Plädoyer für eine realitätsnahe Architektur des Einkommen steuertarifs - ifo Institut

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

Dieter Dziadkowski*

Plädoyer für eine realitätsnahe
Architektur des Einkommen­
steuertarifs

Nachdem Deutschland seit dem 14. März 2018 eine neue Bundesregierung besitzt und wieder
ein Hanseat das Bundesfinanzministerium (BMF) führt, erwartet der inländische Steuerzah­
ler die Umsetzung der steuerpolitischen Wahlversprechungen. Bekanntlich wurden von den
die Bundesregierung tragenden Parteien Einkommensteuerentlastungen angekündigt. Da
der Koalitionsvertrag, der eine gewisse Verbindlichkeit besitzen dürfte und am 12. März 2018
von CDU/CSU und SPD unterzeichnet wurde, entsprechende steuerpolitische Maßnahmen
unerwähnt gelassen hat, besteht die Notwendigkeit, dem Gesetzgeber Hinweise für eine ver­
fassungskonforme Neugestaltung des Einkommensteuertarifs zu geben, zumal bei fast sämt­
lichen Tarifänderungen in der Vergangenheit Strukturschwächen aufgetreten sind.
Hauptschwächen der derzeitigen Tarifgestalt sind die weitgehende Entfernung der Tarif­
architektur von einer Berücksichtigung der realen Einkommensentwicklung sowie von einer
sachgerechten realitätsnahen Normierung des zu verschonenden existenznotwendigen Ein­
kommens durch den Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 EStG. Der Verfasser unternimmt
daher nochmals den Versuch, einen Vorschlag für einen einfachen und »gerechten« Einkom­
mensteuertarif zu unterbreiten, zumal sich die jeweiligen Steuergesetzgeber in den letzten
Jahrzehnten häufig sehr zögerlich verhalten haben und immer wieder eine mögliche Rüge
des Bundesverfassungsgerichts in Kauf genommen haben. Sofern in der neuen Legislatur­
periode wieder keine angemessene Entlastung der inländischen Steuerzahler realisiert wird,
wäre damit das Ende der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit besiegelt.
Im Übrigen ist zu vermerken, dass die deutschen Steuerzahler im OECD-Raum wieder einen
Spitzenplatz im Hinblick auf die Steuer­- und Abgabenbelastung einnehmen.

RÜCKSCHAU AUF SECHS JAHRZEHNTE                                         für einen Einkommensteuertarif geschaffen wurden,
TARIFGESTALTUNG                                                        der erwerbstätige Eheleute nicht mehr diskriminierte
                                                                       und somit nicht mehr verfassungswidrig gestaltet wer-
Bekanntlich war die Tarifgestaltung im Rahmen der                      den durfte. Der frühere »Einheitstarif« wurde durch
Ehegatten- und der Haushaltsbesteuerung bis 1957                       einen Grund­tarif für Einzelpersonen und einen Split-
verfassungswidrig (vgl. Bundesverfassungsgericht                       tingtarif für Eheleute – und inzwischen auch für andere
1957, S. 193–202). Die mit Wirkung vom 1. Januar 1958                  Partnerschaften – abgelöst. Da im Laufe der Jahre ab
notwendig gewordene Tarifreform führte zu einer                        ca. 1960 die Zahl der berufstätigen Ehefrauen sprung-
gänzlich neuen Tarifstruktur. Allerdings war die Neu-                  haft anstieg, bildete das neue Splittingverfahren einen
gestaltung durch merkliche Einnahmeausfälle für den                    gewissen Schutz vor Überbesteuerung von Familien.
Fiskus vorbelastet. Dem Änderungskonzept waren                         Dem Splittingverfahren lag der Typ der erwerbstätigen
daher enge Grenzen gesetzt (vgl. Lehner 1993). Es ist                  Eheleute zugrunde.
zu beachten, dass erst vor 60 Jahren1 die Grundlagen                        Der ursprüngliche Tarif 19572 erfuhr mehrere
                                                                       Veränderungen, bis 1990 zu einer linear-progressi-
*
   Prof. Dr. Dieter Dziadkowski war u.a. von 1970 bis1973 wissen-      lich dem heutigen Kinderfreibetrag) gewährt. Das BVerfG betonte in
schaftlicher Mitarbeiter beim Finanzausschuss des Deutschen            seiner Entscheidung vom 17. Januar 1957, dass die Schlechterstel-
Bundestages und später u.a. Vorsitzender der Vereinigung zur wis-      lung der Ehegatten durch die Zusammenveranlagung zur Einkom-
senschaftlichen Pflege des Umsatzsteuerrechts e.V., Regensburg/        mensteuer verfassungswidrig sei und zur Gleichberechtigung der
München, sowie Mitglied der Ursprungslandkommission und der            Frau gehöre, »daß sie die Möglichkeit hat, mit gleichen rechtlichen
Einkommensteuer-(Bareis)-Kommission.                                   Chancen marktwirtschaftliches Einkommen zu erzielen Wie jeder
1
   Vor Einführung des Splittingtarifs ab 1958 wurde das Gesamtein-     männliche Staatsbürger«. (Bundesverfassungsgericht 1957, S.202)
                                                                       2
kommen von Eheleuten einem progressiv gestalteten Tarif unterwor-         Vgl. Bareis (1999); Dziadkowski (2003); Hey (2015), § 3 Rz. 163 f.
fen und für den Ehepartner nur ein relativ geringer Freibetrag (ähn-   Für die Zeit bis 1949 Bühner (1990).

                                                                                        ifo Schnelldienst   11 / 2018   71. Jahrgang   14. Juni 2018   35
FORSCHUNGSERGEBNISSE

                                                                                             Tab. 1

     ven Gestaltung übergegangen wurde.3 Diese Archi-           Tab. 1
     tektur ist bis heute weitgehend beibehalten worden.         »Existenzminimum« vor Entscheidung des BVerfG
     In der politischen Diskussion kreisten die Auseinan-         Periode                             Existenzminimum (in DM)
     dersetzungen zumeist um den »Spitzensteuersatz«              1958–1974               =           1 680
     (Beginn der oberen Proportionalzone), seltener um            1975–1978               =           3 000
                                                                  1979–1980               =           4 200
     den Grundfreibetrag, der das existenznotwendige
                                                                  1981–1985               =           4 212
     Einkommen vor dem Entzug durch Einkommensteuer               1986–1987               =           4 536
     verschonen soll.4 Da die Entscheidungsträger nie in          1988–1989               =           4 752
     der Nähe des Grundfreibetrags oder des »Mindest-             1990–1995               =           5 616
     steuersatzes« angesiedelt waren, mangelt es ihnen           Quelle: Zusammenstellung des Autors.

