Die Uhr tickt Zunehmende Probleme beim Pestizideinsatz erfordern entschiedenes Umdenken von Martin Häusling - Der Kritische Agrarbericht
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Der kritische Agrarbericht 2019 ( Schwerpunkt »Landwirtschaft für Europa« Die Uhr tickt Zunehmende Probleme beim Pestizideinsatz erfordern entschiedenes Umdenken von Martin Häusling Pestizide gelten in der Agrarindustrie seit dem Zweiten Weltkrieg als »unentbehrlich«. Dabei ist die Geschichte ihres Einsatzes gekennzeichnet von Sicherheits- und Unbedenklichkeitserklärungen, von auftretenden Problemen und daraus zwingend erforderlichen Verboten. Die Grundlagen eines auf intensiven Pestizideinsatz setzenden Anbausystems sind die Züchtung auf Hochertrag, intensive Stickstoffdüngung und enge Fruchtfolgen. Doch anstatt dieses System angesichts der Folgen für Mensch, Natur und Umwelt insgesamt infrage zu stellen, wird am Pestizideinsatz festgehalten – trotz zunehmender Zweifel an diesem Anbausystem auch aus der Wissenschaft. Die eigentlich fortschrittliche EU-Gesetzgebung zur nachhaltigen Verwendung von Pestiziden, die auf Pestizid- reduktion setzt, wird von allen Mitgliedstaaten mehr oder weniger unterlaufen. Für den Autor des folgenden Beitrages ist die Zeit der Agrarchemie vorbei und agrarökologische Anbausysteme notwendig. Ähnlich dem Klimaabkommen von Paris fordert er ein internationales Abkommen zum Pestizidausstieg. Pestizide gelten in der Agrarindustrie seit dem Zwei- Die neue Generation von Pestiziden sollte wirksamer ten Weltkrieg als »unentbehrlich«. Die erste orga- und biologisch schneller abbaubar sein. Dies erwies nische Verbindung, die in großem Maße eingesetzt sich allerdings insofern als Fehleinschätzung, als die wurde, ist das 1892 von Bayer, damals noch eine reine Abbauprodukte zum Teil schädlicher sein können als Farbenfabrik, entwickelte Dinitro-o-Kresol (DNOC), der Ausgangsstoff.⁵ Und auch die »Formulierungen«, das anfangs zur Bekämpfung des Nonnenfalters im wie die fertigen Produktmischungen von Pestiziden Waldbau eingesetzt wurde.¹ Einige der folgenden genannt werden, können um das Tausendfache gifti- Pestizidformulierungen gingen auch aus chemischen ger sein, als die isolierten, geprüften und zugelassenen Kampfstoffen hervor, die im Ersten und Zweiten Wirkstoffe.⁶ Weltkrieg erprobt wurden.² Daher folgt seit Jahren das immer gleiche Spiel: Pes- Den Anfang nach dem Zweiten Weltkrieg mach- tizide, die als absolut sicher proklamiert wurden, müs- te das DDT, gefolgt von einigen anderen chlorierten sen verboten werden, nachdem ihre Auswirkungen auf Kohlenwasserstoffen. Die insektizide Wirkung von Natur und Gesundheit nicht mehr zu leugnen sind. DDT wurde 1939 von Paul Müller entdeckt. Der Ein- Von Paraquat (verboten 2007) über Atrazin und satz stieg weltweit extrem schnell an. Bald konnte Lindan (verboten 2008) über viele andere bis hin zu man DDT und andere chlorierte Kohlenwasserstof- den Neonikotinoiden, deren umfassendes Verbot auf fe, die alle zur ersten Generation gehörten, weltweit EU-Ebene kurz bevorsteht. Der Ablauf folgt immer nachweisen (was übrigens für viele Pestizide und dem gleichen Muster: Für sicher erklärt, zugelassen, ihre Abbauprodukte nach wie vor gilt – z. B. in Glet- erste Anzeichen für Schäden an Natur, Gewässern scherwasser ³). Damals wie heute akkumulieren sie in oder Gesundheit, heftiges Dementi der Pestizidbran- Fettgeweben von Säugetieren und Fischen. Außer- che, Verkündung des Untergangs der europäischen dem stellte man schon damals fest, dass nicht nur die Landwirtschaft, falls XYZ verboten wird, verkürzte Zielorganismen, sondern auch die natürlichen Feinde Wiederzulassung, Mobilisierung der Öffentlichkeit, der Schädlinge durch den Einsatz vernichtet wurden. Zögern der Behörden, Diffamierung der Kritiker als Fischgründe wurden vergiftet, Lebensmittel und Mut- unwissenschaftlich und schließlich dann das Verbot – termilch kontaminiert.