Die Frage des Alter(n)s - Deutsche Dendrologische Gesellschaft
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// Abb. 1: Schenklengsfelder Sommer-Linde im Juli 2020 mit Fotos: Roloff beeindruckenden Ausmaßen der Krone // Die Frage des Alter(n)s Das Alter von sehr alten Bäumen zu ermitteln, ist haben (Abb. 1). Zum Abstützen und Leiten der Äste steht ein im Sommer 2020 schwierig und ein genaues Hinsehen ist erforderlich, erneuertes Stützgerüst aus Holz unter und wie die Beispiele der Schenklengsfelder Linde und der um den Baum, auf dem viele Äste, zum Teil auch die Stammverlängerungen, aufliegen Kaditzer Linde in Dresden zeigen. und befestigt sind. Das ist eine äußerst beeindruckende und sicher einmalige Text Prof. Dr. Andreas Roloff Erscheinung (Abb. 2). Es gibt eine allgemeine Übereinkunft, dass Die Schenklengsfelder Linde wird von der dicken Stämmen, die auf einem Kreis man mit dem Baumalter die Jahrringe des zugehörigen Gemeinde beworben als mit exakt in Nord-, West-, Ost- und Südposition jetzt stehenden Stammes meint – wenn er 1.200 Jahren ältester Baum Deutschlands stehen und nicht erhaltene Reste des ur- bei sehr alten Bäumen regelmäßig hohl oder (www.schenklengsfeld.de, Wikipedia) und sprünglichen Stammes sein können. durch Astausbrüche/Fäulen partiell ver- taucht als solcher auch in vielen Baum- schwunden ist, wird aus dem verbliebenen portalen auf. Das ist sehr interessant und Darüber befindet sich eine gemeinsame Stammmantel unter Annahme eines „mode- bemerkenswert – wenn man den Baum geleitete Lindenkrone aller vier Stämme, raten“ Wachstums von seinem vervollstän- sieht, fragt man sich allerdings, wie das sein deren Äste seit langer Zeit nach außen ge- digten Umfang das theoretisch mögliche kann. Denn er besteht aus vier einzelnen, zogen werden und so eine sehr mächtige, Alter hergeleitet, mit Angabe eines Unsi- etwa gleich starken, „nur“ 90 bis 130 cm etwa 25 Meter breite Krone entwickelt cherheitsbereiches von etwa ± 10 % (z. B. 36 TASPO BAUMZEITUNG 01/2021
BAUMVETERAN uralter Olivenbaum auf Korfu mit 10,97 m alt, was eine Alterszählung an alten Linden Stammumfang: 1.120 ± 112 Jahre, Gillner ad absurdum führen würde. Vielleicht hat DER AUTOR & Roloff 2016). auch schon im Jahr 760 dort eine Linde gestanden? Dann wären die heutigen Prof. Dr. Andreas Etwas irritiert kommt man zum Baumalter Austriebe womöglich sogar schon „noch Roloff leitet das in Schenklengsfeld ins Grübeln, wenn man älter“. Nach der Schenklengsfelder Methode Institut für Forstbo- die exakte Position der heutigen vier gäbe es zudem etliche andere weit über tanik und Forstzoo- Stämme in den vier Himmelsrichtungen 1.000-jährige Linden in Deutschland, denn logie, den Forstbota- sieht. Haben die damaligen Bewohner vor meist ist unbekannt, wie oft die ursprüng- nischen Garten der TU Dresden in 1.200 Jahren dort die Stämme so im Qua- liche Linde inzwischen wieder ausgetrieben Tharandt und und forscht seit vielen drat gepflanzt? Natürlich nicht (sonst wä- hat und wann sie entstanden war. Jahren über das Altern von Bäumen. ren es ja ursprünglich vier Bäume gewe- sen, die inzwischen zu vier miteinander Auf einer Tafel am Baum wird als Nachweis verwachsenen Riesenlinden geworden auch die untersuchte identische Genetik (Abb. 3). Aufgrund der Fäulen der Stämme sind), sondern es sollen Reste des ersten der vier Stämme angeführt. Die sagt je- ist dies auch notwendig und sinnvoll. Sie Stammes an genau diesen Positionen sein, doch nur aus, dass es derselbe Baum ist sind derzeit etwa 25 bis 35 cm dick, und welcher „Überlieferungen