DIE FORMEL 1 UND DIE PRAXIS MIT PIRELLI ALS EINHEITSLIEFERANT IM LICHT DES EUROPARECHTLICHEN KARTELLVERBOTS - JKU ePUB
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DIE FORMEL 1 Eingereicht von Mara Jaidhauser UND DIE PRAXIS Angefertigt am MIT PIRELLI ALS Institut für Europarecht EINHEITSLIEFERANT Beurteiler IM LICHT DES Univ.-Prof.Dr. Franz Leidenmühler EUROPARECHTLICHEN KARTELLVERBOTS Oktober 2021 Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magistra der Rechtswissenschaften im Diplomstudium Rechtswissenschaften JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich jku.at
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt beziehungsweise die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch. Amstetten, am 11.10.2021 Mara Jaidhauser 2
DIE FORMEL 1 UND DIE PRAXIS MIT PIRELLI ALS EINHEITSLIEFERANT IM LICHT DES EUROPARECHTLICHEN KARTELLVERBOTS I. Inhaltsverzeichnis I. Inhaltsverzeichnis .............................................................................................3 II. Einleitung ..........................................................................................................5 A. Vorbemerkungen ..............................................................................................5 B. Begriffsbestimmungen ......................................................................................6 C. Organisation der Formel 1 ................................................................................7 D. Anwendbares Sportverbandsregelwerk ............................................................8 1. Bindungswirkung und Durchsetzung der Verbandsregelwerke .........................8 2. Einschlägige Regelungen im Detail ..................................................................9 III. Die FIA und die Praxis mit Pirelli als Einheitslieferant für Reifen im Licht des europarechtlichen Kartellverbots.....................................................................10 A. Grundlagen des Kartellverbots des Art 101 AEUV .........................................10 1. Ausgestaltung des Art 101 AEUV ...................................................................10 2. Anwendungsbereich des Art 101 AEUV .........................................................11 a) Sachlicher Anwendungsbereich ......................................................................11 b) Räumlicher Anwendungsbereich ....................................................................12 c) Zeitlicher Anwendungsbereich ........................................................................13 3. Normadressaten .............................................................................................14 4. Der relevante Markt ........................................................................................16 Exkurs: Autonomie von Sportverbänden im Unionsrecht ......................................19 B. Art 101 ............................................................................................................20 1. Verhaltenskoordination ...................................................................................20 a) Vereinbarung ..................................................................................................20 b) Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen ................................................21 c) Abgestimmtes Verhalten .................................................................................22 2. Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels .......................................25 3
3. Wettbewerbsbeschränkung ............................................................................27 4. Spürbarkeit .....................................................................................................29 5. Freistellung nach der Vertikal-GVO ................................................................30 6. Legalausnahme des Art 101 Abs 3 .................................................................31 a) Effizienzgewinn ...............................................................................................31 b) Angemessene Verbraucherbeteiligung ...........................................................32 c) Unerlässlichkeit der Beschränkung .................................................................34 d) Wesentlicher Restwettbewerb ........................................................................34 7. Rechtsfolgen ...................................................................................................35 IV. Fazit ................................................................................................................37 V. Literaturverzeichnis .........................................................................................39 VI. Judikaturverzeichnis .......................................................................................41 4
II. Einleitung A. Vorbemerkungen Der Reifen als einziger Überträger der Kräfte zwischen Auto und Fahrbahn spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle im Rennsport. Er trägt die Radlast und überträgt die Beschleunigungs-, Brems- und Seitenführungskräfte. Qualität und Strapazierfähigkeit der eingesetzten Reifen betreffen nicht nur die Sicherheit der am Motorsport Teilnehmenden, sondern können über Sieg oder Niederlage entscheiden.1 Von der ersten Saison der Formel 1 Weltmeisterschaft im Jahre 1950 bis in das Jahr 2006 lag die Wahl des Reifenherstellers bei den teilnehmenden Teams.2 Je nach Saison kamen Reifen von bis zu sechs verschiedenen Herstellern zum Einsatz;3 darunter auch von Goodyear, mit deren Reifen in der Formel 1 insgesamt 368 Siege eingefahren werden konnten, während in dieser Zeit nur 42 Siegerreifen von Pirelli hergestellt wurden.4 Mit der Begründung, damit den Wettkampf der einzelnen Rennställe untereinander stärker in den Vordergrund zu rücken, wurde ab 2007 in der Formel 1 nur mehr ein einheitlicher Reifenhersteller für alle Teams erlaubt.5 Dies war bis einschließlich der Saison 2010 Bridgestone;6 seit der Saison 2011 ist vertraglich festgelegt, dass alle Rennställe ihre Reifen von Pirelli beziehen.7 Im Frühjahr 2021 wurde bekannt, dass der Vertrag mit Pirelli um ein weiteres Jahr bis inklusive 2024 verlängert wurde.8 Die Formel 1 ist eine Sportserie, die nicht nur beachtliche technische Innovation hervorbringt und fördert9, sondern auch wirtschaftlich bedeutsam ist. So betrug der 1 Vgl Lauda, Die neue Formel 1 (1982) S 151; Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 8. 2 Vgl Ménard in Amara (Hrsg), Die große Enzyklopädie der Formel 1 (2001) S 23. 3 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der- formel-1, aufgerufen am 05.10.2021. 4 Vgl Ménard in Amara (Hrsg), Die große Enzyklopädie der Formel 1 (2001) S 862. 5 Vgl https://www.n-tv.de/sport/Einheitsreifen-statt-Reifenkrieg-article215617.html, aufgerufen am 05.10.2021. 6 Vgl Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 8. 7 Vgl Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 9. 8 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der- formel-1, aufgerufen am 05.10.2021. 9 Vgl Lauda, Die neue Formel 1 (1982), S 151; Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 26; Prüller, Härter, breiter, schneller – die neue Formel 1 (2017) S 14. 5
