Plädoyer für eine realitätsnahe Architektur des Einkommen steuertarifs - ifo Institut
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FORSCHUNGSERGEBNISSE Dieter Dziadkowski* Plädoyer für eine realitätsnahe Architektur des Einkommen steuertarifs Nachdem Deutschland seit dem 14. März 2018 eine neue Bundesregierung besitzt und wieder ein Hanseat das Bundesfinanzministerium (BMF) führt, erwartet der inländische Steuerzah ler die Umsetzung der steuerpolitischen Wahlversprechungen. Bekanntlich wurden von den die Bundesregierung tragenden Parteien Einkommensteuerentlastungen angekündigt. Da der Koalitionsvertrag, der eine gewisse Verbindlichkeit besitzen dürfte und am 12. März 2018 von CDU/CSU und SPD unterzeichnet wurde, entsprechende steuerpolitische Maßnahmen unerwähnt gelassen hat, besteht die Notwendigkeit, dem Gesetzgeber Hinweise für eine ver fassungskonforme Neugestaltung des Einkommensteuertarifs zu geben, zumal bei fast sämt lichen Tarifänderungen in der Vergangenheit Strukturschwächen aufgetreten sind. Hauptschwächen der derzeitigen Tarifgestalt sind die weitgehende Entfernung der Tarif architektur von einer Berücksichtigung der realen Einkommensentwicklung sowie von einer sachgerechten realitätsnahen Normierung des zu verschonenden existenznotwendigen Ein kommens durch den Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 EStG. Der Verfasser unternimmt daher nochmals den Versuch, einen Vorschlag für einen einfachen und »gerechten« Einkom mensteuertarif zu unterbreiten, zumal sich die jeweiligen Steuergesetzgeber in den letzten Jahrzehnten häufig sehr zögerlich verhalten haben und immer wieder eine mögliche Rüge des Bundesverfassungsgerichts in Kauf genommen haben. Sofern in der neuen Legislatur periode wieder keine angemessene Entlastung der inländischen Steuerzahler realisiert wird, wäre damit das Ende der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit besiegelt. Im Übrigen ist zu vermerken, dass die deutschen Steuerzahler im OECD-Raum wieder einen Spitzenplatz im Hinblick auf die Steuer- und Abgabenbelastung einnehmen. RÜCKSCHAU AUF SECHS JAHRZEHNTE für einen Einkommensteuertarif geschaffen wurden, TARIFGESTALTUNG der erwerbstätige Eheleute nicht mehr diskriminierte und somit nicht mehr verfassungswidrig gestaltet wer- Bekanntlich war die Tarifgestaltung im Rahmen der den durfte. Der frühere »Einheitstarif« wurde durch Ehegatten- und der Haushaltsbesteuerung bis 1957 einen Grundtarif für Einzelpersonen und einen Split- verfassungswidrig (vgl. Bundesverfassungsgericht tingtarif für Eheleute – und inzwischen auch für andere 1957, S. 193–202). Die mit Wirkung vom 1. Januar 1958 Partnerschaften – abgelöst. Da im Laufe der Jahre ab notwendig gewordene Tarifreform führte zu einer ca. 1960 die Zahl der berufstätigen Ehefrauen sprung- gänzlich neuen Tarifstruktur. Allerdings war die Neu- haft anstieg, bildete das neue Splittingverfahren einen gestaltung durch merkliche Einnahmeausfälle für den gewissen Schutz vor Überbesteuerung von Familien. Fiskus vorbelastet. Dem Änderungskonzept waren Dem Splittingverfahren lag der Typ der erwerbstätigen daher enge Grenzen gesetzt (vgl. Lehner 1993). Es ist Eheleute zugrunde. zu beachten, dass erst vor 60 Jahren1 die Grundlagen Der ursprüngliche Tarif 19572 erfuhr mehrere Veränderungen, bis 1990 zu einer linear-progressi- * Prof. Dr. Dieter Dziadkowski war u.a. von 1970 bis1973 wissen- lich dem heutigen Kinderfreibetrag) gewährt. Das BVerfG betonte in schaftlicher Mitarbeiter beim Finanzausschuss des Deutschen seiner Entscheidung vom 17. Januar 1957, dass die Schlechterstel- Bundestages und später u.a. Vorsitzender der Vereinigung zur wis- lung der Ehegatten durch die Zusammenveranlagung zur Einkom- senschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts e.V., Regensburg/ mensteuer verfassungswidrig sei und zur Gleichberechtigung der München, sowie Mitglied der Ursprungslandkommission und der Frau gehöre, »daß sie die Möglichkeit hat, mit gleichen rechtlichen Einkommensteuer-(Bareis)-Kommission. Chancen marktwirtschaftliches Einkommen zu erzielen Wie jeder 1 Vor Einführung des Splittingtarifs ab 1958 wurde das Gesamtein- männliche Staatsbürger«. (Bundesverfassungsgericht 1957, S.202) 2 kommen von Eheleuten einem progressiv gestalteten Tarif unterwor- Vgl. Bareis (1999); Dziadkowski (2003); Hey (2015), § 3 Rz. 163 f. fen und für den Ehepartner nur ein relativ geringer Freibetrag (ähn- Für die Zeit bis 1949 Bühner (1990). ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018 35
FORSCHUNGSERGEBNISSE Tab. 1 ven Gestaltung übergegangen wurde.3 Diese Archi- Tab. 1 tektur ist bis heute weitgehend beibehalten worden. »Existenzminimum« vor Entscheidung des BVerfG In der politischen Diskussion kreisten die Auseinan- Periode Existenzminimum (in DM) dersetzungen zumeist um den »Spitzensteuersatz« 1958–1974 = 1 680 (Beginn der oberen Proportionalzone), seltener um 1975–1978 = 3 000 1979–1980 = 4 200 den Grundfreibetrag, der das existenznotwendige 1981–1985 = 4 212 Einkommen vor dem Entzug durch Einkommensteuer 1986–1987 = 4 536 verschonen soll.4 Da die Entscheidungsträger nie in 1988–1989 = 4 752 der Nähe des Grundfreibetrags oder des »Mindest- 1990–1995 = 5 616 steuersatzes« angesiedelt waren, mangelt es ihnen Quelle: Zusammenstellung des Autors. an Erfahrung auf diesen Einkommensebenen, zumal wenn sie noch in den Genuss steuerfreier Einkünfte mission und erteilte dieser den Auftrag, Vorschläge gelangen können.5 für einen »neuen« Einkommensteuertarif zu erarbei- An dieser Stelle soll bereits darauf hingewiesen ten, der die verfassungsrechtlichen Vorgaben insbe- werden, dass der Beginn der oberen Proportional- sondere hinsichtlich der Freistellung des Existenz zone (Spitzensteuersatz) bei Steuersatzänderungen minimums und der Vermeidung gleichheitswidriger vielfach unverändert blieb oder nur geringfügig verän- Progressionssprünge beachten sollte. Im Dezember dert wurde. So verharrte die Zonengrenze von 1958 bis 1994 legte die Kommission »Thesen zur Freistellung 1974 bei 110 040 DM. 1975 wurde sie erstmals der rea- des Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der len Einkommensentwicklung und Preissteigerung auf Einkommensteuer« vor (vgl. Einkommensteuerkom- 130 020 DM angepasst. Seither wurde sie in Intervallen mission 1995). immer wieder gesenkt. So ist das heutige Ergebnis ent- Da der seit 1990 geltende geradlinige Verlauf des standen, dass der Spitzensteuersatz nicht nur Spitzen- Tarifs erhalten bleiben sollte und Möglichkeiten der verdiener, sondern mehr und mehr die Mittelschicht Gegenfinanzierung durch Verbreiterung der Bemes- erfasst. sungsgrundlage aufzuzeigen waren, wurden auch Zusätzlich zur Zementierung der Grenze zur obe- Vorschläge zur »Herausnahme von Lenkungsnormen ren Proportionalzone begnügte sich