zufolge“ im Jahre und nicht vier verschiedene im Quadrat wären bei Fortsetzung der Schenklengsfel- 760 anlässlich der Errichtung einer christ- gepflanzte Bäume im Ursprung waren. der Altersdatierung jetzt also auch schon lichen Kapelle gepflanzt worden sei. Diese Wiederaustriebe der ursprünglichen Linde 1.200 Jahre alt. Ich denke damit wird klar, Position der Stämme kann allerdings nicht haben natürlich dieselbe Genetik – aller- dass dies so nicht stimmen kann. von Natur aus entstanden sein, sondern dings könnten es auch mehrere Stecklinge wurde von Menschen so erzogen. Dafür von einer einzigen Linde gewesen sein. Für das Marketing dieser Linde (und ande- hat es im Mittelalter sogar religiöse Gründe rer alter Bäume) ist natürlich alles erlaubt. gegeben, da man damit eine Kreuzform In diesem Zusammenhang ist auch interes- Aber man sollte irgendwo auch für Laien ausdrücken wollte – diese Erscheinung sant, dass sich an der Schenklengsfelder einmal darauf hinweisen, dass diese heuti- gibt es auch an anderen Orten bei frühe- Linde bereits schon wieder vier Nachfolge- gen vier Stämme nicht 1.200 Jahre alt sein ren Baumpflanzungen. Stämme in „Anzucht“ aus Stammfußaus- können. Sonst verwirrt man die Öffentlich- trieben befinden, bei jedem Stamm einer keit, und es gäbe hierzulande auch viele Dies ist allerdings nicht mit vier Stamm- resten an genau diesen Positionen mög- lich, sondern es müssen natürliche Aus- triebe gewesen sein, von denen große alte Linden fast immer hunderte am Stammfuß aufweisen – so auch heute bei dieser Linde. Dabei findet man problemlos auch jeder- zeit geeignete „Nachkömmlinge“ genau in den vier Himmelsrichtungen und lässt die- se wieder zu Stämmen wachsen. Es muss sich also bei ihren heutigen Dimensionen um die Wiederaustriebe von früheren Wie- deraustrieben des ursprünglichen Baumes handeln – somit sind dies heute die min- destens dritten oder sogar vierten Stamm- fußaustriebe der Nachfolge-Schösslinge des ursprünglichen Baumes. Wenn man der Schenklengsfelder Alters- datierung folgen würde, wären also auch // Abb. 2: Erneuerte Stützkonstruktion zur Leitung und Abstützung der nach außen geneigten vier jetzige fingerdicke Austriebe 1.200 Jahre Stämme und ihrer Äste // TASPO BAUMZEITUNG 01/2021 37
BAUMVETERAN Silber-Weiden, Zitter-Pappeln und wei- Und wie ist nun das mögliche Alter der auf. Dies ist aber unzulässig, da (wieder- tere Baumarten mit vielfachem Wieder- Schenklengsfelder Linde anzusetzen? Wie holte) Wiederaustriebe schneller in die austrieb, die schon zum Teil deutlich über schon erläutert: Als Klon mag sie 1.200 Jah- Dicke wachsen als der ursprüngliche Baum 1.000 Jahre alt sein müssten. Berühmt re alt sein, wenn es heute noch Wiederaus- an Umfang zugenommen hätte (wenn es ihn und bekannt ist der wohl über 50.000 triebe desselben Baumes sind. Das Alter der noch gäbe). Denn diese Wiederaustriebe Jahre alte Aspen-Klon „Pando“ in Nord- noch vorhandenen vier Stämme dürfte bei haben noch die Wurzeln des Vorgängers amerika (Weisgerber 2010) sowie die fehl- oben genannten Umfängen von 3 bis 4 m zur Verfügung und sind daher wesentlich datierte „9.700 Jahre alte“ Fichte in den (wohlwollend) 200 bis 300 Jahre sein – schneller im Zuwachs als Kernwüchse, weil nordschwedischen Gebirgen, die tatsächlich wenn man sich die Stämme genauer ansieht sie viel breitere Jahrringe haben. Dadurch nur etwa 80 Jahre alt ist (Mackenthun und ihr stärkeres Wachstum infolge Wieder- nimmt der „Schein-Umfang“ deutlich 2012). Und wenn jemand in seinem Garten austrieb berücksichtigt wohl eher jünger. schneller