DIE FORMEL 1 UND DIE PRAXIS MIT PIRELLI ALS EINHEITSLIEFERANT IM LICHT DES EUROPARECHTLICHEN KARTELLVERBOTS - JKU ePUB

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DIE FORMEL 1
                                        Eingereicht von
                                        Mara Jaidhauser

UND DIE PRAXIS                          Angefertigt am

MIT PIRELLI ALS
                                        Institut für
                                        Europarecht

EINHEITSLIEFERANT                       Beurteiler

IM LICHT DES
                                        Univ.-Prof.Dr. Franz
                                        Leidenmühler

EUROPARECHTLICHEN
KARTELLVERBOTS                          Oktober 2021

Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
Magistra der Rechtswissenschaften
im Diplomstudium
Rechtswissenschaften

                                        JOHANNES KEPLER
                                        UNIVERSITÄT LINZ
                                        Altenberger Straße 69
                                        4040 Linz, Österreich
                                        jku.at
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und
ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel
nicht benutzt beziehungsweise die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen
als solche kenntlich gemacht habe.

Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument
identisch.

Amstetten, am 11.10.2021

Mara Jaidhauser

                                                                                  2
DIE FORMEL 1 UND DIE PRAXIS MIT PIRELLI ALS
EINHEITSLIEFERANT IM LICHT DES
EUROPARECHTLICHEN KARTELLVERBOTS

I. Inhaltsverzeichnis

I.    Inhaltsverzeichnis .............................................................................................3
II.   Einleitung ..........................................................................................................5
A. Vorbemerkungen ..............................................................................................5
B. Begriffsbestimmungen ......................................................................................6
C. Organisation der Formel 1 ................................................................................7
D. Anwendbares Sportverbandsregelwerk ............................................................8
1.    Bindungswirkung und Durchsetzung der Verbandsregelwerke .........................8
2.    Einschlägige Regelungen im Detail ..................................................................9
III. Die FIA und die Praxis mit Pirelli als Einheitslieferant für Reifen im Licht des
      europarechtlichen Kartellverbots.....................................................................10
A. Grundlagen des Kartellverbots des Art 101 AEUV .........................................10
1.    Ausgestaltung des Art 101 AEUV ...................................................................10
2.    Anwendungsbereich des Art 101 AEUV .........................................................11
a) Sachlicher Anwendungsbereich ......................................................................11
b) Räumlicher Anwendungsbereich ....................................................................12
c)    Zeitlicher Anwendungsbereich ........................................................................13
3.    Normadressaten .............................................................................................14
4.    Der relevante Markt ........................................................................................16
Exkurs: Autonomie von Sportverbänden im Unionsrecht ......................................19
B. Art 101 ............................................................................................................20
1.    Verhaltenskoordination ...................................................................................20
a) Vereinbarung ..................................................................................................20
b) Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen ................................................21
c)    Abgestimmtes Verhalten .................................................................................22
2.    Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels .......................................25
                                                                                                                          3
3.    Wettbewerbsbeschränkung ............................................................................27
4.    Spürbarkeit .....................................................................................................29
5.    Freistellung nach der Vertikal-GVO ................................................................30
6.    Legalausnahme des Art 101 Abs 3 .................................................................31
a) Effizienzgewinn ...............................................................................................31
b) Angemessene Verbraucherbeteiligung ...........................................................32
c)    Unerlässlichkeit der Beschränkung .................................................................34
d) Wesentlicher Restwettbewerb ........................................................................34
7.    Rechtsfolgen ...................................................................................................35
IV. Fazit ................................................................................................................37
V. Literaturverzeichnis .........................................................................................39
VI. Judikaturverzeichnis .......................................................................................41

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II. Einleitung

A. Vorbemerkungen

Der Reifen als einziger Überträger der Kräfte zwischen Auto und Fahrbahn spielt
eine nicht zu unterschätzende Rolle im Rennsport. Er trägt die Radlast und überträgt
die    Beschleunigungs-,            Brems-        und     Seitenführungskräfte.            Qualität      und
Strapazierfähigkeit der eingesetzten Reifen betreffen nicht nur die Sicherheit der am
Motorsport Teilnehmenden, sondern können über Sieg oder Niederlage
entscheiden.1

Von der ersten Saison der Formel 1 Weltmeisterschaft im Jahre 1950 bis in das
Jahr 2006 lag die Wahl des Reifenherstellers bei den teilnehmenden Teams.2 Je
nach Saison kamen Reifen von bis zu sechs verschiedenen Herstellern zum
Einsatz;3 darunter auch von Goodyear, mit deren Reifen in der Formel 1 insgesamt
368 Siege eingefahren werden konnten, während in dieser Zeit nur 42 Siegerreifen
von Pirelli hergestellt wurden.4

Mit der Begründung, damit den Wettkampf der einzelnen Rennställe untereinander
stärker in den Vordergrund zu rücken, wurde ab 2007 in der Formel 1 nur mehr ein
einheitlicher Reifenhersteller für alle Teams erlaubt.5 Dies war bis einschließlich der
Saison 2010 Bridgestone;6 seit der Saison 2011 ist vertraglich festgelegt, dass alle
Rennställe ihre Reifen von Pirelli beziehen.7 Im Frühjahr 2021 wurde bekannt, dass
der Vertrag mit Pirelli um ein weiteres Jahr bis inklusive 2024 verlängert wurde.8
Die Formel 1 ist eine Sportserie, die nicht nur beachtliche technische Innovation
hervorbringt und fördert9, sondern auch wirtschaftlich bedeutsam ist. So betrug der

1 Vgl Lauda, Die neue Formel 1 (1982) S 151; Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011)
S 8.
2 Vgl Ménard in Amara (Hrsg), Die große Enzyklopädie der Formel 1 (2001) S 23.
3 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der-

formel-1, aufgerufen am 05.10.2021.
4 Vgl Ménard in Amara (Hrsg), Die große Enzyklopädie der Formel 1 (2001) S 862.
5 Vgl https://www.n-tv.de/sport/Einheitsreifen-statt-Reifenkrieg-article215617.html, aufgerufen am 05.10.2021.
6 Vgl Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 8.
7 Vgl Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 9.
8 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der-

formel-1, aufgerufen am 05.10.2021.
9 Vgl Lauda, Die neue Formel 1 (1982), S 151; Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone

(2011) S 26; Prüller, Härter, breiter, schneller – die neue Formel 1 (2017) S 14.
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Gesamtumsatz der Formel 1 im Jahr 2019 2,022 Milliarden Dollar.10 Im selben Jahr
waren über 4 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer11 bei den 21 Rennen vor
Ort und etwas weniger als 2 Milliarden vor dem Fernseher.12

Diese Arbeit hat die rechtliche Bewertung der Praxis von Einheitslieferanten für
Reifen in der Formel 1 im Lichte des Kartellverbots des Art 101 AEUV zum Ziel.
Aufgrund seiner stetig anhaltenden Präsenz wird das Augenmerk dieser Arbeit auf
der Zusammenarbeit der FIA mit dem Reifenhersteller Pirelli liegen.
Als Vorfrage werden die rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen dieser
Motorsportart erläutert.
Den eigentlichen Kern dieser Arbeit bilden die Anwendbarkeit des europäischen
Wettbewerbsrechts auf diese Thematik sowie die Prüfung, ob die im Folgenden
vorgestellten Praktiken gegen Art 101 AEUV verstoßen oder nicht.