der Einkommen- aus dem Einkommensteuerrecht« (These 4) und zur steuertarif mit einer sehr geringen »Steuerfreistellung »Abschaffung von Steuerbefreiungen und Steuermäßi- des existenznotwendigen Lebensbedarfs«.6 gungen« (These 6) (vgl. Einkommensteuerkommission Nachstehend soll dargelegt werden, wie sich der 1995, S. 32 f., S. 37–46) unterbreitet. Grundfreibetrag von 1958 bis 1995 entwickelt hatte, da Der an den zu erwartenden sozialhilferechtlichen dieser ebenfalls die Steuerbelastung in allen Einkom- Leistungen an Bedürftige ab 1996 orientierte Freistel- mensbereichen beeinflusst (vgl. Tab. 1). Eine ähnliche lungsbetrag (Grundfreibetrag nach§ 32 a Abs. 1 Entwicklung zeichnet sich wieder für die in Städten EStG) wurde mit ca. 13 000 DM ermittelt. Der Gesetz und Ballungsräumen lebenden Steuerbürger zumin- geber beschloss sodann schließlich einen Betrag von dest seit 2008 ab. 12 095 DM. Aus Abbildung 1 ist erkennbar, in welchem Nachdem das BVerfG mit Beschluss vom 25. Sep- Ausmaß eine Überbesteuerung der Steuerzahler seit tember 1992 (vgl. BVerfG FN 4) ein Machtwort gespro- Jahrzehnten vorgenommen wurde, da der Grundfrei- chen hatte und der Gesetzgeber verpflichtet wurde, betrag langfristig weit unter den sozialhilferechtli- bis 1996 die Steuerfreistellung in verfassungskon- chen Leistungen lag. former Weise zu regeln, berief die Bundesregierung die Ein- Abb. 1 kommensteuer-(Bareis-)Kom- Entwicklung des Grundfreibetrags für die Jahre 1958 bis 1996 3 Mit dem Steuerreformgesetz vom 25. Juli 1988 wurde der dreistufige 1958–1964 1 680 Gesamtplan einer Steuerentlastung beschlossen und ab 1990 der linear- 1965–1974 1 680 progressive Tarif eingeführt. 4 Das BVerfG stellte mit Beschluss 1975–1977 3 000 vom 25. September 1992 1978 3 300 BStBl. II, 1993, 413, fest, dass der existenznotwendige Grundbedarf (Exis- 1979–1980 3 690 tenzminimum) von einer Einkommens- besteuerung verschont werden muss, 1981–1985 4 212 da Erwerbseinkommen bis zur Höhe von Sozialleistungen nicht steuerbar 1986–1987 4 536 sein kann. Umfassend hierzu Lehner (1993). 1988–1989 4 752 5 Es sei nur auf die steuerfreien Auf- wandspauschalen und geldwerten 1990–995 5 616 Vorteile hingewiesen. 6 Vgl. Einkommensteuerkommission 1996 12 095 (1995). Vorher bereits u.a. von Bockel- berg (1971), Dziadkowski (1985), Lang 0 2 000 4 000 6 000 8 000 10 000 12 000 14 000 DM (1987), Kirchhof (1985), Mellinghoff (1989). Quelle: Dziadkowski (1996, S. 1199). © ifo Institut 36 ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018
FORSCHUNGSERGEBNISSE EINNAHMENMAXIMIERUNG VERSUS REFORMNOTWENDIGKEIT FÜR DEN BESTEUERUNG NACH DER LEISTUNGSFÄHIGKEIT EINKOMMENSTEUERTARIF Der Gesetzgeber befand sich in einem Dilemma, Vor Jahresfrist hat das Institut Finanzen und Steuern da er einerseits einen ungerecht gestalteten Tarif vor dem Hintergrund des anstehenden Wahlkampfs zur ändern musste, andererseits aber auch Steuerein- Bundestagswahl 2017 Fragen hinsichtlich von Änderun- nahmen verplant hatte. Durch das lange Zögern der gen des Einkommensteuertarifs aufgeworfen.9 Im Vor- notwendig gewordenen Anpassung des Grundfreibe- dergrund standen eine bessere Ausbalancierung des trags – er lag um mehr als 50% unter den Sozialhilfe- Tarifs unter den Aspekten der Reduzierung oder Besei- sätzen – hatte sich ein merklicher Stau gebildet. Da tigung des sog. »Mittelstandsbauchs und der Entlas- eine sparsame Haushaltsführung nur schwer reali- tung insbesondere mittlerer Einkommensbezieher« sierbar war, wurde der Freistellungsbetrag an der (Houben und Chirvi 2017). Dabei wurde u.a. den zu untersten Grenze bestimmt. Zum Teil wurde das erwartenden Aufkommenswirkungen bei der gänzli- Minus im Wege der Tarifgestaltung bei der Festle- chen Abschaffung des Mittelstandsbauches besondere gung von Steuersätzen neutralisiert. Weil der For Aufmerksamkeit geschenkt. Es sollte u.a. der Versuch meltarif nicht leicht durchschaubar war, blieben unternommen werden, hohe Aufkommenseinbußen die Maßnahmen der Öffentlichkeit weitgehend zu neutralisieren.10 Es erscheint wie ein Naturgesetz, verborgen. dass eine gerechtere Besteuerung zu merklichen Ein- Bis heute leidet die Anpassung des Grundfreibe- nahmenausfällen führen muss. trags darunter, dass die Ermittlungen zum Existenz- Es sollte jedoch bedacht werden, dass Verzöge- minimum nicht realitätsnah durchgeführt werden rungen bei Tarifanpassungen automatisch zu stetig (können). Bundeseinheitliche Durchschnittswerte steigenden Aufkommensminderungen führen müs- benachteiligen alle Einkommensbezieher, die in städti- sen, weil durch Wachstum und Einkommenserhöhun- schen Räumen – hier insbesondere in Ballungsräumen gen bei einem progressiv gestalteten Tarif der Stau von – leben.7 Jahr zu Jahr wächst und der Reformbedarf überpro- Neben der Überbesteuerung durch zu niedrige portional zunimmt. Würde der Tarif kontinuierlich den Grundfreibeträge trat mehr und mehr eine weitere realen Bedingungen angepasst, könnten »schmerz- Überbesteuerung durch Nichtanpassung der Tarifge- hafte« Aufkommenseinbußen vermieden werden. Es staltung. Bekanntlich werden Einkommensbezieher zeigt sich jedoch, dass die Gesetzgeber immer wie- dem Spitzensteuersatz unterworfen, die weit entfernt der Steuerkorrekturen solange hinauszögern, bis die von der Situation eines Spitzenverdieners rangieren. Grenze zur Verfassungswidrigkeit in greifbarer Nähe Hinzu kommt, dass durch die gradlinige Tarifstruk- angelangt ist. Hier sei nur an die Geschichte des Grund- tur auch die unterhalb der oberen Proportionalzone freibetrags erinnert. Das Mittel der sparsamen Haus- angesiedelten Steuerzahler relativ hoch besteuert haltsführung wird nicht eingesetzt, wodurch das Haus- werden. haltsrisiko stetig steigt und immer wieder zu neuen Die Tariffindung durch den Gesetzgeber ori- Steuerfindungsaktivitäten zwingt.11 entiert sich an einem erwünschten Steuerauf- Äußersten Bedenken muss die derzeitige Tarif- kommen. Er strebt daher eine Einnahmenmaxi struktur begegnen. Der raketenartige Anstieg des mierung an. Die Lohn- und Einkommensteuer bildet Grenzsteuersatzes nach Verlassen der Region »Grund- hierfür ein geeignetes Fundament, da durch den weit- freibetrag« und der sich anschließenden Einkommens- gehenden Quellenabzug die Steuern zeitnah einge- region bewirkt, dass insbesondere bei geringen und hen und die Liquidität der Haushalte sicherstellen. mittleren Einkommen übermäßig Kaufkraft abge- Weitere Überbesteuerungselemente sollen in dieser schöpft wird. Darstellung nicht erörtert werden. Allerdings stellt die Aus diesem Grunde war im Wahlkampf bei vielen stetig zunehmende Begrenzung bei Abzugsbeträgen, Politikern die Einsicht gewachsen, dass »Steuererleich- die im Rahmen der Ermittlung der Bemessungsgrund- terungen für geringe und mittlere Einkommen« notwen- lage (Werbungskosten, Sonderausgaben, Freibeträge dig geworden waren. So versprach auch die Bundes- usw.) zu berücksichtigen sind, eine verdeckte Steu kanzlerin am 22. September 2017 auf dem Marienplatz ererhöhung dar.8 in München entsprechende »Steuererleichterungen«. 