     an Erfahrung auf diesen Einkommensebenen, zumal
     wenn sie noch in den Genuss steuerfreier Einkünfte mission und erteilte dieser den Auftrag, Vorschläge
     gelangen können.5                                          für einen »neuen« Einkommensteuertarif zu erarbei-
          An dieser Stelle soll bereits darauf hingewiesen ten, der die verfassungsrechtlichen Vorgaben insbe-
     werden, dass der Beginn der oberen Proportional- sondere hinsichtlich der Freistellung des Existenz­
     zone (Spitzensteuersatz) bei Steuersatzänderungen minimums und der Vermeidung gleichheitswidriger
     vielfach unverändert blieb oder nur geringfügig verän- Progressionssprünge beachten sollte. Im Dezember
     dert wurde. So verharrte die Zonengrenze von 1958 bis 1994 legte die Kommission »Thesen zur Freistellung
     1974 bei 110 040 DM. 1975 wurde sie erstmals der rea- des Existenzminimums ab 1996 und zur Reform der
     len Einkommensentwicklung und Preissteigerung auf Einkommensteuer« vor (vgl. Einkommensteuerkom-
     130 020 DM angepasst. Seither wurde sie in Intervallen mission 1995).
     immer wieder gesenkt. So ist das heutige Ergebnis ent-            Da der seit 1990 geltende geradlinige Verlauf des
     standen, dass der Spitzensteuersatz nicht nur Spitzen- Tarifs erhalten bleiben sollte und Möglichkeiten der
     verdiener, sondern mehr und mehr die Mittelschicht Gegenfinanzierung durch Verbreiterung der Bemes-
     erfasst.                                                   sungsgrundlage aufzuzeigen waren, wurden auch
          Zusätzlich zur Zementierung der Grenze zur obe- Vorschläge zur »Herausnahme von Lenkungsnormen
     ren Proportionalzone begnügte sich der Einkommen- aus dem Einkommensteuerrecht« (These 4) und zur
     steuertarif mit einer sehr geringen »Steuerfreistellung »Abschaffung von Steuerbefreiungen und Steuermäßi-
     des existenznotwendigen Lebensbedarfs«.6                   gungen« (These 6) (vgl. Einkommensteuerkommission
          Nachstehend soll dargelegt werden, wie sich der 1995, S. 32 f., S. 37–46) unterbreitet.
     Grundfreibetrag von 1958 bis 1995 entwickelt hatte, da            Der an den zu erwartenden sozialhilferechtlichen
     dieser ebenfalls die Steuerbelastung in allen Einkom- Leistungen an Bedürftige ab 1996 orientierte Freistel-
     mensbereichen beeinflusst (vgl. Tab. 1). Eine ähnliche lungsbetrag (Grundfreibetrag nach§ 32 a Abs. 1
     Entwicklung zeichnet sich wieder für die in Städten EStG) wurde mit ca. 13 000 DM ermittelt. Der Gesetz­
     und Ballungsräumen lebenden Steuerbürger zumin- geber beschloss sodann schließlich einen Betrag von
     dest seit 2008 ab.                                         12 095 DM. Aus Abbildung 1 ist erkennbar, in welchem
          Nachdem das BVerfG mit Beschluss vom 25. Sep- Ausmaß eine Überbesteuerung der Steuerzahler seit
     tember 1992 (vgl. BVerfG FN 4) ein Machtwort gespro- Jahrzehnten vorgenommen wurde, da der Grundfrei-
     chen hatte und der Gesetzgeber verpflichtet wurde, betrag langfristig weit unter den sozialhilferechtli-
     bis 1996 die Steuerfreistellung in verfassungskon- chen Leistungen lag.
     former Weise zu regeln, berief
     die Bundesregierung die Ein-        Abb. 1
     kommensteuer-(Bareis-)Kom-         Entwicklung des Grundfreibetrags für die Jahre 1958 bis 1996
     3
        Mit dem Steuerreformgesetz vom
     25. Juli 1988 wurde der dreistufige                 1958–1964          1 680
     Gesamtplan einer Steuerentlastung
     beschlossen und ab 1990 der linear-                 1965–1974          1 680
     progressive Tarif eingeführt.
     4
        Das BVerfG stellte mit Beschluss                 1975–1977                   3 000
     vom 25. September 1992
                                                                1978                   3 300
     BStBl. II, 1993, 413, fest, dass der
     existenznotwendige Grundbedarf (Exis-               1979–1980                          3 690
     tenzminimum) von einer Einkommens-
     besteuerung verschont werden muss,                  1981–1985                             4 212
     da Erwerbseinkommen bis zur Höhe
     von Sozialleistungen nicht steuerbar                1986–1987                              4 536
     sein kann. Umfassend hierzu Lehner
     (1993).                                             1988–1989                                  4 752
     5
        Es sei nur auf die steuerfreien Auf-
     wandspauschalen und geldwerten                        1990–995                                         5 616
     Vorteile hingewiesen.
     6
        Vgl. Einkommensteuerkommission                          1996                                                                         12 095
     (1995). Vorher bereits u.a. von Bockel-
     berg (1971), Dziadkowski (1985), Lang                              0           2 000           4 000           6 000   8 000   10 000      12 000   14 000 DM
     (1987), Kirchhof (1985), Mellinghoff
     (1989).                                            Quelle: Dziadkowski (1996, S. 1199).                                                             © ifo Institut

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

EINNAHMENMAXIMIERUNG VERSUS                                         REFORMNOTWENDIGKEIT FÜR DEN
BESTEUERUNG NACH DER LEISTUNGSFÄHIGKEIT                             EINKOMMENSTEUERTARIF

Der Gesetzgeber befand sich in einem Dilemma,                       Vor Jahresfrist hat das Institut Finanzen und Steuern
da er einerseits einen ungerecht gestalteten Tarif                  vor dem Hintergrund des anstehenden Wahlkampfs zur
ändern musste, andererseits aber auch Steuerein-                    Bundestagswahl 2017 Fragen hinsichtlich von Änderun-
nahmen verplant hatte. Durch das lange Zögern der                   gen des Einkommensteuertarifs aufgeworfen.9 Im Vor-
notwendig gewordenen Anpassung des Grundfreibe-                     dergrund standen eine bessere Ausbalancierung des
trags – er lag um mehr als 50% unter den Sozialhilfe-               Tarifs unter den Aspekten der Reduzierung oder Besei-
sätzen – hatte sich ein merklicher Stau gebildet. Da                tigung des sog. »Mittelstandsbauchs und der Entlas-
eine sparsame Haushaltsführung nur schwer reali-                    tung insbesondere mittlerer Einkommensbezieher«
sierbar war, wurde der Freistellungsbetrag an der                   (Houben und Chirvi 2017). Dabei wurde u.a. den zu
untersten Grenze bestimmt. Zum Teil wurde das                       erwartenden Aufkommenswirkungen bei der gänzli-
Minus im Wege der Tarifgestaltung bei der Festle-                   chen Abschaffung des Mittelstandsbauches besondere
gung von Steuersätzen neutralisiert. Weil der For­                  Aufmerksamkeit geschenkt. Es sollte u.a. der Versuch
meltarif nicht leicht durchschaubar war, blieben                    unternommen werden, hohe Aufkommenseinbußen
die Maßnahmen der Öffentlichkeit weitgehend                         zu neutralisieren.10 Es erscheint wie ein Naturgesetz,
verborgen.                                                          dass eine gerechtere Besteuerung zu merklichen Ein-
     Bis heute leidet die Anpassung des Grundfreibe-                nahmenausfällen führen muss.
trags darunter, dass die Ermittlungen zum Existenz-                      Es sollte jedoch bedacht werden, dass Verzöge-
minimum nicht realitätsnah durchgeführt werden                      rungen bei Tarifanpassungen automatisch zu stetig
(können). Bundeseinheitliche Durchschnittswerte                     steigenden Aufkommensminderungen führen müs-
benachteiligen alle Einkommensbezieher, die in städti-              sen, weil durch Wachstum und Einkommenserhöhun-
schen Räumen – hier insbesondere in Ballungsräumen                  gen bei einem progressiv gestalteten Tarif der Stau von
– leben.7                                                           Jahr zu Jahr wächst und der Reformbedarf überpro-
     Neben der Überbesteuerung durch zu niedrige                    portional zunimmt. Würde der Tarif kontinuierlich den
Grundfreibeträge trat mehr und mehr eine weitere                    realen Bedingungen angepasst, könnten »schmerz-
Überbesteuerung durch Nichtanpassung der Tarifge-                   hafte« Aufkommenseinbußen vermieden werden. Es
staltung. Bekanntlich werden Einkommensbezieher                     zeigt sich jedoch, dass die Gesetzgeber immer wie-
dem Spitzensteuersatz unterworfen, die weit entfernt                der Steuerkorrekturen solange hinauszögern, bis die
von der Situation eines Spitzenverdieners rangieren.                Grenze zur Verfassungswidrigkeit in greifbarer Nähe
Hinzu kommt, dass durch die gradlinige Tarifstruk-                  angelangt ist. Hier sei nur an die Geschichte des Grund-
tur auch die unterhalb der oberen Proportionalzone                  freibetrags erinnert. Das Mittel der sparsamen Haus-
angesiedelten Steuerzahler relativ hoch besteuert                   haltsführung wird nicht eingesetzt, wodurch das Haus-
werden.                                                             haltsrisiko stetig steigt und immer wieder zu neuen
     Die Tariffindung durch den Gesetzgeber ori-                    Steuerfindungsaktivitäten zwingt.11
entiert sich an einem erwünschten Steuerauf-                             Äußersten Bedenken muss die derzeitige Tarif-
kommen. Er strebt daher eine Einnahmenmaxi­                         struktur begegnen. Der raketenartige Anstieg des
mierung an. Die Lohn- und Einkommensteuer bildet                    Grenzsteuersatzes nach Verlassen der Region »Grund-
hierfür ein geeignetes Fundament, da durch den weit-                freibetrag« und der sich anschließenden Einkommens-
gehenden Quellenabzug die Steuern zeitnah einge-                    region bewirkt, dass insbesondere bei geringen und
hen und die Liquidität der Haushalte sicherstellen.                 mittleren Einkommen übermäßig Kaufkraft abge-
Weitere Über­besteuerungselemente sollen in dieser                  schöpft wird.
Darstellung nicht erörtert werden. Allerdings stellt die                 Aus diesem Grunde war im Wahlkampf bei vielen
stetig zunehmende Begrenzung bei Abzugsbeträgen,                    Politikern die Einsicht gewachsen, dass »Steuererleich-
die im Rahmen der Ermittlung der Bemessungsgrund-                   terungen für geringe und mittlere Einkommen« notwen-
lage (Werbungskosten, Sonderausgaben, Freibeträge                   dig geworden waren. So versprach auch die Bundes-
usw.) zu berücksichtigen sind, eine verdeckte Steu­                 kanzlerin am 22. September 2017 auf dem Marienplatz
ererhöhung dar.8                                                    in München entsprechende »Steuererleichterungen«.