B. Begriffsbestimmungen

Zunächst gilt es, sich dem Begriff des Formelsports zu widmen. Hierbei werden
durch technische Regeln (sog. Formeln) bezüglich der Leistungsfähigkeit der
Fahrzeuge für die Wettbewerber annähernd gleiche Bedingungen geschaffen.13
In der Formel 1 treten nach den Formel 1-Regeln konstruierte Autos verschiedener
Hersteller auf mehreren unterschiedlichen Rennstrecken gegeneinander an.14 Auf
diese Art werden jährlich ein Fahrerweltmeister und ein Konstrukteursweltmeister
ermittelt (vgl Art 6 Formula One Sporting Regulations idgF). Die aufgrund der
technischen, fahrerischen und finanziellen Anforderungen auch als Königs-
beziehungsweise             Spitzenklasse            des       Automobilsports15             bezeichnete
Weltmeisterschaft der Formel 1 ist offiziell bekannt als FIA Formula One World

10 Vgl https://www.auto-motor-und-sport.de/formel-1/f1-umsatz-corona-saison-2020/, aufgerufen am
05.10.2021.
11 Vgl https://www.formel1.de/news/business/2019-12-26/formel-1-statistik-2019-drei-rennen-mit-mehr-als-

300-000-zuschauern, aufgerufen am 05.10.2021.
12 Vgl https://www.auto-motor-und-sport.de/formel-1/f1-einschaltquoten-reichweite-social-2019/, aufgerufen

am 05.10.2021.
13 Vgl Ménard in Amara (Hrsg), Die große Enzyklopädie der Formel 1 (2001) S 22.
14 Im Jahr 2021 sollen 22 Rennen auf 21 verschiedenen Rennstrecken stattfinden, vgl

https://www.formel1.de/formel-1-kalender/2021, aufgerufen am 05.10.2021.
15 Vgl Ménard in Amara (Hrsg), Die große Enzyklopädie der Formel 1 (2001) S 22.

                                                                                                             6
Championship und ist die höchstrangige Rennserie im vom Dachverband
Fédération Internationale de l’Automobile veranstalteten Formelsport.16

Wie einleitend bereits erwähnt ist das Unternehmen Pirelli & C. S.p.A. (im
Folgenden kurz Pirelli) der alleinige Reifenhersteller der Formel 1. Das
Unternehmen mit Sitz in Mailand ist zu 46,03% im Besitz der ChemChina (über die
Marco Polo International Italy s.r.l. und PFQY), einem zentral verwalteten
Unternehmen aus der Volksrepublik China.17

C. Organisation der Formel 1

Wie bereits erwähnt, wird die sportliche Aufsicht über die Formel 1 durch die
Fédération Internationale de l’Automobile (FIA) ausgeübt.18 Sie hat ihren Sitz in
Paris19 und legt allein die maßgeblichen Regeln für diese Rennsportserie fest.20 Auf
den Inhalt und Umfang dieser Regeln wird an späterer Stelle noch eingegangen.

Die Rechte an der gewinnorientierten Vermarktung der Formel 1 hat FIA an die
Formula One Administration Ltd (FOA) übertragen. Die Ausübung dieser
Vermarktungsrechte erfolgt wiederum durch die Formula One Management Ltd
(FOM). Die FOA, FOM und mehr als 10 weitere Unternehmen bilden zusammen
die sog Formula One Group, die über eine Holding-Konstruktion von Liberty Media,
einem Unternehmen aus den USA, kontrolliert wird.
Neben diesen Organisationen existiert noch die Formula One Constructors
Association (FOCA), deren Aufgaben mittlerweile durch die ebengenannten FOA
und FOM wahrgenommen werden. Aus diesem Grund ist die FOCA für die
Ausführungen in dieser Arbeit nicht weiter von Bedeutung.21

16 Vgl https://www.fia.com/events/fia-formula-one-world-championship/season-2021/2021-fia-formula-one-
world-championship, aufgerufen am 05.10.2021.
17 Vgl https://corporate.pirelli.com/corporate/en-ww/investors/shareholder-information/shareholder-structure,

aufgerufen am 05.10.2021.
18 Vgl Lauda, Die neue Formel 1 (1982) S 30.
19 Vgl https://www.fia.com/organisation, aufgerufen am 05.10.2021
20 Vgl Lauda, Die neue Formel 1 (1982) S 30.
21 Vgl Heublein, Das F-1-Imperium, DIE ZEIT Nr. 3/2011, aufgerufen über https://www.zeit.de/2011/03/Formel-

eins-Kasten am 05.10.2021.
                                                                                                            7
Sowohl die FIA als auch die FOM stehen aktuell bezüglich der Reifenausstattung
der     Formel       1-Fahrzeuge         mit     dem       Reifenhersteller        Pirelli    in    einem
Vertragsverhältnis.22 Da die FIA die einschlägigen sportlichen Reglements festlegt,
liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit auf der Zusammenarbeit zwischen der FIA und
Pirelli.

D. Anwendbares Sportverbandsregelwerk

Die FIA stellt als Dachverband und sportliche Aufsicht die maßgeblichen Regeln,
also die namensgebenden „Formeln“ auf (vgl Art 1.1.1 FIA International Sporting
Code). Die wichtigsten von ihr festgelegten Regeln sind der International Sporting
Code, die Formula One Sporting Regulations und die Formula One Technichal
Regulations, wodurch allgemeine Regeln des Rennsports, der Ablauf des Kampfes
um die Weltmeistertitel und der Ablauf der einzelnen Rennen sowie die technischen
Vorgaben für die eingesetzten Fahrzeuge festgelegt werden. 23

1. Bindungswirkung und Durchsetzung der Verbandsregelwerke

Die FIA behält sich selbstredend vor, die oben genannten Regelwerke auch
durchzusetzen, wie in Art 1.1.1 FIA Internationale Sporting Code festgehalten wird.
Im Falle eines Verstoßes gegen den FIA International Sporting Code drohen den
Herstellern der Rennautos Sanktionen, die von Geldstrafen bis zum temporären
oder permanenten Ausschluss von der FIA Formula One World Championship
reichen, während Organisatoren oder Teilnehmern ihre für die Partizipation an
Wettkämpfen erforderliche FIA-Lizenz entzogen werden kann (vgl Art 1.3.2 iVm
2.6.1.c FIA International Sporting Code).
Für die Sanktionierung eines Regelverstoßes ist es unerheblich, ob der
Regelverstoß absichtlich oder fahrlässig herbeigeführt wurde beziehungsweise ob

22 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der-
formel-1, aufgerufen am 05.10.2021; https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/michelin-einstieg-
ecclestone-pocht-auf-pirelli-vertrag-13082813, aufgerufen am 05.10.2021.
23 Abrufbar in der aktuell gültigen Fassung unter https://www.fia.com/regulation/category/110, aufgerufen am

05.10.2021.
                                                                                                            8
er nur versucht oder auch vollendet wurde (vgl Art 12.1.1.a und b FIA International
Sporting Code).
Verantwortlich für die Durchsetzung des FIA International Sporting Code und der
anderen Regelwerke der FIA sind die offiziell von der FIA ernannten Stewards (vgl
Art 11.9 FIA International Sporting Code).