9 Vgl. Houben und Chirvi (2017, S. 29) insbesondere zu den Grenz- und Durchschnittssteuersätzen des Tarifs 2017. 10 Die Verfasser zeigten u.a. auch Maßnahmen zur aufkommens- 7 Der Grundfreibetrag, der die Verschonung des Existenzminimums schonenden Reform (S. 39 ff.) auf. Allerdings sollte m.E. die Gegenfi- sichern soll, wird regelmäßig vergangenheitsorientiert angepasst. nanzierung nicht nur auf die Einkommensteuer ausgerichtet werden. Selbst bekannte Preiserhöhungen (z.B. im administrativen Bereich) Wenn der Fiskus durch verbesserte Kontrollen z.B. die Mehrwert- werden zu spät berücksichtigt und daher für den Besteuerungszeit- steuerlücke verringern würde, könnte ein hinreichender Ausgleich raum zu gering bemessen. Hierdurch wird ebenfalls eine heimliche geschaffen werden. Bekanntlich beträgt die Mehrwertsteuerlücke in Steuererhöhung realisiert. der EU bereits seit 2014 jährlich ca. 160 Mrd. Euro (vgl. EU-Kommissi- 8 Hier seien nur exemplarisch die Begrenzung bestimmter Wer- on, Pressemitteilung vom 6. September 2016). 11 bungskosten (Fahrtkosten), Sonderausgaben (Krankenkassenbeiträ- In jüngerer Zeit sind insbesondere Kommunen mit kreativen Steu- ge usw./Höchstbeträge), Pauschbeträge für Menschen mit Behinde- erfindungsaktivitäten in Erscheinung getreten (vgl. hierzu u.a. Musil rungen nach § 33b EStG (seit 1975 unverändert !!!) genannt. und Schulz 2017). ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018 37
FORSCHUNGSERGEBNISSE Diese Auffassung wurde von fast allen Wahlkämpfern DIE REALISIERBAREN ENTLASTUNGEN BEI DER geteilt. Nunmehr ist die Enttäuschung bei den inländi- EINKOMMENSTEUER schen Steuerzahlern, die nicht die Privilegien ausländi- scher Großunternehmen genießen können, sehr groß. Steuerliche Entlastungen geringer und mittlerer Ein- kommen wurden im Wahlkampf von allen Parteien STEUERPLÄNE DER NEUEN BUNDESREGIERUNG angekündigt. Nach den Ergebnissen der letzten Jahre und dem voraussichtlichen Steueraufkommen in die- Die Steuerpläne der Parteien spielten im Wahlkampf sem Jahr sind Entlastungen bei entsprechender Haus- eine große Rolle. Bei vielen Wählern wurden Hoffnun- haltsdisziplin leicht realisierbar, zumal eine Verrin gen geweckt. Das Abflachen des Mittelstandsbauchs, gerung der Kaufkraftabschöpfung zusätzlich Wachs- der inzwischen schon gehobene Geringverdiener tumsimpulse freisetzen würde. belastet, und ein späteres Einsetzen des Spitzensteuer- Es muss beachtet werden, dass Tarifanpassun- satzes werden in den Vereinbarungen der Regierungs- gen nicht Steuersenkungen darstellen, wie es von parteien nicht mehr erwähnt. Lediglich eine irgend- bestimmten politischen Kreisen behauptet wird. Die wann und irgendwie geartete Korrektur beim Solida- realisierbaren Entlastungen sollen lediglich die in der ritätszuschlag wurde vereinbart. Weitere Maßnahmen Vergangenheit vollzogenen Überbesteuerungen rück- sind entgegen den Ankündigungen im Wahlkampf bis- gängig machen. her nicht in Aussicht gestellt worden. Bekanntlich tritt durch die kalte Progression und In der Februar-Umfrage des Ökonomenpanels von die derzeitige Tarifstruktur mit ihren realitätsfernen ifo und FAZ zeigte sich eine Mehrzahl der Teilnehmer Grundfreibeträgen und zementierten Zonengrenzen weitgehend enttäuscht (vgl. Gäbler et al. 2018). Eine innerhalb des Tarifgebäudes eine Nominalbesteue- große Mehrheit der befragten Volkswirtschaftsprofes- rung ohne Berücksichtigung der Preisveränderungen soren hält die nunmehr angekündigte Abgabenentlas- in Form einer teilweisen Überbesteuerung ein. Beson- tung für zu wenig ambitioniert. Es ist m.E. ebenfalls zu dere Schwachstellen bei der Tarifarchitektur bilden fol- berücksichtigen, dass zahlreiche administrative Preise gende Bereiche: bereits wieder gestiegen sind und weitere Erhöhungen zu erwarten sind. – Grundfreibetrag (Nullzone) in der Nähe der Ar- Entgegen den Wahlankündigungen und Er- mutsgrenze wartungen der Steuerbürger enthält der Koalitions- – Sprung des Grenzsteuersatzes oberhalb der Null- vertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 7. Feb- zone (Progressionszone 1) ruar 2018 mit dem Titel »Ein neuer Aufbruch für – Anstieg des Grenzsteuersatzes oberhalb der Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein Progressionszone 1 neuer Zusammenhalt für unser Land« keine Anhalts- – Rückwirkung zementierter Freigrenzen und Frei- punkte für Einkommensteuerentlastungen. Bei einem beträge auf den Tarif (letzte Anpassung zum Teil Umfang des Vertragswerks von 176 Seiten überrascht 1975!!!) das den Bürger sehr. – Einschränkungen bei Abzugsbeträgen (z.B. Kran- Anzumerken ist außerdem, dass die Bundesregie- kenkassenbeiträge als Sonderausgaben) mit Rück- rung im August 2017 anlässlich der Veröffentlichung des wirkung auf den Tarif 26. Subventionsberichts ein steuerpolitisches Konzept in Aussicht gestellt hatte, das die Besteuerung nach der Auf allen Ebenen besteht dringlicher Korrekturbedarf. Leistungsfähigkeit »in den Mittelpunkt stellen« wollte, An dieser Stelle soll lediglich auf Möglichkeiten hinge- zumal »Entlastungen im Bereich der Einkommensteuer wiesen werden, die in einem ersten Schritt noch für das zur Stärkung von Binnenkonjunktur und Arbeitsan Jahr 2018 (Veranlagungszeitraum) realisierbar sind. reizen« (Bundesregierung 2017, S. 29) beitrage. Bekanntlich könnte der Steuerbedarf auch dadurch Da das Steueraufkommen als Folge des Wirt- gesenkt werden, dass der Haushaltsdisziplin erhöhte schaftswachstums (vgl. Projektgruppe Gemeinschafts- Aufmerksamkeit geschenkt wird. So könnten u.a. Aus- diagnose 2018) und der bereits realisierten und noch zu gaben, die durch Spätfolgen verfehlter Kolonialpolitik erwartenden Lohnzuwächse weiterhin auch 2018 stark verursacht sind, reduziert werden.13 steigen wird, ist der notwendige Spielraum für Entlas- tungen noch in diesem Jahr gegeben. Allein die Lohn- DERZEITIGE TARIFSTRUKTUR steuer wird die 250-Mrd.-Euro-Grenze überschreiten.12 Wie bereits im Vorjahr mehrfach dargelegt wurde, sind Seit Jahrzehnten wird die Einkommensteuer in Entlastungen bei der Einkommensteuer möglich. Vor Deutschland bekanntlich auf der Basis eines Formel allem Tarifanpassungen sollten eine Überbelastung tarifs ermittelt (vgl. Bareis 1999; Hey 2015, S. 460). der Erwerbstätigen verringern (vgl. Bach 2017; Fuest, Kauder und Potrafke 2017). 13 Bekanntlich zeigen sich die Spätfolgen verfehlter Kolonialpolitik in den Flüchtlingsströmen aus ehemaligen Kolonien und Mandaten, 12 Das Bundesministerium der Finanzen (2018) rechnet mit Steuer die von ihren ehemaligen Kolonialherren nicht ausreichend unter- einnahmen von insgesamt 772,1 Mrd. Euro nach 734,5 Mrd. Euro stützt wurden. Vgl. hierzu Marshall (2017), insbesondere zum Nahen 2017 (+ 5,1%). Osten (157 ff.). 38 ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018