Gesamtumsatz der Formel 1 im Jahr 2019 2,022 Milliarden Dollar.10 Im selben Jahr waren über 4 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer11 bei den 21 Rennen vor Ort und etwas weniger als 2 Milliarden vor dem Fernseher.12 Diese Arbeit hat die rechtliche Bewertung der Praxis von Einheitslieferanten für Reifen in der Formel 1 im Lichte des Kartellverbots des Art 101 AEUV zum Ziel. Aufgrund seiner stetig anhaltenden Präsenz wird das Augenmerk dieser Arbeit auf der Zusammenarbeit der FIA mit dem Reifenhersteller Pirelli liegen. Als Vorfrage werden die rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen dieser Motorsportart erläutert. Den eigentlichen Kern dieser Arbeit bilden die Anwendbarkeit des europäischen Wettbewerbsrechts auf diese Thematik sowie die Prüfung, ob die im Folgenden vorgestellten Praktiken gegen Art 101 AEUV verstoßen oder nicht. B. Begriffsbestimmungen Zunächst gilt es, sich dem Begriff des Formelsports zu widmen. Hierbei werden durch technische Regeln (sog. Formeln) bezüglich der Leistungsfähigkeit der Fahrzeuge für die Wettbewerber annähernd gleiche Bedingungen geschaffen.13 In der Formel 1 treten nach den Formel 1-Regeln konstruierte Autos verschiedener Hersteller auf mehreren unterschiedlichen Rennstrecken gegeneinander an.14 Auf diese Art werden jährlich ein Fahrerweltmeister und ein Konstrukteursweltmeister ermittelt (vgl Art 6 Formula One Sporting Regulations idgF). Die aufgrund der technischen, fahrerischen und finanziellen Anforderungen auch als Königs- beziehungsweise Spitzenklasse des Automobilsports15 bezeichnete Weltmeisterschaft der Formel 1 ist offiziell bekannt als FIA Formula One World 10 Vgl https://www.auto-motor-und-sport.de/formel-1/f1-umsatz-corona-saison-2020/, aufgerufen am 05.10.2021. 11 Vgl https://www.formel1.de/news/business/2019-12-26/formel-1-statistik-2019-drei-rennen-mit-mehr-als- 300-000-zuschauern, aufgerufen am 05.10.2021. 12 Vgl https://www.auto-motor-und-sport.de/formel-1/f1-einschaltquoten-reichweite-social-2019/, aufgerufen am 05.10.2021. 13 Vgl Ménard in Amara (Hrsg), Die große Enzyklopädie der Formel 1 (2001) S 22. 14 Im Jahr 2021 sollen 22 Rennen auf 21 verschiedenen Rennstrecken stattfinden, vgl https://www.formel1.de/formel-1-kalender/2021, aufgerufen am 05.10.2021. 15 Vgl Ménard in Amara (Hrsg), Die große Enzyklopädie der Formel 1 (2001) S 22. 6
Championship und ist die höchstrangige Rennserie im vom Dachverband Fédération Internationale de l’Automobile veranstalteten Formelsport.16 Wie einleitend bereits erwähnt ist das Unternehmen Pirelli & C. S.p.A. (im Folgenden kurz Pirelli) der alleinige Reifenhersteller der Formel 1. Das Unternehmen mit Sitz in Mailand ist zu 46,03% im Besitz der ChemChina (über die Marco Polo International Italy s.r.l. und PFQY), einem zentral verwalteten Unternehmen aus der Volksrepublik China.17 C. Organisation der Formel 1 Wie bereits erwähnt, wird die sportliche Aufsicht über die Formel 1 durch die Fédération Internationale de l’Automobile (FIA) ausgeübt.18 Sie hat ihren Sitz in Paris19 und legt allein die maßgeblichen Regeln für diese Rennsportserie fest.20 Auf den Inhalt und Umfang dieser Regeln wird an späterer Stelle noch eingegangen. Die Rechte an der gewinnorientierten Vermarktung der Formel 1 hat FIA an die Formula One Administration Ltd (FOA) übertragen. Die Ausübung dieser Vermarktungsrechte erfolgt wiederum durch die Formula One Management Ltd (FOM). Die FOA, FOM und mehr als 10 weitere Unternehmen bilden zusammen die sog Formula One Group, die über eine Holding-Konstruktion von Liberty Media, einem Unternehmen aus den USA, kontrolliert wird. Neben diesen Organisationen existiert noch die Formula One Constructors Association (FOCA), deren Aufgaben mittlerweile durch die ebengenannten FOA und FOM wahrgenommen werden. Aus diesem Grund ist die FOCA für die Ausführungen in dieser Arbeit nicht weiter von Bedeutung.21 16 Vgl https://www.fia.com/events/fia-formula-one-world-championship/season-2021/2021-fia-formula-one- world-championship, aufgerufen am 05.10.2021. 17 Vgl https://corporate.pirelli.com/corporate/en-ww/investors/shareholder-information/shareholder-structure, aufgerufen am 05.10.2021. 18 Vgl Lauda, Die neue Formel 1 (1982) S 30. 19 Vgl https://www.fia.com/organisation, aufgerufen am 05.10.2021 20 Vgl Lauda, Die neue Formel 1 (1982) S 30. 21 Vgl Heublein, Das F-1-Imperium, DIE ZEIT Nr. 3/2011, aufgerufen über https://www.zeit.de/2011/03/Formel- eins-Kasten am 05.10.2021. 7
Sowohl die FIA als auch die FOM stehen aktuell bezüglich der Reifenausstattung der Formel 1-Fahrzeuge mit dem Reifenhersteller Pirelli in einem Vertragsverhältnis.22 Da die FIA die einschlägigen sportlichen Reglements festlegt, liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Zusammenarbeit zwischen der FIA und Pirelli. D. Anwendbares Sportverbandsregelwerk Die FIA stellt als Dachverband und sportliche Aufsicht die maßgeblichen Regeln, also die namensgebenden „Formeln“ auf (vgl Art 1.1.1 FIA International Sporting Code). Die wichtigsten von ihr festgelegten Regeln sind der International Sporting Code, die Formula One Sporting Regulations und die Formula One Technichal Regulations, wodurch allgemeine Regeln des Rennsports, der Ablauf des Kampfes um die Weltmeistertitel und der Ablauf der einzelnen Rennen sowie die technischen Vorgaben für die eingesetzten Fahrzeuge festgelegt werden. 23 1. Bindungswirkung und Durchsetzung der Verbandsregelwerke Die FIA behält sich selbstredend vor, die oben genannten Regelwerke auch durchzusetzen, wie in Art 1.1.1 FIA Internationale Sporting Code festgehalten wird. Im Falle eines Verstoßes gegen den FIA International Sporting Code drohen den Herstellern der Rennautos Sanktionen, die von Geldstrafen bis zum temporären oder permanenten Ausschluss von der FIA Formula One World Championship reichen, während Organisatoren oder Teilnehmern ihre für die Partizipation an Wettkämpfen erforderliche FIA-Lizenz entzogen werden kann (vgl Art 1.3.2 iVm 2.6.1.c FIA International Sporting Code). Für die Sanktionierung eines Regelverstoßes ist es unerheblich, ob der Regelverstoß absichtlich oder fahrlässig herbeigeführt wurde beziehungsweise ob 22 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der- formel-1, aufgerufen am 05.10.2021; https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/michelin-einstieg- ecclestone-pocht-auf-pirelli-vertrag-13082813, aufgerufen am 05.10.2021. 23 Abrufbar in der aktuell gültigen Fassung unter https://www.fia.com/regulation/category/110, aufgerufen am 05.10.2021. 8