2. Einschlägige Regelungen im Detail

Bereits im FIA International Sporting Code ist festgelegt, dass alle an einer
Rennserie der FIA            teilnehmenden Fahrzeuge gemäß den Vorgaben der FIA
homologiert sein müssen (vgl Art 10.3.1).
In Art 24 der Formula One Sporting Regulations idgF wird darauf hingewiesen, dass
es nur einen einzigen Reifenhersteller gibt, der von der FIA bestimmt wird.
Die Tatsache, dass alle Teams in der Formel 1 ihre Reifen bei Pirelli beziehen,
gründet sich auf die Verträge zwischen dem Reifenhersteller und der FIA
beziehungsweise der FOM.24 Da laut Art 12.2.1.d FIA International Sporting Code
neben Verstößen gegen die                   vom Code ausdrücklich genannten Regeln alle
Bestrebungen, die den Zielen der FIA zuwider laufen, als Regelverstöße zu
bewerten sind, würde die Zusammenarbeit mit einem anderen als von der FIA
beauftragten Reifenhersteller jedenfalls einen sog „breach of rules“ und damit eine
der oben genannten Konsequenzen nach sich ziehen:
„12.2.1       Any       of      the        following         offences,    in     addition       to      any
offences         specifically         referred          to      previously       or       subsequently,
shall be deemed to be a breach of these rules:
[…]
12.2.1.d       Any      pursuit       of      an       objective     contrary      or     opposed         to
those of the FIA“25
Daraus folgt, dass einem regelgetreuen Team in der Formel 1 faktisch keine Wahl
bleibt, von welchem Reifenhersteller es seine Reifen bezieht.

24 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der-
formel-1, aufgerufen am 05.10.2021.
25 Mit dem Ziel einer guten Verständlichkeit für alle interessierten Leserinnen und Leser wurde hier die

offizielle Englische Version des FIA International Sporting Code angeführt; im Zweifel gilt allerdings die
französische Fassung als die offizielle (vgl Art 19.4.2).
                                                                                                            9
III. Die FIA und die Praxis mit Pirelli als Einheitslieferant für Reifen
     im Licht des europarechtlichen Kartellverbots

A. Grundlagen des Kartellverbots des Art 101 AEUV

1. Ausgestaltung des Art 101 AEUV

Das Herzstück des europäischen Wettbewerbsrechts ist das Kartellverbot in Art 101
AEUV (ex-Art 81 EGV) und das Missbrauchsverbot des Art 102 AEUV (ex-Art 82
EGV).26 Der besagte Art 101 AEUV ist dabei die zentrale Vorschrift für das
europäische Kartellrecht, denn er normiert den Kartelltatbestand (Abs 1 leg cit),
ordnet als zivilrechtliche Folge bei vom Kartellverbot erfassten Handlungen die
Nichtigkeit der betreffenden Vereinbarung an (Abs 2 leg cit) und sieht in Abs 3 leg
cit mögliche Ausnahmen vom Verbot des Abs 1 leg cit vor.27 Um die in Art 101 Abs
2 AEUV angeordnete Nichtigkeit herbeizuführen, müssen durch das Verhalten
zweier oder mehrerer Unternehmen (eine nähere Erläuterung dieses Begriffes
erfolgt weiter unten) alle Tatbestandsmerkmale kumulativ erfüllt werden.28

Da die wettbewerbsrechtlichen Regelungen der EU den Schutz des Wettbewerbs
und der Freiheit des europäischen Binnenmarktes zum Ziel haben, ist Art 101 AEUV
eine unmittelbare Anwendbarkeit für die Normadressaten einzuräumen.29 Diese
unmittelbare Anwendbarkeit führt dazu, dass Einzelne einen Verstoß gegen diese
Vorschrift geltend machen und (gemeinsam und im Einklang mit nationalen
Rechtsnormen) als Anspruchsgrundlage vor Gericht vorbringen können, um
Schadenersatz- und Unterlassungsansprüche durchzusetzen.30
Entschieden werden diese Rechtssachen dann grundsätzlich von den nationalen
Gerichten der jeweiligen Mitgliedsstaaten.31

26 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 5.
27 Vgl Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 234. Lfg (2020) Art 101 AEUV Rz 9; Brinker in Schwarze
(Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 5.
28 Vgl EuGH 23.11.2006, Rs C-238/05, Asnef-Equifax, ECLI:EU:C:2006:734 Rz 65;

Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht (2007) S 1718.
29 Vgl Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union 7 (2020) S 1158; seit der Verordnung

1/2003/EG des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags
niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1, 1, gilt die unmittelbare Anwendbarkeit auch für Art 101 Abs
3 AEUV.
30 Vgl EuGH 20.09.2001, Rs C-453/99 Courage und Crehan, ECLI:EU:C:2001:465 Rz 26; Jaeger, Materielles

Europarecht2 (2020) S 279.
31 Vgl EuGH 27.03.1974, Rs C-127/73, BRT/SABAM, ECLI:EU:C:1974:25 S 319.

                                                                                                          10
2. Anwendungsbereich des Art 101 AEUV

a) Sachlicher Anwendungsbereich

Grundsätzlich ist Art 101 AEUV auf alle Bereiche des Wirtschaftslebens
anzuwenden, die auch vom AEUV erfasst werden, sofern für sie keine besonderen
Ausnahmen gelten.32 Solche Bereichsausnahmen nehmen beispielsweise die
Landwirtschaft nach Art 42 AEUV, das Rüstungswesen nach Art 346 Abs 1 AEUV
und mit der Daseinsvorsorge betraute Unternehmen nach Art 106 Abs 2 von den
wettbewerbsrechtlichen Regelungen aus.33

Die oben geschilderte Vorgehensweise in der Formel 1 ist unstreitig als
sportbezogener Sachverhalt anzusehen. Nach der Walrave und Koch –
Entscheidung unterliegen solche Sachverhalte den unionsrechtlichen Vorschriften,
„als sie einen Teil des Wirtschaftslebens im Sinne von Art 2 des (EG-)Vertrages
ausmachen“.34 Die Grundfreiheiten etwa sind sowohl dem EuGH als auch der
Kommission zufolge auch bei sportbezogenen Sachverhalten anzuwenden.35
Entscheidend ist hierfür aus der Sicht des EuGH eine zusätzliche wirtschaftliche
Dimension;36 aber auch der Umstand, dass ein Regelwerk einen rein sportlichen
Charakter hat, führt nicht automatisch zu der Nichtanwendung der Verträge auf
denjenigen, „der die dieser Regelung unterliegende sportliche Tätigkeit ausübt, oder
die Institution, die diese Regelungen erlassen hat“.37

Die oben angeführten einschlägigen Regelungen und im Zusammenhang damit die
Verträge der FIA beziehungsweise der FOM mit dem Reifenhersteller Pirelli haben
eine klare wirtschaftliche Dimension. Jährlich wird jedes Team in der Formel 1 mit
rund 200 Reifensätzen im Wert von mehreren Millionen Dollar ausgestattet.38

32 Vgl Jaeger, Materielles Europarecht2 (2020) S 279.
33 Vgl Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 234. Lfg (2020) Art 101 AEUV Rz 15f; Borchardt, Die
rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union7 (2020) Rz 1160.
34 Vgl EuGH 12.12.1974, Rs 36/74 Walrave und Koch/Association Union Cycliste Internationale ua,

ECLI:EU:C:1974:140 Rz 4/14.
35 Vgl Weißbuch Sport, KOM (2007) 391 endgültig S 14; Leidenmühler, Europarecht4 (2020) S 157; Ruffert in

Callies/Ruffert, EUV/AEUV5 (2016) Art 165 AEUV, Rz 6.
36 Vgl EuGH, 18.07.2006, Rs C-519/04 P, Meca-Medina und Majcen /Kommission, ECLI:EU:C:2006:492 Rz

22; EuGH, 14.07.1976, Rs C-13/76, Donà/Mantero, ECLI:EU:C:1976:115.
37 Vgl EuGH, 18.07.2006, Rs C-519/04 P, Meca-Medina und Majcen /Kommission, ECLI:EU:C:2006:492 Rz

27.
38 Vgl Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 8f.