FORSCHUNGSERGEBNISSE Ab 1. Januar 2018 ist die Tarifstruktur in § 32a zensteuersatz greift, bei fast jeder Steuer-(satz-)ände- Abs. 1 EStG wie folgt bestimmt: rung gesenkt. Die Folge war und ist eine verschärfende Steuerbelastung hinsichtlich des realen Einkommens- 1. bis 9 000 Euro (Grundfreibetrag: 0; zuwachses Vor allem wurden Einkommensbezieher 2. von 9 001 Euro bis 13 996 Euro (997,8 • y + 1 400) • y; aus dem mittleren Bereich immer häufiger zu Spitzen- 3. von 13 997 Euro bis 54 949 Euro: (220,13 • z + 2 397) verdienern »befördert«. Durch diesen Aufkommens • z + 948,49; zuwachs, der das Steueraufkommen künstlich auf- 4. von 54 950 Euro bis 260 532 Euro: 0,42 • x – 8 621,75; blähte, wurden die Gebietskörperschaften auch zu 5. von 260 533 Euro an: 0,45 • x – 16 437,7. inflationären Ausgaben verleitet. Exemplarisch sei in Tabelle 2 auf einige Statio- Die Größe »y« ist ein Zehntausendstel des den Grund- nen der »Grenzverschiebung« in der Vergangenheit Tab. 2 freibetrag übersteigenden Teils des auf einen vol- hingewiesen. len Eurobetrag abgerundeten zu versteuernden Ein- Tab. 2 kommens. Die Größe »z« ist ein Zehntausendstel des Entwicklung der oberen Proportionalzone von 1958–2003 13 996 Euro übersteigenden Teils des auf einen vollen Jahr Grenze Eurobetrag abgerundeten zu versteuernden Einkom- 1958–1974 110 040 DM mens. Die Größe »x« ist das auf einen vollen Eurobetrag 1975–1989 130 020 DM abgerundete zu versteuernde Einkommen. Der sich 1990–1999 120 042 DM 2000 114 695 DM ergebende Steuerbetrag ist auf den nächsten vollen 2001 107 567 DM Eurobetrag abzurunden. 2002 55 007 Euro In Höhe des Grundfreibetrags von 9 000 Euro 2003 52 292 Euro wird keine Einkommensteuer erhoben (sog. Null- Quelle: Zusammenstellung des Autors. zone). Anschließend besteht der Tarif aus vier Zonen, die unterschiedlich strukturiert sind. Der Tarif gilt im Seither bewegt sich die Grenze zur oberen Pro- gesamten Bundesgebiet gleichermaßen. Auf die unter- portionalzone im Bereich 50 000 Euro + x. Derzeit ist schiedlichen Preisverhältnisse in den Regionen wird im sie bei 54 950 Euro fixiert. Bei steigenden Nominal- Gegensatz zum Sozialhilferecht nicht abgestellt. einkommen nimmt die Anzahl der »Spitzenverdiener« Die geringen Masseneinkommen werden nach immer zu, ohne dass reale Einkommenszuwächse zu Überschreiten der Nullzone in Zone 1 (9 001 bis verzeichnen sind. 13 396 Euro) durch eine »beschleunigte« Progres- Durch eine »Treppentechnik« ist es dem Gesetz sion belastet. Die Einkommen der Zone 2 (13 397 bis geber immer wieder gelungen, die Einnahmenausfälle 54 949 Euro) unterliegen ebenfalls einer »spürbaren« in Grenzen zu halten. Anlässlich einer Verringerung des Progression. jeweiligen Spitzensteuersatzes wurde die Grenze zur Seit 1990 gilt in Deutschland bekanntlich ein line- oberen Proportionalzone abgesenkt (vgl. Abb. 2). ar-progressiver Formeltarif, der in der Weise struktu- Dadurch wurde ein Teil der durch die Steuersatz- riert ist, dass de facto fünf Einkommenszonen geschaf- senkung eintretenden Einnahmenreduzierungen neu- fen wurden. Sie bestehen aus folgenden Bereichen: tralisiert. Insbesondere in der Zeit von 1996 bis 2005 wurde diese »Technik« erfolgreich praktiziert. – Nullzone = Grundfreibetrag, Bei fast jeder Senkung des Spitzensteuersatzes – Übergangszone, in diesem Zeitraum wurde der Kreis der »Spitzenver – linear-progressive Zone, diener« dadurch vergrößert, dass die nominale Grenze – obere Proportionalzone, zur oberen Proportionalzone ohne Berücksichti- – Reichensteuerzone. Abb. 2 Entwicklung der oberen Proportionalzone von 1996–2005 Der Tarif sollte grundsätzlich der wirtschaftlichen Entwick- 1996–1999 2000 2001–2003 2004 Ab 2005 lung in Deutschland regelmä- 53,0% 51,0% 48,5% 45,0% 42,0% ßig angepasst werden. 61 376 € Allerdings kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, 58 643 € dass nicht eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leis- tungsfähigkeit erreicht werden 55 007 € sollte, sondern vielmehr die Aufkommensstabilität im Vor- dergrund stand. 52 152 € Insbesondere wurde der Beginn der oberen Propor DM-Beträge sind in Euro umgerechnet. tionalzone, ab der der Spit- Quelle: Dziadkowski (2008, S.182). © ifo Institut ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018 39
FORSCHUNGSERGEBNISSE gung der realen Einkommensentwicklung verändert Allerdings hatte sich der Gesetzgeber bei der wurde. Tarifreform 1957 (Einführung des Splittings) aus haus- Da gleichzeitig ab 1996 die vom Bundesverfas- haltspolitischen Überlegungen entschieden, den sungsgericht erzwungene Freistellung des Existenzmi- Grundfreibetrag in die Tarifvorschrift des § 32aEStG nimums zu Anhebungen des in § 32a EStG verankerten einzubinden und somit den Einnahmenausfall in Grundfreibetrags führte, wurde der Bereich zwischen Grenzen zu halten.14 Grundfreibetrag und oberer Proportionalzone immer Der Einkommensteuertarif stellt einen Kompro- mehr reduziert und dieser Tarifbereich mehr und mehr miss dar, der dem Anspruch des Staates auf Deckung »gestaucht«. seines Finanzbedarfs, den wirtschaftlichen Erforder- Diese Vorgehensweise hat dazu geführt, dass sich nissen und den rechtlichen Schranken, die sich aus die ursprüngliche Tarifstruktur immer stärker verän- dem Zusammenwirken mehrerer steuerlicher Belas- dert hat. Das Steueraufkommen wuchs entgegen der tungen auf die gleiche Steuerquelle (Steuergut) erge- tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung überpro- ben, Rechnung zu tragen hat. Er ist Ausdruck einer poli- portional. Dieser Aufwuchs aus Überbesteuerung hat tischen Entscheidung, die der Nachprüfung durch die teilweise zu »Scheinsteuern« geführt. Die Gebietskör- Gerichte (weitgehend) entzogen ist.15 perschaften haben die Steuerzuwächse verplant und In seiner Gesamtgestaltung und -wirkung soll er im verausgabt, ohne dass die Realität (»Scheineinkom- Großen und Ganzen jeweils die finanzielle und politi- men« als Bemessungsgrundlage) beachtet wurde. sche Situation seiner Geltungszeit widerspiegeln (vgl. Zudem wurde und wird durch diese Wirkungen die Steuerreformkommission 1971, S. 209, Tz. 630). Das Haushaltsdisziplin der öffentlichen Hand geschwächt. bedeutet, dass die Tariffindung demokratisch vollzo- gen werden muss. ZUR VERFASSUNGSKONFORMITÄT DES Im geltenden Tarif wird die Konkretisierung der EINKOMMENSTEUERTARIFS Belastungshöhe durch einen Formeltarif verwirklicht. Ein Formeltarif ermöglicht einen stetigen Tarifverlauf. Der Tarif nach § 32a EstG wird bislang als verfassungs- Die mathematischen Formeln, die die Beziehung zwi- gemäß angesehen. Die konkrete Ausgestaltung des schen dem Steuerbetrag und der Bemessungsgrund- Tarifs sei eine politische Entscheidung, die sich weit- lage in Steuerbetragsfunktionen für jeweils einen gehend richterlicher Kontrolle entziehe (vgl. Schöberle bestimmten Einkommensbereich (Zonen) festlegen, 2008). erwecken den Eindruck einer maximalen Genauig- Der Einkommensteuertarif soll in seiner progres- keit und damit auch ein Maximum an Gerechtigkeit. siven Ausgestaltung sichtbarer Ausdruck des Prinzips Es stellt sich allerdings die Frage, ob es sich dabei der Steuergerechtigkeit, nach dem jedermann entspre- nicht auch lediglich um eine Scheingerechtigkeit han- chend seiner persönlichen wirtschaftlichen Leistungs- delt. Mehre Baustellen können den Tarifverlauf massiv fähigkeit mit Steuern belastet wird, sein (vgl. Kirchhof beeinflussen. 