                                                                    9
                                                                       Vgl. Houben und Chirvi (2017, S. 29) insbesondere zu den Grenz-
                                                                    und Durchschnittssteuersätzen des Tarifs 2017.
                                                                    10
                                                                       Die Verfasser zeigten u.a. auch Maßnahmen zur aufkommens-
7
   Der Grundfreibetrag, der die Verschonung des Existenzminimums    schonenden Reform (S. 39 ff.) auf. Allerdings sollte m.E. die Gegenfi-
sichern soll, wird regelmäßig vergangenheitsorientiert angepasst.   nanzierung nicht nur auf die Einkommensteuer ausgerichtet werden.
Selbst bekannte Preiserhöhungen (z.B. im administrativen Bereich)   Wenn der Fiskus durch verbesserte Kontrollen z.B. die Mehrwert-
werden zu spät berücksichtigt und daher für den Besteuerungszeit-   steuerlücke verringern würde, könnte ein hinreichender Ausgleich
raum zu gering bemessen. Hierdurch wird ebenfalls eine heimliche    geschaffen werden. Bekanntlich beträgt die Mehrwertsteuerlücke in
Steuererhöhung realisiert.                                          der EU bereits seit 2014 jährlich ca. 160 Mrd. Euro (vgl. EU-Kommissi-
8
   Hier seien nur exemplarisch die Begrenzung bestimmter Wer-       on, Pressemitteilung vom 6. September 2016).
                                                                    11
bungskosten (Fahrtkosten), Sonderausgaben (Krankenkassenbeiträ-        In jüngerer Zeit sind insbesondere Kommunen mit kreativen Steu-
ge usw./Höchstbeträge), Pauschbeträge für Menschen mit Behinde-     erfindungsaktivitäten in Erscheinung getreten (vgl. hierzu u.a. Musil
rungen nach § 33b EStG (seit 1975 unverändert !!!) genannt.         und Schulz 2017).

                                                                                     ifo Schnelldienst   11 / 2018   71. Jahrgang   14. Juni 2018   37
FORSCHUNGSERGEBNISSE

     Diese Auffassung wurde von fast allen Wahlkämpfern                 DIE REALISIERBAREN ENTLASTUNGEN BEI DER
     geteilt. Nunmehr ist die Enttäuschung bei den inländi-             EINKOMMENSTEUER
     schen Steuerzahlern, die nicht die Privilegien ausländi-
     scher Großunternehmen genießen können, sehr groß.                  Steuerliche Entlastungen geringer und mittlerer Ein-
                                                                        kommen wurden im Wahlkampf von allen Parteien
     STEUERPLÄNE DER NEUEN BUNDESREGIERUNG                              angekündigt. Nach den Ergebnissen der letzten Jahre
                                                                        und dem voraussichtlichen Steueraufkommen in die-
     Die Steuerpläne der Parteien spielten im Wahlkampf                 sem Jahr sind Entlastungen bei entsprechender Haus-
     eine große Rolle. Bei vielen Wählern wurden Hoffnun-               haltsdisziplin leicht realisierbar, zumal eine Verrin­
     gen geweckt. Das Abflachen des Mittelstandsbauchs,                 gerung der Kaufkraftabschöpfung zusätzlich Wachs-
     der inzwischen schon gehobene Geringverdiener                      tumsimpulse freisetzen würde.
     belastet, und ein späteres Einsetzen des Spitzensteuer-                 Es muss beachtet werden, dass Tarifanpassun-
     satzes werden in den Vereinbarungen der Regierungs-                gen nicht Steuersenkungen darstellen, wie es von
     parteien nicht mehr erwähnt. Lediglich eine irgend-                bestimmten politischen Kreisen behauptet wird. Die
     wann und irgendwie geartete Korrektur beim Solida-                 realisierbaren Entlastungen sollen lediglich die in der
     ritätszuschlag wurde vereinbart. Weitere Maßnahmen                 Vergangenheit vollzogenen Überbesteuerungen rück-
     sind entgegen den Ankündigungen im Wahlkampf bis-                  gängig machen.
     her nicht in Aussicht gestellt worden.                                  Bekanntlich tritt durch die kalte Progression und
          In der Februar-Umfrage des Ökonomenpanels von                 die derzeitige Tarifstruktur mit ihren realitätsfernen
     ifo und FAZ zeigte sich eine Mehrzahl der Teilnehmer               Grundfreibeträgen und zementierten Zonengrenzen
     weitgehend enttäuscht (vgl. Gäbler et al. 2018). Eine              innerhalb des Tarifgebäudes eine Nominalbesteue-
     große Mehrheit der befragten Volkswirtschaftsprofes-               rung ohne Berücksichtigung der Preisveränderungen
     soren hält die nunmehr angekündigte Abgabenentlas-                 in Form einer teilweisen Überbesteuerung ein. Beson-
     tung für zu wenig ambitioniert. Es ist m.E. ebenfalls zu           dere Schwachstellen bei der Tarifarchitektur bilden fol-
     berücksichtigen, dass zahlreiche administrative Preise             gende Bereiche:
     bereits wieder gestiegen sind und weitere Erhöhungen
     zu erwarten sind.                                                  –    Grundfreibetrag (Nullzone) in der Nähe der Ar-
          Entgegen den Wahlankündigungen und Er-                             mutsgrenze
     wartungen der Steuerbürger enthält der Koalitions-                 –    Sprung des Grenzsteuersatzes oberhalb der Null-
     vertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 7. Feb-                           zone (Progressionszone 1)
     ruar 2018 mit dem Titel »Ein neuer Aufbruch für                    –    Anstieg des Grenzsteuersatzes oberhalb der
     Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein                        Progressionszone 1
     neuer Zusammenhalt für unser Land« keine Anhalts-                  –    Rückwirkung zementierter Freigrenzen und Frei-
     punkte für Einkommensteuerentlastungen. Bei einem                       beträge auf den Tarif (letzte Anpassung zum Teil
     Umfang des Vertragswerks von 176 Seiten überrascht                      1975!!!)
     das den Bürger sehr.                                               –    Einschränkungen bei Abzugsbeträgen (z.B. Kran-
          Anzumerken ist außerdem, dass die Bundesregie-                     kenkassenbeiträge als Sonderausgaben) mit Rück-
     rung im August 2017 anlässlich der Veröffentlichung des                 wirkung auf den Tarif
     26. Subventionsberichts ein steuerpolitisches Konzept
     in Aussicht gestellt hatte, das die Besteuerung nach der           Auf allen Ebenen besteht dringlicher Korrekturbedarf.
     Leistungsfähigkeit »in den Mittelpunkt stellen« wollte,            An dieser Stelle soll lediglich auf Möglichkeiten hinge-
     zumal »Entlastungen im Bereich der Einkommensteuer                 wiesen werden, die in einem ersten Schritt noch für das
     zur Stärkung von Binnenkonjunktur und Arbeitsan­                   Jahr 2018 (Veranlagungszeitraum) realisierbar sind.
     reizen« (Bundesregierung 2017, S. 29) beitrage.                    Bekanntlich könnte der Steuerbedarf auch dadurch
          Da das Steueraufkommen als Folge des Wirt-                    gesenkt werden, dass der Haushaltsdisziplin erhöhte
     schaftswachstums (vgl. Projektgruppe Gemeinschafts-                Aufmerksamkeit geschenkt wird. So könnten u.a. Aus-
     diagnose 2018) und der bereits realisierten und noch zu            gaben, die durch Spätfolgen verfehlter Kolonialpolitik
     erwartenden Lohnzuwächse weiterhin auch 2018 stark                 verursacht sind, reduziert werden.13
     steigen wird, ist der notwendige Spielraum für Entlas-
     tungen noch in diesem Jahr gegeben. Allein die Lohn-               DERZEITIGE TARIFSTRUKTUR
     steuer wird die 250-Mrd.-Euro-Grenze überschreiten.12
     Wie bereits im Vorjahr mehrfach dargelegt wurde, sind              Seit Jahrzehnten wird die Einkommensteuer in
     Entlastungen bei der Einkommensteuer möglich. Vor                  Deutschland bekanntlich auf der Basis eines Formel­
     allem Tarifanpassungen sollten eine Überbelastung                  tarifs ermittelt (vgl. Bareis 1999; Hey 2015, S. 460).
     der Erwerbstätigen verringern (vgl. Bach 2017; Fuest,
     Kauder und Potrafke 2017).                                         13
                                                                           Bekanntlich zeigen sich die Spätfolgen verfehlter Kolonialpolitik
                                                                        in den Flüchtlingsströmen aus ehemaligen Kolonien und Mandaten,
     12
        Das Bundesministerium der Finanzen (2018) rechnet mit Steuer­   die von ihren ehemaligen Kolonialherren nicht ausreichend unter-
     einnahmen von insgesamt 772,1 Mrd. Euro nach 734,5 Mrd. Euro       stützt wurden. Vgl. hierzu Marshall (2017), insbesondere zum Nahen
     2017 (+ 5,1%).                                                     Osten (157 ff.).

