BERICHT - Vernetzte Nachbarn

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BERICHT - Vernetzte Nachbarn
Ergebnisse der Fallstudienuntersuchung im Rahmen des Projektes
„Vernetzte Nachbarn“

                                                 BERICHT
     Fallstudie Berlin-Wedding
     Ergebnisse der Fallstudienuntersuchung im Rahmen des
     Projektes „Vernetzte Nachbarn“
     Franziska Schreiber und Hannah Göppert, adelphi

     Im Auftrag von: vhw Bundesverband für Stadtentwicklung und Wohnen e.V.
BERICHT - Vernetzte Nachbarn
Zitiervorschlag
Schreiber, Franziska und Göppert, Hannah 2018: Fallstudie Berlin-Wedding. Ergebnisse der
Fallstudienuntersuchung im Rahmen des Projektes „Vernetzte Nachbarn“. Berlin: adelphi.

Impressum

Herausgeber:        adelphi
                    Alt-Moabit 91
                    10559 Berlin
                    Tel. +49 30 8900068-0
                    Fax. +49 30 8900068-10
                    E-Mail: office@adelphi.de
                    www.adelphi.de

Projektbetreuung:   Anna Becker, Dr. Olaf Schnur (vhw)

Autoren:            Franziska Schreiber, Hannah Göppert (adelphi)

Gestaltung:         adelphi

Stand:              April 2018

Bildnachweis        Titel            Hannah Göppert
                    Abb. 1, S. 2     Open Streetmap ODbL / Wikimedia Commons
                    Abb. 2, S. 3     Hannah Göppert
                    Abb. 3, S. 4     Hannah Göppert
                    Abb. 4, S. 9     Marcus Andreas
                    Abb. 5, S. 10    Hannah Göppert
                    Abb. 6, S. 12    Weddingweiser
                    Abb. 7. S. 13    nebenan.de
                    Abb. 8, S. 20    Marcus Andreas

© 2018 adelphi
BERICHT - Vernetzte Nachbarn
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                         001

Inhalt

1.1 Berlin-Wedding                                            2
1.2 Auswahl der Fallstudie                                    4
1.3 Die Interviewpartner/innen                                5

2 Analoge Nachbarschaft                                       6

2.1 Verständnis von Nachbarschaft                             6
2.2 Perspektiven auf Zusammenleben und Engagement vor Ort     7
2.2.1 Wahrnehmung des soziales Miteinanders                   8
2.2.2 Lokalpolitische Themen und Herausforderungen            9

3 Digitale Nachbarschaft                                     12

3.1 Digitale und Soziale Medien im Untersuchungsgebiet       12
3.2 Nutzertypen                                              14
3.3 Die Wirkung digitaler Medien auf Gemeinschaft            16
3.3.1 Digitale Medien und soziale Netzwerke                  16
3.3.2 Digitale Medien und sozialer Zusammenhalt              17
3.4 Die Wirkung digitaler Medien auf lokale Demokratie       18
3.4.1 Politische Informationen                               18
3.4.2 (Lokal-)Politische Diskussionen                        18
3.4.3 Politisches und zivilgesellschaftliches Engagement     20
3.4.4 Rolle digitaler und sozialer Medien für die Politik    21

4 Schlussfolgerungen                                         23

Literaturverzeichnis                                         24
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adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                       002

Einleitung

Die vorliegende Fallstudie präsentiert die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung zur
Wirkung digitaler Medien mit lokalem Bezug in Berlin-Wedding. Dafür untersucht sie die
Wirkungen von digitaler Interaktion und Vernetzung auf den beiden Plattformen „Wedding-
weiser Pinnwand“ und nebenan.de.
Ziel der Fallstudie ist es, erste Erkenntnisse zu generieren, inwiefern digitale Medien in ei-
nem durch Vielfalt, Anonymität und Mobilität gekennzeichneten großstädtischen Quartier zur
Stärkung von Nachbarschaft und dem Entstehen von milieuübergreifenden Kontakten bei-
tragen können. Gleichzeitig soll berücksichtigt werden, inwiefern digitale Medien zum Aus-
tausch über soziale und politische Herausforderungen im Untersuchungsgebiet dienen.
Die Fallstudie basiert auf 25 leitfadengestützten Interviews mit lokalen Expert/innen und
Nutzer/innen der digitalen Plattform nebenan.de und der Facebookgruppe „Weddingweiser
Pinnwand“, sowie auf Beobachtungen in den digitalen Räumen und vor Ort. Das Untersu-
chungsgebiet wurde eingegrenzt, indem die Feldforschung sich auf das Quartier rund um die
Uferstraße und das Kulturzentrum Uferhallen konzentriert, aber nicht beschränkt. Die Feld-
forschungen wurden zwischen dem 13. Mai und 2. November 2017 durchgeführt.

1.1   Berlin-Wedding

Der Stadtteil Berlin-Wedding ruft unterschiedliche Assoziationen hervor. Administrativ gese-
hen, gehört der Wedding seit der Verwaltungsreform 2001 zum Bezirk Berlin-Mitte und ist in
die Ortsteile Gesundbrunnen und Wedding unterteilt. Wer Bewohner und lokale Akteure
nach ihrer Nachbarschaft fragt, merkt allerdings, dass der ehemalige Bezirk Wedding - auch
wenn es ihn auf dem Papier nicht mehr gibt - weiterhin eine wichtige Rolle für die lokale
Identität spielt (Weddingweiser o.J.).

Abb. 1: Lage und Karte von Berlin-Wedding

Um den heutigen Charakter und aktuelle Entwicklungen im Wedding zu verstehen, lohnt sich
der Blick in die Geschichte: Einst war der Stadtteil ein Industriestandort und Arbeiterviertel,
was sich in der Mischung an Industriegebäuden und gründerzeitlichen Altbauten widerspie-
gelt. Doch der Krieg und die Teilung Berlins hinterließen zahlreiche Lücken im Stadtbild, die
ab Anfang der 1960er mit Wohn- und Gewerbegebäuden neu gefüllt wurden. Heute gibt es
immer noch viele unbebaute Orte, die den Wedding zu einem ausgesprochen grünen Stadt-
teil machen.
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adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                                           003

In den 1970er Jahren zogen zahlreiche türkische Gastarbeiter in den Wedding. 63% der
                                                                                      1
Anwohner der Bezirksregion Wedding hatten im Jahr 2013 einen Migrationshintergrund und
38,4% waren ausländischer Staatsangehörigkeit (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2013).
Damit liegt der Wedding deutlich über dem Berliner Durchschnitt. Die häufigsten Herkunfts-
länder von Zuwanderern sind die Türkei, das ehemalige Jugoslawien und Polen (Butler
2011). Mit einem Durchschnittsalter von 36 Jahren ist die Bevölkerung im Vergleich zur rest-
lichen Stadt sehr jung (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen 2017). Der
Wedding weist immer noch eine hohe Konzentration sozial benachteiligter Personen auf und
konnte seinen Ruf als Problemviertel bis heute nicht ganz abschütteln. Im Einzugsgebiet des
Quartiersmanagement Badstraße, das sich überschneidet mit dem Untersuchungsgebiet
rund um das Kulturzentrum „Uferhallen“, empfingen im Jahr 2015 immer noch 39,2% der
Anwohner Transferleistungen. Der Arbeitslosenanteil lag bei 8,43% und damit über der Ber-
liner Quote, die zum gleichen Zeitpunkt bei 5,08% lag (Senatsverwaltung für Stadtentwick-
lung und Wohnen 2017). Zudem liegen das Quartier und die umliegenden Gebiete auch in
der Spitzengruppe im Bereich Kinderarmut und Kriminalität in Berlin.
Aufgrund der sozialen Herausforderungen spielen soziale Einrichtungen, die Beratungs- und
Bildungsangebote anbieten und den sozialen Zusammenhalt stärken wollen, eine wichtige
Rolle. Ein wichtiger Akteur sind die Quartiersmanagements, deren Anliegen die Entwicklung
des Stadtteils unter Beteiligung der Bewohner und anderer lokaler Akteure ist. Innerhalb
bestimmter Nachbarschaftsgrenzen führen sie Projekte und Maßnahmen durch, die einem
solidarischen Miteinander dienen sollen (Quartiersmanagement Berlin 2017).
                                                                      Ähnlich wie in anderen Berliner Be-
                                                                      zirken sind auch im Wedding Anzei-
                                                                      chen von Gentrifizierung sichtbar.
                                                                      Die zentrale Lage und der Altbaube-
                                                                      stand locken zunehmend junge
                                                                      Künstler und Studierende an. Mehre-
                                                                      re ehemalige Industrieanlagen wer-
                                                                      den inzwischen als Kulturzentren
                                                                      genutzt, wie z.B. die Uferstudios, die
                                                                      sich zu einem renommierten Veran-
                                                                      staltungsort für zeitgenössischen
                                                                      Tanz entwickelt haben, oder das
                                                                      2013 gegründete Silent Green Kul-
                                                                      turquartier.
© Hannah Göppert
Abb. 2: Das Gelände der Uferstudios                      Auch eine Reihe kleinerer Galerien
                                                         und Projekträume sowie neue gast-
ronomische Angebote haben sich angesiedelt. Bewohner sehen die Entwicklungen mit ge-
mischten Gefühlen; insbesondere vor dem Hintergrund der ansteigenden Mieten. Mittlerwei-
le gibt es auch verschiedene Initiativen, die sich gegen Gentrifizierung richten.