1985). Es sind zunächst die Zonengrenzen, die willkürlich Es gibt allerdings keinen wissenschaftlich exak- bestimmt werden: ten Maßstab, nach dem die Höhe der steuerlichen Leis- tungsfähigkeit und damit die Belastbarkeit des einzel- 1. eine Nullzone (Grundfreibetrag) in Höhe von nen Steuerbürgers mit Einkommensteuer bestimmt 9 000 Euro, werden könnte. Die Tarifgestaltung muss folglich poli- 2. eine Mittelgrenze in Höhe von 13 996 Euro, tisch entschieden werden (vgl. Schöberle 2008, § 3a, 3. eine Obergrenze I in Höhe von 54 949 Euro Rdnr. A4). (Spitzensteuersatz). Jedoch sind nach neuerer verfassungsrechtlicher 4. eine Obergrenze II in Höhe von 260 553 Euro Rechtsprechung bestimmte Kriterien bei der Tarifge- (Reichensteuer). staltung zu beachten. Insbesondere müssen der Ein- kommensteuertarif und die Ermittlungsvorschriften Da diese Betragsgrenzen nicht regelmäßig angepasst für die Bemessungsgrundlage »zu versteuerndes Ein- wurden, ergibt sich heute kaum noch ein Bezug zur kommen« so aufeinander abgestimmt sein, dass das realen Einkommensentwicklung und realen Leistungs- Existenzminimum den Erfordernissen des Leistungsfä- fähigkeit (vgl. Bareis 1999, S. 1059 ff.; Dziadkowski higkeitsprinzips entsprechend steuerfrei bleibt. Steu- 2008a, S. 13; Houben und Chirvi 2017). Das liegt daran, erbare Leistungsfähigkeit repräsentieren erst die das dass die Tarifbestimmung ohne echte parlamentari- Existenzminimum übersteigenden Einkommensbe- sche Kontrolle vollzogen werden kann.16 Die Tarifge- träge (vgl. Kirchhof 2001). staltung folgt primär der zu erwartenden Ergiebigkeit. Dem soll der Grundfreibetrag im Rahmen des Ein- 14 Nach der Entscheidung des BVerfG waren Einkommensteuerer- kommensteuertarifs Rechnung tragen. Systematisch stattungen zum Teil für die Jahre 1949 bis 1958 vorzunehmen. 15 Steuerreformkommission (1971, S. 209) mit Bezug auf BVerfG vom zutreffend wäre eine Berücksichtigung des Existenzmi- 17. Januar 1957 (BStBl. 1957, S. 194) nimums bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage 16 Ein Tarif, der auf Nominalwerten aufbaut, trägt die heimlichen Steuerhöhungen in sich, solange keine gesetzliche Änderung vor- (vgl. v. Bockelberg 1971; Lang 1987, S. 38 ff.; Dziadkow- genommen wird (vgl. vertiefend Dorn et al. 2016a; 2016b: 2017a; ski 1986; Lehner 1993, S. 171 f.) 2017b). 40 ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018
FORSCHUNGSERGEBNISSE Insbesondere wurden die heimlichen Steuerhöhun- Abb. 3 Grenzsteuersätze und Wertgrenzen im Tarif 2017 gen merklich begrenzt. Im Zusammenspiel mit einem fiebermäßigen Anstieg der Progression im mittleren Grenzsteuersatz in % Bereich nach Überschreiten der Nullzone bis zur Ober- 50 grenze I kann die Rückgabe überhöhter Steuerbeträge 42% 54 058 € 45% 256 304 € bei jeder Tarifanpassung begrenzt werden. Das hat 40 dazu geführt, dass der Anteil der sog. »Spitzenverdie- ner« im einkommensteuerlichen Sinne in den letzten 30 Jahrzehnten überproportional gestiegen ist. 23,97% 13 770 € 20 TARIFDISKUSSION 14% 8 821 € 10 Eine intensive Tarifdiskussion haben in jüngerer Zeit 0 das Institut Finanzen und Steuern (ifst) (vgl. Houben 0 50 100 150 200 250 300 und Chirvi 2017) und das ifo Institut (vgl. Dorn et al. Zu versteuerndes Einkommen in Tsd. Euro 2016a; 2016b; Fuest et al. 2017) vorgenommen. Dabei wurden die Ergebnisse der im Auftrag des Bundes der Quelle: Houben und Chirvi (2017, S. 30). © ifo Institut Steuerzahler von Volker Stern durchgeführten Unter- suchung untermauert (vgl. Stern 2002). sog. Ausfällen führt, wird stets das Ziel verfolgt, Ent- Nachstehend sollen die Untersuchungen in kom- lastungen so gering wie möglich zu halten. Ob sodann primierter Form vorgestellt werden. noch eine realitätsnahe Besteuerung nach der Leis- tungsfähigkeit besteht, wird nicht hinterfragt. Infla INSTITUT FINANZEN UND STEUERN – IFST tionsbedingte heimliche Steuererhöhungen und Ver- werfungen innerhalb des Tarifs durch Vorgabe des sog. Im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes 2017 legte das Mittelstandsbauches werden hingenommen. ifst im Mai 2017 eine von Houben und Chirvi erarbeitete Auf diese Weise hat man immer mehr Steuerzah- Studie zum Einkommensteuertarif und Reformalterna- ler zu »Spitzenverdienern« erkoren und mit dem Spit- tiven vor. An dieser Stelle werden die Bereiche zensteuersatz belastet. Daraus folgt, dass die im Wahl- kampf angekündigte Entlastung geringer und mittleren – Grenzsteuersätze und Wertgrenzen im Tarif, Einkommen unbedingt realisiert werden muss, zumal – Abspeckung des Mittelstandsbauchs die kontinuierlich steigenden Einnahmen bei der Lohn- und Einkommensteuer reichliche Spielräume geschaf- näher erörtert. fen haben und weiterhin schaffen werden. Folgende Dabei wird in Anlehnung an die vorgelegte Studie Wertgrenzen und Grenzsteuersätze prägten den Tarif auf den Einkommensteuertarif 2017 Bezug genommen, 2017 (und weitgehend auch den Tarif 2018) (vgl. Hou- zumal sich der Einkommensteuertarif 2018 nur mikro- ben und Chirvi 2017, S. 31): skopisch verändert hat. Die Untersuchungsergebnisse sind folglich noch aktuell. Wertgrenze Grenzsteuersatz Wie aus Abbildung 3 ersichtlich ist, steigt der Grenz- Grundfreibetrag steuersatz vom Grundfreibetrag (Nähe der Armuts- (Nullzone) + 1 Euro 8 821 Euro 14,00% grenze) aus raketenartig von 14% bis zu einem Einkom- Knickstelle 13 770 Euro 23,97% men von 13 770 Euro (heute: 13 996 Euro) auf 24% an Spitzensteuerbereich 54 058 Euro 42,00% der sog. Knickstelle. Zwischen dieser Mittelgrenze von 13 770 Euro Es ist noch darauf hinzuweisen, dass bereits in den Jah- (heute: 13 996 Euro) bis zur Obergrenze von 54 058 ren 2009 und 2010 die übermäßige Steuerbelastung im Euro (heute: 54 949 Euro) entwickelt sich der Tarif im mittleren Bereich thematisiert wurde (vgl. Kruhl 2010). Wege einer linearen Progression auf 42%. Ab der Ober- Der Mittelstandsbauch wurde bis heute nicht ver- grenze I verläuft der Grenzsteuersatz auf der Höhe von schlankt. Betrachtet man die Wirkung der Tarifände- 42%, bis zu der Obergrenze II von 256 304 Euro (heute: rung von 2009 auf 2010, erkennt man die marginalen 260 53). Es ist zu beachten, dass der »Mindeststeuer- realitätsfernen Korrekturen, die automatisch zu einem satz« 14% beträgt, der »Spitzensteuersatz« liegt bei Mehraufkommen führen müssen. 