38   ifo Schnelldienst   11 / 2018   71. Jahrgang   14. Juni 2018
FORSCHUNGSERGEBNISSE

    Ab 1. Januar 2018 ist die Tarifstruktur in § 32a                       zensteuersatz greift, bei fast jeder Steuer-(satz-)ände-
Abs. 1 EStG wie folgt bestimmt:                                            rung gesenkt. Die Folge war und ist eine verschärfende
                                                                           Steuerbelastung hinsichtlich des realen Einkommens-
1.   bis 9 000 Euro (Grundfreibetrag: 0;                                   zuwachses Vor allem wurden Einkommensbezieher
2.   von 9 001 Euro bis 13 996 Euro (997,8 • y + 1 400) • y;               aus dem mittleren Bereich immer häufiger zu Spitzen-
3.   von 13 997 Euro bis 54 949 Euro: (220,13 • z + 2 397)                 verdienern »befördert«. Durch diesen Aufkommens­
     • z + 948,49;                                                         zuwachs, der das Steueraufkommen künstlich auf-
4.   von 54 950 Euro bis 260 532 Euro: 0,42 • x – 8 621,75;                blähte, wurden die Gebietskörperschaften auch zu
5.   von 260 533 Euro an: 0,45 • x – 16 437,7.                             inflationären Ausgaben verleitet.
                                                                                Exemplarisch sei in Tabelle 2 auf einige Statio-
Die Größe »y« ist ein Zehntausendstel des den Grund-                       nen der »Grenzverschiebung« in der Vergangenheit
                                                                            Tab. 2
freibetrag übersteigenden Teils des auf einen vol-                         hingewiesen.
len Eurobetrag abgerundeten zu versteuernden Ein-                          Tab. 2
kommens. Die Größe »z« ist ein Zehntausendstel des                         Entwicklung der oberen Proportionalzone von 1958–2003
13 996 Euro übersteigenden Teils des auf einen vollen                        Jahr                                  Grenze
Eurobetrag abgerundeten zu versteuernden Einkom-                             1958–1974                             110 040 DM
mens. Die Größe »x« ist das auf einen vollen Eurobetrag                      1975–1989                             130 020 DM
abgerundete zu versteuernde Einkommen. Der sich                              1990–1999                             120 042 DM
                                                                             2000                                  114 695 DM
ergebende Steuerbetrag ist auf den nächsten vollen
                                                                             2001                                  107 567 DM
Eurobetrag abzurunden.                                                       2002                                  55 007 Euro
     In Höhe des Grundfreibetrags von 9 000 Euro                             2003                                  52 292 Euro
wird keine Einkommensteuer erhoben (sog. Null-                             Quelle: Zusammenstellung des Autors.
zone). Anschließend besteht der Tarif aus vier Zonen,
die unterschiedlich strukturiert sind. Der Tarif gilt im                        Seither bewegt sich die Grenze zur oberen Pro-
gesamten Bundesgebiet gleichermaßen. Auf die unter-                        portionalzone im Bereich 50 000 Euro + x. Derzeit ist
schiedlichen Preisverhältnisse in den Regionen wird im                     sie bei 54 950 Euro fixiert. Bei steigenden Nominal-
Gegensatz zum Sozialhilferecht nicht abgestellt.                           einkommen nimmt die Anzahl der »Spitzenverdiener«
     Die geringen Masseneinkommen werden nach                              immer zu, ohne dass reale Einkommenszuwächse zu
Überschreiten der Nullzone in Zone 1 (9 001 bis                            verzeichnen sind.
13 396 Euro) durch eine »beschleunigte« Progres-                                Durch eine »Treppentechnik« ist es dem Gesetz­
sion belastet. Die Einkommen der Zone 2 (13 397 bis                        geber immer wieder gelungen, die Einnahmenausfälle
54 949 Euro) unterliegen ebenfalls einer »spürbaren«                       in Grenzen zu halten. Anlässlich einer Verringerung des
Progression.                                                               jeweiligen Spitzensteuersatzes wurde die Grenze zur
     Seit 1990 gilt in Deutschland bekanntlich ein line-                   oberen Proportionalzone abgesenkt (vgl. Abb. 2).
ar-progressiver Formeltarif, der in der Weise struktu-                          Dadurch wurde ein Teil der durch die Steuersatz-
riert ist, dass de facto fünf Einkommenszonen geschaf-                     senkung eintretenden Einnahmenreduzierungen neu-
fen wurden. Sie bestehen aus folgenden Bereichen:                          tralisiert. Insbesondere in der Zeit von 1996 bis 2005
                                                                           wurde diese »Technik« erfolgreich praktiziert.
–    Nullzone = Grundfreibetrag,                                                Bei fast jeder Senkung des Spitzensteuersatzes
–    Übergangszone,                                                        in diesem Zeitraum wurde der Kreis der »Spitzenver­
–    linear-progressive Zone,                                              diener« dadurch vergrößert, dass die nominale Grenze
–    obere Proportionalzone,                                               zur oberen Proportionalzone ohne Berücksichti-
–    Reichensteuerzone.
                                      Abb. 2
                                      Entwicklung der oberen Proportionalzone von 1996–2005
Der Tarif sollte grundsätzlich
der wirtschaftlichen Entwick-
                                                         1996–1999               2000            2001–2003              2004            Ab 2005
lung in Deutschland regelmä-                               53,0%                51,0%              48,5%               45,0%             42,0%
ßig angepasst werden.                    61 376 €
     Allerdings kann man sich
nicht des Eindrucks erwehren,                                 58 643 €
dass nicht eine Besteuerung
nach der wirtschaftlichen Leis-
tungsfähigkeit erreicht werden
                                                                                    55 007 €
sollte, sondern vielmehr die
Aufkommensstabilität im Vor-
dergrund stand.                                                                                       52 152 €
     Insbesondere wurde der
Beginn der oberen Propor­             DM-Beträge sind in Euro umgerechnet.
tionalzone, ab der der Spit-          Quelle: Dziadkowski (2008, S.182).                                                                        © ifo Institut

                                                                                               ifo Schnelldienst    11 / 2018   71. Jahrgang   14. Juni 2018     39
FORSCHUNGSERGEBNISSE

     gung der realen Einkommensentwicklung verändert                     Allerdings hatte sich der Gesetzgeber bei der
     wurde.                                                         Tarifreform 1957 (Einführung des Splittings) aus haus-
          Da gleichzeitig ab 1996 die vom Bundesverfas-             haltspolitischen Überlegungen entschieden, den
     sungsgericht erzwungene Freistellung des Existenzmi-           Grundfreibetrag in die Tarifvorschrift des § 32aEStG
     nimums zu Anhebungen des in § 32a EStG verankerten             einzubinden und somit den Einnahmenausfall in
     Grundfreibetrags führte, wurde der Bereich zwischen            Grenzen zu halten.14
     Grundfreibetrag und oberer Proportionalzone immer                   Der Einkommensteuertarif stellt einen Kompro-
     mehr reduziert und dieser Tarifbereich mehr und mehr           miss dar, der dem Anspruch des Staates auf Deckung
     »gestaucht«.                                                   seines Finanzbedarfs, den wirtschaftlichen Erforder-
          Diese Vorgehensweise hat dazu geführt, dass sich          nissen und den rechtlichen Schranken, die sich aus
     die ursprüngliche Tarifstruktur immer stärker verän-           dem Zusammenwirken mehrerer steuerlicher Belas-
     dert hat. Das Steueraufkommen wuchs entgegen der               tungen auf die gleiche Steuerquelle (Steuergut) erge-
     tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung überpro-            ben, Rechnung zu tragen hat. Er ist Ausdruck einer poli-
     portional. Dieser Aufwuchs aus Überbesteuerung hat             tischen Entscheidung, die der Nachprüfung durch die
     teilweise zu »Scheinsteuern« geführt. Die Gebietskör-          Gerichte (weitgehend) entzogen ist.15
     perschaften haben die Steuerzuwächse verplant und                   In seiner Gesamtgestaltung und -wirkung soll er im
     verausgabt, ohne dass die Realität (»Scheineinkom-             Großen und Ganzen jeweils die finanzielle und politi-
     men« als Bemessungsgrundlage) beachtet wurde.                  sche Situation seiner Geltungszeit widerspiegeln (vgl.
     Zudem wurde und wird durch diese Wirkungen die                 Steuerreformkommission 1971, S. 209, Tz. 630). Das
     Haushaltsdisziplin der öffentlichen Hand geschwächt.           bedeutet, dass die Tariffindung demokratisch vollzo-
                                                                    gen werden muss.
     ZUR VERFASSUNGSKONFORMITÄT DES                                      Im geltenden Tarif wird die Konkretisierung der
     EINKOMMENSTEUERTARIFS                                          Belastungshöhe durch einen Formeltarif verwirklicht.
                                                                    Ein Formeltarif ermöglicht einen stetigen Tarifverlauf.
     Der Tarif nach § 32a EstG wird bislang als verfassungs-        Die mathematischen Formeln, die die Beziehung zwi-
     gemäß angesehen. Die konkrete Ausgestaltung des                schen dem Steuerbetrag und der Bemessungsgrund-
     Tarifs sei eine politische Entscheidung, die sich weit-        lage in Steuerbetragsfunktionen für jeweils einen
     gehend richterlicher Kontrolle entziehe (vgl. Schöberle        bestimmten Einkommensbereich (Zonen) festlegen,
     2008).                                                         erwecken den Eindruck einer maximalen Genauig-
          Der Einkommensteuertarif soll in seiner progres-          keit und damit auch ein Maximum an Gerechtigkeit.
     siven Ausgestaltung sichtbarer Ausdruck des Prinzips           Es stellt sich allerdings die Frage, ob es sich dabei
     der Steuergerechtigkeit, nach dem jedermann entspre-           nicht auch lediglich um eine Scheingerechtigkeit han-
     chend seiner persönlichen wirtschaftlichen Leistungs-          delt. Mehre Baustellen können den Tarifverlauf massiv
     fähigkeit mit Steuern belastet wird, sein (vgl. Kirchhof       beeinflussen.
     1985).                                                              Es sind zunächst die Zonengrenzen, die willkürlich
          Es gibt allerdings keinen wissenschaftlich exak-          bestimmt werden:
     ten Maßstab, nach dem die Höhe der steuerlichen Leis-
     tungsfähigkeit und damit die Belastbarkeit des einzel-         1.   eine Nullzone (Grundfreibetrag) in Höhe von
     nen Steuerbürgers mit Einkommensteuer bestimmt                      9 000 Euro,
     werden könnte. Die Tarifgestaltung muss folglich poli-         2.   eine Mittelgrenze in Höhe von 13 996 Euro,
     tisch entschieden werden (vgl. Schöberle 2008, § 3a,           3.   eine Obergrenze I in Höhe von 54 949 Euro
     Rdnr. A4).                                                          (Spitzensteuersatz).
          Jedoch sind nach neuerer verfassungsrechtlicher           4.   eine Obergrenze II in Höhe von 260 553 Euro
     Rechtsprechung bestimmte Kriterien bei der Tarifge-                 (Reichensteuer).
     staltung zu beachten. Insbesondere müssen der Ein-
     kommensteuertarif und die Ermittlungsvorschriften              Da diese Betragsgrenzen nicht regelmäßig angepasst
     für die Bemessungsgrundlage »zu versteuerndes Ein-             wurden, ergibt sich heute kaum noch ein Bezug zur
     kommen« so aufeinander abgestimmt sein, dass das               realen Einkommensentwicklung und realen Leistungs-
     Existenzminimum den Erfordernissen des Leistungsfä-            fähigkeit (vgl. Bareis 1999, S. 1059 ff.; Dziadkowski
     higkeitsprinzips entsprechend steuerfrei bleibt. Steu-         2008a, S. 13; Houben und Chirvi 2017). Das liegt daran,
     erbare Leistungsfähigkeit repräsentieren erst die das          dass die Tarifbestimmung ohne echte parlamentari-
     Existenzminimum übersteigenden Einkommensbe-                   sche Kontrolle vollzogen werden kann.16 Die Tarifge-
     träge (vgl. Kirchhof 2001).                                    staltung folgt primär der zu erwartenden Ergiebigkeit.
          Dem soll der Grundfreibetrag im Rahmen des Ein-           14
                                                                       Nach der Entscheidung des BVerfG waren Einkommensteuerer-
     kommensteuertarifs Rechnung tragen. Systematisch               stattungen zum Teil für die Jahre 1949 bis 1958 vorzunehmen.
                                                                    15
                                                                       Steuerreformkommission (1971, S. 209) mit Bezug auf BVerfG vom
     zutreffend wäre eine Berücksichtigung des Existenzmi-          17. Januar 1957 (BStBl. 1957, S. 194)
     nimums bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage              16
                                                                       Ein Tarif, der auf Nominalwerten aufbaut, trägt die heimlichen
                                                                    Steuerhöhungen in sich, solange keine gesetzliche Änderung vor-
     (vgl. v. Bockelberg 1971; Lang 1987, S. 38 ff.; Dziadkow-      genommen wird (vgl. vertiefend Dorn et al. 2016a; 2016b: 2017a;
     ski 1986; Lehner 1993, S. 171 f.)                              2017b).