1
    Laut Definition des statistischen Bundesamtes hat eine Person einen Migrationshintergrund, "wenn sie selbst oder
    mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde" (Statistisches Bundesamt 2017).
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adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                         004

Politisch ist die Bevölkerung stärker links orientiert
als der städtische Durchschnitt. Bei der Bundestag-
wahl 2017 stimmten die Anwohner des Wahlkreises,
in dem die Nachbarschaft „An den Uferhallen“ liegt,
mit 28,7% für die Linke, gefolgt von der SPD
(20,8%), und den Grünen (18,7). Die AfD erhielt
7,4% der Stimmen und lag damit deutlich unter dem
Berliner Durschnitt (Berliner Morgenpost 2017).

                                                         Abb. 3: Graffiti „Roter Wedding“

1.2   Auswahl der Fallstudie

Urbane Nachbarschaften sind heute zumeist durch ein hohes Maß an Pluralität und Indivi-
dualität geprägt. Hier knüpfen viele Nachbarschaftsplattformen an. Ihr Ziel ist es, nachbar-
schaftliches Miteinander in Quartieren, in denen ein hoher Grad an Anonymität herrscht und
nachbarschaftliches Miteinander an Bedeutung verloren hat, wiederzubeleben.
Die Fallstudie Berlin-Wedding soll die Wirkungen von digitalen Medien mit sozialräumlichem
Bezug in einer großstädtischen Nachbarschaft, in der Vielfalt „Teil der urbanen Normalität“
(Meier 2017) ist, in den Blick nehmen. Wie die oben genannten Zahlen belegen, ist das Un-
tersuchungsgebiet seit Jahrzehnten migrationsgeprägt. Doch nicht nur die unterschiedlichen
migrantischen Milieus sind für die Vielfalt der Lebensstile im Wedding verantwortlich, auch
die soziale Durchmischung ist hoch, alteingesessene Berliner mit geringem Einkommen,
leben Tür an Tür mit zugezogenen Studierenden, hochmobilen Freiberuflern sowie jungen
Familien mit doppeltem Einkommen. Zudem ist die Bevölkerung ständig in Bewegung, wie
das hohe Wanderungssaldo und die steigenden Mieten, die teilweise zur Verdrängung lang-
jähriger Bewohner führen, zeigen.
Die Diversität der Bevölkerung und hohe Dynamik, durch die der Wedding gekennzeichnet
ist, bildet die postmoderne Lebenswirklichkeit vieler Großstadtbewohner ab (vgl. Drilling et
al. 2017). Damit steht die Fallstudie für Quartiere, in denen das Zusammenleben von Men-
schen unterschiedlichster Milieuzugehörigkeiten und (kultureller) Hintergründe alltäglich ist.
Die lokalen Herausforderungen und potentiellen Konflikte sind also vergleichbar mit vielen
großstädtischen Nachbarschaften, die eine ähnliche demografische und ökonomische Ent-
wicklung aufweisen.
Berlin-Wedding und speziell das Quartier rund um die Uferhallen wurden ausgewählt, weil
die digitale nebenan.de-Nachbarschaft „An den Uferhallen“ im Rahmen der online-
Befragung, die im Zuge der Feldsondierung durchgeführt wurde, als besonders aktiv identifi-
ziert wurde. Außerdem gibt es weitere nebenan.de-Nachbarschaften mit hohen Nutzerzah-
len in der direkten Umgebung. Mit der Weddingweiser Pinnwand verfügt die Nachbarschaft
zudem über einen bekannten und von vielen hoch geschätzten Stadtteilblog, dessen Face-
bookgruppe sich zu einer dynamischen Community entwickelt hat.
Die Heterogenität der Bevölkerung wirft die Frage auf, welche Milieus die digitalen Angebote
nutzen, wer von ihnen profitiert, und welche Bevölkerungsgruppen die auf digitalen Plattfor-
men zugänglich gemachten Ressourcen erreicht. In dem Zusammenhang ist auch relevant,
inwiefern digitale Medien zu Teilhabe und Vernetzung der unterschiedlichen Milieus im
Quartier beitragen und wie lokale Einrichtungen digitale Medien nutzen.
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1.3   Die Interviewpartner/innen

Experteninterviews
Insgesamt wurden sechs Expertengespräche geführt. Darunter waren zum einen Vertre-
ter/innen von sozialräumlich orientierten und kulturellen Einrichtungen im Untersuchungsge-
biet, die über besondere Kenntnis des analogen Quartiers verfügen und Auskunft geben
konnten über die Nutzung digitaler Medien durch lokale Akteure. Da die kommunalpolitische
Ebene des Bezirkes ein deutlich größeres Gebiet umfasst und die Verwaltung stärker fach-
lich differenziert ist als in der kleinstädtischen Kommunalpolitik, wurden speziell Akteure, die
im Auftrag des Bezirksamtes und des Landes quartiersbezogene Arbeit leisten, befragt. Zu-
dem wurden auch Expert/innen interviewt, die insbesondere über den digitalen Raum und
die digitale Vernetzung in der Nachbarschaft Auskunft geben können.
Die Expert/innen vertreten folgende analoge Einrichtungen im Untersuchungsgebiet:
         Das Quartiersmanagement Pankstraße
         Das Stadtteil- und Familienzentrum NachbarschaftsEtage Fabrik Osloer Straße
         Die Uferstudios, ein Zentrum für zeitgenössischen Tanz, das sich mit der Veran-
          staltungsreihe „Ausufern“ verstärkt für die Nachbarschaft öffnen will
         IZDB e.V., eine arabische Moschee und Zentrum für interkulturellen Dialog und
          Bildung
Darüber hinaus wurde die Leiterin des Projektes „Soldiner Kiez Tausch“, die seit vielen Jah-
ren in verschiedenen Stadtteilentwicklungsprojekten auf digitale Medien setzt, und die Be-
treiber der „Weddingweiser Pinnwand“ als Expert/innen für das Digitale befragt.
Nutzerbefragung
Außerdem wurden insgesamt 19 Nutzer/innen der digitalen Plattform nebenan.de und der
Facebookgruppe „Weddingweiser Pinnwand“ interviewt. Alle nutzen mindestens eines der
beiden Medien, einige auch beide. Zudem sind sie teilweise auch Mitglied anderer Gruppen
mit sozialräumlichem Bezug in sozialen Medien.
Während das Geschlechterverhältnis unter den befragten Nutzer/innen ausgewogen war,
waren im Hinblick auf den sozioökonomischen Status gut gebildete Mittelschichtsangehörige
besonders stark vertreten: Zwei Drittel der Befragten hat einen Hochschulabschluss. Es ist
davon auszugehen, dass durch Selbstselektion der Teilnehmenden ein gewisser Bias ent-
standen ist, gleichzeitig scheint diese Verteilung aber auch den typischen Nutzer/innen der
digitalen Medien im Untersuchungsgebiet nahezukommen (vgl. Kapitel 3.2).
Die Interviewpartner/innen waren zwischen 27 und 73 Jahre alt, das Durchschnittsalter lag
bei Mitte 40 und damit über dem Altersdurchschnitt im Quartier. Ein Drittel der befragten
Nutzer/innen hat einen Migrationshintergrund, die Mehrheit von ihnen ist aus anderen EU-
Staaten zugewandert. Auch dies ist nicht repräsentativ für die Bevölkerungsstruktur im Wed-
ding.
Knapp die Hälfte der Befragten ist erst innerhalb der letzten drei Jahre in den Wedding ge-
zogen, außerdem sind viele zwar nicht im Wedding aufgewachsen, aber schon seit vielen
Jahren dort ansässig. Nur zwei Befragte haben bereits ihre Kindheit in der Nachbarschaft
verbracht. Mit Ausnahme einer Person wohnen alle in Mietwohnungen, was dem Woh-
nungsangebot und der Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet entspricht.
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      2 Analoge Nachbarschaft

