftsprüfungen zu
rungskommission46 größtenteils divergierende Vo-                      legen. Unbeabsichtigte Nebenwirkungen, Akzep-
ten zu Schlussfolgerungen und Empfehlungen zu                         tanz und Praktikabilität der Regelungen seien in
finden sind.                                                          die Evaluierung einzubeziehen.51

3.3.3 Neuere Entwicklung und Bewertung                                Vereinzelt enthalten auch in der 19. Wahlperi-
Während die Frage einer Evaluierung noch vor we-                      ode Texte von Sicherheitsgesetzen Evaluierungs-
nigen Jahren oft weder im Gesetzestext noch in                        aufträge52 oder Berichtspflichten.53 Evaluations-
der Entwurfsbegründung eines Sicherheitsgeset-                        klauseln im Text eines Gesetzes normieren eine
zes angesprochen wurde,47 enthalten Gesetzent-                        gesetzliche Verpflichtung, die an die Bundesre-
würfe der Bundesregierung in der 19. Legislatur-                      gierung gerichtet ist. Evaluationsklauseln in der
periode in ihrer Begründung regelmäßig einen mit                      Begründung eines Gesetzentwurfs der Bundes-
„Befristung, Evaluation“ überschriebenen Absatz.                      regierung bewirken hingegen lediglich eine Selbst-

45 Vgl. Deutscher Bundestag (14.02.2017), S. 83.
46 Bäcker / Giesler / Harms / Hirsch / Kaller / Wolff (2013).
47	Vgl. z.B. den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes und zur Neuregelung der Bestandsdatenauskunft,
    Deutscher Bundestag (09.01.2013).
48	Vgl. Deutscher Bundestag (17.03.2021) („Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften“),
    S. 53; ebenso Deutscher Bundestag (23.01.2017) („Videoüberwachungsverbesserungsgesetz“), S. 9; Deutscher Bundestag (09.06.2015)
    („Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“), S. 31.
49	Deutscher Bundestag (27.11.2020) („Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts“), S. 16, Deutscher Bundestag (27.10.2020 a)
    („Gesetz zur Entfristung von Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung“), S. 5.
50	Deutscher Bundestag (09.02.2021) („Gesetz zur Modernisierung der Rechtsgrundlagen der Bundespolizei“), S. 34; Bundesrat (02.06.2016)
    („Gesetz zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus“), S. 19, Bundesrat (02.02.2017)
    („Gesetz zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes“), S. 84.
51 Deutscher Bundestag (31.07.2019), S. 84.
52 Art. 17 des Gesetzes zur Anpassung der Regelungen über die Bestandsdatenauskunft vom 30.03.2021, BGBl. I 441.
53 Art. 6 des Zweiten Gesetzes zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme vom 18.05.2021, BGBl. I 1122.
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N                                                                   19