zu als bei einer heute noch einen 100-jährigen Nussbaum absägt und lebenden ursprünglichen Linde, erst recht, dieser anschließend wieder austreibt, sind In England gibt es ein schönes Beispiel, wie wenn man für diese Umfang-Herleitung die Austriebe auch nicht 101 Jahre alt. man mit einer solchen Baumsituation un- mehrmals die äußersten Wiederaustriebe kompliziert und fachlich angemessen umge- des alten Baumes verwendet. Es konnte gerade in einer Masterarbeit hen kann (und sollte): Im Westonbirt Arbo- über die Erfassung alter Bäume (Rieden- retum (Gloucestershire, UK) steht eine Grup- Diese Methode wird daher auch nur sehr klau & Roloff 2020) ernüchternd geklärt pe von etwa 60 armdicken Winter-Linden selten vorgenommen – in Schenklengsfeld werden, dass es (bisher) wohl leider keine eng beieinander, die als jetzige Individuen kürt man damit jedoch auch noch gleich Urkunden einer Baumpflanzung vor dem etwa 20 Jahre alt sind, mit einer Klonher- den stärksten Baum Deutschlands, denn es Jahr 1400 mehr gibt und somit auch keinen kunft vor 2.000 Jahren, von Dendrologen wird dazu auf der Gemeinde-Homepage sicheren Nachweis eines tausendjährigen seriös hergeleitet. Dies wird auch so kom- geschrieben: „Der Umfang der vier Stamm- Baumes in unserem Land. Man kann nur muniziert und niemand würde diese Stämm- teile beträgt rund 18 m, damit ist die Linde versuchen, dies aus möglichst alten chen als 2.000-jährig bezeichnen (www.fo der Baum mit dem größten Umfang Beschreibungen oder Grafiken der früher restryengland.uk/westonbirt/native-trees). Deutschlands“ (www.schenklengsfeld.de). schon älteren Bäume herzuleiten, siehe Diesen Baum sucht man in Schenklengs- Kaditzer Linde unten. In China hingegen Umfang-Herleitung aus feld vergebens. Seine vermeintlichen Aus- gibt es solche schriftlichen Belege seit äußeren Wiederaustrieben? maße soll ein gemauerter Steinkreis um 2.000 Jahren durch die Kalligraphie, z. B. die vier Stämme veranschaulichen. für einen 3.700 Jahre alten Ginkgo, dessen Zudem fällt in Schenklengsfeld die Umfang- Stamm heute noch der ursprüngliche ist Herleitung des Baumes aus den äußeren Keine Frage: Die Schenklengsfelder Linde ist (Roloff 2019). Rindenmänteln der vier Nachfolger-Stämme ein sehr beeindruckendes Baum-Natur- und -Kulturdenkmal von nationalem Rang! Sie könnte daher sogar Nationalerbe-Baum werden (www.nationalerbe-baeume.de), wenn die beschriebenen irritierenden be- ziehungsweise falschen Alters- und Umfang- angaben korrigiert würden, z. B. indem man das Alter als Klonalter bezeichnet, wie es andernorts in solchen Fällen getan wird. Ein ganz anderes Beispiel: Kaditzer Linde in Dresden Vollkommen anders verhält es sich mit der Kaditzer Linde in Dresden, deren ursprüng- licher Stamm heute noch in Teilen als sol- cher zu erkennen ist (Abb. 4). Allerdings hat der Baum, wie die nebenan stehende dama- lige Kirche und viele Häuser in der Nachbar- schaft, im Jahr 1818 in Flammen gestanden und ist zur Hälfte verbrannt. Dies erklärt seine heutige nur noch annähernd halb- // Abb. 3: Nachzögling (vorne links im Bild, von oben fotografiert) des Zukunftsstammes aus dem runde Stammform, mit einem Umfang von Stammfuß des Vorgängers, vermutlich 3. oder 4. Generation // 7,60 m in 1,2 m Stammhöhe – wenn man 38 TASPO BAUMZEITUNG 01/2021