Dieses Kapitel widmet sich den Perspektiven der Interviewten auf Nachbarschaft, das alltäg-
liche urbane Miteinander und soziale Problemlagen vor Ort. Es zeigt die Gleichzeitigkeit
vielfältiger Lebensformen und Erwartungen an Nachbarschaft im Untersuchungsgebiet.
Zentrale Punkte sind die Wahrnehmung von Anonymität sowie von lokalen Herausforderun-
gen, die verknüpft sind mit strukturellen sozialen Ungleichheiten. Zugleich entsteht der Ein-
druck, dass viele Anwohner und sozialräumlich orientierte Akteure ein steigendes Bedürfnis
nach nachbarschaftlicher Vernetzung verspüren.
Die Namen aller befragten Nutzer/innen wurden anonymisiert, die interviewten Vertreter
lokaler Einrichtungen oder Betreiber lokaler Plattformen werden hingegen namentlich ge-
nannt.

2.1   Verständnis von Nachbarschaft

Unter den Nutzern von digitalen Medien im Untersuchungsgebiet in Berlin-Wedding existie-
ren vielfältige Vorstellungen von Nachbarschaft, sowohl im Hinblick auf den Raum als auch
auf das soziale Gefüge. Ebenso unterschiedlich sind die Erwartungen der Befragten an
Nachbarschaft.
Räumliche Nachbarschaft
Mit Blick auf die räumliche Vorstellung von Nachbarschaft reichen die Definitionen vom ei-
genen Haus, über die Straße, bis hin zum mehrere Straßenblocks umfassenden Kiez oder
einem Netz von im Alltag frequentierten Straßen und Orten.
Es zeigt sich zudem, dass manche Quartiere im Wedding gemeinhin bekannte Namen und
eindeutig benennbare Grenzen haben, beispielsweise der Soldiner Kiez. Diese kleinräumli-
chen Nachbarschaften sind jedoch größtenteils relativ junge Konstrukte, die teilweise durch
die Einrichtung von Quartiersmanagements (QM), die für klar umgrenzte Gebiete zuständig
sind, hergestellt werden. Die Nachbarschaftsbezeichnungen und räumlichen Definitionen
der Quartiersmanagements werden in der Wahrnehmung verschiedener Experten oft mit der
Zeit von den Anwohnern übernommen.
Im Untersuchungsgebiet rund um die Uferstraße, das sich mit mehreren QM-Gebieten über-
schneidet, scheint eine nachbarschaftliche Identität erst im Entstehen zu sein. Dieser Pro-
zess wird beeinflusst durch verschiedene Akteure, die sich in den letzten Jahren angesiedelt
haben und auf die Nachbarschaft einwirken, wie die Uferstudios, neue Cafés und Märkte
oder ein Gemeinschaftsgarten. Aber auch die Plattform nebenan.de scheint durch ihre digi-
tale Grenzziehungen zur Nachbarschaftskonstruktion beizutragen.
Für viele Anwohner zählen auch weiter entfernte Orte, die nicht unbedingt zu Fuß erreichbar
sind, die sie aber im Alltag oft nutzen, zur Nachbarschaft. Gleichsam ist in der Einschätzung
der Experten der ehemalige Bezirk Wedding für die lokale Identität und Lebenswelt vieler
Anwohner weiterhin bedeutsam, was an der recht weitläufigen Verteilung von Einkaufsgele-
genheiten und öffentlichen Aufenthaltsorten liege.
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Soziale Nachbarschaft
Mit Blick auf soziale Beziehungen in der Nachbarschaft wird deutlich, dass die individuelle
soziale Position, eigene Vorerfahrungen und die Lebensphase das Verhältnis zur Nachbar-
schaft beeinflussen. Eine Erkenntnis, die sich auch mit der Quartiersforschung deckt (vgl.
Rohr-Zänker und Müller 1998).
Durch das breite Angebot an Freizeitmöglichkeiten in Berlin sowie die Einbindung in Struktu-
ren außerhalb der Nachbarschaft durch Beruf, Hobbies, vorherige Wohnorte, gewachsene
Freundeskreise etc. sind viele Anwohner mobil im gesamten Stadtgebiet unterwegs. In der
Einschätzung von Mitarbeitern nachbarschaftlicher Einrichtungen spielt der sozialräumliche
Nahraum für einen Teil der Bevölkerung des Weddings daher eine untergeordnete Rolle.
Diese Perspektive teilt auch der 32-jährige nebenan.de-Nutzer Stefan, der vor sieben Mona-
ten nach Berlin gezogen ist:
 „Nachbarschaft ist für mich überhaupt kein Begriff mehr. Sondern es geht um die Leute,
  die man kennenlernt, es entsteht eine Beziehung oder Freundschaft. Für mich hat Nach-
  barschaft nicht so einen Wert.“
Die Erfahrungen der Befragten zeigten, dass einschneidende biografische Ereignisse wie die
Geburt eines Kindes oder auch der Tod des Partners die nachbarschaftlichen Beziehungen
intensivieren können. Besonders Personen mit Kindern und Hunden kommen im Alltag über
Institutionen wie Kitas oder im öffentlichen Raum mit zahlreichen Nachbarn in Kontakt, teil-
weise entwickeln sich daraus auch Bekanntschaften oder festere Beziehungen. Demgegen-
über pflegen Personen, die durch ihren Beruf zeitlich stark eingebunden sind, kaum nach-
barschaftliche Beziehungen.
Gleichzeitigkeit vielfältiger Lebensformen im Sozialraum
Da das Wohnen auf engem Raum nicht zwingend zu sozialen Beziehungen führt, ist die
soziale Nähe zumeist entscheidender dafür, ob sich Beziehungen zwischen Nachbarn ent-
wickeln (vgl. Häußermann und Siebel 2004). In einem Stadtteil wie Wedding, in dem Men-
schen mit unterschiedlichsten Lebensstilen und sozialen Hintergründen beisammen wohnen,
entstehen nachbarschaftliche Beziehungen in erster Linie zu Personen, mit denen gewisse
Gemeinsamkeiten bestehen.
Dies äußert sich auch im Nebeneinander von Orten und Institutionen, die unterschiedliche
Milieus ansprechen. Diese Form der Differenzierung gilt als typisch für die „metropolitane
Differenzgesellschaft“ (Bukow et al. 2007).
Insgesamt scheint die Mehrheit der Befragten weit verzweigte soziale Netzwerke zu haben,
die nur bei Personen, die schon lange am gleichen Ort leben und/oder die in der Nachbar-
schaft zivilgesellschaftlich engagiert sind, kleinräumlich verdichtet sind. Die nachbarschaftli-
chen Kontakte der Zugezogenen und Kinderlosen sind häufig auf eine gewisse Familiarität
oder lose Bekanntschaften mit Personen in der näheren Umgebung beschränkt.