40   ifo Schnelldienst   11 / 2018   71. Jahrgang   14. Juni 2018
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Insbesondere wurden die heimlichen Steuerhöhun-               Abb. 3
                                                              Grenzsteuersätze und Wertgrenzen im Tarif 2017
gen merklich begrenzt. Im Zusammenspiel mit einem
fiebermäßigen Anstieg der Progression im mittleren
                                                                    Grenzsteuersatz in %
Bereich nach Überschreiten der Nullzone bis zur Ober-         50
grenze I kann die Rückgabe überhöhter Steuerbeträge                42% 54 058 €                                      45% 256 304 €

bei jeder Tarifanpassung begrenzt werden. Das hat             40
dazu geführt, dass der Anteil der sog. »Spitzenverdie-
ner« im einkommensteuerlichen Sinne in den letzten            30
Jahrzehnten überproportional gestiegen ist.                   23,97% 13 770 €
                                                              20

TARIFDISKUSSION                                                    14% 8 821 €
                                                              10

Eine intensive Tarifdiskussion haben in jüngerer Zeit
                                                               0
das Institut Finanzen und Steuern (ifst) (vgl. Houben               0         50         100         150       200     250        300
und Chirvi 2017) und das ifo Institut (vgl. Dorn et al.                                        Zu versteuerndes Einkommen in Tsd. Euro
2016a; 2016b; Fuest et al. 2017) vorgenommen. Dabei
wurden die Ergebnisse der im Auftrag des Bundes der           Quelle: Houben und Chirvi (2017, S. 30).                               © ifo Institut

Steuerzahler von Volker Stern durchgeführten Unter-
suchung untermauert (vgl. Stern 2002).                        sog. Ausfällen führt, wird stets das Ziel verfolgt, Ent-
    Nachstehend sollen die Untersuchungen in kom-             lastungen so gering wie möglich zu halten. Ob sodann
primierter Form vorgestellt werden.                           noch eine realitätsnahe Besteuerung nach der Leis-
                                                              tungsfähigkeit besteht, wird nicht hinterfragt. Infla­
INSTITUT FINANZEN UND STEUERN – IFST                          tionsbedingte heimliche Steuererhöhungen und Ver-
                                                              werfungen innerhalb des Tarifs durch Vorgabe des sog.
Im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes 2017 legte das           Mittelstandsbauches werden hingenommen.
ifst im Mai 2017 eine von Houben und Chirvi erarbeitete            Auf diese Weise hat man immer mehr Steuerzah-
Studie zum Einkommensteuertarif und Reformalterna-            ler zu »Spitzenverdienern« erkoren und mit dem Spit-
tiven vor. An dieser Stelle werden die Bereiche               zensteuersatz belastet. Daraus folgt, dass die im Wahl-
                                                              kampf angekündigte Entlastung geringer und mittleren
–   Grenzsteuersätze und Wertgrenzen im Tarif,                Einkommen unbedingt realisiert werden muss, zumal
–   Abspeckung des Mittelstandsbauchs                         die kontinuierlich steigenden Einnahmen bei der Lohn-
                                                              und Einkommensteuer reichliche Spielräume geschaf-
näher erörtert.                                               fen haben und weiterhin schaffen werden. Folgende
     Dabei wird in Anlehnung an die vorgelegte Studie         Wertgrenzen und Grenzsteuersätze prägten den Tarif
auf den Einkommensteuertarif 2017 Bezug genommen,             2017 (und weitgehend auch den Tarif 2018) (vgl. Hou-
zumal sich der Einkommensteuertarif 2018 nur mikro-           ben und Chirvi 2017, S. 31):
skopisch verändert hat. Die Untersuchungsergebnisse
sind folglich noch aktuell.                                                        Wertgrenze                             Grenzsteuersatz
     Wie aus Abbildung 3 ersichtlich ist, steigt der Grenz-   Grundfreibetrag
steuersatz vom Grundfreibetrag (Nähe der Armuts-              (Nullzone) + 1 Euro   8 821 Euro                             14,00%
grenze) aus raketenartig von 14% bis zu einem Einkom-         Knickstelle          13 770 Euro                             23,97%
men von 13 770 Euro (heute: 13 996 Euro) auf 24% an           Spitzensteuerbereich 54 058 Euro                             42,00%
der sog. Knickstelle.
     Zwischen dieser Mittelgrenze von 13 770 Euro             Es ist noch darauf hinzuweisen, dass bereits in den Jah-
(heute: 13 996 Euro) bis zur Obergrenze von 54 058            ren 2009 und 2010 die übermäßige Steuerbelastung im
Euro (heute: 54 949 Euro) entwickelt sich der Tarif im        mittleren Bereich thematisiert wurde (vgl. Kruhl 2010).
Wege einer linearen Progression auf 42%. Ab der Ober-         Der Mittelstandsbauch wurde bis heute nicht ver-
grenze I verläuft der Grenzsteuersatz auf der Höhe von        schlankt. Betrachtet man die Wirkung der Tarifände-
42%, bis zu der Obergrenze II von 256 304 Euro (heute:        rung von 2009 auf 2010, erkennt man die marginalen
260 53). Es ist zu beachten, dass der »Mindeststeuer-         realitätsfernen Korrekturen, die automatisch zu einem
satz« 14% beträgt, der »Spitzensteuersatz« liegt bei          Mehraufkommen führen müssen.
42% und der »Reichensteuersatz« bei 45%. Entschei-                 Da der Eingangssteuersatz von 14% und der Steu-
dend für das Haushaltsaufkommen an Einkommen-                 ersatz an der Knickstelle des Tarifs mit 24% unverän-
steuer ist die Verteilung der Steuerzahler auf die jewei-     dert blieben, änderte sich der raketenartige Anstieg
ligen Einkommensbereiche.                                     des Grenzsteuersatzes in dieser Zone nicht. Die Anhe-
     Daher ist der Fiskus bemüht, stark besetzte Ein-         bung der Nullzone um 170 Euro und des Knickstellen-
kommensbereiche in die Besteuerung einzubeziehen              punktes um 270 Euro führen zu keinerlei Abschmel-
und damit ein optimales Aufkommen zu erzielen. Da             zung des Mittelstandsbauches. Es handelt sich jeweils
jede Steueranpassung im Wege einer Tarifänderung zu           um Jahresbeträge.