42% und der »Reichensteuersatz« bei 45%. Entschei- Da der Eingangssteuersatz von 14% und der Steu- dend für das Haushaltsaufkommen an Einkommen- ersatz an der Knickstelle des Tarifs mit 24% unverän- steuer ist die Verteilung der Steuerzahler auf die jewei- dert blieben, änderte sich der raketenartige Anstieg ligen Einkommensbereiche. des Grenzsteuersatzes in dieser Zone nicht. Die Anhe- Daher ist der Fiskus bemüht, stark besetzte Ein- bung der Nullzone um 170 Euro und des Knickstellen- kommensbereiche in die Besteuerung einzubeziehen punktes um 270 Euro führen zu keinerlei Abschmel- und damit ein optimales Aufkommen zu erzielen. Da zung des Mittelstandsbauches. Es handelt sich jeweils jede Steueranpassung im Wege einer Tarifänderung zu um Jahresbeträge. ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018 41
FORSCHUNGSERGEBNISSE Abb. 4 Zur Bemessung des gesamtwirtschaftlichen Aus- Einkommensteuertarif 2009 maßes der kalten Progression wurden Mikrodaten von den Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter Steuersatz in % 50 des Bundes und der Länder zur Verfügung gestellt. Die 42% 52 552 steuerlichen Effekte auf der Basis des ifo-Einkommen- 40 steuer-Simulationsmodells (ifo-ESM) geschätzt (vgl. Konkaver Kurvenverlauf ab 01.01.2009 Dorn et al. 2016a, S. 15). 30 Wenn sich auch die inflationsbedingten heimli- Durchgehender linearer 24% chen Steuererhöhungen im letzten Jahrzehnt verlang- 13 140 Kurvenverlauf 20 samt haben, generiert der Fiskus immer noch merk- 14% lich von deren Steuerwirkungen. Für die sechs Jahre 10 von 2011 bis 2016 hat sich immerhin noch ein zusätz- "Mittelstandsbauch" 7 834 liches Steueraufkommen von 33,5 Mrd. Euro auf Basis 0 der kalten Progression im engeren Sinne bzw. 70,1 Mrd. 0 10 20 30 40 50 60 Pro Jahr zu versteuerndes Einkommen in Tsd. Euro Euro auf Basis der kalten Progression im weiteren Sinne Quelle: Kruhl (2010, S. 106). © ifo Institut ergeben.17 Die Effekte sind hauptsächlich dadurch verur- sacht, dass die Tarifänderungen unzureichend waren. Abb. 5 Einkommensteuertarif 2010 Eine große Rolle spielt hierbei die Zementierung der Zonengrenzen innerhalb des Tarifgebäudes nach Steuersatz in % § 32a EStG, hier vor allem die Zone nach§ 32a Abs. 1 50 Nr. 2 EStG (heute: 9 001 bis 13 996 Euro) sowie die 42% 52 882 Zone nach § 32a Abs.l Nr. 3 EStG (heute: 13 997 bis 40 Konkaver Kurvenverlauf 54 949 Euro). Hinzu kommt die für fast alle Steuerzah- ab 01.01.2010 ler zu geringe Bemessung des Grundfreibetrags, der in 30 24% Durchgehender linearer Ballungsräumen allein für die Ausgaben des Wohnbe- Kurvenverlauf darfs aufgezehrt wird. 13 470 20 Es muss nochmals darauf hingewiesen werden, 14% 10 dass die Zoneneinteilung innerhalb des Tarifs mit Gren- "Mittelstandsbauch" zen von heute 13 997 und 54 949 Euro willkürlich an- 8 004 muten. Es entstehen beschleunigte Progressionsbe- 0 0 10 20 30 40 50 60 reiche, die keinen Bezug mehr zur Realität besitzen. In Pro Jahr zu versteuerndes Einkommen in Tsd. Euro diesen Bereichen sind außer Rentnern hauptsächlich Quelle: Kruhl (2010, S. 107). © ifo Institut Arbeitnehmer angesiedelt. Die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft Es ist erkennbar, dass sich der »Mittelstands- (DStJG) hatte Ende September 2016 ihre 41. Jahres- bauch« bis in den Bereich der »Geringverdiener« tagung der Besteuerung von Arbeitnehmern gewid- erstreckt. Bekanntlich hat der Gesetzgeber bis heute 17 Vgl. Dorn et al. (2016a), leider standen als neueste Daten nur die keine Therapie zur Verringerung der pathologischen des Erhebungsjahres 2010 zur Verfügung. Die generelle Aussage dürf- Situation entwickelt und auch keine entsprechende te diese Tatsache nicht beeinflussen. Absicht erklärt. Abb. 6 IFO INSTITUT Jährlicher Aufwuchs der Kalten Progression von 2011 bis 2016 Bereits im Oktober 2016 hatte Kalte Progression i.w.S. das ifo Institut einen For- 20 Mrd. Euro Kalte Progression i.e.S. 18,0 schungsbericht zu »Heimlichen 16,6 Steuererhöhungen« vorgelegt, 15 12,9 die »Belastungswirkungen der 10,2 kalten Progression« aufgezeigt 10 8,1 und einen »Einkommensteu- 4,3 ertarif auf Rädern« angeregt 5 6,8 6,7 6,6 5,4 5,3 (vgl. Dorn et al. 2016a). Die Wir- 0 2,7 kungen wurden für die Jahre 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2011 bis 2016 dargelegt und eine Prognose über den jähr- Die Kalte Progression im weiteren Sinne beinhaltet die Kalte Progression im engeren Sinne. Berechnungen mit Hilfe lichen »Aufwuchs« der kalten des ifo-Einkommenssteuer-Simulationsmodells (ifo-EMS) und der Faktisch Anonymisierten Lohn- und Einkommens- steuerstatistik aus dem Jahre 2010 unter Berücksichtigung steuertariflicher Änderungen. Basis für die Fortschreibung Progression von 2017 bis 2030 der Steuertarifindexierung bildet der Tarif des Jahres 2010. Ohne Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags. abgegeben. Quelle: Dorn et al. (2016a, S. 15). © ifo Institut 42 ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018
FORSCHUNGSERGEBNISSE Abb. 7 quote entfaltet. Für 2011 bis Jährlicher Aufwuchs der Kalten Progression von 2017 bis 2030 2016 ergab sich das Bild von Abbildung 8. Es ist bedenklich, Kalte Progression i.w.S. Mrd. Euro Kalte Progression i.e.S. dass eine Reduzierung des Soli- 70 59,5 65,3 daritätszuschlags weiter hin- 60 48,3 53,9 ausgeschoben werden soll. 50 42,9 Abbildung 8 zeigt den tat- 37,6 49,5 40 32,3 44,9 sächlichen Verlauf der Lohn- 27,2 36,0 40,4 30 22,2 und Einkommensteuerquote 17,4 27,5 31,7 20 12,6 von 2011 bis 2016 sowie den 8,2 19,4 23,4 10 2,4 3,9 15,5 theoretischen Verlauf, wenn 8,0 11,7 die Tarifeckwerte des Jahres 0 1,4 1,1 4,5 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 2019 zum Ausgleich der kal- ten Progression jährlich um Die Kalte Progression im weiteren Sinne beinhaltet die Kalte Progression im engeren Sinne. Berechnungen mit Hilfe des ifo-Einkommenssteuer-Simulationsmodells (ifo-EMS) und der Faktisch Anonymisierten Lohn- und Einkommens- die Inflation oder das Nomi- steuerstatistik aus dem Jahre 2010 unter Berücksichtigung steuertariflicher Änderungen. Basis für die Fortschreibung der Steuertarifindexierung bildet der Tarif des Jahres 2010. Ohne Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags. nallohnwachstum »auf Räder Quelle: Dorn et al. (2016a, S. 17). © ifo Institut gesetzt« worden wären.18 Die kalte Progression met (vgl. Mellinghoff 2017). Rudolf Mellinghoff als Prä- führte seit 2010 zu einem stetigen Anstieg des Anteils sident des Bundesfinanzhofs und Vorsitzender der der