2.2   Perspektiven auf Zusammenleben und Engagement vor Ort

Bis auf wenige Ausnahmen teilen die Befragten die Auffassung, dass sie gerne in ihrer
Nachbarschaft leben und dass der Wedding besser sei als sein Ruf. Dennoch nehmen viele
den sozialen Zusammenhalt als schwach wahr. Besonders kritisch sehen sie die Anonymität
und geringe soziale Interaktion der verschiedenen Teilgruppen, die das Untersuchungsge-
biet bewohnen.
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2.2.1 Wahrnehmung des soziales Miteinanders
Anonymität und Wunsch nach mehr Gemeinschaft
Viele der Befragten empfinden das Zusammeneben im Quartier als anonym. Der 50-jährige
Otto, der vor zwei Jahren aus NRW in die Nachbarschaft gezogen ist, bringt die von vielen
geteilte Wahrnehmung auf den Punkt: „Man sieht sich, man grüßt sich, das war’s.“
Mit der zunehmenden Mobilität und Diversifizierung der Bevölkerung habe die nachbar-
schaftliche Nähe abgenommen. Şükran Altunkaynak, die selbst in der Nachbarschaft aufge-
wachsen ist und seit 15 Jahren Mitarbeiterin des Quartiermanagement ist, nimmt die Verän-
derungen folgendermaßen wahr:
 „Viele Menschen wissen nicht mehr, wer in ihrem Haus, über ihnen oder unter ihnen
  wohnt. (..) Vor 30 Jahren wusste man noch ganz genau, wer am anderen Ende der Stra-
  ße wohnt, man wusste den Vornamen und selbst, wenn man sich nicht gegenseitig be-
  sucht hat, hatte man Kontakt auf der Straße. Es wurde auch als unmöglich angesehen,
  wenn man auf der Straße stand und sich ausgetauscht hat.“
Manche der befragten Bewohner/innen schätzen die großstädtische Anonymität. Nicht jeder
hat Interesse an nachbarschaftlicher Vernetzung und manche Zugezogene aus Kleinstädten
haben sich bewusst für großstädtisches Leben entschieden, weil es – wie bereits Simmel
(1903) und andere frühe Stadtsoziologen zeigten - ein größeres Maß an individueller Freiheit
gewährt. Sie erwarten von Nachbarschaft in erster Linie, leben zu können, sowie einen res-
pektvollen und toleranten Umgang.
 „Ich schätze eigentlich auch die Anonymität der Großstadt, zu viel Nachbarschaft will ich
  auch nicht. Ich finde das eigentlich hochgradig spießig, so die totale Nachbarschaft.“
  (Joachim)
Doch die Mehrheit der Interviewpartner wünscht sich intensivere nachbarschaftliche Bindun-
gen. Sie nehmen distanziertes Verhalten und geringes Interesse vieler Nachbarn wahr. Viele
verspüren den Wunsch, ein gewisses Vertrauensverhältnis zur Nachbarschaft aufzubauen
und etwa beispielsweise spontan bei Nachbarn klingeln zu können, wenn sie Hilfe benöti-
gen. In der Realität ist das aber eher die Ausnahme, die meisten haben allenfalls ein oder
zwei Nachbarn im eigenen Haus, zu denen eine Bindung besteht, die über das Grüßen im
Hausflur hinausgeht.
Bei einigen geht das Bedürfnis nach Nachbarschaftlichkeit noch weiter. Sie wünschen sich
engere soziale Beziehungen, einen freundschaftlichen Umgang und die gemeinsame Über-
nahme von Verantwortung für den geteilten Wohnraum. Einzelne Personen haben bereits
analoge Versuche unternommen, die Kontakte zwischen Nachbarn zu stärken oder Orte zu
schaffen, an denen Nachbarn aus dem Haus miteinander ins Gespräch kommen können.
Diese Aktivitäten waren aus Sicht der Befragten aber wenig erfolgreich darin, längerfristige
Bindungen herzustellen und stoßen teilweise auf aktiven Widerstand. Carla, eine Rentnerin,
die sich seit langem für ein besseres Miteinander in ihrer Nachbarschaft engagiert, erinnert
sich an die Erfahrungen mit einer von ihr aufgestellten Bankgarnitur:
 „Das Ding war kaum da, da klingelte der erste Nachbar: ‚Das Ding kommt weg! Da sitzen
  Leute dran.‘ Dann sagte ich ‚ja, das hatte ich mir erhofft.‘ Und er: ‚Das geht aber nicht, der
  Lärm stört.‘ (…) Und dann hab ich mir gesagt, ne, wenn ihr es nicht wollt, dann lass ich es
  halt bleiben.”
Soziale und ethnische Grenzziehungen
Im Allgemeinen schätzen die Befragten die soziale und kulturelle Vielfalt ihrer Nachbar-
schaft. Dennoch stören sich einige an der Trennung entlang ethnischer Linien. Zwar sei das
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                    009

Zusammenleben mit Anwohnern unterschiedlicher Hintergründe problemlos, doch es würden
weniger Kontakte zu den Angehörigen migrantischer Communities bestehen als zu anderen
Nachbarn. Während die meisten Interviewpartner dies wertungsfrei feststellen, knüpfen ein-
zelne an den pejorativen Diskurs der „Parallelgesellschaften“ an, beispielsweise indem sie
nahelegen, dass Abgrenzung einseitig von Zuwanderern ausgehen würde.
 „Wenn man jemanden versucht anzusprechen, die meisten können überhaupt kein
  Deutsch. Ich glaube die haben überhaupt kein Interesse. Wir leben nicht in deren Welt.
  Das sind Parallelwelten, da kommen sie nicht durch.“ (Carla)
Eine derartige Perspektive ist insofern problematisch, da sie von der migrantischen Bevölke-
rung als homogene Gruppe ausgeht und dabei über Unterschiedlichkeiten in Bezug auf
Schichtzugehörigkeit, Generationen, Herkunftsregionen oder individuelle Präferenzen hin-
wegsieht (vgl. Buckow 2007). Zudem ignoriert diese Perspektive, dass auch die Mehrheits-
gesellschaft sich in verschiedene Milieus differenziert und auch das eigene Netzwerk zu-
meist homogen ist. Denn es gilt als normal, dass Menschen sich mit Personen aufgrund
bestimmter Gemeinsamkeiten stärker verbunden fühlen (Meier 2017: 250).

2.2.2 Lokalpolitische Themen und Herausforderungen
Zwischen Quartiersentwicklung und Gentrifizierung
Als wichtiges stadtpolitisches Thema betrachtet die Mehrheit der Befragten die steigenden
Mieten im Wedding – wobei die Einschätzungen zur Verdrängungsgefahr und zukünftigen
Entwicklung der Nachbarschaft stark variieren. Manche befürchten, dass sich der Stadtteil
durch die Aktivitäten von Investoren und Zuzüge wohlhabender Personen grundlegend ver-
ändert und an Entwicklungen in anderen Berliner Stadtteilen angleichen werde.

Abb. 4: Baustellencontainer, besprüht mit Protest gegen Gentrifizierung
(Plantagenstraße)
Andere sehen aktuelle Entwicklungen wie die zunehmende soziale Durchmischung und die
Ansiedlung neuer kultureller und gastronomischer Angebote als Anzeichen einer positiven
Entwicklung. Weitgehend geteilt wird die Einschätzung, dass die Veränderung langsamer
ablaufe als in anderen innenstädtischen Gebiete Berlins mit ähnlicher Sozialstruktur, wie
Kreuzberg oder Nord-Neukölln.
Samuel lebt seit 2004 im Wedding und beschreibt die Entwicklungen folgendermaßen:
 „Es ist im Wandel, es geht ganz langsam, aber schon eindeutig in welche Richtung es
  geht. Aber der Wedding hat noch so eine Normalität. Es waren nie sozial Privilegierte die
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                   010

  hier wohnen und es sind auch nicht sozial Privilegierte die hier hin ziehen. Das ist ganz
  schön, es ist kein Wandel von alt auf neu, sondern es ist so eine Transition. Ich kenne
  wenige Leute, die aus dem Wedding wegziehen müssen, weil sie es sich nicht mehr leis-
  ten können."
Da keiner der befragten Nutzer/innen selbst von Verdrängung bedroht ist, ist niemand miet-
politisch aktiv, manche verfolgen die Entwicklungen am Wohnungsmarkt jedoch mit Besorg-
nis.
Soziale Marginalisierung als lokale Herausforderung
Neben der Gentrifizierung sind die soziale Benachteiligung vieler Bewohner des Quartiers
und soziale Probleme, die teilweise aus konzentrierter Armut und sozialer Marginalisierung
erwachsen, im Untersuchungsgebiet von politischer Relevanz.
Die meisten Befragten beschreiben das Zusammenleben als konfliktfrei und fühlen sich in
ihrer Nachbarschaft generell wohl und sicher. Allerdings fühlen sich manche vom Verhalten
                                              von Jugendlichen im öffentlichen Raum ge-
                                              stört, andere berichten auch von Kleinkrimi-
                                              nalität, die ihr Sicherheitsempfinden beein-
                                              trächtige. Zudem beklagen sich viele darüber,
                                              dass die Nachbarschaft „heruntergekommen“
                                              sei und viel Sperrmüll in den Straßen herum-
                                              liege.
                                              Mehrere Personen relativieren diese Aussa-
                                              ge jedoch mit dem Hinweis, dass sie Müll und
                                              einen hohen Geräuschpegel als Teil urbaner
                                              Normalität empfinden und auch Diebstähle in