er nur versucht oder auch vollendet wurde (vgl Art 12.1.1.a und b FIA International Sporting Code). Verantwortlich für die Durchsetzung des FIA International Sporting Code und der anderen Regelwerke der FIA sind die offiziell von der FIA ernannten Stewards (vgl Art 11.9 FIA International Sporting Code). 2. Einschlägige Regelungen im Detail Bereits im FIA International Sporting Code ist festgelegt, dass alle an einer Rennserie der FIA teilnehmenden Fahrzeuge gemäß den Vorgaben der FIA homologiert sein müssen (vgl Art 10.3.1). In Art 24 der Formula One Sporting Regulations idgF wird darauf hingewiesen, dass es nur einen einzigen Reifenhersteller gibt, der von der FIA bestimmt wird. Die Tatsache, dass alle Teams in der Formel 1 ihre Reifen bei Pirelli beziehen, gründet sich auf die Verträge zwischen dem Reifenhersteller und der FIA beziehungsweise der FOM.24 Da laut Art 12.2.1.d FIA International Sporting Code neben Verstößen gegen die vom Code ausdrücklich genannten Regeln alle Bestrebungen, die den Zielen der FIA zuwider laufen, als Regelverstöße zu bewerten sind, würde die Zusammenarbeit mit einem anderen als von der FIA beauftragten Reifenhersteller jedenfalls einen sog „breach of rules“ und damit eine der oben genannten Konsequenzen nach sich ziehen: „12.2.1 Any of the following offences, in addition to any offences specifically referred to previously or subsequently, shall be deemed to be a breach of these rules: […] 12.2.1.d Any pursuit of an objective contrary or opposed to those of the FIA“25 Daraus folgt, dass einem regelgetreuen Team in der Formel 1 faktisch keine Wahl bleibt, von welchem Reifenhersteller es seine Reifen bezieht. 24 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der- formel-1, aufgerufen am 05.10.2021. 25 Mit dem Ziel einer guten Verständlichkeit für alle interessierten Leserinnen und Leser wurde hier die offizielle Englische Version des FIA International Sporting Code angeführt; im Zweifel gilt allerdings die französische Fassung als die offizielle (vgl Art 19.4.2). 9
III. Die FIA und die Praxis mit Pirelli als Einheitslieferant für Reifen im Licht des europarechtlichen Kartellverbots A. Grundlagen des Kartellverbots des Art 101 AEUV 1. Ausgestaltung des Art 101 AEUV Das Herzstück des europäischen Wettbewerbsrechts ist das Kartellverbot in Art 101 AEUV (ex-Art 81 EGV) und das Missbrauchsverbot des Art 102 AEUV (ex-Art 82 EGV).26 Der besagte Art 101 AEUV ist dabei die zentrale Vorschrift für das europäische Kartellrecht, denn er normiert den Kartelltatbestand (Abs 1 leg cit), ordnet als zivilrechtliche Folge bei vom Kartellverbot erfassten Handlungen die Nichtigkeit der betreffenden Vereinbarung an (Abs 2 leg cit) und sieht in Abs 3 leg cit mögliche Ausnahmen vom Verbot des Abs 1 leg cit vor.27 Um die in Art 101 Abs 2 AEUV angeordnete Nichtigkeit herbeizuführen, müssen durch das Verhalten zweier oder mehrerer Unternehmen (eine nähere Erläuterung dieses Begriffes erfolgt weiter unten) alle Tatbestandsmerkmale kumulativ erfüllt werden.28 Da die wettbewerbsrechtlichen Regelungen der EU den Schutz des Wettbewerbs und der Freiheit des europäischen Binnenmarktes zum Ziel haben, ist Art 101 AEUV eine unmittelbare Anwendbarkeit für die Normadressaten einzuräumen.29 Diese unmittelbare Anwendbarkeit führt dazu, dass Einzelne einen Verstoß gegen diese Vorschrift geltend machen und (gemeinsam und im Einklang mit nationalen Rechtsnormen) als Anspruchsgrundlage vor Gericht vorbringen können, um Schadenersatz- und Unterlassungsansprüche durchzusetzen.30 Entschieden werden diese Rechtssachen dann grundsätzlich von den nationalen Gerichten der jeweiligen Mitgliedsstaaten.31 26 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 5. 27 Vgl Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 234. Lfg (2020) Art 101 AEUV Rz 9; Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 5. 28 Vgl EuGH 23.11.2006, Rs C-238/05, Asnef-Equifax, ECLI:EU:C:2006:734 Rz 65; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht (2007) S 1718. 29 Vgl Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union 7 (2020) S 1158; seit der Verordnung 1/2003/EG des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1, 1, gilt die unmittelbare Anwendbarkeit auch für Art 101 Abs 3 AEUV. 30 Vgl EuGH 20.09.2001, Rs C-453/99 Courage und Crehan, ECLI:EU:C:2001:465 Rz 26; Jaeger, Materielles Europarecht2 (2020) S 279. 31 Vgl EuGH 27.03.1974, Rs C-127/73, BRT/SABAM, ECLI:EU:C:1974:25 S 319. 10
2. Anwendungsbereich des Art 101 AEUV a) Sachlicher Anwendungsbereich Grundsätzlich ist Art 101 AEUV auf alle Bereiche des Wirtschaftslebens anzuwenden, die auch vom AEUV erfasst werden, sofern für sie keine besonderen Ausnahmen gelten.32 Solche Bereichsausnahmen nehmen beispielsweise die Landwirtschaft nach Art 42 AEUV, das Rüstungswesen nach Art 346 Abs 1 AEUV und mit der Daseinsvorsorge betraute Unternehmen nach Art 106 Abs 2 von den wettbewerbsrechtlichen Regelungen aus.33 Die oben geschilderte Vorgehensweise in der Formel 1 ist unstreitig als sportbezogener Sachverhalt anzusehen. Nach der Walrave und Koch – Entscheidung unterliegen solche Sachverhalte den unionsrechtlichen Vorschriften, „als sie einen Teil des Wirtschaftslebens im Sinne von Art 2 des (EG-)Vertrages ausmachen“.34 Die Grundfreiheiten etwa sind sowohl dem EuGH als auch der Kommission zufolge auch bei sportbezogenen Sachverhalten anzuwenden.35 Entscheidend ist hierfür aus der Sicht des EuGH eine zusätzliche wirtschaftliche Dimension;36 aber auch der Umstand, dass ein Regelwerk einen rein sportlichen Charakter hat, führt nicht automatisch zu der Nichtanwendung der Verträge auf denjenigen, „der die dieser Regelung unterliegende sportliche Tätigkeit ausübt, oder die Institution, die diese Regelungen erlassen hat“.37 Die oben angeführten einschlägigen Regelungen und im Zusammenhang damit die Verträge der FIA beziehungsweise der FOM mit dem Reifenhersteller Pirelli haben eine klare wirtschaftliche Dimension. Jährlich wird jedes Team in der Formel 1 mit rund 200 Reifensätzen im Wert von mehreren Millionen Dollar ausgestattet.38 32 Vgl Jaeger, Materielles Europarecht2 (2020) S 279. 