Steuereinnahmen des Staates am Bruttoin- Gesellschaft hatte auf die Bedeutung der Arbeitneh- landsprodukt. Diese Einnahmenzuwächse wurden merbesteuerung hingewiesen. Insbesondere durch ohne offene Steuererhöhungen realisiert und bedurf- den Quellenabzug stützt die Lohnsteuer zeitnah und ten keiner Beteiligung der demokratisch gewählten kontinuierlich die staatlichen Haushalte. Die Lohn- Volksvertreter. steuer liegt an der Spitze der Steuerarten und ist mit Zutreffend weisen die Autoren darauf hin, dass einem sehr geringen Ausfallrisiko behaftet. Insbeson- »das Phänomen der Kalten Progression ein willkom- dere seit der Globalisierung der Wirtschaft und erheb- menes Geschenk für Politiker« (Dorn et al. 2016a, S. 23) licher Steuergefährdungen (BEPS-Diskussion) bildet bildet. Es kommt zu Steuererhöhungen, die nicht vom die Lohnsteuer ein solides Fundament der Staatsein- Parlament beschlossen werden müssen. Es ist daher nahmen. Den Arbeitnehmern wie auch allen anderen erklärlich, dass ein »auf die Ausweitung der Staatstä- Erwerbstätigen sollte daher höchster Respekt gezollt tigkeit bedachter Politiker«19 einer Beseitigung dieser werden. Erscheinungsform von heimlichen oder verdeckten Es muss aber immer wieder – somit auch an dieser Steuerhöhungen eher abgeneigt ist. Stelle – betont werden, dass eine sparsame Haushalts- Wie die jüngste OECD-Studie für 2017 belegt, hat politik den Steuerbedarf verringern kann. Insbeson- Deutschland auch in diesem Zeitraum seine Spit- dere sollte stets geprüft werden, ob es sich um einen zenposition bei der Abgabenbelastung innerhalb unabwendbaren Bedarf handelt. Einer Begrenzung der Staatsausgaben muss in Zukunft mehr Aufmerksam- 18 Die Nichtberücksichtigung der realen Entwicklungen führt zu im- keit geschenkt werden. Es sind nicht alle Ausgaben mer größeren Verwerfungen. 19 alternativlos. So muss verstärkt die Unterwanderung lichDa268 das Aufkommen an Lohn-/Einkommensteuer 2018 voraussicht- Mrd. Euro betragen und das der Umsatzsteuer mit 235 Mrd. der Sozialsysteme durch kriminelle Organisationen Euro übertreffen wird, ist keine reale Entlastung in Sicht. (z.B. im Pflegebereich, Schein Abb. 8 arbeit zwecks Aufstockungsan- Lohn- und Einkommensteuerquote von 2011 bis 2016 spruch) verhindert oder zumin- dest begrenzt werden. Basistarif Tarif i.e.S. Tarif i.w.S. % Von großem Interesse 9,2 9,1 9,0 auch für den Fiskus dürfte 9,0 8,9 8,9 sein, Erkenntnisse zu erlangen, 8,8 inwieweit das Ausmaß der kal- 8,8 8,7 8,6 8,6 ten Progression in der Zukunft 8,6 8,5 zunimmt. Hier zeigt die Prog- 8,4 8,4 8,5 nose für den Zeitraum von 2017 8,3 8,4 8,5 8,2 8,3 8,4 bis 2030 eine Entwicklung auf, 8,2 die den Aufwuchs der Kalten 8,2 8,0 Progression erkennen lässt. 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Erhöhte Aussagekraft hat Berechnungen mithilfe des ifo-Einkommenssteuer-Simulationsmodells (ifo-EMS) und dem Bruttoaufkommen aus der Faktisch Anonymisierten Lohn- und Einkommenssteuerstatistik aus dem Jahre 2010 unter Berücksichtigung steuer- ebenfalls die Berechnung, wel- tariflicher Änderungen. Basis für die Fortschreibung der Steuertarifindexierung bildet der Tarif des Jahres 2010. che Auswirkungen die kalte Ohne Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags. Progression auf die Steuer- Quelle: Dorn et al. (2016a, S. 19). © ifo Institut ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018 43
- 1 - FORSCHUNGSERGEBNISSE Tab. 3 Tab. 3 Eckwerte Tarif 2020 und Reformoptionena Tarif Grund- Ende 1. Ende 2. Ende 3. Eingangs- Grenzsteuersatz in % an der freibetrag Tarifzone Tarifzone Tarifzone steuersatz in Euro in Euro in Euro in Euro in % 1. Grenze 2. Grenze 3.Grenze Tarif 2020 9 000 13 996 54 949 260 532 14 24 42 45 (inkl. Soli) (14) (24) (44,3) (47,5) Reform- optionen I 9 000 25 000 58 000 150 000 14 30,5 45 49 II 9 000 25 000 58 000 150 000 14 24 45 49 III 9 000 16 000 58 000 150 000 14 24 45 49 IV 9 000 18 000 58 000 150 000 14 24 45 49 Quelle: Fuest et al. (2017, S. 8). des OECD-Raumes »erfolgreich verteidigt«.20 Die Ab- lichen Steuermindereinnahmen für jede Modellrech- gabenbelastung betrug für einen Alleinstehenden, nung abgeschätzt. der als Durchschnittsverdiener zu qualifizieren ist, Bei der Quantifizierung der Auswirkungen wur- mit 49,7% nochmals 0,2 Prozentpunkte mehr als den die Eckwerte, die in Tabelle 3 dargestellt sind, 2016. Die Quote liegt damit wieder weit über dem Ver- berücksichtigt. gleichswert für alle OECD-Staaten mit 35,9%. Bemer Hierzu ist anzumerken, dass für einen Tarif 2020 ein kenswert ist, dass die Quote in den USA lediglich Grundfreibetrag von 9 000 Euro nicht mehr realitätsnah 31,7% ausmacht. Die deutsche Politik sollte nicht nur sein dürfte. Die Annahmen zu den »Enden« der 1. und den deutschen Steuerzahler vermehrt zur Kasse bit- der 2. Tarifzone von 16 000 bzw. 58 000 Euro erscheinen ten, sondern auch die Begehrlichkeiten aus dem Aus- unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung, land abwehren. Solange jedoch der deutsche Steuer- die sich bei den zwischenzeitlichen Tarifverhandlungen zahler durch eine relative Überbesteuerung zu immer angedeutet haben, ebenfalls zu niedrig. mehr Steuern und Abgaben gezwungen wird, er- Gleichwohl bleiben die Modellrechnungen eine möglichen diese Überschüsse den Politikern freie reale Diskussionsgrundlage und können weiterentwi- Hand bei der Verteilung von Wohltaten. Die Begehr- ckelt werden, sobald zeitnahe Daten vorliegen. Bei der lichkeiten aus dem Ausland werden immer mehr Option I ist der Sprung auf einen Grenzsteuersatz von geweckt, wenn deutsche Politiker ihr Land als wohl- 30,5% an der Grenze 1 verfassungsrechtlich bedenk- habend darstellen und den Eindruck erwecken, dass lich, weil das Bundesverfassungsgericht »Sprünge« hier der Kösus allerorten beheimatet ist, zumal wenn innerhalb der Tarifstruktur bereits als nicht verfas- schamhaft verschwiegen wird, dass die Hälfte des sungskonform angesehen hat (vgl. Schöberle 2008, Arbeitseinkommens an den Staat abgeführt werden § 32a Rdnr 6). muss (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Mai 2018, S. 17). DER GRUNDFREIBETRAG ALS EIN ELEMENTARER BAUSTEIN DES TARIFS KONKRETE TARIFVORSCHLÄGE Wenn auch die Verortung des Grundfreibetrags (Bemes- Konkrete Tarifvorschläge sind bislang Mangelware.21 sungsgrundlage versus Tarif) nicht unumstritten ist, Zwar hatten fast alle Parteien im Wahlkampf bestimmte bildet die entsprechende Regelung eine der wenigen Eckwerte in die Diskussion eingebracht. Allerdings Normen, die verfassungsrechtlichen Vorgaben unter- erwiesen sich diese zumeist als wenig aussagefähig, liegt (umfassend vgl. Lehner 1993; Liesenfeld 2005). da keine Tarifstruktur erkennbar war. Soweit bekannt, Dieser Betrag ist regelmäßig anzupassen auf der wurde lediglich der »Niedersachsen-Tarif« von der FDP Basis der