                                                                                                       11
Da keine der vorhin genannten Bereichsausnahmen einschlägig ist, ist die hier
untersuchte Praxis von Pirelli als Einheitslieferant für Reifen in der Formel 1 vom
sachlichen Anwendungsbereich der Art 101f AEUV erfasst.

Die Gruppenfreistellungsverordnung VO (EU) Nr 461/2010 der Kommission vom 27.
Mai 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die
Arbeitsweise der europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen
und abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor, ABl 2010 L 192/52 ist
schon deshalb nicht einschlägig, weil die in der Formel 1 verwendeten Fahrzeuge
keine Kraftfahrzeuge iSd Verordnung sind, da sie nicht „für den Verkehr auf
öffentlichen Straßen bestimmt“ sind (siehe Art 1 Abs 1 lit f leg cit).

b) Räumlicher Anwendungsbereich

Das Gebiet der hoheitlichen Durchsetzbarkeit der kartellrechtlichen Vorschriften
wird durch den räumlichen Anwendungsbereich begrenzt, der in Art 355 iVm Art 52
AEUV geregelt ist. Das Kartellrecht der EU hat demnach jedenfalls in allen
Mitgliedstaaten sowie in den Azoren, Kanaren, französischen Departements in
Übersee sowie Madeira Anwendung zu finden.

Nach dem Nationalitätsprinzip unterliegen Gesellschaften, bei deren Gründung sich
der Rechtsform eines Mitgliedsstaates bedient wurde, der Anwendbarkeit des
Kartellrechts der EU in räumlicher Hinsicht.39

Die FIA hat ihren Sitz in Paris und wurde dort als Verein nach dem Gesetz von 1901
nach französischem Vereinsrecht gegründet (vgl Art 1 Loi du 1er juillet 1901 relative
au contrat d'association). Der Reifenhersteller Pirelli mit Sitz in Mailand40 ist
rechtlich gesehen eine Società per azioni, was in Italien die entsprechende
Rechtsform für Aktiengesellschaften darstellt (vgl Art 2325 – 2457 Codice civile).

39Vgl EuG, 25.03.1999, Rs T-102/96, Gencor/Kommission, ECLI:EU:T:1999:65 Rz 64.
40Vgl https://corporate.pirelli.com/corporate/en-ww/investors/shareholder-information/shareholder-structure,
aufgerufen am 05.10.2021.
                                                                                                               12
Daraus      ergibt    sich     die    räumliche      Anwendbarkeit          der    kartellrechtlichen
Bestimmungen der EU auf die von der FIA und Pirelli gesetzten Handlungen im
Einklang mit Art 355 iVm Art 52 AEUV und nach dem Nationalitätsprinzip.
Daneben tritt der Grundsatz der sog extraterritorialen Anwendbarkeit des EU-
Kartellrechts. Das bedeutet, dass die Bestimmungen des Kartellrechts der EU auch
auf Unternehmen, die ihren Sitz in einem Drittland haben, und auf außerhalb der
EU gesetzte Handlungen anwendbar sein können.41
Begründet wird die Anwendung der kartellrechtlichen Regelungen entweder mit
dem Territorialitätsprinzip, nach dem das Kartell im Gebiet der Union umgesetzt
werden muss42, oder mit dem Auswirkungsprinzip, wenn die Auswirkungen im
Gebiet der EU unmittelbar, wesentlich und vorhersehbar sind.43

Die Vereinbarung zwischen der FIA und Pirelli bezieht sich auf die Ausstattung aller
an der Formel 1 teilnehmenden Teams. Darunter befinden sich sowohl Teams mit
Sitz in Mitgliedsstaaten der EU als auch in Drittländern. Da die betreffenden Teams
ihre Reifen bei keinem anderen Hersteller als Pirelli beziehen dürfen, kann sowohl
von einer Umsetzung der (möglichen) Kartellvereinbarung im Unionsgebiet als auch
von Auswirkungen in diesem gesprochen werden.
Würden hinsichtlich der Anwendbarkeit des EU-Kartellrechts nach Maßgabe der Art
355 iVm 52 AEUV oder des Nationalitätsprinzips noch Zweifel bestehen, so erhärten
das Territorialitätsprinzip und das Auswirkungsprinzip, dass das hier untersuchte
Verhalten dem räumlichen Anwendungsbereich von Art 101 AEUV unterliegt.

c) Zeitlicher Anwendungsbereich

Auch wenn Handlungen von Unternehmen schon vor Inkrafttreten des EG-
Vertrages      vorgenommen           wurden,     unterliegen       sie   den      nun       geltenden
kartellrechtlichen Vorschriften der EU.44

41 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 193.
42 Vgl EuGH 27.09.1988, VerbRs C-89, 104, 114, 116, 117 und 125 bis 129/85, British Columbia Forest
Products, ECLI:EU:C:1988:447 Rz 16; EuG 15.03.2000, Rs T-25/95 ua, Cimenteries CBR /Kommission,
ECLI:EU:T:2000:77 S 4240f.
43 Vgl EuG 25.03.1999, Rs T-102/96, Gencor/Kommission, ECLI:EU:T:1999:65 Rz 90.
44 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 193.

                                                                                                      13
Da die ersten Vereinbarungen mit Pirelli aus der Zeit um 2009 stammen und die
Verlängerung der Verträge in den letzten Jahren erfolgte45, liegen die in dieser
Arbeit untersuchten Verhaltensweisen klar im zeitlichen Anwendungsbereich des
Art 101 AEUV.

3. Normadressaten

Dem Gesetzeswortlaut nach richtet sich Art 101 AEUV an Unternehmen
beziehungsweise            Unternehmensvereinigungen.                 Der         hier      genannte
Unternehmensbegriff ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts.46

Aus der stRsp lässt sich ein funktionaler Unternehmensbegriff ableiten, was
bedeutet, dass die Tätigkeit einer (juristischen oder natürlichen) Person
bestimmend        für    deren     Unternehmenseigenschaft              ist.47    Die    Rechtsform
beziehungsweise die Finanzierung spielen dabei keine Rolle.48 Der entscheidende
Faktor ist die Teilnahme am Wirtschaftsleben, also dem Nachgehen einer
wirtschaftlichen Tätigkeit.49
Die stRsp versteht unter wirtschaftlicher Tätigkeit „jede Tätigkeit, die darin besteht,
Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten“.50 Die
Absicht,     damit      auch     Gewinne       zu    erzielen,     kann     ein     Indiz   für    die
Unternehmereigenschaft sein, ist aber grundsätzlich nicht erforderlich.51
Pirelli als börsennotierter Reifenhersteller geht zweifellos einer wirtschaftlichen
Tätigkeit nach und ist somit als Unternehmer iSv Art 101 AEUV zu qualifizieren.