33 Vgl Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 234. Lfg (2020) Art 101 AEUV Rz 15f; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union7 (2020) Rz 1160. 34 Vgl EuGH 12.12.1974, Rs 36/74 Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale ua, ECLI:EU:C:1974:140 Rz 4/14. 35 Vgl Weißbuch Sport, KOM (2007) 391 endgültig S 14; Leidenmühler, Europarecht4 (2020) S 157; Ruffert in Callies/Ruffert, EUV/AEUV5 (2016) Art 165 AEUV, Rz 6. 36 Vgl EuGH, 18.07.2006, Rs C-519/04 P, Meca-Medina und Majcen /Kommission, ECLI:EU:C:2006:492 Rz 22; EuGH, 14.07.1976, Rs C-13/76, Donà/Mantero, ECLI:EU:C:1976:115. 37 Vgl EuGH, 18.07.2006, Rs C-519/04 P, Meca-Medina und Majcen /Kommission, ECLI:EU:C:2006:492 Rz 27. 38 Vgl Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 8f. 11
Da keine der vorhin genannten Bereichsausnahmen einschlägig ist, ist die hier untersuchte Praxis von Pirelli als Einheitslieferant für Reifen in der Formel 1 vom sachlichen Anwendungsbereich der Art 101f AEUV erfasst. Die Gruppenfreistellungsverordnung VO (EU) Nr 461/2010 der Kommission vom 27. Mai 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor, ABl 2010 L 192/52 ist schon deshalb nicht einschlägig, weil die in der Formel 1 verwendeten Fahrzeuge keine Kraftfahrzeuge iSd Verordnung sind, da sie nicht „für den Verkehr auf öffentlichen Straßen bestimmt“ sind (siehe Art 1 Abs 1 lit f leg cit). b) Räumlicher Anwendungsbereich Das Gebiet der hoheitlichen Durchsetzbarkeit der kartellrechtlichen Vorschriften wird durch den räumlichen Anwendungsbereich begrenzt, der in Art 355 iVm Art 52 AEUV geregelt ist. Das Kartellrecht der EU hat demnach jedenfalls in allen Mitgliedstaaten sowie in den Azoren, Kanaren, französischen Departements in Übersee sowie Madeira Anwendung zu finden. Nach dem Nationalitätsprinzip unterliegen Gesellschaften, bei deren Gründung sich der Rechtsform eines Mitgliedsstaates bedient wurde, der Anwendbarkeit des Kartellrechts der EU in räumlicher Hinsicht.39 Die FIA hat ihren Sitz in Paris und wurde dort als Verein nach dem Gesetz von 1901 nach französischem Vereinsrecht gegründet (vgl Art 1 Loi du 1er juillet 1901 relative au contrat d'association). Der Reifenhersteller Pirelli mit Sitz in Mailand40 ist rechtlich gesehen eine Società per azioni, was in Italien die entsprechende Rechtsform für Aktiengesellschaften darstellt (vgl Art 2325 – 2457 Codice civile). 39Vgl EuG, 25.03.1999, Rs T-102/96, Gencor/Kommission, ECLI:EU:T:1999:65 Rz 64. 40Vgl https://corporate.pirelli.com/corporate/en-ww/investors/shareholder-information/shareholder-structure, aufgerufen am 05.10.2021. 12
Daraus ergibt sich die räumliche Anwendbarkeit der kartellrechtlichen Bestimmungen der EU auf die von der FIA und Pirelli gesetzten Handlungen im Einklang mit Art 355 iVm Art 52 AEUV und nach dem Nationalitätsprinzip. Daneben tritt der Grundsatz der sog extraterritorialen Anwendbarkeit des EU- Kartellrechts. Das bedeutet, dass die Bestimmungen des Kartellrechts der EU auch auf Unternehmen, die ihren Sitz in einem Drittland haben, und auf außerhalb der EU gesetzte Handlungen anwendbar sein können.41 Begründet wird die Anwendung der kartellrechtlichen Regelungen entweder mit dem Territorialitätsprinzip, nach dem das Kartell im Gebiet der Union umgesetzt werden muss42, oder mit dem Auswirkungsprinzip, wenn die Auswirkungen im Gebiet der EU unmittelbar, wesentlich und vorhersehbar sind.43 Die Vereinbarung zwischen der FIA und Pirelli bezieht sich auf die Ausstattung aller an der Formel 1 teilnehmenden Teams. Darunter befinden sich sowohl Teams mit Sitz in Mitgliedsstaaten der EU als auch in Drittländern. Da die betreffenden Teams ihre Reifen bei keinem anderen Hersteller als Pirelli beziehen dürfen, kann sowohl von einer Umsetzung der (möglichen) Kartellvereinbarung im Unionsgebiet als auch von Auswirkungen in diesem gesprochen werden. Würden hinsichtlich der Anwendbarkeit des EU-Kartellrechts nach Maßgabe der Art 355 iVm 52 AEUV oder des Nationalitätsprinzips noch Zweifel bestehen, so erhärten das Territorialitätsprinzip und das Auswirkungsprinzip, dass das hier untersuchte Verhalten dem räumlichen Anwendungsbereich von Art 101 AEUV unterliegt. c) Zeitlicher Anwendungsbereich Auch wenn Handlungen von Unternehmen schon vor Inkrafttreten des EG- Vertrages vorgenommen wurden, unterliegen sie den nun geltenden kartellrechtlichen Vorschriften der EU.44 41 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 193. 42 Vgl EuGH 27.09.1988, VerbRs C-89, 104, 114, 116, 117 und 125 bis 129/85, British Columbia Forest Products, ECLI:EU:C:1988:447 Rz 16; EuG 15.03.2000, Rs T-25/95 ua, Cimenteries CBR /Kommission, ECLI:EU:T:2000:77 S 4240f. 43 Vgl EuG 25.03.1999, Rs T-102/96, Gencor/Kommission, ECLI:EU:T:1999:65 Rz 90. 44 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 193. 13
Da die ersten Vereinbarungen mit Pirelli aus der Zeit um 2009 stammen und die Verlängerung der Verträge in den letzten Jahren erfolgte45, liegen die in dieser Arbeit untersuchten Verhaltensweisen klar im zeitlichen Anwendungsbereich des Art 101 AEUV. 3. Normadressaten Dem Gesetzeswortlaut nach richtet sich Art 101 AEUV an Unternehmen beziehungsweise Unternehmensvereinigungen. Der hier genannte Unternehmensbegriff ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts.46 Aus der stRsp lässt sich ein funktionaler Unternehmensbegriff ableiten, was bedeutet, dass die Tätigkeit einer (juristischen oder natürlichen) Person bestimmend für deren Unternehmenseigenschaft ist.47 Die Rechtsform beziehungsweise die Finanzierung spielen dabei keine Rolle.48 Der entscheidende Faktor ist die Teilnahme am Wirtschaftsleben, also dem Nachgehen einer wirtschaftlichen Tätigkeit.49 Die stRsp versteht unter wirtschaftlicher Tätigkeit „jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten“.50 Die Absicht, damit auch Gewinne zu erzielen, kann ein Indiz für die Unternehmereigenschaft sein, ist aber grundsätzlich nicht erforderlich.51 Pirelli als börsennotierter Reifenhersteller geht zweifellos einer wirtschaftlichen Tätigkeit nach und ist somit als Unternehmer iSv Art 101 AEUV zu qualifizieren. 