Preisentwicklungen für alle Bedarfe im sozial- mit konkreten belastbaren Daten veröffentlicht (vgl. hilferechtlichen Sinne. Die jüngsten Entwicklungen auf Fuest et al. 2017). dem Lebensmittelmarkt und vor allem auf dem Woh- Dem Vorschlag lag eine Studie des ifo Instituts, nungsmarkt dürfen nicht ignoriert werden. Daher ist es in dem mehrere alternative Reformoptionen darge- notwendig, das Existenzminimum nicht nur vergangen- stellt und quantifiziert wurden, zugrunde. Es ist wohl heitsorientiert zu ermitteln. Vielmehr müssen die rea- die einzige Studie, die in mehreren Modellrechnun- len Ausgaben für den jeweiligen Besteuerungszeitraum gen die konkreten Auswirkungen auf den Steuerzah- errechnet werden. Dabei darf die Wertermittlung nicht ler ermittelt. Außerdem werden auch die voraussicht- an der untersten Untergrenze ausgerichtet werden. Die Steuerpolitik darf auf dieser Ebene nicht die 20 Deutschland nimmt seit Jahren eine Spitzenposition in der OECD Realität ignorieren und sollte in Anlehnung an das ein und belastet seine Bürger überproportional (OECD 2017). 21 Zu »Leitlinien wissenschaftlicher Reformkonzepte für die Besteue- Sozialhilferecht und deren regionalen Orientierung rung von Einkommen« vgl. Drüen (2014, insb. S. 23–42). auch bei der Bemessung des Grundfreibetrags den 44 ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018
FORSCHUNGSERGEBNISSE regionalen Bedarf berücksichtigen. Die größte Sprei- Wunsch deutscher Politiker Vorbildcharakter entfalten zung ist inzwischen beim Wohnbedarf erkennbar. In sollte. den Ballungsräumen haben sich seit 1992 die Mieten in Es ist festzuhalten, dass eine umfassende Reform einem nicht vorhersehbaren Ausmaß erhöht. Während des Einkommensteuertarifs notwendig ist, da die Ver- das Sozialhilferecht diese Tatsachen beachtet, trifft werfungen innerhalb des Tarifs immer ausgeprägter die Besteuerung bereits die für die Wohnraumbeschaf- werden. Eine weitere Verzögerung der überfälligen fung notwendigen Einkommensteile. Es entsteht weit- Tarifanpassung wird die Verwerfungen noch mehr ver- gehend eine Doppelprogression. Da in Ballungsräu- stärken. Es sind mehrere Maßnahmen erforderlich, die men höhere Einkommen erzielbar sind, erwirtschaftet in mehreren Schritten realisierbar sind. der Steuerzahler in dieser Region ein Mehr an Einkom- In einem ersten Schritt sollten realitätsferne Para- men, gerät in eine höhere Progressionsstufe und wird meter der Tarifarchitektur an die Realität angepasst durch den Grundfreibetrag nur unzureichend entlastet, werden. Spielräume sind in Zeiten der Konjunktur da die erhöhten Lebenshaltungskosten unberücksich- vorhanden, solange diese nicht verspielt werden. Es tigt bleiben. Das Realeinkommen wird somit durch eine besteht allerdings die Gefahr der Blockade innerhalb Überbesteuerung verringert. Dieser Effekt ist bislang in der politischen Gruppierungen. der Tarifdiskussion nicht aufgegriffen worden und führt Verfassungsrechtlich geboten ist vordringlich eine zu einer weiteren heimlichen Steuererhöhung. realitätsnahe Normierung des Grundfreibetrags, der das tatsächliche Existenzminimum vor dem Entzug FAZIT UND AUSBLICK durch die Einkommensteuer verschont. Im Hinblick auf die Preissteigerungen in den beiden letzten Jahrzehn- Vor der Bundestagswahl bestand weitgehend Kon- ten ist an erster Stelle der Wohnbedarf in angemesse- sens unter den politischen Parteien, dass die Steuer- ner Weise zu berücksichtigen. Dabei ist zu beachten, belastung der Steuerzahler mit geringen und mittle- wie das Wachstum in den Ballungsräumen und den ren Einkommen verringert werden muss. Da das Steu- übrigen städtischen Regionen seine Wirkung entfaltet eraufkommen seit Jahren von einem Rekord zum hat. Es muss auch ein dauerhaftes Konzept für die Tarif anderen eilt, sind Steuerentlastungen überfällig. Bei anpassungen entwickelt werden. Es darf nicht weiter- gewissenhaftem Handeln der Volksvertreter und der hin zu willkürlich bestimmten Zeiten eine Anpassung Verwaltungen bestehen erhebliche Spielräume für vorgenommen werden. Entlastungsmaßnahmen. Der derzeitige Tarif ist vor allem in nachstehenden Das im August 2017 verkündete steuerpolitische Bereichen zu korrigieren: Konzept der Bundesregierung, das »eine verlässli- che Steuerpolitik, die Planungssicherheit … und ein – Grundfreibetrag, leistungsgerechtes Steuerrecht, das … zugleich die – Grenzen der Tarifzonen, Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit in den Mittel- – Eingangssteuersatz und punkt stellt« (Bundesregierung 2017, S. 29) ankündigte, – Grenzsteuersätze zwischen Eingangssteuersatz lässt auf sich warten. und Spitzensteuersatz. Obwohl Ankündigungen von Volksvertretern nicht rechtsverbindlich und einklagbar sind, hatten die Wäh- Auf der Basis der vom ifo Institut entwickelten Tarif ler an eine neue Bundesregierung hohe Erwartungen optionen soll durch Fortschreibung von einigen Para- hinsichtlich künftiger Einkommensteuerentlastungen metern eine Annäherung an eine realitätsnahe Tarif geknüpft. Insbesondere wurde von Beziehern kleiner architektur vorgeschlagen werden. Hierdurch soll die und mittlerer Einkommen eine merkliche Entlastung zwischenzeitlich eingetretene wirtschaftliche Ent- erwartet, zumal heimliche Steuererhöhungen, Mittel- wicklung Berücksichtigung finden. Nachdem das Wirt- standsbauch und Begrenzung von Abzugsbeträgen schaftswachstum, das Lohnniveau und das Preisniveau zu einer Überbesteuerung bei Arbeitnehmern geführt merklich zugenommen haben, bedürfen die Eckwerte hatten. einer Ergänzung. In Anbetracht der Tatsache, dass die Wie die jüngst veröffentlichten Taxing Wages 2018 Sozialleistungen und das gesamte Niveau für existenz- der OECD belegen, bleibt der deutsche Steuerzahler sichernde Ausgaben erheblich gestiegen sind, sollten globaler Zahlmeister. 2017 nahm der Staat wieder »die mindestens folgende Eckwerte ab 2019/2020 bei der Hälfte des Arbeitnehmereinkommens« (Frankfurter All- Tarifgestaltung verwendet werden: gemeine Zeitung, 11. Mai 2018, S. 17). Die Steuer- und Abgabenlast betrug in Deutschland für Alleinstehende – Grundfreibetrag 12 000 Euro, 49,7% des Bruttoverdienstes. Der Vergleichswert für – Ende der 1. Tarifzone 30 000 Euro, alle OECD-Staaten betrug 35,9%, für die USA 31,7%. – Ende der 2. Tarifzone 60 000 Euro, Es ist verständlich, dass die relative Überbesteue – Ende der 3. Tarifzone 120 000 Euro und rung in Deutschland, die dem Fiskus vor allem im – Eingangssteuersatz 10%. Bereich der Lohnsteuer kontinuierlich wachsende Ein- nahmen zuführt, weltweit Begehrlichkeiten weckt, Die Grenzsteuersätze sind harmonisch unter Vermei- zumal die »Schwarze Null« made in Germany nach dem dung von Tarifsprüngen anzupassen. Weiterhin müsste ifo Schnelldienst 11 / 2018 71. Jahrgang 14. Juni 2018 45
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