45 Vgl etwa Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 8;
https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der-
formel-1, aufgerufen am 05.10.2021.
46 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 195.
47 Vgl EuGH 23.04.1991 Rs C-41/90, Höfner und Elser/Macrotron, ECLI:EU:C:1991:161 Rz 21-23.
48 Vgl EuGH 23.04.1991 Rs C-41/90, Höfner und Elser/Macrotron, ECLI:EU:C:1991:161 Rz 21.
49 Vgl Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV, 234. Lfg (2020) Art 101 AEUV Rz 34.
50 EuGH 24.10.2002, Rs C-82/01 P, Aéroports de Paris/Kommission, ECLI:EU:C:2002:617 Rz 79, an dieser

Stelle wN.
51 Vgl EuGH 21.09.1999, Rs C-67/96, Albany, ECLI:EU:C:1999:430 Rz 79; EuGH 01.07.2008, Rs C-49/07,

MOTOE, ECLI:EU:C:2008:376 Rz 21f; Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 234. Lfg (2020) Art 101
AEUV Rz 34.
                                                                                                     14
Grundsätzlich können auch Sportverbände wie die FIA unter oben genannten
Kriterien als Unternehmen angesehen werden.52 Die wirtschaftliche Tätigkeit eines
Sportverbandes kann aus dem Veranstalten von Wettkämpfen und Meisterschaften,
der kommerziellen Vermarktung dieser Veranstaltungen, dem Abschluss von
Sponsoringvereinbarungen und dergleichen bestehen.53
Auch wenn die FIA die kommerziellen Übertragungsrechte an der Rennsportserie
Formel 1 an die FOM übertragen hat, so geht sie schon durch das Ausrichten der
Formel 1-Weltmeisterschaft, womit Geschäfte mit Streckenbetreibern, Sponsoren
etc verbunden sind, in ihrer Rolle als internationaler Verband einer wirtschaftlichen
Betätigung von nicht unerheblichem Ausmaß nach.54
In diesem Licht ist daher auch die FIA als Unternehmer anzusehen.

Mit        der        Adressierung             von         Unternehmern              beziehungsweise
Unternehmensvereinigungen richtet sich das Wettbewerbsrecht der EU also an
wirtschaftliche Einheiten, die aus einer oder mehreren natürlichen oder juristischen
Personen bestehen können. 55

Zu beachten ist dabei, dass für die Anwendbarkeit des Art 101 AEUV die
untersuchten Unternehmen jedes für sich eine eigene, selbständige wirtschaftliche
Einheit darstellen müssen; sie dürfen beispielsweise nicht zu demselben Konzern
gehören.56 Im vorliegenden Fall ist das jedoch unproblematisch, da die FIA als
Verein      nach      französischem          Vereinsrecht         und      die    SpA       Pirelli    aus
wirtschaftsrechtlicher Perspektive voneinander unabhängig sind. Sie sind somit
beide Normadressaten des Art 101 AEUV.

52 Vgl Hail, Spitzensport im Licht des Europäischen Kartellrechts 1 (2014) S 231; Schweitzer in Müller-Graff
(Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR Bd 4)² (2021) § 8 Rz 52.
53 Vgl Hail, Spitzensport im Licht des Europäischen Kartellrechts1 (2014) S 231; wN über die wirtschaftliche

Tätigkeit (nationaler) Verbände EuG 26.01.2005, Rs T-193/02, Piau/Kommission, ECLI:EU:T:2005:22 Rz 71.
54 Vgl EuG 26.01.2005, Rs T-193/02, Piau/Kommission, ECLI:EU:T:2005:22, Rz 71; mwN die Schlussanträge

des GA in EuGH 20.09.1995, Rs C-415/93, Union royale belge des sociétés de football association
ua/Bosman ua, ECLI:EU:C:1995:293 Rz 256f.
55 Vgl EuGH 12.07.1984, Rs C-170/83, Hydrotherm, ECLI:EU:C:1984:271 Rz 11; Brinker in Schwarze (Hrsg.),

EU-Kommentar4 (2019), Art 101 AEUV Rz 33.
56 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungrecht (EnzEuR

Bd 4)² (2021) §8, Rz 65; EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 Rz 132/135;
EuG 01.04.1993, Rs T-65/89, BPB Industries und British Gypsum/Kommission, ECLI:EU:T:1993:31, Rz 149;
EuG 30.09.2003, Rs T-203/01, Michelin/Kommission, ECLI:EU:T:2003:250, Rz 290; EuG 29.04.2004, Rs T-
236/01 ua, Tokai Carbon/Kommission, ECLI:EU:T:2004:118, Rz 279.
                                                                                                          15
4. Der relevante Markt

Für die Frage, ob die europäischen Wettbewerbsvorschriften einschlägig sind, ist
zumeist eine gewisse Macht über den Markt von Bedeutung.57

Um beurteilen zu können, ob ein beziehungsweise mehrere Unternehmen diese
Marktmacht innehaben, muss zuerst einmal der relevante Markt ermittelt werden.
Dieser relevante Markt setzt sich aus einer sachlichen, einer räumlichen und einer
zeitlichen Komponente zusammen.58 Indem versucht wird, mithilfe dieser
Komponenten den relevanten Markt zu ermitteln, entsteht auch ein klareres Bild von
den Wettbewerbskräften, denen das fragliche beziehungsweise die fraglichen
Unternehmen ausgesetzt sind und die dem Handeln auf dem Markt Grenzen
setzen.59

Die erste oben genannte Komponente zur Festlegung des relevanten Marktes ist
die sachliche Komponente. Der sachlich relevante Markt ist der sog Produktmarkt,
der sich durch die physischen Merkmale eines bestimmten Produkts und die daraus
resultierenden differierenden Verwendungsmöglichkeiten ergibt.60 Die Kommission
versteht darunter alle Produkte, die in den Augen der Verbraucher im Hinblick auf
Eigenschaften, Preis und Verwendungszweck als austauschbar angesehen
werden.61
Der Verbraucherbegriff des europäischen Wettbewerbsrechts ist ein weiter und
bezieht      alle mittelbaren und unmittelbaren Abnehmer wie Endverbraucher,
Weiterverarbeiter, Groß- oder Einzelhändler62 der gegenständlichen Produkte mit
ein.63

57 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 199.
58 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 5.
59 Vgl Lewisch in Mayer/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 159a Lfg (2013) Art 102 AEUV Rz 23.
60 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 5;

Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 202.
61 Vgl Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des

Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl 1997 C 372/03 Rz 7.
62 Vgl Jones/Sufrin, EU Competition Law4 (2011) S 248; Wollmann in Jaeger/Stöger (Hrsg), EUV/AEUV

Art 101 AEUV Rz 124 (Stand 1.11.2019, rdb.at).
63 Vgl Bekanntmachung der Kommission - Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag ABl

2004 L 101/08 Rz 84.
                                                                                                         16
In der Rsp wird darauf abgestellt, dass die fraglichen Produkte dazu dienen, einen
gleichbleibenden Bedarf zu befriedigen und grundsätzlich nur schwierig durch
andere Produkte ausgetauscht werden können.64

Das im vorliegenden Fall untersuchte Produkt besteht in der Bereitstellung von
Rennreifen (beziehungsweise Rennreifensätzen), die gemäß dem jeweils gerade
gültigen Reglement für den Einsatz in der Formel 1 geeignet sind.
Aufgrund der genauen technischen Spezifikationen und praktischen Anforderungen
überschneidet sich der sachlich relevante Markt von Formel 1-Reifen weder mit dem
von Reifen für Fahrzeuge im Straßenverkehr noch mit den Reifen der meisten
anderen Rennserien. Während die im Straßenverkehr eingesetzten Reifen im
Hinblick auf Komfort, Verschleiß, Haftung und Bremsen auf nassem Untergrund auf
einen „bestmöglichen Kompromiss“ ausgerichtet sind, ist das Einsatzgebiet eines
Formel 1-Reifens viel spezieller, da je nach Strecke, erwarteter Streckentemperatur
und    Witterung      aus    drei    beziehungsweise           maximal     fünf   verschiedenen
Reifenmodellen pro Rennwochenende gewählt werden kann.65 Von den in vielen
anderen Rennserien eingesetzten Reifen unterscheiden sich die Formel 1-Reifen
wiederum dadurch, dass sie (abgesehen von Regen- und Übergangsreifen) kein
Profil aufweisen.66
Aus diesem Grund ist bereits der sachlich relevante Markt in diesem Fall relativ eng
festzulegen.