45 Vgl etwa Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 8; https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der- formel-1, aufgerufen am 05.10.2021. 46 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 195. 47 Vgl EuGH 23.04.1991 Rs C-41/90, Höfner und Elser/Macrotron, ECLI:EU:C:1991:161 Rz 21-23. 48 Vgl EuGH 23.04.1991 Rs C-41/90, Höfner und Elser/Macrotron, ECLI:EU:C:1991:161 Rz 21. 49 Vgl Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV, 234. Lfg (2020) Art 101 AEUV Rz 34. 50 EuGH 24.10.2002, Rs C-82/01 P, Aéroports de Paris/Kommission, ECLI:EU:C:2002:617 Rz 79, an dieser Stelle wN. 51 Vgl EuGH 21.09.1999, Rs C-67/96, Albany, ECLI:EU:C:1999:430 Rz 79; EuGH 01.07.2008, Rs C-49/07, MOTOE, ECLI:EU:C:2008:376 Rz 21f; Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 234. Lfg (2020) Art 101 AEUV Rz 34. 14
Grundsätzlich können auch Sportverbände wie die FIA unter oben genannten Kriterien als Unternehmen angesehen werden.52 Die wirtschaftliche Tätigkeit eines Sportverbandes kann aus dem Veranstalten von Wettkämpfen und Meisterschaften, der kommerziellen Vermarktung dieser Veranstaltungen, dem Abschluss von Sponsoringvereinbarungen und dergleichen bestehen.53 Auch wenn die FIA die kommerziellen Übertragungsrechte an der Rennsportserie Formel 1 an die FOM übertragen hat, so geht sie schon durch das Ausrichten der Formel 1-Weltmeisterschaft, womit Geschäfte mit Streckenbetreibern, Sponsoren etc verbunden sind, in ihrer Rolle als internationaler Verband einer wirtschaftlichen Betätigung von nicht unerheblichem Ausmaß nach.54 In diesem Licht ist daher auch die FIA als Unternehmer anzusehen. Mit der Adressierung von Unternehmern beziehungsweise Unternehmensvereinigungen richtet sich das Wettbewerbsrecht der EU also an wirtschaftliche Einheiten, die aus einer oder mehreren natürlichen oder juristischen Personen bestehen können. 55 Zu beachten ist dabei, dass für die Anwendbarkeit des Art 101 AEUV die untersuchten Unternehmen jedes für sich eine eigene, selbständige wirtschaftliche Einheit darstellen müssen; sie dürfen beispielsweise nicht zu demselben Konzern gehören.56 Im vorliegenden Fall ist das jedoch unproblematisch, da die FIA als Verein nach französischem Vereinsrecht und die SpA Pirelli aus wirtschaftsrechtlicher Perspektive voneinander unabhängig sind. Sie sind somit beide Normadressaten des Art 101 AEUV. 52 Vgl Hail, Spitzensport im Licht des Europäischen Kartellrechts 1 (2014) S 231; Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd 4)² (2021) § 8 Rz 52. 53 Vgl Hail, Spitzensport im Licht des Europäischen Kartellrechts1 (2014) S 231; wN über die wirtschaftliche Tätigkeit (nationaler) Verbände EuG 26.01.2005, Rs T-193/02, Piau/Kommission, ECLI:EU:T:2005:22 Rz 71. 54 Vgl EuG 26.01.2005, Rs T-193/02, Piau/Kommission, ECLI:EU:T:2005:22, Rz 71; mwN die Schlussanträge des GA in EuGH 20.09.1995, Rs C-415/93, Union royale belge des sociétés de football association ua/Bosman ua, ECLI:EU:C:1995:293 Rz 256f. 55 Vgl EuGH 12.07.1984, Rs C-170/83, Hydrotherm, ECLI:EU:C:1984:271 Rz 11; Brinker in Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar4 (2019), Art 101 AEUV Rz 33. 56 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungrecht (EnzEuR Bd 4)² (2021) §8, Rz 65; EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 Rz 132/135; EuG 01.04.1993, Rs T-65/89, BPB Industries und British Gypsum/Kommission, ECLI:EU:T:1993:31, Rz 149; EuG 30.09.2003, Rs T-203/01, Michelin/Kommission, ECLI:EU:T:2003:250, Rz 290; EuG 29.04.2004, Rs T- 236/01 ua, Tokai Carbon/Kommission, ECLI:EU:T:2004:118, Rz 279. 15
4. Der relevante Markt Für die Frage, ob die europäischen Wettbewerbsvorschriften einschlägig sind, ist zumeist eine gewisse Macht über den Markt von Bedeutung.57 Um beurteilen zu können, ob ein beziehungsweise mehrere Unternehmen diese Marktmacht innehaben, muss zuerst einmal der relevante Markt ermittelt werden. Dieser relevante Markt setzt sich aus einer sachlichen, einer räumlichen und einer zeitlichen Komponente zusammen.58 Indem versucht wird, mithilfe dieser Komponenten den relevanten Markt zu ermitteln, entsteht auch ein klareres Bild von den Wettbewerbskräften, denen das fragliche beziehungsweise die fraglichen Unternehmen ausgesetzt sind und die dem Handeln auf dem Markt Grenzen setzen.59 Die erste oben genannte Komponente zur Festlegung des relevanten Marktes ist die sachliche Komponente. Der sachlich relevante Markt ist der sog Produktmarkt, der sich durch die physischen Merkmale eines bestimmten Produkts und die daraus resultierenden differierenden Verwendungsmöglichkeiten ergibt.60 Die Kommission versteht darunter alle Produkte, die in den Augen der Verbraucher im Hinblick auf Eigenschaften, Preis und Verwendungszweck als austauschbar angesehen werden.61 Der Verbraucherbegriff des europäischen Wettbewerbsrechts ist ein weiter und bezieht alle mittelbaren und unmittelbaren Abnehmer wie Endverbraucher, Weiterverarbeiter, Groß- oder Einzelhändler62 der gegenständlichen Produkte mit ein.63 57 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 199. 58 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 5. 59 Vgl Lewisch in Mayer/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 159a Lfg (2013) Art 102 AEUV Rz 23. 60 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 5; Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 202. 61 Vgl Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl 1997 C 372/03 Rz 7. 62 Vgl Jones/Sufrin, EU Competition Law4 (2011) S 248; Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV Art 101 AEUV Rz 124 (Stand 1.11.2019, rdb.at). 63 Vgl Bekanntmachung der Kommission - Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag ABl 2004 L 101/08 Rz 84. 16