bindung der Exekutive zur Evaluierung des Ge-                         solcher Evaluationsansatz erscheint für eine Be-
setzes. Gesetzliche Berichtspflichten gegenüber                       wertung des Gesetzes aus Sicht des Schutzes der
Parlament und Öffentlichkeit stellen zwar ein Mit-                    Grund- und Menschenrechte sachgerecht. Die
tel zur Gewährleistung von Transparenz und Kon-                       Berichte, die dem Bundestag in Ausführung sol-
trolle dar,54 doch ersetzen Berichte, die die Häu-                    cher Evaluationsaufträge vorgelegt wurden, erfül-
figkeit der Nutzung gesetzlicher Ermächtigungen                       len diesen Zweck indes nur zum Teil. Sie liefern
ausweisen, keine Evaluation. Sie ermöglichen                          rechtswissenschaftliche Analysen der Vorschriften
keine Bewertung der gesetzlichen Bestimmungen                         unter Grundrechtsaspekten und empirische Unter-
unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit                       suchungen der Anwendungspraxis. Sie enthalten
der Grundrechtseinschränkungen.                                       jedoch keine belastbaren Aussagen über den Grad
                                                                      der Zielerreichung und über von den Gesetzen be-
Festzuhalten ist somit, dass die Bundesregierung                      wirkte Verbesserungen der Sicherheitslage. Sie
vor dem Hintergrund von § 44 Abs. 7 GGO und                           bilden eine notwendige, aber keine hinreichende
des Beschlusses des Staatssekretär-Ausschusses                        Grundlage für eine Abwägung zwischen Grund-
vom November 201955 und ebenso der Bundes-                            rechtseingriffen und Sicherheitsgewinn.
tag der nachfolgenden Beobachtung und Bewer-
tung von Gesetzesfolgen auch bei Sicherheitsge-                       3.4.1 Die Grundrechtsbelastung
setzen zunehmend Bedeutung beimessen. Da sich                         Die Bestimmung der durch ein Sicherheitsgesetz
der Schwerpunkt der Untersuchung auf Erfüllungs-                      hervorgerufenen Grundrechtsbelastungen erfolgt
aufwand und Bürokratiekosten der Regelungen                           mittels einer verfassungsrechtlichen Analyse der
richtet, werden Grundrechtsaspekte aber, wenn                         Normen und einer Begutachtung der Anwendungs-
überhaupt, nur als Nebenwirkungen des Gesetzes                        praxis. Die normative Analyse prüft zunächst,
einbezogen. Ein einheitliches Evaluationskonzept                      welche Schutzbereiche welcher Grundrechte die
ist bei beiden Organen nicht zu erkennen.56 Teil-                     Maßnahmen tangieren, zu denen die gesetzlichen
weise ist der Evaluierungsauftrag im Gesetzestext                     Vorschriften ermächtigen. Anhaltspunkte bie-
enthalten, teilweise in der Begründung des Ge-                        tet hier die Erfüllung des Zitiergebotes des Art.
setzentwurfs. Mitunter sind ein für die Evaluierung                   19 Abs. 1 S. 2 GG, nach dem ein Gesetz, durch
Verantwortlicher und ein Adressat des Untersu-                        das oder auf Grund dessen ein Grundrecht einge-
chungsergebnisses genannt, mitunter nicht. Auf-                       schränkt werden kann, dieses Grundrecht unter
trag, Gegenstand, Träger, Verfahren, Kriterien und                    Angabe des entsprechenden Verfassungsartikels
Methoden der Evaluierung werden nicht vorgege-                        benennen muss. Im Text von Sicherheitsgeset-
ben und variieren daher stark.                                        zen werden die ausgelösten Beschränkungen von
                                                                      Grundrechten oft nur pauschal für das Gesetz ins-
                                                                      gesamt angegeben. Auf ihre Grundrechtsrelevanz
3.4 Konzept und Methodik grund-                                       hin zu untersuchen sind aber jeweils die einzelnen
und menschenrechtsbezogener                                           behördlichen Maßnahmen, zu denen das Gesetz
Evaluierung                                                           ermächtigt. Zudem begründen Rechtsgrundlagen,
                                                                      die Behörden zum Umgang mit personenbezoge-
Mehrfach haben vom Bundestag beschlossene Si-                         nen Daten ermächtigen, regelmäßig verschiedene,
cherheitsgesetze den Auftrag zu einer späteren                        aufeinander aufbauende Grundrechtseingriffe, die
Untersuchung erteilt, die die Häufigkeit und die                      eigenständig beurteilt werden müssen.58 Zur Fest-
Auswirkungen der legitimierten Grundrechtsein-                        stellung der Grundrechtsbelastung reicht daher
griffe ins Verhältnis zur Wirksamkeit des Geset-                      ein Abstellen auf die im Gesetz zitierten Grund-
zes für den Rechtsgüterschutz setzen sollte.57 Ein                    rechtsartikel nicht aus. Es bedarf vielmehr einer