⁴ 1972 wurde DDT verboten. nach der Inkaufnahme zahlreicher Schäden. 50
Agrarpolitik und soziale Lage Hochleistung hat ihren Preis der Mythos gebildet, es ginge gar nicht anders, obwohl der Ökologische Landbau seit Jahren beweist, dass es Der stark ansteigende Einsatz von Pestiziden in der geht. Und dieser Unsinn wird fleißig nicht nur von In- Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg muss teressensverbänden wie dem Industrieverband Agrar allerdings auch im Zusammenhang mit dem etwa (IVA) weiterverbreitet, sondern leider auch von mit zeitgleich ansteigenden Einsatz synthetischer Stick- öffentlichen Mitteln bezahlten Wissenschaftlern. So stoffdünger, der zunehmenden Züchtung von Hoch- behauptete Professor Andreas von Tiedemann, Ag- ertragssorten und dem damit einhergehenden ver- rarwissenschaftler und Pflanzenpathologe der Uni- mehrten intensiven Anbau von Monokulturen gese- versität Göttingen, auf einem Informationsstand des hen werden. Diese Komponenten der sog. »Grünen IVA auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin Revolution« hängen alle miteinander zusammen. 2014: »Wir hätten heute ohne Pflanzenschutz keinen Intensive Stickstoffdüngung verursacht ein Wein, kein Bier, keinen Kaffee und wahrscheinlich übermäßiges Wachstum in die Länge und weiche, nur wenig Gemüse.« Ein paar Hallen weiter lag die schwammige Triebe sowie weiche Zellen und Gewebe. »Öko-Halle« auf der Grünen Woche. Dort gab es Pflanzen werden anfälliger gegenüber Frost, Hitze und dann überraschenderweise doch noch Wein, Bier, Pflanzenschädlingen. Bakterien- und Pilzkrankhei- Kaffee, Gemüse und vieles mehr – und das auch noch ten können sich leichter ausbreiten. Enge, einseitige in ökologischer Qualität. Das hatte der Professor aus Fruchtfolgen begünstigen Virus- und Pilzbefall. Enge Göttingen aber wohl übersehen … Faktenfreier Lob- Pflanzabstände begünstigen den Pilzbefall zusätzlich byismus aufgrund von wirtschaftlichen Interessen ist aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit in der Pflanze- »nur« Verbrauchertäuschung und meistens schnell numgebung. Diese Effekte werden in jedem landwirt- entlarvt. Von Wissenschaftlern verbreitete und auch schaftlichen Lehrbuch seit Jahren beschrieben,⁷ in der noch mit Steuermitteln bezahlte Verdummung ist je- fachlichen Praxis aber weitgehend ignoriert. doch hochgradig gefährlich und inakzeptabel. Die einseitige Optimierung der Ertragsleistung bei der Züchtung führt oft zur Schwächung der Stoffwech- Optimierungsbedarf bei EU-Rahmenrichtlinie (NAP) selleistung und der besonderen Abwehrkräfte, die die ursprünglichen Sorten noch besitzen. Diese Effekte Neben der Zulassungsverordnung (EG) 1107/2009 und verstärken sich gegenseitig. Das ist seit vielen Jahren dem Pflanzenschutzgesetz bildet die Rahmenricht- bekannt. Doch anstatt das Anbausystem zu überden- linie zur Nachhaltigen Verwendung von Pestiziden ken, das diese negativen Effekte hervorruft, versucht (2009/128/EG) (NAP) die zweite Säule der EU-Gesetz- man lieber, alle diese Auswirkungen zu kompensieren. gebung zu Pflanzenschutzmitteln. Die Rahmenricht- Dafür gibt es eine große Auswahl an Bioziden, also linie konzentriert sich nicht auf die Zulassung und giftigen »Hilfsmitteln«, die die Probleme lösen sollen Anwendung, sondern sie schreibt den Mitgliedstaaten und mit denen extrem viel Geld verdient werden kann. seit fast zehn Jahren vor, die Abhängigkeit der Land- Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Einsatz wirtschaft von chemischen Pestiziden zu verringern. von Pestiziden mit zunehmender Intensivierung der Es sollen Anbausysteme gefördert werden, die weni- Landwirtschaft weltweit ansteigt (Abb. 1). Da macht ger Pestizide benötigen, um die Risiken von Pflanzen- Europa keine Ausnahme – trotz einer in internationa- schutzmitteln für Mensch und Umwelt zu reduzieren. len Maßstäben restriktiven Gesetz- gebung und seit 2009 verpflichten- den Aktionsplänen zum Nachhal- Abb. 1: Entwicklung der Pestizidverkäufe von 2000 bis 2012 nach tigen Pflanzenschutz (NAP). Weltregionen⁹ Nach Angaben des Bundesam- 14 000 tes für Verbraucherschutz und Le- bensmittelsicherheit wurden 2017 12 000 Europa allein in Deutschland 101.372 Ton- 10 000 Asien Million US-Dollar nen an Pestiziden mit über 34.583 Nordamerika Tonnen an Wirkstoffen verkauft. 8 000 Seit dem Jahr 2000 ist der Absatz 6 000 wieder erkennbar angestiegen, 4 000 Lateinamerika trotz angeblich wirksamerer For- mulierungen.⁸ 2 000 Mittlerer Osten, Afrika Inzwischen hat sich aus der all- 0 gemeinen Akzeptanz dieses Sys- 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 tems in Wissenschaft und Praxis 51
Der kritische Agrarbericht 2019 Wir haben also Richtlinien und Forderungen seitens Obstbau und in Gewächshäusern¹³). Es müssen be- der EU, die in die richtige Richtung weisen. Eine kannte agrarökologische Alternativen, wie organische Überprüfung eben dieser Richtlinien in einem Ini- Düngung, Fruchtfolgen mit Leguminosen, Zwischen- tiativbericht des Europäischen Parlaments von 2018 fruchtbau, angewandt sowie weitere gesucht und ent- (nicht zu verwechseln mit dem Bericht des Pestizid- wickelt werden. sonderausschusses) stellt jedoch fest, »dass die Ziele Ausnahmegenehmigungen, wie sie aktuell in vielen des Schutzes der Gesundheit von Mensch und Tier so- Mitgliedstaaten (unter Berufung auf den Artikel 53 wie der Umwelt nicht vollständig erreicht werden«.¹⁰ der Zulassungsverordnung) für die drei verbotenen Kritisiert wurde beispielsweise, dass die NAP Neonikotinoide Clothianidin, Thiamethoxam und von den meisten Mitgliedstaaten nachlässig umge- Imidacloprid erteilt werden, dürfen nur nach über- setzt wird (z. B. Fehlen konkreter Zielsetzungen und prüfbarem Nachweis des Scheiterns aller anderen Al- konkreter Zeitpläne).¹¹ Als problematisch eingestuft ternativen gegeben werden. Der Ruf nach mehr, bes- wurde auch die Erhöhung der Ausnahmeregelungen seren, neueren und schneller zugelassenen Pflanzen- (»Notfallgenehmigungen«) nach Artikel 53 der Zulas- schutzmitteln ist darüber hinaus rückwärtsgewandt sungsverordnung 1107/2009, z. B. bei den Neoniko- und nicht mehr zeitgemäß. tinoiden. Hier wurde insbesondere angemahnt, dass Folgende Forderungen haben die Grünen im Eu- Alternativen häufig erst nach einer Änderung der ge- ropäischen Parlament zum Überarbeitungsvorschlag, setzlichen Anforderungen ernsthaft erwogen werden. den die Kommission als Reaktion auf die StopGlypho- So habe die jüngste Bewertung (vom 30. Mai 2018) er- sat-Bürgerinitiative vorgelegt hat,¹⁴ als Änderungs- geben, dass es für 78 Prozent der Verwendungen von anträge gestellt: Neonikotinoiden leicht verfügbare, nichtchemische Alternativen gäbe.