BAUMVETERAN 700 bis 900 Jahre). Somit ist die Kaditzer Linde sicher älter als die Linde in Schen- klengsfeld, und es gibt viele solcher zu- mindest in Teilen erhaltenen Linden mit ähnlichen Dimensionen von etwa 10 m Stammumfang in Deutschland: etwa 70 Exemplare (nach Brunner 2007, www. championtrees.de und eigenen Erhebun- gen). Somit ist die Linde in Schenklengs- feld vom Alter her nichts Besonderes, vom Kulturwert und ihrer Kronengröße und Astleitung her allerdings schon sehr außer- gewöhnlich. // Abb. 4: Uralte Sommer-Linde auf dem Kirchhof in Dresden-Kaditz, Stamm-Außenansicht // Helfen Umfangformeln mit Altersfaktoren? Foto: Carl Wilhelm Arldt, Wikipedia Durchaus verbreitet wird aus dem Umfang des heutigen Stamm(rest)es das Baumalter hergeleitet, dafür gibt es sogar Tabellen zum Ablesen des Alters auf ein Jahr genau oder mittels Formeln mit sogenannten Altersfaktoren (zum Beispiel 0,8 für Linden und Eichen, das heißt bei 10 m Stamm- umfang Alter 800 Jahre, Beiser 2017). // Abb. 5: Blick auf das ehemals Stamminnere // Abb. 6: Kaditzer Linde vor etwa 200 Jahren Ohne Kenntnis der früheren und insbeson- mit aus Innenwurzeln mutierten Stammteilen mit etwa 15 m Stammumfang, das Umfeld ent- dere frühen Lebensgeschichte des Baumes (hinter dem Gitter) und einen noch lebenden spricht den Kirchhofverhältnissen vor dem betreffend Standort, Beschattung, Störun- separaten Stammrest (rechts) // großen Feuer 1818 // gen/Verletzungen, Boden-/Standortverän- derungen, Konkurrenz beim Aufwuchs und anderes ist allerdings eine seriöse Herlei- tung des Baumalters aus dem Umfang auf Stadtstandorten schlicht unmöglich. Wenn um den noch existierenden, vollkommen Ausmaßen zusammenpassen würde. Damit man beim Ergebnis allerdings deutlich separat stehenden, noch lebenden Stamm- wäre bereits um 1800 ein Alter von etwa macht, dass es eine unsichere Schätzung rest (Abb. 5) mit herum misst: 10,50 m. 600 anzunehmen gewesen, also heute ist, kann man damit umgehen, und es ist etwa 800 Jahre (mit Unsicherheitsbereich sicher oft besser als gar keine Angabe. // Diese Linde hat ihr vormals hohles Stamm- inneres durch Innenwurzeln teilweise kom- pensiert, die inzwischen zu Stammteilen Literatur mit Rinde geworden sind (Abb. 5) und Beiser, R., 2017: Baum & Mensch. Verlag E. Fehler oder grober Irrtum? Mitt. Dt. Dendrol. stammaufwärts Wasser und Nährstoffe Ulmer, Stuttgart. Gesellschaft 97, 151–162. transportieren. In diesem Fall tauchten Brunner, M., 2007: Bedeutende Linden – 400 Riedenklau, A.; Roloff, A., 2020: Der Wert von mehrere ähnliche Bild-Darstellungen des Baumriesen in Deutschland. Haupt Verlag, Bern. Baumveteranen. TASPO Baumzeitung 06, noch intakten Baumes kurz vor dem gro- Gillner, S.; Roloff, A., 2016: Das Alter von Oli- 32–35. ßen Feuer 1818 von verschiedenen Künst- venbäumen – Ein wissenschaftlicher Ansatz Roloff, A., 2019: Besonderheiten und Potenzia- lern auf, also von Anfang des 19. Jahrhun- zur Altersabschätzung von Olivenbäumen le langlebiger Baumarten. AFZ./Der Wald 04, derts (Abb. 6). Darauf sieht man – mit (Olea europaea L.) auf Basis einer jahrring- 24–29. Menschen am Baum als Größenvergleich – analytischen Methode. Mitt. Dt. Dendrol. Ges. Weisgerber, H., 2010: Die Gattung Populus L. die gewaltigen Ausmaße des damals noch 101, 9–18. Enzyklopädie der Holzgewächse 57, 1–30. unversehrten Stammes, den man danach Kleinhubbert, G., 2020: Grüne Greise. Der Spie- www.championtrees.de [Zugriff 10.1.2021] sehr vorsichtig/zurückhaltend mit einem gel 27, 106–107. www.nationalerbe-baeume.de [Zugriff Umfang von etwa 15 m in 1,5 m Höhe an- Mackenthun, G., 2012: „Ältester lebender 10.1.2021] setzen kann, was mit seinen heutigen Baum der Welt in Schweden entdeckt“ – Kleiner www.schenklengsfeld.de [Zugriff 10.1.2021] TASPO BAUMZEITUNG 01/2021 39
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