54 BVerfGE 133, 277 (372) („Antiterrordateigesetz“).
55 Siehe oben Kapitel 2.
56 Gusy (2015), S. 234.
57	Siehe oben Kapitel 3.3.1, Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus aus dem Jahr 2012 und
    Art. 5 des Terrorismusmusbekämpfungsgesetzes 2015.
58	Vgl. Bundesverfassungsgericht (2020), Bestandsdatenauskunft II, Beschluss vom 27.05.2020, 1 BvR 1873/13, Rn. 93 ff.; siehe auch die
    Beispiele bei Weinzierl (2006), S. 6.
20                                                                             S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N

vertieften juristisch-normativen Betrachtung der                     3.4.2 Exkurs: Die Überwachungs-Gesamt­
Ermächtigungsnormen.59 Zudem sind für die Er-                        rechnung
mittlung der Grundrechtsbelastung Schwere und                        Die Erfassung der Grundrechtsbeschränkungen
Intensität des Eingriffs zu bewerten. Dabei ist die                  durch ein Gesetz, das Sicherheitsbehörden zusätz-
Dauer des Eingriffs zu berücksichtigen. Auch er-                     liche Befugnisse verschafft, trägt dazu bei, einen
höht die Heimlichkeit das Gewicht eines staat-                       Überblick über die Summe staatlicher Überwa-
lichen Eingriffs.60 Bei Eingriffen in das Recht auf                  chungs- und Eingriffskompetenzen zu ermögli-
informationelle Selbstbestimmung spielen Art,                        chen. Mit jeder neuen gesetzlichen Ermächtigung
Umfang und Verwendungsmöglichkeiten der be-                          steigt die grundrechtliche Gesamtbelastung, in die
troffenen Daten eine maßgebliche Rolle.61                            Maßnahmen auf Landes- und europäischer Ebene
                                                                     einzubeziehen sind. Nach der Rechtsprechung des
Die juristische Analyse einer Norm liefert keine                     Bundesverfassungsgerichts ist die „Rundumüber-
Erkenntnisse über ihren Vollzug, über die Aus-                       wachung“ eines Betroffenen, bei der alle Bewe-
legung und Anwendung durch die Exekutive. Zu                         gungen und Lebensäußerungen lückenlos regist-
deren Ermittlung stehen sowohl quantitative als                      riert werden und aufgrund derer ein umfassendes
auch qualitative Erhebungs- und Auswertungsme-                       Persönlichkeitsprofil erstellt werden kann, un-
thoden zur Verfügung.62 Hinsichtlich der Zahl der                    zulässig.66 Die Wahrnehmung von Freiheitsrech-
Anwendungsfälle einer gesetzlichen Regelung lie-                     ten darf nicht total erfasst und registriert werden.
gen oft Statistiken vor, die auswertbar sind. Dar-                   Eine Sicherheitsgesetzgebung, die solches ermög-
über hinaus können Befragungen von Behörden-                         lichte, wäre verfassungswidrig.
mitarbeiter_innen, externer Expert_innen und von
den Maßnahmen Betroffener Aufschluss über die                        Eine Überwachungs-Gesamtrechnung,67 die alle
Vollzugspraxis geben. Ergebnis der Praxisanalyse                     gesetzlich geregelten Überwachungsmaßnahmen
kann etwa die Einschätzung sein, dass die Sicher-                    und ihre Nutzung durch die zuständigen Behörden
heitsbehörden von den ihnen eingeräumten Be-                         zusammenstellt, existiert bislang nicht.68 Auch ist
fugnissen zurückhaltend63 oder aber im Übermaß64                     die methodische Diskussion, wie eine solche
Gebrauch gemacht haben, oder auch die Feststel-                      Bilanzierung realisiert werden könnte, noch nicht
lung, dass eine neue Eingriffsermächtigung in der                    weit fortgeschritten.69 Doch stellt jede neue Eva-
Praxis nicht genutzt wurde. Aus dieser Erkenntnis                    luation eines Sicherheitsgesetzes, die Breite und
kann der Gesetzgeber den Schluss ziehen, Befug-                      Tiefe der jeweiligen Grundrechtsbelastungen er-
nisregelungen, die im Evaluierungszeitraum nicht                     fasst, einen Beitrag zu einer Gesamtbetrachtung
angewandt wurden, zu ändern oder ersatzlos zu                        dar, welche die Auswirkungen der Sicherheits­
streichen.65                                                         gesetzgebung auf die Grundrechte bilanziert
                                                                     und einschätzt, ob die Grundrechtssituation noch
                                                                     mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben in
                                                                     Einklang steht. Auch zur Erstellung einer Über-
                                                                     wachungs-Gesamtbilanz ist sowohl eine ver­
                                                                     fassungsrechtliche Analyse der Regelungen als