¹² ■ Nicht nur die Wirkstoffe, sondern auch die end- Neben der Forderung nach der konsequenten Be- gültigen Formulierungen der Produkte und die am rücksichtigung des Vorsorgeprinzips und größerer häufigsten vorkommenden Kombinationssituatio- Transparenz beim Zulassungssystem fordert der Be- nen des Pestizideinsatzes (»Cocktaileffekt«) müssen richt auch, dass sinnvolle und konkrete Pestizidmin- mit überprüft werden. derungsstrategien sowie Schulungen der Landwirte zu ■ Weitere Nichtzielorganismen, wie beispielsweise Alternativen in den Mitgliedstaaten erstellt und um- Bodenorganismen, und Umweltmedien wie Wasser gesetzt werden. müssen in die Risikobewertung einbezogen werden. Nun ist es, wie oben dargelegt, ja keine neue Er- ■ Die Studien müssen von der Industrie finanziert, kenntnis, dass Düngung, Anbausysteme und Züch- jedoch von unabhängigen Wissenschaftlern durch- tung sowohl zur Stärkung als auch zur Schwächung geführt werden. von Pflanzenbausystemen beitragen können. Langfris- ■ Alle Studien müssen nach Fertigstellung einsehbar tig sollte es meiner Ansicht Pflicht werden, dass sowohl sein, wobei das Vorsorgeprinzip größeres Gewicht die NAP als auch ein modernes EU-Zulassungssystem haben muss als die Wahrung von Betriebsgeheim- für »Pflanzenschutzmittel« als Basisvoraussetzung eine nissen. zwingende Evaluation und Datenbasis aller bekannten ■ Hormonell wirksame Substanzen (endokrine Dis- Pestizidminderungstechniken und Systemstärkungs- ruptoren) müssen endlich generell nicht mehr zu- mittel vorhalten sowie die intensivierte Erforschung gelassen und nicht nur deren Anwendung einge- und Züchtung in Richtung bekannter und noch un- schränkt werden. bekannter Stärkungsmechanismen forcieren müssen. Antragsteller sollten nachweisen müssen, dass die Beim Verbraucher steht der Pestizideinsatz verständ- Zulassung eines Pestizids notwendig ist, weil es keine licherweise mehr und mehr in der Kritik. Ist doch die pflanzenbaulichen oder biologischen Möglichkeiten Vorstellung, dass ein Apfel oft erst nach 21 Spritzvor- gibt, das Problem in den Griff zu bekommen. gängen auf dem Teller landet, nicht wirklich appetit- lich. International haben inzwischen über 100 Super- Besser dosiert reicht nicht marktketten entschieden, Neonikotinoide aus dem Sortiment zu nehmen.¹⁵ In Österreich haben sich aktu- Minderungsmaßnahmen in der Praxis dürfen sich ell (Oktober 2018) über 300 und in Deutschland über nicht in »ein bisschen weniger spritzen mit digitaler 90 Gemeinden für einen Verzicht auf Glyphosat aus- Hilfe« erschöpfen, wie von Befürwortern der Prä- gesprochen.¹⁶ Und auch Experten im Wissenschafts- zisionslandwirtschaft so sehr gepriesen. Auch der magazin Science haben inzwischen vermeldet, die sog. »integrierte Pflanzenschutz« reicht hier nicht Möglichkeiten im »Pflanzenschutz« seien weitestge- aus. Denn er wird in der Praxis – obwohl gesetzliche hend ausgereizt.¹⁷ Mehr und mehr Resistenzen lassen Grundlage – kaum angewandt (außer vereinzelt im auch Befürworter des Pestizideinsatzes nachdenklich 52