                                              einer Großstadt nichts Außergewöhnliches
Abb. 5: Sperrmüll (Gottschedtstraße)          seien. Rebea, ehrenamtliches Vorstandsmit-
                                              glied einer Moschee, die zugleich interkultu-
relles Nachbarschaftszentrum ist, fasst die von vielen wahrgenommenen Probleme in der
Nachbarschaft und die Versuche Einzelner, sie zu lösen, folgendermaßen zusammen:
 „Ich weiß, dass es hier Probleme gibt mit der Kriminalität und dass man hier und da Prob-
  leme mit der Sauberkeit hat und, dass Nachbarn eigenständig versucht haben Initiativen
  zu starten. Zum Beispiel der Park gegenüber war von Ratten geplagt und da haben sich
  2-3 Nachbarn zusammen getan. (…) Das beschäftigt die Menschen hier so. Und wie die
  Jugend erzogen ist, wie sie miteinander umgehen. Aber größere Probleme fallen mir nicht
  ein.“
Die Ursachen der sozialen Herausforderungen durch Armut, soziale Ausgrenzung und Gent-
rifizierung sind eher auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu verorten. Daher konzentrieren
sich viele Akteure in der Nachbarschaft in ihrer Arbeit weniger auf politische Lösungen als
auf Stärkung der sozialen Teilhabe aller Bewohner/innen. So bearbeiten die sozialen Ein-
richtungen die genannten Probleme auf vielfältige Weise, etwa indem sie partizipative Pro-
jekte zur Begrünung und Verschönerung des öffentlichen Raumes durchführen oder Bil-
dungsangebote für benachteiligte Jugendliche anbieten. Dieser Ansatz spiegelt sich auch in
der bürgerschaftlichen Partizipation der Interviewpartner im Lokalen wider.
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                     011

Politische Partizipation und lokales Engagement
Einzelne Nutzer/innen sind auf lokaler Ebene politisch aktiv, darunter ist ein Mitglied der
Weddinger SPD-Ortsgruppe, ein Mitglied des Quartiersrates und eine Angehörige eines
bezirklichen Migrantenbeirates. Ansonsten sind zwar viele politisch interessiert, es ist aber
niemand parteipolitisch, in politischen Kampagnen oder sozialen Bewegungen aktiv.
Deutlich stärker verbreitet ist soziales Engagement, etwa in der Obdachlosen- und Flücht-
lingshilfe oder einem Nachbarschaftstreff. Die Mehrheit der Befragten gibt an, wenig Zeit für
zivilgesellschaftliches Engagement zu haben und ist eher anlassbezogen engagiert. Andere
Interviewpartner sind gar nicht in formellen Strukturen engagiert, bringen sich aber in der
Nachbarschaft ein, indem sie vereinzelt Veranstaltungen organisieren oder sich an einem
Nachbarschaftsgarten beteiligen wollen.
Viele würden das nachbarschaftliche Zusammenleben gerne stärker gemeinsam gestalten,
schätzen die Bereitschaft zur Partizipation insgesamt aber als gering ein. So berichtet GF,
der in den neu gegründeten Quartiersrat des Quartiersmanagement Badstraße gewählt wur-
de, dass sich weniger Personen aufstellen ließen als es Plätze gab.
Mehrere Experten betonen in dem Zusammenhang, dass es aufgrund der Sozialstruktur im
Wedding niedrigschwellige Angebote und langen Atem braucht, um die Gemeinschaft und
Beteiligung zu stärken. Zudem betonen verschiedene Nutzer/innen, dass es mehr nicht-
kommerzielle Treffpunkte und Begegnungsorte bräuchte, die allen Bevölkerungsgruppen
offen stehen, an denen analoge Vernetzung der Milieus zustande kommen kann.
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                  012

      3 Digitale Nachbarschaft

3.1   Digitale und Soziale Medien im Untersuchungsgebiet

In Berlin-Wedding gibt es eine Reihe von Facebookgruppen mit sozialräumlichem Bezug.
Zudem ist die Nachbarschaftsplattform nebenan.de mit verschiedenen digitalen Nachbar-
schaften, die jeweils kleinräumliche Gebiete umfassen, im Untersuchungsgebiet vertreten.
Um den Untersuchungsgegenstand einzugrenzen, konzentriert sich die Fallstudie auf die
nebenan.de-Nachbarschaft „An den Uferhallen“ und die Facebook-Nachbarschaftsgruppe
„Weddingweiser Pinnwand“.
Facebookgruppen mit lokalem Bezug
Viele der Facebookgruppen mit direktem Bezug zu Berlin-Wedding dienen der Kommunika-
tion von Gruppen, die analog existieren (z.B. Schulen, Kirchengemeinden) oder stellen die
online-Präsenz von analogen Orten dar (z.B. Bars und Gastronomie, Kultureinrichtungen).
Daneben gibt es mehrere Gruppen für Kleinanzeigen sowie Gruppen, die explizit eine Platt-
form für lokalen Austausch sein wollen, beispielsweise „Neu im Wedding“ und „Szene Wed-
ding.“ Die mit Abstand aktivste lokale Facebookgruppe mit den meisten Mitgliedern heißt
„Weddingweiser Pinnwand“ und ist aus dem Stadtteilblog „Weddingweiser“ hervorgegangen.
Die Gruppe hat im Dezember 2017 über 9.800 Mitglieder.
Der Blog „Weddingweiser“ und die Facebook-Gruppe „Weddingweiser-Pinnwand“
Der Blog Weddingweiser wurde 2011 mit dem Anlie-
gen gestartet, die schönen Seiten des Wedding stärker
sichtbar zu machen und damit der negativen Bericht-
erstattung, die in den konventionellen Medien domi-
nierte, entgegen zu setzen. Der Blog ist inzwischen zu
einem wichtigen Medium für den Wedding geworden
mit einer Reichweite von etwa