59	Kötter (2015), 74 f. Eine solche Untersuchung hat die Regierungskommission Sicherheitsgesetzgebung 2013 vorgenommen, vgl. Bäcker /
    Giesler / Harms / Hirsch / Kaller / Wolff (2013).
60	Vgl. BVerfGE 115, 320 (353) („Rasterfahndung II“).
61	Vgl. Bundesverfassungsgericht (2020): Bestandsdatenauskunft II, Beschluss vom 27.05.2020, 1 BvR 1873/13, Rn. 206.
62	Näher Ziekow / Debus / Piesker (2012), 49 ff.
63	So z. B. der Evaluationsbericht in Deutscher Bundestag (02.09.2015), 77 ff.
64	Vgl. Albers (2010), 41 f.
65 Vgl. Deutscher Bundestag (06.09.2011).
66	BVerfGE 109, 279 (323) („Großer Lauschangriff“); BVerfGE 112, 304 (319) („Global Positioning System“); BVerfGE 125, 260 (324)
    („Vorratsdatenspeicherung“).
67	Hierzu Roßnagel (2010).
68	Siehe aber den Antrag der Fraktion der FDP: Deutscher Bundestag (27.10.2020 b).
69	Vgl. die Beiträge zu der Öffentlichen Anhörung im BT-Innenausschuss am 22.02.2021, https://www.bundestag.de/resource/
    blob/822370/0c23a01db6474969e69780af24327958/TO-121-Sitzung-Anhoerung-data.pdf
S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N                                                          21

auch eine empirische Untersuchung ihrer Anwen-                             setzes gefasst ist, desto weniger kann ein Grad
dung in der Praxis unverzichtbar.                                          von Zielerreichung gemessen werden.

3.4.3 Die Zielerreichung                                                   Zudem läuft eine allein auf die Erfüllung eines be-
Als Kriterium der Evaluation eines Gesetzes bietet                         stimmten Gesetzeszieles gerichtete Evaluation Ge-
sich der Grad der Zielerreichung an.70 Eine retros-                        fahr, nicht intendierte Effekte zu übersehen.79 Die
pektive Evaluation, die Aussagen zu der Frage tref-                        Evaluation eines Sicherheitsgesetzes kann sich
fen soll, inwieweit sich die mit der Gesetzgebung                          daher nicht auf die Frage der Zielerreichung be-
verfolgten Ziele verwirklicht haben, muss aber zu-                         schränken. Will sie eine Verhältnismäßigkeitsprü-
nächst einmal diese Ziele ermitteln. In der Begrün-                        fung ermöglichen, muss sie den durch das Ge-
dung der Entwürfe von Sicherheitsgesetzen ist                              setz legitimierten Beschränkungen von Grund- und
deren Ziel aber oft nicht ausdrücklich oder allen-                         Menschenrechten die gesamten Gesetzeswirkun-
falls abstrakt beschrieben.71 So werden als Geset-                         gen gegenüberstellen, insbesondere die erzielten
zeszweck die Umsetzung verfassungsgerichtlicher                            Verbesserungen der inneren Sicherheit und des
Vorgaben72 oder von Richtlinien der Europäischen                           Schutzes individueller Rechtsgüter.
Union73 angeführt. Als andere Zielbeschreibungen
werden die Verbesserung der Effektivität der Auf-                          3.4.4 Die Gesetzeswirkungen
gabenerfüllung der Nachrichtendienste74 oder die                           Eine Darstellung der Anwendungspraxis eines Si-
Gewährleistung der Aufklärung schwerer Bedro-                              cherheitsgesetzes liefert noch keine Rückschlüsse
hungen für den demokratischen Rechtsstaat ge-                              über seinen Beitrag zu einer Verbesserung der Si-
nannt.75                                                                   cherheitslage.80 In den bisher vorgelegten Evalua-
                                                                           tionsberichten zu Sicherheitsgesetzen des Bun-
Erschwerend kommt hinzu, dass Entwürfe von                                 des fehlen Aussagen zu einer durch das Gesetz
Bundesgesetzen und ihre Begründungen in der                                bewirkten Stärkung der inneren Sicherheit weit-
Praxis zumeist von der Bundesregierung erstellt                            gehend oder sie überzeugen angesichts ihrer Pau-
werden. So müssen Erwartungen und Ziele des                                schalität oder mangelnder Belege wenig. Hinge-
Gesetzgebers mittels Auswertung der gesamten                               wiesen wird darauf, dass sich die Wirksamkeit der
Gesetzesmaterialien festgestellt werden.76 Dabei                           zu evaluierenden Maßnahmen nur schwer anhand
sind mitunter Einzelziele erkennbar, deren Errei-                          von Erfolgskriterien messen lässt.81 Der Evaluie-
chen eine Evaluation belegen kann, wie die Effek-                          rungsbericht der Bundesregierung zum ATDG führt
tivierung des Datenverkehrs zwischen Sicherheits-                          aus, eine quantitative Erfassung der Wirkung der
behörden77 oder die erfolgte Nutzung eines neuen                           Datei und eine Identifikation von Ermittlungserfol-
Ermittlungsinstrumentes.78 Oft ist aber die Identifi-                      gen seien nicht möglich.82 In der Begründung ihres
zierung eines derart konkreten Gesetzesziels nicht                         Gesetzentwurfs zur Anpassung des Verfassungs-
möglich. Zwar sind Gesetze, die Sicherheitsbehör-                          schutzrechtes vom November 2020 legt die Bun-
den zusätzliche Eingriffsbefugnisse verschaffen,                           desregierung dar, dass eine Operationalisierung
letztlich darauf ausgerichtet, die innere Sicherheit                       statistischer Messbarkeit der Wirkungen des Ge-
zu stärken. Doch je allgemeiner das Ziel eines Ge-                         setzes nicht möglich sei.83