In der Rsp wird darauf abgestellt, dass die fraglichen Produkte dazu dienen, einen gleichbleibenden Bedarf zu befriedigen und grundsätzlich nur schwierig durch andere Produkte ausgetauscht werden können.64 Das im vorliegenden Fall untersuchte Produkt besteht in der Bereitstellung von Rennreifen (beziehungsweise Rennreifensätzen), die gemäß dem jeweils gerade gültigen Reglement für den Einsatz in der Formel 1 geeignet sind. Aufgrund der genauen technischen Spezifikationen und praktischen Anforderungen überschneidet sich der sachlich relevante Markt von Formel 1-Reifen weder mit dem von Reifen für Fahrzeuge im Straßenverkehr noch mit den Reifen der meisten anderen Rennserien. Während die im Straßenverkehr eingesetzten Reifen im Hinblick auf Komfort, Verschleiß, Haftung und Bremsen auf nassem Untergrund auf einen „bestmöglichen Kompromiss“ ausgerichtet sind, ist das Einsatzgebiet eines Formel 1-Reifens viel spezieller, da je nach Strecke, erwarteter Streckentemperatur und Witterung aus drei beziehungsweise maximal fünf verschiedenen Reifenmodellen pro Rennwochenende gewählt werden kann.65 Von den in vielen anderen Rennserien eingesetzten Reifen unterscheiden sich die Formel 1-Reifen wiederum dadurch, dass sie (abgesehen von Regen- und Übergangsreifen) kein Profil aufweisen.66 Aus diesem Grund ist bereits der sachlich relevante Markt in diesem Fall relativ eng festzulegen. Die zweite zu betrachtende Kategorie ist der räumlich beziehungsweise geografisch relevante Markt. Annähernd gleiche Wettbewerbsbedingungen,67 Preise und Marktanteile, aber auch Kundenpräferenzen fließen bei der Bestimmung des räumlich relevanten Marktes mit ein.68 Auch ein Blick auf die Regionen, wo der Vertrieb eines Produktes erfolgt, hilft, den räumlich relevanten Markt 64 Vgl EuGH 18.04.1975, Rs C-6/72, Europemballage Corporation und Continental Can Company/Kommission, ECLI:EU:C:1975:50 Rz 32; EuGH 13.02.1979, Rs C-85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, ECLI:EU:C:1979:36 Rz 28; EuGH 26.11.1998, Rs C-7/97, Bronner, ECLI:EU:C:1998:569, Rz 33. 65 Vgl https://www.pirelli.com/tyres/de-de/motorsport/f1/reifen, aufgerufen am 05.10.2021. 66 Vgl https://www.pirelli.com/tyres/de-de/motorsport/katalog/rallye, aufgerufen am 05.10.2021. 67 Vgl EuGH 14.02.1978, Rs C-27/76, United Brands/Kommission, ECLI:EU:C:1978:22 Rz 10f. 68 Vgl Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl 1997 C 372/03 Rz 28f. 17
einzugrenzen.69 Zieht man diese Kriterien heran, so kann sich auch ein regionaler beziehungsweise lokaler Markt als relevanter Markt ergeben.70 Wie einleitend und bei Betrachtung des Produktmarkts bereits erläutert, befindet sich die Formel 1 – und damit auch die Reifen beziehenden Teams – an der absoluten Spitze des Motorsports. Abgesehen von den zehn teilnehmenden Teams71 werden an niemanden sonst neue Formel 1-Reifen vertrieben.72 Der räumlich relevante Markt lässt sich daher auf die Standorte der verschiedenen Formel 1-Teams eingrenzen. Nicht zu verwechseln ist der gerade festgelegte geografisch relevante Markt mit der sog Unionsrelevanz, die ihre Bedeutsamkeit eher im Bereich des Missbrauchsverbots des Art 102 AEUV findet.73 Wenn die Austauschbarkeit eines Produkts je nach Saison variiert, kann auch die zeitliche Komponente iSe zeitlich relevanten Marktes eine Rolle bei der Bestimmung des relevanten Marktes spielen, was nach der Lit aber eher Ausnahmefälle betrifft.74 In der Formel 1 werden Rennen üblicherweise von März bis November beziehungsweise Dezember ausgetragen.75 So kann nicht von einem von Jahreszeiten oder Saisonen abhängigen Markt die Rede sein. Zu beachten ist jedoch, dass aufgrund der zumeist über mehrere Jahre beziehungsweise Rennsaisonen abgeschlossenen Verträge zwischen der FIA und Pirelli76 nur zum Ende der jeweiligen Vertragslaufzeit andere Reifenhersteller die theoretische Chance bekommen, auf dem Markt der Formel 1-Reifen aufzutreten. 69 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 5. 70 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 9. 71 Vgl https://www.motorsport-total.comf/ormel-1/teams-und-fahrer, aufgerufen am 05.10.2021. 72 Sogar die Reifen, die durch die Rennausfälle im Anfang des Jahres 2020 keine Verwendung fanden, wurden nicht an Dritte verkauft, sondern vernichtet: https://www.formel1.de/news/news/2020-03-16/nach- rennabsagen-pirelli-muss-1-600-reifen-loswerden, aufgerufen am 05.10.2021. 73 Vgl Lewisch in Mayer/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 159a. Lfg. (2013) Art 102 AEUV Rz. 42. 74 Vgl etwa Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 5; relevant aber im Fall EuGH 14.02.1978, Rs C-27/76, United Brands/Kommission, EC.LI:EU:C:1978:22 Rz 13ff. 75 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/termin-kalender/2021, aufgerufen am 05.10.2021. 76 Vgl https://de.motorsport.com/f1/news/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der-formel-1- 21030517/5596893/, aufgerufen am 05.10.2021. 18
Exkurs: Autonomie von Sportverbänden im Unionsrecht Auf europäischer Ebene regelt und garantiert die EU-Grundrechtecharta, die gemäß Art 6 Abs 1 EUV als mit den Verträgen der Union gleichrangig zu sehen ist, 77 in Art 12 Abs 1 leg cit die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Eine Vereinigung iSd Art 12 Abs 1 GRCh liegt dann vor, wenn sich mehrere Personen freiwillig zu einem gemeinsamen Zweck zusammenschließen. Dieser Zweck muss dabei ein Minimum an organisatorischer und zeitlicher Kontinuität sowie organisierter Willensbildung aufweisen.78 Davon abgesehen spielt der Zweck keine Rolle für die Qualifikation eines Zusammenschlusses als Vereinigung. 79 Art 12 Abs 1 GRCh erfasst auch juristische Personen und Personenvereinigungen.80 Folglich sind auch Sportverbände (wie beispielsweise die FIA) vom Vereinigungsbegriff der GRCh und damit auch von der in Art 12 Abs 1 GRCh festgeschriebenen Vereins- beziehungsweise Verbandsautonomie erfasst. Auch der EuGH hat eine Autonomie der Sportverbände bei der Festsetzung von Reglements bekräftigt.81 Er betont allerdings, dass diese Autonomie nicht soweit führen dürfe, dass durch ein Sportregelwerk Rechte, die dem einzelnen durch den AEUV verliehen wurden, eingeschränkt werden.82 Der AEUV begrenzt also in gewisser Weise die Verbandsautonomie. Im AEUV selbst befasst sich der Art 165 mit dem Thema Sport und gibt Hinweise auf die berücksichtigungswerten Besonderheiten des Sportwesens, ohne die Selbstbestimmung der Sportverbände einzuschränken.83 Der EuGH ergänzt hierzu, dass Eigenheiten des Sports im Rahmen einer allfälligen Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden müssten.84 Zusammengefasst wird Sportverbänden grundsätzlich weitgehende Autonomie bei der Festsetzung der Regeln des Sportes gewährt. Ihre Grenzen findet diese Autonomie aber in den aus dem AEUV resultierenden Rechten und Pflichten. 77 Vgl Leidenmühler, Europarecht4 (2020) S 126. 78 Vgl Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 (2021) Rz 14. 79 Vgl Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 (2021) Rz 10. 80 Vgl Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 (2021) Rz 21. 81 Vgl EuGH 15.12.1995, Rs C-415/93, Union royale belge des sociétés de football association ua/ Bosman ua, ECLI:EU:C:1995:463, Rz 81. 82 Vgl EuGH 15.12.1995, Rs C-415/93, Union royale belge des sociétés de football association ua/ Bosman ua, ECLI:EU:C:1995:463, Rz 81. 83 Vgl Grodde, Die Aufnahme des Sports in die Europäische Verfassung, SpuRt (2005) S 222ff (205). 84 Vgl EuGH 13.03.2010, Rs C-325/08, Olympique Lyonnais, ECLI:EU:C:2010:143 Rz 40. 19