35.000 Personen pro Tag. Die Beiträge umfassen
Nachrichten, Beiträge über Gastronomie und Gewer- Abb. 6: Titelbild der
be, aber auch Feuilleton und Meinungsbeiträge, alles Facebookgruppe Wedding-
mit lokalem Bezug. Bis heute wird die Seite betrieben weiser Pinnwand
von einer kleinen Gruppe, die sich als ehrenamtliches
Bloggerkollektiv versteht. Weddingweiser kooperiert auch mit von den Quartiersmanage-
ments herausgegebenen Kiezzeitungen, sodass ihre Beiträge teilweise auch im Print er-
scheinen.
Das Entstehen einer den Blog ergänzenden digitalen Gemeinschaft in Form der Facebook-
gruppe „Weddingweiser Pinnwand“ war nicht geplant, sondern hat sich dynamisch entwi-
ckelt, weil es das Bedürfnis danach gab. Damit unterscheidet sich die Gruppe von Plattfor-
men wie nebenan.de. Die Facebook-Community läuft inzwischen eigenständig und kommt
ohne inhaltliche Inputs der Betreiber aus, die lediglich moderieren. In der Facebookgruppe
dominieren Kleinanzeigen und Beiträge, die als Crowdsourcing von lokalem Wissen gese-
hen werden können, beispielsweise erfragen Nutzer/innen Empfehlungen für Ärzte, suchen
nach Örtlichkeiten für Feiern und verlorenen EC-Karten oder erkundigen sich nach den Hin-
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                        013

tergründen der Sperrung einer U-Bahn-Station. Nutzer wie Administratoren der Weddingwei-
ser Pinnwand sind der Meinung, nirgendwo würden Fragen mit lokalem Bezug besser be-
antwortet und Gesuche schneller bedient. Oft entstehen in der Gruppe auch Diskussionen
über lokale Probleme oder politische Entwicklungen. Dauerbrenner sind die Mietpreisent-
wicklung und Probleme mit Hausverwaltungen, Verschmutzung im öffentlichen Raum, oder
auch Schwierigkeiten mit der Post- und Paketzustellung im Kiez. Nur ein sehr geringer Anteil
der öffentlichen Beiträge bezieht sich auf gemeinschaftliche Aktivitäten oder neue Kontakte,
allerdings gibt es eine Vielzahl von Veranstaltungshinweise, darunter durchaus auch Einla-
dungen, die Gelegenheit geben, Kontakte zu knüpfen.
Nebenan.de
Das Start-up-Unternehmen nebenan.de ist die aktuell größte Nachbarschaftsplattform in
Deutschland. Nachdem sie 2015 online ging, gab es im Sommer 2017 auf der Plattform be-
reits über 2000 kleinräumige digitale Nachbarschaften, die über das Bundesgebiet verteilt
sind, sich jedoch stark in Großstädten konzentrieren. Ziel von nebenan.de ist es, nachbar-
schaftlichen Austausch zu stärken. Besonders im Kontext individualisierter Lebensstile und
großstädtischer Anonymität will die Plattform laut Selbstbeschreibung dazu beitragen, dass
„sich jeder Mensch in seinem lokalen Umfeld zu Hause fühlt und seine Potentiale aktiv in die
lokale Gemeinschaft einbringen kann.“ (nebenan.de 2017). In den kleinräumigen neben-
an.de-Nachbarschaften gibt es verschiedene Möglichkeiten der Interaktion, die vergleichbar
sind mit anderen sozialen Medien. So gibt es eine Art Pinnwand für inhaltliche Beiträge,
einen „Marktplatz“ für Kleinanzeigen sowie Gruppen, die zum Austausch über spezielle Inte-
ressen dienen. Nutzer/innen können zudem mit den Angehörigen ihrer Hausgemeinschaft,
der direkten Nachbarschaft sowie angrenzender Nachbarschaften kommunizieren.
In Berlin-Wedding gibt es mehrere nebenan.de-
Nachbarschaften, die im Durchschnitt etwa 250 ange-
meldete Nutzer/innen haben. Basierend auf der im Rah-
men dieses Projektes durchgeführten Bestandsaufnahme
zu digitalen Nachbarschafts-plattformen wurde eine onli-
ne-Befragung durchgeführt, bei der die nebenan.de-
Nachbarschaft „An den Uferhallen“ als besonders aktiv
identifiziert wurde. Daher konzentriert sich die vorliegen-
de Fallstudie auf diese Nachbarschaft, beispielsweise für
die Rekrutierung von Interviewpartnern. Da auf neben-
an.de jedoch auch Interaktionen zwischen verschiedenen
Nachbarschaften stattfinden und für die Alltagspraktiken
und nachbarschaftlichen Beziehungen der Anwohner              Abb. 7: nebenan.de-
oftmals ein weitläufigeres räumliches Gebiet bedeutsam        Nachbarschaft „An den
ist, folgt die Fallstudie nicht strikt den Grenzziehungen     Uferhallen“ und umliegende
der Plattform nebenan.de.                                     Nachbarschaften

„An den Uferhallen“
Auf der Plattform nebenan.de ist die Nachbarschaft „An den Uferhallen“ durch die Osloer
Straße im Norden, die Reinickendorfer Straße im Westen, im Süden durch die Bahngleise
der S-Bahn sowie den Brunnenplatz und im Osten durch die Pankstraße und Prinzenallee
begrenzt. Aktuell hat die Nachbarschaft 423 angemeldete Nutzer/innen. Sie wird viel für
Marktplatzeinträge genutzt, ebenso wie für Nachbarschaftshilfe in Form von einfachen Fra-
gen oder dem Einholen von Tipps, auf die in der Regel schnell reagiert wird. Auch Vermitt-
lung von Nachbarschaftshilfe findet häufig statt, politische Diskussionen sind hingegen eine
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                      014

Ausnahme. Die Gruppen dienen dem Austausch mit Personen, die sich für bestimmte The-
men interessieren und teilweise auch, um analoge Treffen zu organisieren (z.B. die Gruppe
„Socializing für junge und jung gebliebene“) oder eine Initiative zu starten, (z.B. Nachbar-
schaftsgarten-AG).

Tabelle 1: Darstellung der untersuchten sozialen und digitalen Medien

Nebenan.de-Nachbarschaft             Mehrere Straßenblocks rund um die Uferstraße
„An den Uferhallen“ und              Aktuell 423 Nachbarn (Stand 12.12.2017), es kann
angrenzende Nachbarschaf-             aber auch mit Nachbarn in angrenzenden neben-
ten                                   an.de-Gebieten kommuniziert werden.
                                     überwiegend Personen zwischen Mitte 20 bis Mitte 50
                                     Themen /Aktivitäten: Marktplatzeinträge, Fragen &
                                      Antworten zum lokalen Leben, Veranstaltungshinwei-
                                      se

Facebookgruppe „Wedding-             Ehemaliger Berliner Bezirk Wedding (heutige Ortsteile
weiser-Pinnwand“                      Wedding und Gesundbrunnen)
                                     9.839 Mitglieder (Stand: 12.12.2017)
                                     sehr divers, größte Nutzergruppe sind deutschspra-
                                      chige Frauen ab 25
                                     Marktplatzeinträge, Veranstaltungshinweise, Fragen &
                                      Antworten zum lokalen Leben, Diskussionen über lo-
                                      kale Nachrichten, Austausch über lokale Angebote
                                      (z.B. Restaurants, Ärzte)

3.2   Nutzertypen

Die digitalen Medien mit Nachbarschaftsbezug werden vor allem von jungen Berufstätigen
und Personen mittleren Alters genutzt. Besonders bei Zugezogenen scheinen sie beliebt zu
sein. Dies zeigten eigene Beobachtungen und die Wahrnehmung der Befragten, ebenso wie
die Nutzungsstatistiken der Weddingweiser Pinnwand.
Zudem sind, sofern ersichtlich, zwar etliche Personen mit Migrationshintergrund auf den
Plattformen angemeldet, sie scheinen aber unterrepräsentiert im Vergleich zur Bevölkerung
des Untersuchungsgebietes. Insgesamt lassen sich zwei Gruppen von Personen identifizie-
ren, die digitale Medien mit Sozialraumbezug typischerweise nutzen:
Die erste Gruppe sind Personen mit hoher Verbundenheit zum Quartier. Darunter fallen
zum einen Menschen, für die der Sozialraum im Alltag eine wichtige Rolle spielt. Laut Face-
book-Statistik der Weddingweiser-Pinnwand sind ihre größte Nutzergruppe deutschsprachi-
ge Frauen zwischen 25 und 35 Jahren. Die Betreiber erklären dies damit, dass für viele Per-
sonen in diesem Alter das Quartier eine größere Bedeutung erhält. Insbesondere mit der
Geburt des ersten Kindes würden Eltern weniger mobil und mehr Zeit in der eigenen Woh-
numgebung verbringen, sodass sie stärker nach Aktivitäten und Kontakten vor Ort suchen.
Aber auch lokale Empfehlungen und Tauschangebote wären besonders für Personen mit
Kindern nützlich.
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                     015