Die zweite zu betrachtende Kategorie ist der räumlich beziehungsweise geografisch
relevante Markt. Annähernd gleiche Wettbewerbsbedingungen,67 Preise und
Marktanteile, aber auch Kundenpräferenzen fließen bei der Bestimmung des
räumlich relevanten Marktes mit ein.68 Auch ein Blick auf die Regionen, wo der
Vertrieb    eines    Produktes      erfolgt,    hilft,   den    räumlich     relevanten     Markt

64 Vgl EuGH 18.04.1975, Rs C-6/72, Europemballage Corporation und Continental Can
Company/Kommission, ECLI:EU:C:1975:50 Rz 32; EuGH 13.02.1979, Rs C-85/76, Hoffmann-La
Roche/Kommission, ECLI:EU:C:1979:36 Rz 28; EuGH 26.11.1998, Rs C-7/97, Bronner, ECLI:EU:C:1998:569,
Rz 33.
65 Vgl https://www.pirelli.com/tyres/de-de/motorsport/f1/reifen, aufgerufen am 05.10.2021.
66 Vgl https://www.pirelli.com/tyres/de-de/motorsport/katalog/rallye, aufgerufen am 05.10.2021.
67 Vgl EuGH 14.02.1978, Rs C-27/76, United Brands/Kommission, ECLI:EU:C:1978:22 Rz 10f.
68 Vgl Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des

Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl 1997 C 372/03 Rz 28f.
                                                                                                 17
einzugrenzen.69 Zieht man diese Kriterien heran, so kann sich auch ein regionaler
beziehungsweise lokaler Markt als relevanter Markt ergeben.70

Wie einleitend und bei Betrachtung des Produktmarkts bereits erläutert, befindet
sich die Formel 1 – und damit auch die Reifen beziehenden Teams – an der
absoluten Spitze des Motorsports. Abgesehen von den zehn teilnehmenden
Teams71 werden an niemanden sonst neue Formel 1-Reifen vertrieben.72 Der
räumlich relevante Markt lässt sich daher auf die Standorte der verschiedenen
Formel 1-Teams eingrenzen.

Nicht zu verwechseln ist der gerade festgelegte geografisch relevante Markt mit der
sog     Unionsrelevanz,           die     ihre     Bedeutsamkeit           eher      im     Bereich        des
Missbrauchsverbots des Art 102 AEUV findet.73

Wenn die Austauschbarkeit eines Produkts je nach Saison variiert, kann auch die
zeitliche Komponente iSe zeitlich relevanten Marktes eine Rolle bei der Bestimmung
des relevanten Marktes spielen, was nach der Lit aber eher Ausnahmefälle betrifft.74
In der Formel 1 werden Rennen üblicherweise von März bis November
beziehungsweise Dezember ausgetragen.75 So kann nicht von einem von
Jahreszeiten oder Saisonen abhängigen Markt die Rede sein.
Zu beachten ist jedoch, dass aufgrund der zumeist über mehrere Jahre
beziehungsweise Rennsaisonen abgeschlossenen Verträge zwischen der FIA und
Pirelli76 nur zum Ende der jeweiligen Vertragslaufzeit andere Reifenhersteller die
theoretische Chance bekommen, auf dem Markt der Formel 1-Reifen aufzutreten.

69 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 5.
70 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 9.
71 Vgl https://www.motorsport-total.comf/ormel-1/teams-und-fahrer, aufgerufen am 05.10.2021.
72 Sogar die Reifen, die durch die Rennausfälle im Anfang des Jahres 2020 keine Verwendung fanden,

wurden nicht an Dritte verkauft, sondern vernichtet: https://www.formel1.de/news/news/2020-03-16/nach-
rennabsagen-pirelli-muss-1-600-reifen-loswerden, aufgerufen am 05.10.2021.
73 Vgl Lewisch in Mayer/Stöger (Hrsg), EU/AEUV, 159a. Lfg. (2013) Art 102 AEUV Rz. 42.
74 Vgl etwa Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 102 AEUV Rz 5; relevant aber im Fall

EuGH 14.02.1978, Rs C-27/76, United Brands/Kommission, EC.LI:EU:C:1978:22 Rz 13ff.
75 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/termin-kalender/2021, aufgerufen am 05.10.2021.
76 Vgl https://de.motorsport.com/f1/news/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-der-formel-1-

21030517/5596893/, aufgerufen am 05.10.2021.
                                                                                                               18
Exkurs: Autonomie von Sportverbänden im Unionsrecht

Auf europäischer Ebene regelt und garantiert die EU-Grundrechtecharta, die gemäß
Art 6 Abs 1 EUV als mit den Verträgen der Union gleichrangig zu sehen ist, 77 in Art
12 Abs 1 leg cit die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.

Eine Vereinigung iSd Art 12 Abs 1 GRCh liegt dann vor, wenn sich mehrere
Personen freiwillig zu einem gemeinsamen Zweck zusammenschließen. Dieser
Zweck muss dabei ein Minimum an organisatorischer und zeitlicher Kontinuität
sowie organisierter Willensbildung aufweisen.78 Davon abgesehen spielt der Zweck
keine Rolle für die Qualifikation eines Zusammenschlusses als Vereinigung. 79 Art
12 Abs 1 GRCh erfasst auch juristische Personen und Personenvereinigungen.80
Folglich     sind    auch      Sportverbände         (wie     beispielsweise        die    FIA)     vom
Vereinigungsbegriff der GRCh und damit auch von der in Art 12 Abs 1 GRCh
festgeschriebenen Vereins- beziehungsweise Verbandsautonomie erfasst. Auch
der EuGH hat eine Autonomie der Sportverbände bei der Festsetzung von
Reglements bekräftigt.81 Er betont allerdings, dass diese Autonomie nicht soweit
führen dürfe, dass durch ein Sportregelwerk Rechte, die dem einzelnen durch den
AEUV verliehen wurden, eingeschränkt werden.82 Der AEUV begrenzt also in
gewisser Weise die Verbandsautonomie.
Im AEUV selbst befasst sich der Art 165 mit dem Thema Sport und gibt Hinweise
auf die berücksichtigungswerten Besonderheiten des Sportwesens, ohne die
Selbstbestimmung der Sportverbände einzuschränken.83 Der EuGH ergänzt hierzu,
dass       Eigenheiten          des       Sports        im       Rahmen          einer       allfälligen
Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden müssten.84
Zusammengefasst wird Sportverbänden grundsätzlich weitgehende Autonomie bei
der Festsetzung der Regeln des Sportes gewährt. Ihre Grenzen findet diese
Autonomie aber in den aus dem AEUV resultierenden Rechten und Pflichten.

77 Vgl Leidenmühler, Europarecht4 (2020) S 126.
78 Vgl Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 (2021) Rz 14.
79 Vgl Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 (2021) Rz 10.
80 Vgl Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union4 (2021) Rz 21.
81 Vgl EuGH 15.12.1995, Rs C-415/93, Union royale belge des sociétés de football association ua/ Bosman

ua, ECLI:EU:C:1995:463, Rz 81.
82 Vgl EuGH 15.12.1995, Rs C-415/93, Union royale belge des sociétés de football association ua/ Bosman

ua, ECLI:EU:C:1995:463, Rz 81.
83 Vgl Grodde, Die Aufnahme des Sports in die Europäische Verfassung, SpuRt (2005) S 222ff (205).
84 Vgl EuGH 13.03.2010, Rs C-325/08, Olympique Lyonnais, ECLI:EU:C:2010:143 Rz 40.