                                                                                   ifo Schnelldienst     11 / 2018    71. Jahrgang   14. Juni 2018    41
FORSCHUNGSERGEBNISSE

     Abb. 4                                                                                          Zur Bemessung des gesamtwirtschaftlichen Aus-
     Einkommensteuertarif 2009                                                                  maßes der kalten Progression wurden Mikrodaten von
                                                                                                den Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter
          Steuersatz in %
     50
                                                                                                des Bundes und der Länder zur Verfügung gestellt. Die
                                                                       42% 52 552
                                                                                                steuerlichen Effekte auf der Basis des ifo-Einkommen-
     40                                                                                         steuer-Simulationsmodells (ifo-ESM) geschätzt (vgl.
                      Konkaver Kurvenverlauf
                               ab 01.01.2009                                                    Dorn et al. 2016a, S. 15).
     30                                                                                              Wenn sich auch die inflationsbedingten heimli-
                                                      Durchgehender linearer
                      24%                                                                       chen Steuererhöhungen im letzten Jahrzehnt verlang-
                             13 140                   Kurvenverlauf
     20                                                                                         samt haben, generiert der Fiskus immer noch merk-
                14%                                                                             lich von deren Steuerwirkungen. Für die sechs Jahre
     10                                                                                         von 2011 bis 2016 hat sich immerhin noch ein zusätz-
                                  "Mittelstandsbauch"
              7 834
                                                                                                liches Steueraufkommen von 33,5 Mrd. Euro auf Basis
      0
                                                                                                der kalten Progression im engeren Sinne bzw. 70,1 Mrd.
          0           10          20         30        40      50         60
                             Pro Jahr zu versteuerndes Einkommen in Tsd. Euro                   Euro auf Basis der kalten Progression im weiteren Sinne
     Quelle: Kruhl (2010, S. 106).                                         © ifo Institut
                                                                                                ergeben.17
                                                                                                     Die Effekte sind hauptsächlich dadurch verur-
                                                                                                sacht, dass die Tarifänderungen unzureichend waren.
     Abb. 5
     Einkommensteuertarif 2010                                                                  Eine große Rolle spielt hierbei die Zementierung der
                                                                                                Zonengrenzen innerhalb des Tarifgebäudes nach
          Steuersatz in %                                                                       § 32a EStG, hier vor allem die Zone nach§ 32a Abs. 1
     50                                                                                         Nr. 2 EStG (heute: 9 001 bis 13 996 Euro) sowie die
                                                                       42% 52 882               Zone nach § 32a Abs.l Nr. 3 EStG (heute: 13 997 bis
     40
                      Konkaver Kurvenverlauf                                                    54 949 Euro). Hinzu kommt die für fast alle Steuerzah-
                               ab 01.01.2010                                                    ler zu geringe Bemessung des Grundfreibetrags, der in
     30
                      24%
                                                      Durchgehender linearer                    Ballungsräumen allein für die Ausgaben des Wohnbe-
                                                      Kurvenverlauf                             darfs aufgezehrt wird.
                             13 470
     20
                                                                                                     Es muss nochmals darauf hingewiesen werden,
                14%
     10                                                                                         dass die Zoneneinteilung innerhalb des Tarifs mit Gren-
                                  "Mittelstandsbauch"                                           zen von heute 13 997 und 54 949 Euro willkürlich an-
              8 004                                                                             muten. Es entstehen beschleunigte Progressionsbe-
      0
          0           10          20         30        40      50         60                    reiche, die keinen Bezug mehr zur Realität besitzen. In
                             Pro Jahr zu versteuerndes Einkommen in Tsd. Euro
                                                                                                diesen Bereichen sind außer Rentnern hauptsächlich
     Quelle: Kruhl (2010, S. 107).                                         © ifo Institut       Arbeitnehmer angesiedelt.
                                                                                                     Die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft
          Es ist erkennbar, dass sich der »Mittelstands-                                        (DStJG) hatte Ende September 2016 ihre 41. Jahres-
     bauch« bis in den Bereich der »Geringverdiener«                                            tagung der Besteuerung von Arbeitnehmern gewid-
     erstreckt. Bekanntlich hat der Gesetzgeber bis heute
                                                                                                17
                                                                                                   Vgl. Dorn et al. (2016a), leider standen als neueste Daten nur die
     keine Therapie zur Verringerung der pathologischen                                         des Erhebungsjahres 2010 zur Verfügung. Die generelle Aussage dürf-
     Situation entwickelt und auch keine entsprechende                                          te diese Tatsache nicht beeinflussen.
     Absicht erklärt.

                                                          Abb. 6
     IFO INSTITUT
                                                          Jährlicher Aufwuchs der Kalten Progression von 2011 bis 2016

     Bereits im Oktober 2016 hatte                                                                                                           Kalte Progression i.w.S.
     das ifo Institut einen For-                           20
                                                                 Mrd. Euro                                                                   Kalte Progression i.e.S.
                                                                                                                                                              18,0
     schungsbericht zu »Heimlichen                                                                                                               16,6
     Steuererhöhungen« vorgelegt,                          15                                                                     12,9
     die »Belastungswirkungen der                                                                                  10,2
     kalten Progression« aufgezeigt                        10                                          8,1
     und einen »Einkommensteu-
                                                                                        4,3
     ertarif auf Rädern« angeregt                            5                                                      6,8            6,7            6,6
                                                                                                      5,4                                                        5,3
     (vgl. Dorn et al. 2016a). Die Wir-
                                                             0                          2,7
     kungen wurden für die Jahre
                                                                      2010             2011           2012         2013           2014           2015           2016
     2011 bis 2016 dargelegt und
     eine Prognose über den jähr-                         Die Kalte Progression im weiteren Sinne beinhaltet die Kalte Progression im engeren Sinne. Berechnungen mit Hilfe
     lichen »Aufwuchs« der kalten                         des ifo-Einkommenssteuer-Simulationsmodells (ifo-EMS) und der Faktisch Anonymisierten Lohn- und Einkommens-
                                                          steuerstatistik aus dem Jahre 2010 unter Berücksichtigung steuertariflicher Änderungen. Basis für die Fortschreibung
     Progression von 2017 bis 2030                        der Steuertarifindexierung bildet der Tarif des Jahres 2010. Ohne Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags.
     abgegeben.                                           Quelle: Dorn et al. (2016a, S. 15).                                                                     © ifo Institut