Zum anderen sind viele der Nutzer/innen weniger sozialräumlich gebunden, fühlen sich aber
dennoch ihrer Nachbarschaft besonders verbunden. Viele sind vor Ort bereits politisch oder
zivilgesellschaftlich aktiv und kennen die relevanten Akteure vor Ort. Andere sind noch nicht
engagiert, haben aber die Absicht, in der Nachbarschaft etwas zu bewegen. Die Engagierten
sehen die digitalen Medien als Tool, um mehr Personen zu erreichen und sich mit Gleichge-
sinnten zu vernetzen.
Eine zweite Gruppe, die den untersuchten digitalen Medien in Wedding verstärkt nutzt, sind
Personen mit begrenztem Sozialkapital, die wenig in lokale Netzwerke eingebunden sind.
Sie nutzen die digitalen Medien als Ressource, um Informationen über das lokale Leben
einzuholen, um Unterstützung zu erbeten oder auch Kontakte zu knüpfen.
Besonders Neuankömmlinge haben oft (noch) kein großes soziales Netzwerk vor Ort, auf
das sie bei Fragen zurückgreifen können. Der Weddingweiser und nebenan.de dienen für
sie als Quelle von Informationen, Empfehlungen und Anknüpfungspunkten im Lokalen. Eini-
ge suchen auf diesem Weg auch nach Kontakten vor Ort. Andere Zugezogene suchen zwar
keine Freundschaften, wünschen sich aber ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl und Mitei-
nander vor Ort. Es ist auffällig, dass sich besonders Personen, die das kleinstädtische oder
ländliche Leben kennen, nach engerer Nachbarschaft sehnen und sich wünschen, über
Plattformen wie nebenan.de eine stärkere Vertrautheit zu ihren Nachbarn herzustellen.
Unter den Neuankömmlingen finden sich auch viele Anwohner/innen mit Migrationserfah-
rung. Beispielsweise bitten hin und wieder Personen auf nebenan.de um Unterstützung
durch deutsche Muttersprachler bei bestimmten Anliegen wie der Kommunikation mit Behör-
den. Der Administrator der Weddingweiser Pinnwand berichtete auch, dass in den vergan-
genen Jahren zahlreiche Syrer der Gruppe beigetreten sind. Oft würden sie zwar nicht aktiv
Beiträge veröffentlichen, möglicherweise würden sie aber dennoch von den Informationen
und Angeboten profitieren.
Neben den neu Zugezogenen finden sich in der Gruppe auch Nutzer/innen, die zwar schon
länger in der Nachbarschaft leben, aber dennoch wenige feste Bindungen vor Ort haben und
sich mehr soziale Kontakte wünschen. Dazu gehören Alleinstehende, die beispielsweise
wegen ihres Jobs nach Berlin gezogen sind und eher zufällig in der Nachbarschaft wohnen,
aber auch Personen, die sich selbst als schüchtern beschreiben und die sich erhoffen, dass
die Hemmschwelle mit Nachbarn in Kontakt zu treten, im Internet geringer ist.
Zuletzt gibt es unter den Nutzern der untersuchten digitalen Medien auch Personen, die kein
Bedürfnis nach engerer Nachbarschaft verspüren und die großstädtische Anonymität schät-
zen. Sie nutzen die Nachbarschaftsplattformen in erster Linie aus pragmatischen Gründen,
etwa um unkompliziert Informationen einzuholen oder Kleinanzeigen zu nutzen.
In Ermangelung quantitativer Daten können zwar keine verbindlichen Aussagen über die
sozialen Hintergründe der Nutzer/innen getroffen werden, doch aus den beobachteten The-
men und Aktivitäten, Veranstaltungshinweisen, sowie Ausdrucksweisen entsteht der Ein-
druck, dass in erster Linie Mittelschichtsangehörige die digitalen Medien nutzen. Die Inter-
views mit den Vertretern lokaler Akteure zeigten jedoch, dass deren Kommunikation und
Marketing über Facebook durchaus dazu führen, dass sie ein breiteres und sozial diverseres
Publikum erreichen.
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                      016

3.3   Die Wirkung digitaler Medien auf Gemeinschaft

3.3.1 Digitale Medien und soziale Netzwerke

Die Erfahrungen der befragten Nutzer/innen zeigen, dass digitale Medien mit lokalem Bezug
das eigene soziale Netzwerk vergrößern und dabei auch brückenbildendes („bridging“) Sozi-
alkapital stärken können (Putnam 2000).
Viele gaben an, dass durch digitale Plattformen wie nebenan.de oder die „Weddingweiser-
Pinnwand“ neue Bekanntschaften und Freundschaften entstanden seien. Teilweise geschah
dies durch die gezielte Suche nach neuen Kontakten oder die Initiierung von Nachbar-
schaftstreffen. Teilweise reichte aber auch eine kurze Begegnung an der Haustür aus (z.B.
durch das Verschenken oder Tauschen von Gegenständen) oder die Erkenntnis, dass man
aufgrund ähnlicher Suchanfragen oder Kommentare viele Gemeinsamkeiten mit bestimmten
Personen teilt. Oftmals verlagert sich die Kommunikation nach der ersten Begegnung dann
auf Messenger-Dienste wie Whatsapp. Antonia, die ihre Nachbarin und mittlerweile Freundin
über nebenan.de kennengelernt hat, beschreibt:
 “Das war echt der Hammer. Du kannst ja auf deine eigene Hausgemeinschaft klicken und
  dann hab ich sie gesehen und gedacht, ach, spricht ja auch Polnisch. Wir ticken beide
  ähnlich was so Ehrenamtsarbeit angeht. Also sie macht jetzt nichts mit Obdachlosen aber
  mit Geflüchteten. Und dann die Polnische Sprache natürlich. Sie so, ‚ach du bist ja auch
  so ein Mischmasch wie eine meiner besten Freundinnen.‘ Und darüber dann halt. (…)
  Und jetzt ist es einfach im Haus so, ‚hast du Lust mal hoch zu kommen auf einen Film-
  abend?' - ‚Ja cool, lass machen.‘ Sowas.“
Nachbarschaftsportale sind jedoch nicht für alle Personen gleichermaßen interessant und
relevant. Insbesondere neu Zugezogene, die noch wenig bis keine Kontakte vor Ort haben
oder diejenigen, die explizit nach Personen mit ähnlichen Interessen und Hobbys suchen,
profitieren von diesen Plattformen. Personen, die wiederum gut vernetzt sind und einen
etablierten Bekannten- und Freundeskreis haben, greifen seltener darauf zurück und nur
dann, wenn sie die Anonymität in der Nachbarschaft stört. Elisa erklärt:
 „Das kriegt man ja manchmal mit, wenn man die Nachrichten liest. War toll, komme gerne
  wieder. Ich bringe noch jemanden mit. (…) Leute, die gerade so hier her ziehen und gera-
  de kleine Kinder haben und suchen jemanden in der Nachbarschaft oder eine Laufgruppe,
  da habe ich schon das Gefühl, dass sie sich darüber gefunden haben.“
Es ist zudem ersichtlich, dass lokalspezifische Medien auch den Aufbau von milieu-
übergreifenden sozialen Beziehungen befördern können. Eine Reihe von Nutzern gab an,
dass sie z.T. feste Beziehungen zu Personen aufgebaut haben, die nicht ihrem typischen
sozialen Netzwerk entsprechen, etwa zu Personen mit Migrationshintergrund, Arbeitslosen
und Sozialhilfeempfängern, sowie zu deutlich älteren oder jüngeren Menschen. Auch ergab
sich der Transfer von wichtigen Ressourcen, etwas bei der Wohnungssuche, Unterstützung
bei rechtlichen Angelegenheiten oder dem Korrigieren von Bewerbungen eines syrischen
Geflüchteten. Ilja, ein studierter Diplomingenieur, der vor zehn Jahren Bulgarien verließ, hat
über den Weddingweiser viele neue Kontakte geknüpft und berichtet:
 „Die sind tatsächlich komplett anders. Die Mutti zum Beispiel, die ist arbeitslose Mutter,
  die alleinerzieht, zwei Kinder, ziemlich starke Frau muss ich sagen. Der Junge da, Maler
  in Ausbildung, ich habe durch ihn auch seine Mutter kennengelernt, seinen Vater, weil die
  haben auch Hunde (…) die sind alle ziemlich cool, finde ich alle ziemlich nett.“
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                      017