                                                                                                          19
Nachdem in den vorangehenden Unterkapiteln die Anwendbarkeit von Art 101
AEUV auf die Praxis von Pirelli als Einheitslieferant für Reifen in der Formel 1 sowie
allfällige Vorfragen geklärt wurden, wird im folgenden Kapitel das Vorliegen des
Tatbestands des Kartellverbots und etwaiger Freistellungsmöglichkeiten überprüft.

B. Art 101

Der Tatbestand des Kartellverbots findet sich in Art 101 AEUV und umfasst die
Tatbestandsmerkmale der Verhaltenskoordination zwischen wenigstens zwei
Unternehmen mit der Eignung, den Handel zwischen Mitgliedsstaaten zu
beeinträchtigen, und die innerhalb des Binnenmarktes eine Verhinderung,
Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirken
kann.85

1. Verhaltenskoordination

a) Vereinbarung

Einigen Stimmen der Lit zufolge ist der Begriff der Vereinbarung im zivilrechtlichen
Sinn zu verstehen.86 Nach der stRsp liegt eine solche Vereinbarung vor, „wenn die
betreffenden Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht
haben, sich auf dem Markt in einer bestimmten Weise zu verhalten“.87 Dabei ist die
Art und Weise der Vereinbarung unerheblich; es genügt, wenn dieser eben
genannte gemeinsame Wille darin irgendwie zum Ausdruck kommt. 88 Ob eine
derartige Vereinbarung vorliegt, kann unter anderem aus dem Verhalten der

85 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 205.
86 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 37; in diesem Sinne auch Müller-
Graff in Vedder/Heintscheil von Heinegg (Hrsg), Europäischen Unionsrecht² (2018) Art 101 AEU Rz 9.
87 EuG 15.07.1970, Rs T-41/96, Bayer/Kommission, ECLI:EU:T:2000:242 Rz 67; EuGH 29.10.1980, VerbRs

C-209-215 und C-218/78, Van Landewyck ua/Kommission, ECLI:EU:C:1980:248 Rz 86; EuG 17.12.1991, Rs
T-7/89, Hercules Chemicals/Kommission, ECLI:EU:T:1991:75 Rz 256.
88 Vgl EuG 24.10.1991, Rs T-1/89, Rhône-Poulenc/Kommission, ECLI:EU:T:1991:56 Rz 120. Dabei tendiert

die Verwaltungspraxis neuerdings dazu, auf die rechtliche Bindung zu verzichten, vgl Entscheidung der
Kommission vom 21. Dezember 1988 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG- Vertrags, ABl 1989
L 74/21 Rz 30.
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betrachteten Unternehmen abgeleitet werden, wobei aber auf einer Seite eine
„zumindest stillschweigende Zustimmung“ nachweislich vorliegen muss.89

Bei den Vereinbarungen zwischen Unternehmen gibt es sog horizontale und
vertikale Vereinbarungen. 90 Beide Arten von Absprachen werden vom Kartellverbot
erfasst.91 Horizontale Vereinbarungen werden zwischen zwei Konkurrenten
getroffen, während vertikale Vereinbarungen zwischen zwei Unternehmern
stattfinden, die auf unterschiedlichen Marktstufen in einem Verhältnis von Anbieter
und Nachfrager stehen.92 Bei letztgenannten Vereinbarungen ist nicht unbedingt
eine mangelnde Handlungsfreiheit der Beteiligten am Markt das Problem, sondern
die dadurch womöglich eingeschränkte Handlungs- und Wahlfreiheit Dritter.93
Verglichen mit horizontalen Vereinbarungen sind vertikale oftmals komplexer, was
von Besonderheiten der betreffenden Produkte und den Wirkungen des Vertriebs
auf das ganze System rund um die Unternehmen herrührt. 94
Die Geschäftsbeziehung zwischen der FIA und Pirelli würde aufgrund der
Nachfrager- und Anbieterrollen dieser Unternehmen zu vertikalen Vereinbarungen
führen. Es ist allerdings schwierig, einem der beiden Unternehmen eine
Zustimmung in der im Adalat-Urteil geforderten Qualität nachzuweisen.95 Das
Vorliegen einer kartellrechtlich bedenklichen Vereinbarung kann somit nicht
zweifelsfrei festgestellt werden.

b) Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen

Auch Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen können den Tatbestand des Art
101 AEUV darstellen.

89 EuGH 06.01.2004, VerbRs C-2/01 P und C-3/01, BAI und Kommission/Bayer AG (Adalat),
ECLI:EU:C:2004:2 Rz 17.
90 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR

Bd 4)² (2021) § 8 Rz 71f.
91 Vgl EuGH 13.07.1966, VerbRs C-56/64 und C-58/64, Consten und Grundig/Kommission,

ECLI:EU:C:1966:41 S 450; EuGH 30.06.1966, Rs C-56/65, Société Technique Minière/Maschinenbau Ulm,
ECLI:EU:C:1966:38 S 282; EuG 14.07.1994, Rs T-77/92, Parker Pen/Kommission, ECLI:EU:T:1994:85 S II-
549.
92 Vgl Hoffer/Innerhofer, Die Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen, ÖBl 2011/48.
93 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR

Bd 4)² (2021) § 8 Rz 72.
94 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR

Bd 4)² (2021) § 8 Rz 72.
95 EuGH 06.01.2004, VerbRs C-2/01 P und C-3/01, BAI und Kommission/Bayer AG (Adalat),

ECLI:EU:C:2004:2 Rz 17.
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Der Begriff der Unternehmensvereinigung ist sehr weit zu verstehen; es kommt
nicht auf die Art oder überhaupt das Vorliegen einer Rechtspersönlichkeit an oder
ob die Vereinigung privatrechtlicher oder öffentlichrechtlicher Natur ist.96
Als Beschluss iSd Art 101 AEUV ist zu verstehen, wenn die eben genannten
Unternehmensvereinigungen sich auf die in ihrer Satzung vorgegebenen Art97
einigen, wie beziehungsweise in welche Richtung das Wettbewerbsverhalten der
Mitgliedsunternehmen gelenkt werden soll.98

Die FIA und Pirelli stellen in keiner Weise eine Unternehmensvereinigung dar.
Dieses alternative Tatbestandsmerkmal ist somit nicht erfüllt.

c) Abgestimmtes Verhalten

Die aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen als letzte der drei Alternativen der
Verhaltenskoordination stellen eine Art Auffangtatbestand dar.99
Von der Rsp werden abgestimmte Verhaltensweisen als Koordinierung zwischen
Unternehmen verstanden, bei der es noch nicht zu einem Vertragsabschluss
gekommen ist, aber bei der bewusst auf praktische Zusammenarbeit statt riskantem
Wettbewerb gesetzt wird.100
Im    Gegensatz        zur    Verhaltenskoordination           durch     Vereinbarung        erfordern
aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen also keine rechtlich bindende
Willenserklärung. Entscheidend ist, dass einem abgestimmten Marktverhalten ein
erkennbares Verhaltensmuster oder ein gemeinsamer Plan zugrunde liegt. 101
Diese weite Begriffsauffassung macht in der Praxis die Abgrenzung vom erlaubten
Parallelverhalten schwierig.102 Jedem Unternehmen steht es grundsätzlich frei, sich
am tatsächlichen oder erwarteten Verhalten von Marktbegleitern zu orientieren und