Nachdem in den vorangehenden Unterkapiteln die Anwendbarkeit von Art 101 AEUV auf die Praxis von Pirelli als Einheitslieferant für Reifen in der Formel 1 sowie allfällige Vorfragen geklärt wurden, wird im folgenden Kapitel das Vorliegen des Tatbestands des Kartellverbots und etwaiger Freistellungsmöglichkeiten überprüft. B. Art 101 Der Tatbestand des Kartellverbots findet sich in Art 101 AEUV und umfasst die Tatbestandsmerkmale der Verhaltenskoordination zwischen wenigstens zwei Unternehmen mit der Eignung, den Handel zwischen Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen, und die innerhalb des Binnenmarktes eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirken kann.85 1. Verhaltenskoordination a) Vereinbarung Einigen Stimmen der Lit zufolge ist der Begriff der Vereinbarung im zivilrechtlichen Sinn zu verstehen.86 Nach der stRsp liegt eine solche Vereinbarung vor, „wenn die betreffenden Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten“.87 Dabei ist die Art und Weise der Vereinbarung unerheblich; es genügt, wenn dieser eben genannte gemeinsame Wille darin irgendwie zum Ausdruck kommt. 88 Ob eine derartige Vereinbarung vorliegt, kann unter anderem aus dem Verhalten der 85 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 205. 86 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 37; in diesem Sinne auch Müller- Graff in Vedder/Heintscheil von Heinegg (Hrsg), Europäischen Unionsrecht² (2018) Art 101 AEU Rz 9. 87 EuG 15.07.1970, Rs T-41/96, Bayer/Kommission, ECLI:EU:T:2000:242 Rz 67; EuGH 29.10.1980, VerbRs C-209-215 und C-218/78, Van Landewyck ua/Kommission, ECLI:EU:C:1980:248 Rz 86; EuG 17.12.1991, Rs T-7/89, Hercules Chemicals/Kommission, ECLI:EU:T:1991:75 Rz 256. 88 Vgl EuG 24.10.1991, Rs T-1/89, Rhône-Poulenc/Kommission, ECLI:EU:T:1991:56 Rz 120. Dabei tendiert die Verwaltungspraxis neuerdings dazu, auf die rechtliche Bindung zu verzichten, vgl Entscheidung der Kommission vom 21. Dezember 1988 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG- Vertrags, ABl 1989 L 74/21 Rz 30. 20
betrachteten Unternehmen abgeleitet werden, wobei aber auf einer Seite eine „zumindest stillschweigende Zustimmung“ nachweislich vorliegen muss.89 Bei den Vereinbarungen zwischen Unternehmen gibt es sog horizontale und vertikale Vereinbarungen. 90 Beide Arten von Absprachen werden vom Kartellverbot erfasst.91 Horizontale Vereinbarungen werden zwischen zwei Konkurrenten getroffen, während vertikale Vereinbarungen zwischen zwei Unternehmern stattfinden, die auf unterschiedlichen Marktstufen in einem Verhältnis von Anbieter und Nachfrager stehen.92 Bei letztgenannten Vereinbarungen ist nicht unbedingt eine mangelnde Handlungsfreiheit der Beteiligten am Markt das Problem, sondern die dadurch womöglich eingeschränkte Handlungs- und Wahlfreiheit Dritter.93 Verglichen mit horizontalen Vereinbarungen sind vertikale oftmals komplexer, was von Besonderheiten der betreffenden Produkte und den Wirkungen des Vertriebs auf das ganze System rund um die Unternehmen herrührt. 94 Die Geschäftsbeziehung zwischen der FIA und Pirelli würde aufgrund der Nachfrager- und Anbieterrollen dieser Unternehmen zu vertikalen Vereinbarungen führen. Es ist allerdings schwierig, einem der beiden Unternehmen eine Zustimmung in der im Adalat-Urteil geforderten Qualität nachzuweisen.95 Das Vorliegen einer kartellrechtlich bedenklichen Vereinbarung kann somit nicht zweifelsfrei festgestellt werden. b) Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen Auch Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen können den Tatbestand des Art 101 AEUV darstellen. 89 EuGH 06.01.2004, VerbRs C-2/01 P und C-3/01, BAI und Kommission/Bayer AG (Adalat), ECLI:EU:C:2004:2 Rz 17. 90 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd 4)² (2021) § 8 Rz 71f. 91 Vgl EuGH 13.07.1966, VerbRs C-56/64 und C-58/64, Consten und Grundig/Kommission, ECLI:EU:C:1966:41 S 450; EuGH 30.06.1966, Rs C-56/65, Société Technique Minière/Maschinenbau Ulm, ECLI:EU:C:1966:38 S 282; EuG 14.07.1994, Rs T-77/92, Parker Pen/Kommission, ECLI:EU:T:1994:85 S II- 549. 92 Vgl Hoffer/Innerhofer, Die Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen, ÖBl 2011/48. 93 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd 4)² (2021) § 8 Rz 72. 94 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd 4)² (2021) § 8 Rz 72. 95 EuGH 06.01.2004, VerbRs C-2/01 P und C-3/01, BAI und Kommission/Bayer AG (Adalat), ECLI:EU:C:2004:2 Rz 17. 21
Der Begriff der Unternehmensvereinigung ist sehr weit zu verstehen; es kommt nicht auf die Art oder überhaupt das Vorliegen einer Rechtspersönlichkeit an oder ob die Vereinigung privatrechtlicher oder öffentlichrechtlicher Natur ist.96 Als Beschluss iSd Art 101 AEUV ist zu verstehen, wenn die eben genannten Unternehmensvereinigungen sich auf die in ihrer Satzung vorgegebenen Art97 einigen, wie beziehungsweise in welche Richtung das Wettbewerbsverhalten der Mitgliedsunternehmen gelenkt werden soll.98 Die FIA und Pirelli stellen in keiner Weise eine Unternehmensvereinigung dar. Dieses alternative Tatbestandsmerkmal ist somit nicht erfüllt. c) Abgestimmtes Verhalten Die aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen als letzte der drei Alternativen der Verhaltenskoordination stellen eine Art Auffangtatbestand dar.99 Von der Rsp werden abgestimmte Verhaltensweisen als Koordinierung zwischen Unternehmen verstanden, bei der es noch nicht zu einem Vertragsabschluss gekommen ist, aber bei der bewusst auf praktische Zusammenarbeit statt riskantem Wettbewerb gesetzt wird.100 Im Gegensatz zur Verhaltenskoordination durch Vereinbarung erfordern aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen also keine rechtlich bindende Willenserklärung. Entscheidend ist, dass einem abgestimmten Marktverhalten ein erkennbares Verhaltensmuster oder ein gemeinsamer Plan zugrunde liegt. 