70   Gusy / Kapitza (2015), S. 22.
71   Hierzu Gusy (2015), 236 f.; Ziekow / Debus / Piesker (2012), S. 29.
72   Vgl. Deutscher Bundestag (14.02.2017), S. 1.
73   Deutscher Bundestag (31.07.2019), S. 76.
74   Deutscher Bundestag (06.09.2011), S. 10.
75   Deutscher Bundestag (27.10.2020 a).
76   Kötter (2015), S. 70.
77   Deutscher Bundestag (07.04.2016), S. 129.
78   Zum IMSI-Catcher vgl. Deutscher Bundestag (02.09.2015), 43 ff.
79   Ziekow / Debus / Piesker (2012), S. 30.
80   Kötter (2015), S. 76.
81   So Deutscher Bundestag (06.10.2020), S. 18.
82   Deutscher Bundestag (07.03.2013), S. 48.
83   Deutscher Bundestag (27.11.2020), 15 f.
22                                                                              S I C H E R H E I T S G E S E T ZG E B U N G U N D E VA L UAT I O N

In der Tat sind von einer gesetzlichen Befugnisre-                     blick auf eine Erfassung der Wirkungen von Si-
gelung ausgehende sicherheitsfördernde Wirkun-                         cherheitsgesetzen allerdings gewisse Schwächen
gen nur ausnahmsweise zahlenmäßig erfassbar.                           auf. So können systematische Vergleiche zwar
Eine solche Ausnahme bildet etwa die Evalua-                           Aussagen über Wirkungszusammenhänge ermögli-
tion der Änderung des Soldatengesetzes, die die                        chen.90 Ein Vergleich der Sicherheitslagen vor und
Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung vor                          nach dem Inkrafttreten eines Sicherheitsgesetzes
der Einstellung von Soldat_innen in die Bundes-                        wird jedoch oft lediglich Anhaltspunkte und keine
wehr vorsieht.84 Sie ergab, dass in den ersten zwei                    belastbaren Resultate erbringen. Denn zahlreiche
Jahren der Anwendung der Vorschrift in 63 Fällen                       Faktoren beeinflussen die Sicherheitslage. Ab-
ein Sicherheitsrisiko erkannt und von einer Einstel-                   schreckungs- und Vermeidungseffekte und damit
lung der betreffenden Person in die Bundeswehr                         verbundene Fortschritte beim Rechtsgüterschutz
und damit von ihrer Ausbildung an Waffen abgese-                       sind als unmittelbare Folge eines neuen Sicher-
hen wurde.85 Diese Zahl kann in Verhältnis gesetzt                     heitsgesetzes kaum nachzuweisen.91 Auch Inter-
werden zu den knapp 44 000 durchgeführten Si-                          views von Behördenmitarbeiter_innen, die mittels
cherheitsüberprüfungen und den mit ihnen ver-                          einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet wer-
bundenen Eingriffen in das Recht auf informatio-                       den,92 sind als Erhebungsinstrument zur Wirkungs-
nelle Selbstbestimmung.86                                              analyse von Normen mit Unsicherheiten verbun-
                                                                       den. So ist zu bezweifeln, ob eine Befragung von
Auch wenn Wirkungen eines Sicherheitsgesetzes                          Sicherheitsbehörden über den Nutzen der ihnen