96 Vgl Eilmansberger/Herzig/Jaeger/Thyri, Materielles Europarecht3 (2012) S 208.
97 Vgl Entscheidung der Kommission vom 5. Dezember 1984 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des
EWG-Vertrags (IV/30.307 — Feuerversicherung (D)), ABl 1985 L 35/20 Rz 23.
98 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR

Bd 4)² (2021) § 8 Rz 113.
99 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 40; Müller-Graff in

Vedder/Heintscheil von Heinegg (Hrsg), Europäischen Unionsrecht² (2018) Art 101 AEUV Rz 14.
100 Vgl EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 S 619, 658; EuG 15.03.2000,

VerbRs T-25/95 ua, Cimenteries CBR /Kommission, ECLI:EU:T:2000:77 Rz 1852ff.
101 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 41.
102 Vgl Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 42; Müller-Graff in

Vedder/Heintscheil von Heinegg (Hrsg), Europäischen Unionsrecht² (2018) Art 101 AEUV Rz 15.
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daran anzupassen.103 Von abgestimmtem Verhalten kann im Gegensatz dazu nur
die Rede sein, wenn über ein gewolltes Zusammenwirken Ungewissheiten über das
Marktverhalten        ausgeräumt        werden.       Dies     kann      etwa     durch     einseitige
Informationsvorgänge,            Informationsaustausch            oder       (bereits      einmalige)
Kontaktaufnahme zur Beeinflussung erfolgen.104
In der Praxis zeigen sich oftmals Schwierigkeiten, diese Vorgänge nachzuweisen;
besonders, wenn keine Geständnisse oder Schriftstücke105 vorliegen, muss die
Beurteilung auf Indizien gestützt werden und dabei alle dafür und dagegen
sprechenden Umstände würdigen.106
Das Vorliegen von grundsätzlich erlaubtem Parallelverhalten kann ein solches Indiz
darstellen, dass Unternehmen ihr Marktverhalten aufeinander abstimmen. In
gewissen Fällen lässt sich dieses Parallelverhalten nämlich nur durch Abstimmung
erklären.107
Auch Verhalten, das im Grunde den Eigeninteressen eines Unternehmens
widerspricht,108 sowie das Verfolgen einer Preispolitik ohne Rücksicht auf den Rest
des Marktes109 legen nahe, dass Unternehmen ihr Marktverhalten aufeinander
abstimmen.

Im Wettbewerb um den ersten Zuschlag als Einheitslieferant standen sich die
Hersteller Michelin, Pirelli und Avon gegenüber. Einiges spricht dafür, dass Pirelli
durch einen Deal mit Bernie Ecclestone (damals in seiner Funktion als
Geschäftsführer der Formula One Group) informiert wurde, wie niedrig das Angebot
ausfallen müsste, um die Konkurrenz zu unterbieten.110

103 Vgl Schweitzer in Müller-Graff (Hrsg), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht (EnzEuR
Bd 4)² (2021) § 8 Rz 121; Brinker in Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar4 (2019) Art 101 AEUV Rz 42.
104 Vgl Müller-Graff in Vedder/Heintscheil von Heinegg (Hrsg), Europäischen Unionsrecht² (2018) Art 101

AEUV Rz 15.
105 Vgl EuGH 07.06.1983, VerbRs C-100/80 bis C-103/80, Musique Diffusion française ua/ Kommission,

ECLI:EU:C:1983:158 S 1894; EuGH 21.02.1984,Rs C-86/82, Hasselblad/Kommission, ECLI:EU:C:1984:65 Rz
24.
106 Vgl EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 S 619, 658f; EuGH 28.03.1984,

VerbRs C-29/83 und 30/83, CRAM ua/Kommission, ECLI:EU:C:1984:130 S 1679, 1701.
107 Vgl EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 Rz 64/67; EuGH 31.03.1993,

VerbRs C-89/85, C-104/85, C-114/85, C-116/85, C-117/85, C-125/85, C-126/85, C-127/85, C-128/85 und C-
129/85, Ahlström Osakeyhtiö ua/Kommission, ECLI:EU:C:1993:120 Rz 71,126.
108 Vgl Entscheidung der Kommission vom 2. Januar 1973 betreffend ein Verfahren nach den Artikeln 85 und

86 des EWG-Vertrags (IV/26.918 - Europäische Zuckerindustrie), ABl 1973 L 140/17 Rz 30ff;
Entscheidung der Kommission vom 23. Dezember 1977 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-
Vertrags (IV/29.176 - Pergamentpapier), ABl 1978 L 70/54.
109 Vgl EuGH 14.07.1972, Rs C-48/69, ICI/Kommission, ECLI:EU:C:1972:70 S 658, 662.
110 Vgl Bower, No Angel – The Secret Life of Bernie Ecclestone (2011) S 8.

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Bereits vor Erteilung des Zuschlags wurde von Pirelli in den Medien verkündet,
lieber als Einheitslieferant als im ständigen Wettkampf gegen andere Hersteller die
Teams zu beliefern.111

Gegen Ende der Vertragslaufzeiten wurden ordnungsgemäß Ausschreibungen
vorgenommen, jedoch wurden die Zeitpunkte taktisch so gewählt, dass andere als
der etablierte Hersteller Pirelli wegen bevorstehender Reglementänderungen
jeweils „alte“ und „neue“ Reifen entwickeln und herstellen müssten. Diese Praxis
verschafft dem bereits etablierten Hersteller einen klaren Vorteil. Geplant war, in der
Saison 2020 13-Zoll-Reifen einzusetzen, um dann ab 2021 18-Zoll-Reifen zu
verwenden.112 Diese Änderung wurde bereits 2010 von Pirelli für wünschenswert
befunden.113 Dazu kommt, dass die Änderung der Reifendimensionen in der
ursprünglichen Ausschreibung für die betreffenden Saisonen nicht gleich bekannt
gemacht wurde, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt den Anwärtern mitgeteilt
wurde.114

Auffallend       ist    weiters,      dass       mit     der     Verschiebung          der      geplanten
Reglementänderung auf 2022 auch der Vertrag mit Pirelli um ein Jahr länger als
geplant ausgedehnt wurde. Begründet wurde die Verlängerung damit, dass Pirelli
die neu entwickelten Reifen mit 18 Zoll Felgendurchmesser dann nur zwei Jahre
statt wie geplant drei Jahre einsetzen können würde.115

In die eben genannten Vorgänge lässt sich nur aus Pressemitteilungen der FIA und
von Reifenherstellern ein Einblick gewinnen. Die großteils aus Motorsport-
Zeitschriften stammenden herangezogenen Artikel stellen keine endgültigen
Beweise für oder gegen das Vorliegen eines abgestimmten Verhaltens zwischen
der FIA und Pirelli dar. Nach Meinung der Verfasserin sind jedoch in den eben
beschriebenen Praktiken und Vorgängen Indizien zu sehen, die auf eine

111 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/reifen-pirelli-will-michelin-nur-mit-konkurrenz-
10050718, aufgerufen am 05.10.2021.
112 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/fia-aendert-ausschreibung-fuer-formel-1-

reifenlieferant-18081106, aufgerufen am 05.10.2021.
113 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/reifen-pirelli-will-michelin-nur-mit-konkurrenz-

10050718, aufgerufen am 05.10.2021.
114 Vgl https://www.motorsport-total.com/formel-1/news/fia-aendert-ausschreibung-fuer-formel-1-

reifenlieferant-18081106, aufgerufen am 05.10.2021.
115 Vgl https://www.formel1.de/news/news/2021-03-05/vertrag-verlaengert-pirelli-bis-2024-reifenausruester-

der-formel-1, aufgerufen am 05.10.2021.
                                                                                                             24
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