101 Diese weite Begriffsauffassung macht in der Praxis die Abgrenzung vom erlaubten Parallelverhalten schwierig.102 Jedem Unternehmen steht es grundsätzlich frei, sich am tatsächlichen oder erwarteten Verhalten von Marktbegleitern zu orientieren und 96 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 208. 97 Vgl Entscheidung der Kommission vom 5. Dezember 1984 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/30.307 — Feuerversicherung (D)), ABl 1985 L 35/20 Rz 23. 98 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd 4)² (2021) § 8 Rz 113. 99 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 40; Müller-Graff in Vedder/Heintscheil von Heinegg (Hrsg), Europäischen Unionsrecht² (2018) Art 101 AEUV Rz 14. 100 Vgl EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 S 619, 658; EuG 15.03.2000, VerbRs T-25/95 ua, Cimenteries CBR /Kommission, ECLI:EU:T:2000:77 Rz 1852ff. 101 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 41. 102 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 42; Müller-Graff in Vedder/Heintscheil von Heinegg (Hrsg), Europäischen Unionsrecht² (2018) Art 101 AEUV Rz 15. 22
daran anzupassen.103 Von abgestimmtem Verhalten kann im Gegensatz dazu nur die Rede sein, wenn über ein gewolltes Zusammenwirken Ungewissheiten über das Marktverhalten ausgeräumt werden. Dies kann etwa durch einseitige Informationsvorgänge, Informationsaustausch oder (bereits einmalige) Kontaktaufnahme zur Beeinflussung erfolgen.104 In der Praxis zeigen sich oftmals Schwierigkeiten, diese Vorgänge nachzuweisen; besonders, wenn keine Geständnisse oder Schriftstücke105 vorliegen, muss die Beurteilung auf Indizien gestützt werden und dabei alle dafür und dagegen sprechenden Umstände würdigen.106 Das Vorliegen von grundsätzlich erlaubtem Parallelverhalten kann ein solches Indiz darstellen, dass Unternehmen ihr Marktverhalten aufeinander abstimmen. In gewissen Fällen lässt sich dieses Parallelverhalten nämlich nur durch Abstimmung erklären.107 Auch Verhalten, das im Grunde den Eigeninteressen eines Unternehmens widerspricht,108 sowie das Verfolgen einer Preispolitik ohne Rücksicht auf den Rest des Marktes109 legen nahe, dass Unternehmen ihr Marktverhalten aufeinander abstimmen. Im Wettbewerb um den ersten Zuschlag als Einheitslieferant standen sich die Hersteller Michelin, Pirelli und Avon gegenüber. Einiges spricht dafür, dass Pirelli durch einen Deal mit Bernie Ecclestone (damals in seiner Funktion als Geschäftsführer der Formula One Group) informiert wurde, wie niedrig das Angebot ausfallen müsste, um die Konkurrenz zu unterbieten.110 103 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd 4)² (2021) § 8 Rz 121; Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 42. 104 Vgl Müller-Graff in Vedder/Heintscheil von Heinegg (Hrsg), Europäischen Unionsrecht² (2018) Art 101 AEUV Rz 15. 105 Vgl EuGH 07.06.1983, VerbRs C-100/80 bis C-103/80, Musique Diffusion française ua/ Kommission, ECLI:EU:C:1983:158 S 1894; EuGH 21.02.1984,Rs C-86/82, Hasselblad/Kommission, ECLI:EU:C:1984:65 Rz 24. 106 Vgl EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 S 619, 658f; EuGH 28.03.1984, VerbRs C-29/83 und 30/83, CRAM ua/Kommission, ECLI:EU:C:1984:130 S 1679, 1701. 107 Vgl EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 Rz 64/67; EuGH 31.03.1993, VerbRs C-89/85, C-104/85, C-114/85, C-116/85, C-117/85, C-125/85, C-126/85, C-127/85, C-128/85 und C- 129/85, Ahlström Osakeyhtiö ua/Kommission, ECLI:EU:C:1993:120 Rz 71,126. 108 Vgl Entscheidung der Kommission vom 2. Januar 1973 betreffend ein Verfahren nach den Artikeln 85 und 86 des EWG-Vertrags (IV/26.918 - Europäische Zuckerindustrie), ABl 1973 L 140/17 Rz 30ff; Entscheidung der Kommission vom 23. Dezember 1977 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG- Vertrags (IV/29.176 - Pergamentpapier), ABl 1978 L 70/54. 109 Vgl EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 S 658, 662. 110 Vgl Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 8. 23
Bereits vor Erteilung des Zuschlags wurde von Pirelli in den Medien verkündet, lieber als Einheitslieferant als im ständigen Wettkampf gegen andere Hersteller die Teams zu beliefern.111 Gegen Ende der Vertragslaufzeiten wurden ordnungsgemäß Ausschreibungen vorgenommen, jedoch wurden die Zeitpunkte taktisch so gewählt, dass andere als der etablierte Hersteller Pirelli wegen bevorstehender Reglementänderungen jeweils „alte“ und „neue“ Reifen entwickeln und herstellen müssten. Diese Praxis verschafft dem bereits etablierten Hersteller einen klaren Vorteil. Geplant war, in der Saison 2020 13-Zoll-Reifen einzusetzen, um dann ab 2021 18-Zoll-Reifen zu verwenden.112 Diese Änderung wurde bereits 2010 von Pirelli für wünschenswert befunden.113 Dazu kommt, dass die Änderung der Reifendimensionen in der ursprünglichen Ausschreibung für die betreffenden Saisonen nicht gleich bekannt gemacht wurde, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt den Anwärtern mitgeteilt wurde.114 Auffallend ist weiters, dass mit der Verschiebung der geplanten Reglementänderung auf 2022 auch der Vertrag mit Pirelli um ein Jahr länger als geplant ausgedehnt wurde. Begründet wurde die Verlängerung damit, dass Pirelli die neu entwickelten Reifen mit 18 Zoll Felgendurchmesser dann nur zwei Jahre statt wie geplant drei Jahre einsetzen können würde.115 In die eben genannten Vorgänge lässt sich nur aus Pressemitteilungen der FIA und von Reifenherstellern ein Einblick gewinnen. Die großteils aus Motorsport- Zeitschriften stammenden herangezogenen Artikel stellen keine endgültigen Beweise für oder gegen das Vorliegen eines abgestimmten Verhaltens zwischen der FIA und Pirelli dar. Nach Meinung der Verfasserin sind jedoch in den eben beschriebenen Praktiken und Vorgängen Indizien zu sehen, die auf eine 111 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/reifen-pirelli-will-michelin-nur-mit-konkurrenz- 10050718, aufgerufen am 05.10.2021. 112 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/fia-aendert-ausschreibung-fuer-formel-1- reifenlieferant-18081106, aufgerufen am 05.10.2021. 113 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/reifen-pirelli-will-michelin-nur-mit-konkurrenz- 10050718, aufgerufen am 05.10.2021. 114 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/fia-aendert-ausschreibung-fuer-formel-1- reifenlieferant-18081106, aufgerufen am 05.10.2021. 115 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester- der-formel-1, aufgerufen am 05.10.2021. 24
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