Theodor, ein Mitfünfziger, der nebenan.de mit dem Ziel nutzt neue Menschen kennenzuler-
nen, beschreibt seine Erfahrungen mit neuen Kontakten so:
 „Anders? Schon ganz anders, aber auch mit Berührungspunkten. Mein erstes Treffen mit
  Katharina [Mitte 70] war, haben uns zum Kaffee getroffen und sind anschließend spazie-
  ren gegangen und waren anschließend nochmal im Café. Macht einfach Spaß so eine al-
  te Dame mit schwerem bayrischem Akzent dem Kellner erzählt wie schön sie seine Täto-
  wierungen findet. Das fand ich toll. Hätte ich nicht gemacht. Aber so gemeinsame Interes-
  sen sind auch da.“
Auch lokale Akteure und Einrichtungen wie die Nachbarschaftsetage Osloer Straße oder
das Quartiersmanagement Pankstraße haben die Erfahrung gemacht, dass sie durch den
Rückgriff auf soziale und digitale Medien heterogenere Zielgruppen, sowohl vom Alter her
als auch in Bezug auf den sozialen Status, erreichen. Ältere Personen über 60 Jahre werden
jedoch nicht erreicht und präferieren weiterhin einen analogen Zugang.
Die Erfahrungen mit lokalspezifischen Medien sind aber nicht durchweg positiv. Einige Nut-
zer/innen haben bislang – trotz diverser Versuche - noch keine neuen Kontakte knüpfen
können. Auch zivilgesellschaftliche Initiativen äußerten Enttäuschung darüber, dass sie
Nachbarn auch über digitale Medien nicht für gemeinsame Initiativen gewinnen können.

3.3.2 Digitale Medien und sozialer Zusammenhalt

Die Mehrzahl der befragten Nutzer/innen der digitalen Medien mit lokalem Bezug verspüren
ein tieferes Vertrauen in und gestärktes Identifikationsgefühl für die Nachbarschaft. Aufgrund
der Diskussionsbeiträge, der Benachrichtigungen über Angebote und Veranstaltungen sowie
die Profilbilder meinen viele ihre Nachbarn und Nachbarschaft nun besser zu kennen. Gut
gemachter lokaler Journalismus kann dieses Gefühl noch verstärken.
Auch wenn man den meisten Nachbarn (noch) nicht im analogen Leben begegnet ist, wird
ein Eindruck vermittelt, wie die Nachbarn leben, wie sie „ticken“, welche Einstellungen sie
haben, aber auch welche Bedürfnisse. Besonders innerhalb der nebenan.de Nachbarschaft
wird aufgrund der Profilbilder und angegebenen Adressen das Gefühl von Anonymität redu-
ziert, was auch die Wahrnehmung von Nachbarschaft verändere. Elisa erzählt:
 „Man kennt die Leute ein bisschen mehr, auch wenn sie noch anonym sind. Man weiß
  ungefähr, aha, hier wohnen Menschen, die haben genau die gleichen Probleme wie du,
  also z.B. die brauchen mal eine Bohrmaschine, die brauchen mal dies, die haben Problem
  mit Einbrüchen und müssen das loswerden. Man kennt die Leute ein bisschen mehr und
  weiß, so geht es mir jedenfalls, wenn ich das will, dann kann ich darauf zugreifen und
  mich da hinwenden.“
Insbesondere Personen, die bislang noch keine oder weniger Kontakte vor Ort haben,
schätzen dieses dazu gewonnene Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. David, der
sich selbst als introvertiert charakterisiert, formuliert:
 „Solche Netzwerke sind sehr nützlich für Leute wie mich, die nicht so gerne raus gehen
  und normalerweise nicht so viele Leute treffen würden. Das man sich zumindest passiv
  auch als Teil der Nachbarschaft dann fühlt. Während Leute ohne solche Netzwerke über-
  haupt nichts von ihrer Nachbarschaft mitbekommen würden. (…) Solche Leute werden ja
  gerne ausgeblendet, weil man nicht davon ausgeht, dass es so viele Leute gibt, die nicht
  so kontaktfreudig sind.“
Wie in Kapital 3.2 bereits kurz erläutert, verspüren viele der interviewten Nutzer/innen das
Bedürfnis nach mehr Vertrautheit und Verbundenheit in der Nachbarschaft, insbesondere
diejenigen, die in kleineren Städten oder ländlichen Gegenden aufgewachsen sind. Plattfor-
adelphi  Fallstudie Berlin-Wedding                                                       018

men, wie der Weddingweiser oder nebenan.de bedienen genau diese Zielgruppe, indem sie
versuchen Anonymität zu reduzieren und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken.
 „Ich glaube es ist für ganz viele diese Aufhebung der 'oh ich bin alleine in einer großen
  Stadt.' Ich bin jemand der gerne und immer schon in Großstädten gewohnt hat, deshalb
  ist Großstadt für mich nie etwas Beängstigendes gewesen. Aber ich glaube für viele ist
  diese Anonymität beängstigend. Und so eine Gruppe die sich um so etwas Hyperlokales
  kümmert ist genau das Stück zuhause, das sich manche Leute wünschen. Von wegen,
  ich kenne jemanden, ich weiß was da passiert. Das sind nicht alles random Leute die vor-
  bei laufen, sondern ich kann da auch mal was fragen.“ (Samuel)
Doch nicht alle Milieus greifen auf diese Plattformen gleichermaßen zurück und profitieren
von deren identitätsstiftender Wirkung, was soziale und ethnische Grenzen noch weiter re-
produzieren kann. Sowohl nebenan.de als auch die Weddingweiser Pinnwand werden vor-
rangig von Mittelschichtsangehörigen mit hohem Bildungsgrad genutzt. Andere Gruppen
sind hingegen weniger vertreten, etwa eher traditionell geprägte Arbeitermilieus, die in Ber-
lin-Wedding einen nicht unerheblichen Teil der (migrantischen) Bevölkerung ausmachen.
Lokale Experten äußern zudem die Vermutung, dass Angehörige mancher migrantischer
Communities weniger auf den untersuchten Plattformen vertreten sind, weil sie sich anderer
lokaler Vernetzungsstrukturen (z. B. religiöse Einrichtungen) bedienten.

3.4   Die Wirkung digitaler Medien auf lokale Demokratie

3.4.1 Politische Informationen

Bis auf wenige Ausnahmen interessieren sich die meisten Befragten nicht sonderlich für
lokalpolitische Angelegenheiten. Für viele gebe es „spannendere Themen“. Ausnahmen
bilden allerdings Ereignisse wie die Abstimmung über die Schließung des nahegelegenen
Flughafens Berlin-Tegel, die viele intensiv verfolgten und sich auch auf den digitalen, lokal-
spezifischen Portalen wie den Weddingweiser darüber informierten.
Für diejenigen, die explizit Interesse an lokalpolitischen Entwicklungen äußerten, schließt die
Weddingweiser Pinnwand eine wichtige Informationslücke, denn abgesehen von dem online-
Blog und der Facebookgruppe, fehlt es an einer differenzierten Berichterstattung über lokale
Nachrichten. Printmedien – wie der Tagesspiegel – würden zwar hin und wieder über den
Wedding berichten, aber das Negativimage aufgrund einseitiger Darstellungen nur noch
weiter reproduzieren.
Viele Nutzer/innen widmen ihre Aufmerksamkeit vor allem nationalen oder internationalen
Themen und greifen hierfür in erster Linie auf digitale und soziale Medien ohne Sozialraum-
bezug zurück. Auch stellen überregionale Zeitungen, aber auch Freunde und Bekannte eine
wichtige Informationsquelle dar.

3.4.2 (Lokal-)Politische Diskussionen

Politische Diskussionen spielen auf den lokalspezifischen Medien eine eher untergeordnete
Rolle. Vor allem auf der nebenan.de-Nachbarschaft werden lokalpolitische Themen wie z.B.
Wohnungsbau oder steigende Mieten kaum bis gar nicht diskutiert. Die Plattform wird – im
Vergleich zu Facebook - als „vollkommen unpolitisch“ gesehen, was viele Nutzer/innen als
positiv und sehr angenehm empfinden.
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