nicht quantifizierbar sind, kann eine Evaluation Er-                   eingeräumten Ermächtigungen93 zu einer objek-
kenntnisse erbringen, die über die lapidare Fest-                      tiven Bewertung von Erforderlichkeit und Ange-
stellung, die zu prüfenden Normen hätten sich                          messenheit der Regelung führt.94 Besser geeignet
in der Praxis bewährt, hinausgehen. So stellt der                      erscheint eine aktenbasierte Auswertung von Ein-
Evaluierungsbericht der Bundesregierung zum                            zelvorgängen. Diese setzt indes Zugang zu diesen
ATDG einen aufgrund des Gesetzes verbesserten                          Informationen voraus und erfordert einen erhebli-
Informationsaustausch zwischen den Sicherheits-                        chen Aufwand, um verallgemeinerbare Schlussfol-
behörden fest und legt so einen dadurch erziel-                        gerungen zu ermöglichen.95
ten Zugewinn an Sicherheit nahe.87 Auch kann die
häufige Nutzung eines Ermittlungsinstrumentes                          All dies macht deutlich, dass weitere Methoden-
darauf hindeuten, dass es zum Gewinnen sicher-                         forschung und -diskussion zur Gesetzesevaluation
heitsrelevanter Informationen beiträgt und so si-                      geboten ist.96 Für den Sicherheitsbereich müssen
cherheitsfördernde Wirkungen entfaltet.88                              tragfähigere Evaluierungskonzepte ausgearbeitet
                                                                       werden,97 sowohl hinsichtlich allgemeiner Verfah-
Zur Evaluierung eines Sicherheitsgesetzes kann                         rensstandards als auch für den Einzelfall geeigne-
auf sozialwissenschaftlich etablierte Methoden                         ter Methoden.98 Letztlich kann nur ein integrativer
und Instrumente empirischer Wirkungsforschung                          Evaluierungsansatz dem Gesetzgeber das Wissen
zurückgegriffen werden.89 Diese weisen im Hin-                         vermitteln, das für die nachträgliche Bewertung

84 16. Gesetz zur Änderung des Soldatengesetzes und weiterer soldatenrechtlicher Vorschriften vom 27.3.2017 BGBl. I 562.
85 Näher hierzu Siems (2020), S. 75 f.
86 Bei der Abwägung ist das Einverständnis der Bewerber mit der Durchführung der SÜ zu berücksichtigen.
87 Ähnlich der Bericht zur Evaluierung des RED-G, vgl. Deutscher Bundestag (07.04.2016), S. 129.
88 Vgl. Deutscher Bundestag (06.10.2020), 127 f.
89 Siehe Gusy (2015), 229 f.; Kugelmann (2015), S. 156.
90 Ziekow / Debus / Piesker (2012), 62 ff.
91 Gusy (2015), S. 237.
92 Ziekow / Debus / Piesker (2012), 58 ff.
93 Vgl. Deutscher Bundestag (02.09.2015), 14 f., Deutscher Bundestag (06.10.2020), 52 f.
94	So wird zu dem Bericht des InGFA zur Evaluation der Verlängerung der Terrorismusbekämpfungsgesetze 2015 konstatiert, er orientiere
    sich an Bewertungen und Wünschen der Nachrichtendienste, vgl. Meister / Busch (16.07.2020).
95 Vgl. Deutscher Bundestag (06.10.2020), 17 f.
96 Kugelmann (2015), S. 156.
97 Albers (2010), S. 48.
98 Gusy (2015), 239 f.
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