42   ifo Schnelldienst     11 / 2018   71. Jahrgang   14. Juni 2018
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 7                                                                                                                         quote entfaltet. Für 2011 bis
Jährlicher Aufwuchs der Kalten Progression von 2017 bis 2030                                                                   2016 ergab sich das Bild von
                                                                                                                               Abbildung 8. Es ist bedenklich,
                                                                                       Kalte Progression i.w.S.
       Mrd. Euro                                                                       Kalte Progression i.e.S.                dass eine Reduzierung des Soli-
 70
                                                                                                      59,5
                                                                                                                   65,3        daritätszuschlags weiter hin-
 60
                                                                                        48,3
                                                                                               53,9                            ausgeschoben werden soll.
 50                                                                            42,9                                                 Abbildung 8 zeigt den tat-
                                                                       37,6                                    49,5
 40                                                             32,3                                   44,9                    sächlichen        Verlauf der Lohn-
                                                       27,2                              36,0 40,4
 30
                                                22,2                                                                           und      Einkommensteuerquote
                                       17,4                            27,5 31,7
 20                              12,6                                                                                          von 2011 bis 2016 sowie den
                         8,2                           19,4 23,4
 10      2,4 3,9                                 15,5                                                                          theoretischen Verlauf, wenn
                                  8,0 11,7                                                                                     die Tarifeckwerte des Jahres
   0 1,4        1,1      4,5
        2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030                                                  2019 zum Ausgleich der kal-
                                                                                                                               ten Progression jährlich um
Die Kalte Progression im weiteren Sinne beinhaltet die Kalte Progression im engeren Sinne. Berechnungen mit Hilfe
des ifo-Einkommenssteuer-Simulationsmodells (ifo-EMS) und der Faktisch Anonymisierten Lohn- und Einkommens-                    die Inflation oder das Nomi-
steuerstatistik aus dem Jahre 2010 unter Berücksichtigung steuertariflicher Änderungen. Basis für die Fortschreibung
der Steuertarifindexierung bildet der Tarif des Jahres 2010. Ohne Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags.
                                                                                                                               nallohnwachstum »auf Räder
Quelle: Dorn et al. (2016a, S. 17).                                                                         © ifo Institut     gesetzt« worden wären.18
                                                                                                                                    Die kalte Progression
met (vgl. Mellinghoff 2017). Rudolf Mellinghoff als Prä- führte seit 2010 zu einem stetigen Anstieg des Anteils
sident des Bundesfinanzhofs und Vorsitzender der der Steuereinnahmen des Staates am Bruttoin-
Gesellschaft hatte auf die Bedeutung der Arbeitneh- landsprodukt. Diese Einnahmenzuwächse wurden
merbesteuerung hingewiesen. Insbesondere durch ohne offene Steuererhöhungen realisiert und bedurf-
den Quellenabzug stützt die Lohnsteuer zeitnah und ten keiner Beteiligung der demokratisch gewählten
kontinuierlich die staatlichen Haushalte. Die Lohn- Volksvertreter.
steuer liegt an der Spitze der Steuerarten und ist mit                                           Zutreffend weisen die Autoren darauf hin, dass
einem sehr geringen Ausfallrisiko behaftet. Insbeson- »das Phänomen der Kalten Progression ein willkom-
dere seit der Globalisierung der Wirtschaft und erheb- menes Geschenk für Politiker« (Dorn et al. 2016a, S. 23)
licher Steuergefährdungen (BEPS-Diskussion) bildet bildet. Es kommt zu Steuererhöhungen, die nicht vom
die Lohnsteuer ein solides Fundament der Staatsein- Parlament beschlossen werden müssen. Es ist daher
nahmen. Den Arbeitnehmern wie auch allen anderen erklärlich, dass ein »auf die Ausweitung der Staatstä-
Erwerbstätigen sollte daher höchster Respekt gezollt tigkeit bedachter Politiker«19 einer Beseitigung dieser
werden.                                                                                     Erscheinungsform von heimlichen oder verdeckten
       Es muss aber immer wieder – somit auch an dieser Steuerhöhungen eher abgeneigt ist.
Stelle – betont werden, dass eine sparsame Haushalts-                                            Wie die jüngste OECD-Studie für 2017 belegt, hat
politik den Steuerbedarf verringern kann. Insbeson- Deutschland auch in diesem Zeitraum seine Spit-
dere sollte stets geprüft werden, ob es sich um einen zenposition bei der Abgabenbelastung innerhalb
unabwendbaren Bedarf handelt. Einer Begrenzung der
Staatsausgaben muss in Zukunft mehr Aufmerksam- 18 Die Nichtberücksichtigung der realen Entwicklungen führt zu im-
keit geschenkt werden. Es sind nicht alle Ausgaben mer größeren Verwerfungen.
                                                                                            19
alternativlos. So muss verstärkt die Unterwanderung lichDa268                                     das Aufkommen an Lohn-/Einkommensteuer 2018 voraussicht-
                                                                                                    Mrd. Euro betragen und das der Umsatzsteuer mit 235 Mrd.
der Sozialsysteme durch kriminelle Organisationen Euro übertreffen wird, ist keine reale Entlastung in Sicht.
(z.B. im Pflegebereich, Schein­
                                                      Abb. 8
arbeit zwecks Aufstockungsan-
                                                      Lohn- und Einkommensteuerquote von 2011 bis 2016
spruch) verhindert oder zumin-
dest begrenzt werden.                                                                                                   Basistarif      Tarif i.e.S.        Tarif i.w.S.
                                                              %
       Von großem Interesse                            9,2
                                                                                                                                                                9,1
                                                                                                                                             9,0
auch für den Fiskus dürfte
                                                       9,0                                                                  8,9                                    8,9
sein, Erkenntnisse zu erlangen,                                                                                                              8,8
inwieweit das Ausmaß der kal-                          8,8                                             8,7
                                                                                        8,6                                 8,6
ten Progression in der Zukunft                         8,6                                               8,5
zunimmt. Hier zeigt die Prog-                                                           8,4
                                                       8,4                                                                                                      8,5
nose für den Zeitraum von 2017                                     8,3                                                      8,4              8,5
                                                                   8,2                  8,3              8,4
bis 2030 eine Entwicklung auf,                         8,2
die den Aufwuchs der Kalten                                          8,2
                                                       8,0
Progression erkennen lässt.                                         2011               2012             2013               2014            2015               2016
       Erhöhte Aussagekraft hat                       Berechnungen mithilfe des ifo-Einkommenssteuer-Simulationsmodells (ifo-EMS) und dem Bruttoaufkommen aus der
                                                      Faktisch Anonymisierten Lohn- und Einkommenssteuerstatistik aus dem Jahre 2010 unter Berücksichtigung steuer-
ebenfalls die Berechnung, wel-
                                                      tariflicher Änderungen. Basis für die Fortschreibung der Steuertarifindexierung bildet der Tarif des Jahres 2010.
che Auswirkungen die kalte                            Ohne Berücksichtigung des Solidaritätszuschlags.
Progression auf die Steuer-                           Quelle: Dorn et al. (2016a, S. 19).                                                                        © ifo Institut

                                                                                                               ifo Schnelldienst    11 / 2018   71. Jahrgang    14. Juni 2018     43
- 1 -
     FORSCHUNGSERGEBNISSE

     Tab. 3

     Tab. 3
     Eckwerte Tarif 2020 und Reformoptionena
       Tarif                Grund-               Ende 1.           Ende 2.      Ende 3.     Eingangs-      Grenzsteuersatz in % an der
                            freibetrag           Tarifzone         Tarifzone    Tarifzone   steuersatz
                            in Euro              in Euro           in Euro      in Euro     in %
                                                                                                           1. Grenze   2. Grenze    3.Grenze
       Tarif 2020           9 000                13 996            54 949       260 532     14             24          42           45
       (inkl. Soli)                                                                         (14)           (24)        (44,3)       (47,5)
       Reform-
       optionen
       I                    9 000                25 000            58 000       150 000     14             30,5        45           49
       II                   9 000                25 000            58 000       150 000     14             24          45           49
       III                  9 000                16 000            58 000       150 000     14             24          45           49
       IV                   9 000                18 000            58 000       150 000     14             24          45           49
     Quelle: Fuest et al. (2017, S. 8).

     des OECD-Raumes »erfolgreich verteidigt«.20 Die Ab-                              lichen Steuermindereinnahmen für jede Modellrech-
     gabenbelastung betrug für einen Alleinstehenden,                                 nung abgeschätzt.
     der als Durchschnittsverdiener zu qualifizieren ist,                                  Bei der Quantifizierung der Auswirkungen wur-
     mit 49,7% nochmals 0,2 Prozentpunkte mehr als                                    den die Eckwerte, die in Tabelle 3 dargestellt sind,
     2016. Die Quote liegt damit wieder weit über dem Ver-                            berücksichtigt.
     gleichswert für alle OECD-Staaten mit 35,9%. Bemer­                                   Hierzu ist anzumerken, dass für einen Tarif 2020 ein
     kenswert ist, dass die Quote in den USA lediglich                                Grundfreibetrag von 9 000 Euro nicht mehr realitätsnah
     31,7% ausmacht. Die deutsche Politik sollte nicht nur                            sein dürfte. Die Annahmen zu den »Enden« der 1. und
     den deutschen Steuerzahler vermehrt zur Kasse bit-                               der 2. Tarifzone von 16 000 bzw. 58 000 Euro erscheinen
     ten, sondern auch die Begehrlichkeiten aus dem Aus-                              unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung,
     land abwehren. Solange jedoch der deutsche Steuer-                               die sich bei den zwischenzeitlichen Tarifverhandlungen
     zahler durch eine relative Überbesteuerung zu immer                              angedeutet haben, ebenfalls zu niedrig.
     mehr Steuern und Abgaben gezwungen wird, er-                                          Gleichwohl bleiben die Modellrechnungen eine
     möglichen diese Überschüsse den Politikern freie                                 reale Diskussionsgrundlage und können weiterentwi-
     Hand bei der Verteilung von Wohltaten. Die Begehr-                               ckelt werden, sobald zeitnahe Daten vorliegen. Bei der
     lichkeiten aus dem Ausland werden immer mehr                                     Option I ist der Sprung auf einen Grenzsteuersatz von
     geweckt, wenn deutsche Politiker ihr Land als wohl-                              30,5% an der Grenze 1 verfassungsrechtlich bedenk-
     habend darstellen und den Eindruck erwecken, dass                                lich, weil das Bundesverfassungsgericht »Sprünge«
     hier der Kösus allerorten beheimatet ist, zumal wenn                             innerhalb der Tarifstruktur bereits als nicht verfas-
     schamhaft verschwiegen wird, dass die Hälfte des                                 sungskonform angesehen hat (vgl. Schöberle 2008,
     Arbeitseinkommens an den Staat abgeführt werden                                  § 32a Rdnr 6).
     muss (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Mai
     2018, S. 17).                                                                    DER GRUNDFREIBETRAG ALS EIN ELEMENTARER
                                                                                      BAUSTEIN DES TARIFS
     KONKRETE TARIFVORSCHLÄGE
                                                                                      Wenn auch die Verortung des Grundfreibetrags (Bemes-
     Konkrete Tarifvorschläge sind bislang Mangelware.21                              sungsgrundlage versus Tarif) nicht unumstritten ist,
     Zwar hatten fast alle Parteien im Wahlkampf bestimmte                            bildet die entsprechende Regelung eine der wenigen
     Eckwerte in die Diskussion eingebracht. Allerdings                               Normen, die verfassungsrechtlichen Vorgaben unter-
     erwiesen sich diese zumeist als wenig aussagefähig,                              liegt (umfassend vgl. Lehner 1993; Liesenfeld 2005).
     da keine Tarifstruktur erkennbar war. Soweit bekannt,                                 Dieser Betrag ist regelmäßig anzupassen auf der
     wurde lediglich der »Niedersachsen-Tarif« von der FDP                            Basis der Preisentwicklungen für alle Bedarfe im sozial-
     mit konkreten belastbaren Daten veröffentlicht (vgl.                             hilferechtlichen Sinne. Die jüngsten Entwicklungen auf
     Fuest et al. 2017).                                                              dem Lebensmittelmarkt und vor allem auf dem Woh-
          Dem Vorschlag lag eine Studie des ifo Instituts,                            nungsmarkt dürfen nicht ignoriert werden. Daher ist es
     in dem mehrere alternative Reformoptionen darge-                                 notwendig, das Existenzminimum nicht nur vergangen-
     stellt und quantifiziert wurden, zugrunde. Es ist wohl                           heitsorientiert zu ermitteln. Vielmehr müssen die rea-
     die einzige Studie, die in mehreren Modellrechnun-                               len Ausgaben für den jeweiligen Besteuerungszeitraum
     gen die konkreten Auswirkungen auf den Steuerzah-                                errechnet werden. Dabei darf die Wertermittlung nicht
     ler ermittelt. Außerdem werden auch die voraussicht-                             an der untersten Untergrenze ausgerichtet werden.
                                                                                           Die Steuerpolitik darf auf dieser Ebene nicht die
     20
        Deutschland nimmt seit Jahren eine Spitzenposition in der OECD                Realität ignorieren und sollte in Anlehnung an das
     ein und belastet seine Bürger überproportional (OECD 2017).
     21
        Zu »Leitlinien wissenschaftlicher Reformkonzepte für die Besteue-
                                                                                      Sozialhilferecht und deren regionalen Orientierung
     rung von Einkommen« vgl. Drüen (2014, insb. S. 23–42).                           auch bei der Bemessung des Grundfreibetrags den

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

regionalen Bedarf berücksichtigen. Die größte Sprei-        Wunsch deutscher Politiker Vorbildcharakter entfalten
zung ist inzwischen beim Wohnbedarf erkennbar. In           sollte.
den Ballungsräumen haben sich seit 1992 die Mieten in            Es ist festzuhalten, dass eine umfassende Reform
einem nicht vorhersehbaren Ausmaß erhöht. Während           des Einkommensteuertarifs notwendig ist, da die Ver-
das Sozialhilferecht diese Tatsachen beachtet, trifft       werfungen innerhalb des Tarifs immer ausgeprägter
die Besteuerung bereits die für die Wohnraumbeschaf-        werden. Eine weitere Verzögerung der überfälligen
fung notwendigen Einkommensteile. Es entsteht weit-         Tarifanpassung wird die Verwerfungen noch mehr ver-
gehend eine Doppelprogression. Da in Ballungsräu-           stärken. Es sind mehrere Maßnahmen erforderlich, die
men höhere Einkommen erzielbar sind, erwirtschaftet         in mehreren Schritten realisierbar sind.
der Steuerzahler in dieser Region ein Mehr an Einkom-            In einem ersten Schritt sollten realitätsferne Para-
men, gerät in eine höhere Progressionsstufe und wird        meter der Tarifarchitektur an die Realität angepasst
durch den Grundfreibetrag nur unzureichend entlastet,       werden. Spielräume sind in Zeiten der Konjunktur
da die erhöhten Lebenshaltungskosten unberücksich-          vorhanden, solange diese nicht verspielt werden. Es
tigt bleiben. Das Realeinkommen wird somit durch eine       besteht allerdings die Gefahr der Blockade innerhalb
Überbesteuerung verringert. Dieser Effekt ist bis­lang in   der politischen Gruppierungen.
der Tarifdiskussion nicht aufgegriffen worden und führt          Verfassungsrechtlich geboten ist vordringlich eine
zu einer weiteren heimlichen Steuererhöhung.                realitätsnahe Normierung des Grundfreibetrags, der
                                                            das tatsächliche Existenzminimum vor dem Entzug
FAZIT UND AUSBLICK                                          durch die Einkommensteuer verschont. Im Hinblick auf
                                                            die Preissteigerungen in den beiden letzten Jahrzehn-
Vor der Bundestagswahl bestand weitgehend Kon-              ten ist an erster Stelle der Wohnbedarf in angemesse-
sens unter den politischen Parteien, dass die Steuer-       ner Weise zu berücksichtigen. Dabei ist zu beachten,
belastung der Steuerzahler mit geringen und mittle-         wie das Wachstum in den Ballungsräumen und den
ren Einkommen verringert werden muss. Da das Steu-          übrigen städtischen Regionen seine Wirkung entfaltet
eraufkommen seit Jahren von einem Rekord zum                hat. Es muss auch ein dauerhaftes Konzept für die Tarif­
anderen eilt, sind Steuerentlastungen überfällig. Bei       anpassungen entwickelt werden. Es darf nicht weiter-
gewissenhaftem Handeln der Volksvertreter und der           hin zu willkürlich bestimmten Zeiten eine Anpassung
Verwaltungen bestehen erhebliche Spielräume für             vorgenommen werden.
Entlastungsmaßnahmen.                                            Der derzeitige Tarif ist vor allem in nachstehenden
     Das im August 2017 verkündete steuerpolitische         Bereichen zu korrigieren:
Konzept der Bundesregierung, das »eine verlässli-
che Steuerpolitik, die Planungssicherheit … und ein         –   Grundfreibetrag,
leistungsgerechtes Steuerrecht, das … zugleich die          –   Grenzen der Tarifzonen,
Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit in den Mittel-      –   Eingangssteuersatz und
punkt stellt« (Bundesregierung 2017, S. 29) ankündigte,     –   Grenzsteuersätze zwischen Eingangssteuersatz
lässt auf sich warten.                                          und Spitzensteuersatz.
     Obwohl Ankündigungen von Volksvertretern nicht
rechtsverbindlich und einklagbar sind, hatten die Wäh-      Auf der Basis der vom ifo Institut entwickelten Tarif­
ler an eine neue Bundesregierung hohe Erwartungen           optionen soll durch Fortschreibung von einigen Para-
hinsichtlich künftiger Einkommensteuerentlastungen          metern eine Annäherung an eine realitätsnahe Tarif­
geknüpft. Insbesondere wurde von Beziehern kleiner          architektur vorgeschlagen werden. Hierdurch soll die
und mittlerer Einkommen eine merkliche Entlastung           zwischenzeitlich eingetretene wirtschaftliche Ent-
erwartet, zumal heimliche Steuererhöhungen, Mittel-         wicklung Berücksichtigung finden. Nachdem das Wirt-
standsbauch und Begrenzung von Abzugsbeträgen               schaftswachstum, das Lohnniveau und das Preisniveau
zu einer Überbesteuerung bei Arbeitnehmern geführt          merklich zugenommen haben, bedürfen die Eckwerte
hatten.                                                     einer Ergänzung. In Anbetracht der Tatsache, dass die
     Wie die jüngst veröffentlichten Taxing Wages 2018      Sozialleistungen und das gesamte Niveau für existenz-
der OECD belegen, bleibt der deutsche Steuerzahler          sichernde Ausgaben erheblich gestiegen sind, sollten
globaler Zahlmeister. 2017 nahm der Staat wieder »die       mindestens folgende Eckwerte ab 2019/2020 bei der
Hälfte des Arbeitnehmereinkommens« (Frankfurter All-        Tarifgestaltung verwendet werden:
gemeine Zeitung, 11. Mai 2018, S. 17). Die Steuer- und
Abgabenlast betrug in Deutschland für Alleinstehende        –   Grundfreibetrag		                             12 000 Euro,
49,7% des Bruttoverdienstes. Der Vergleichswert für         –   Ende der 1. Tarifzone		                       30 000 Euro,
alle OECD-Staaten betrug 35,9%, für die USA 31,7%.          –   Ende der 2. Tarifzone		                       60 000 Euro,
     Es ist verständlich, dass die relative Überbesteue­    –   Ende der 3. Tarifzone		                       120 000 Euro und
rung in Deutschland, die dem Fiskus vor allem im            –   Eingangssteuersatz		                          10%.
Bereich der Lohnsteuer kontinuierlich wachsende Ein-
nahmen zuführt, weltweit Begehrlichkeiten weckt,            Die Grenzsteuersätze sind harmonisch unter Vermei-
zumal die »Schwarze Null« made in Germany nach dem          dung von Tarifsprüngen anzupassen. Weiterhin müsste

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