Agrarpolitik und soziale Lage werden, ob das alles ökonomisch vertretbar ist.¹⁸ Die Es ist deutlich effizienter, ökologisch verträglicher, Verkündung seitens der Industrie, nun »harmlose«, für die Landwirte und Konsumenten gesünder so- »biologische« Mittel zu entwickeln, kann höchstens wie volkswirtschaftlich günstiger, widerstandsfähige als profitverlängernde Maßnahme für die Branche (resiliente) Agrarsysteme anzuwenden und zu erfor- eingeordnet werden. Denn auch das ist nur Symptom- schen, statt für jede Unwägbarkeit und jeden Schäd- bekämpfung. Was wir stattdessen brauchen, hat Felix ling einzeln eine chemische Keule zu entwickeln, die Prinz zu Löwenstein, Vorstand des Bundes Ökologi- nicht einmal zielgenau wirkt und jede Menge Kolla- sche Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), auf den Punkt teralschäden verursacht, z. B. bei Bienen und anderen gebracht: »Wir brauchen nicht in erster Linie hoch pro- Insekten.²² »Schutz von Pflanzen« mit Gift, auf Kos- duktive Produktionssysteme, sondern hoch stabile.«¹⁹ ten anderer wichtiger Organismen im Ökosystem, ist Leider werden diejenigen, die aktuell schon ohne auch aus ökonomischen Gründen Unsinn. Eine Ver- Pestizide und mit stabileren Systemen arbeiten, die rechnung der angeblichen ökonomischen Vorteile der Ökobauern, in ihrer Produktion häufig massiv be- Neonikotinoidbeize mit ihren gesamten ökologischen einträchtigt, da abdriftende Pestizide ihre Ernten Nachteilen kam 2016 zum Ergebnis, dass die Nachtei- verkaufsunfähig machen.²⁰ Darüber hinaus ist es als le – auch ökonomisch betrachtet – eindeutig überwie- einzelner Ökobetrieb innerhalb einer Gemarkung gen.²³ Denn: Ohne Pestizide kann man hervorragend und umzingelt von intensiver konventioneller Land- Nahrungsmittel erzeugen, aber ohne Bienen nicht! wirtschaft extrem schwierig, die Nützlinge und positi- Rund 80 Prozent aller Nahrungsmittel hängen von ven Systemplayer zu fördern, die der Nachbar gerade der Bestäubung durch Insekten, vor allem Bienen, ab. totspritzt. Somit muss auch mit einem anderen poli- Der Wert der Insektenbestäubung, vor allem durch tischen Mythos aufgeräumt werden: Eine wirkliche Bienen liegt in Europa bei 20 Milliarden Euro pro Koexistenz konventioneller und ökologischer Anbau- Jahr.²⁴ Ohne die Bestäubung wären die Erlöse im An- systeme gibt es nicht – und wenn, dann zum Nachteil bau im Schnitt um 41 Prozent geringer. Fällt sie weg, der Ökobauern. haben wir ein riesiges Problem. Pflanzen sind von Natur aus keine Hochleistungs- Ausstieg aus der Pestizidfalle sportler, sie sind Teamplayer: Über Millionen Jah- re hinweg haben Pflanzen gelernt, sich mit giftigen Verbraucher wollen kein Gift auf dem Teller, dem Chemikalien vor Insekten und anderen Schädlingen Acker und in der Natur, denn Wasser und Boden wer- zu schützen. Stoffe wie Nikotin und Koffein gehören den geschädigt. Die Artenvielfalt wird zerstört. Land- in diese Kategorie, genau wie die in der biologischen wirte tragen Gesundheitsschäden davon und unsere Gartenwirtschaft beliebten Pyrethrine aus Chrysan- Nahrungsmittel sind belastet.²¹ Wozu das alles? themen. Ältere Maissorten können sich mit Hilfe von Folgerungen & Forderungen ■ Der Ökologische Landbau muss Leitbild der europäi- ■ Die nationalen Aktionspläne der Mitgliedstaaten zum schen Agrarpolitik und Premiumstandard für öffent- Nachhaltigen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln sollten liche Gelder werden. zu einem wirksamen Instrument des Pestizidausstiegs ■ Erforderlich sind ein sofortiges Verbot von Glyphosat/ entwickelt werden. Dazu bedarf es konkreter Ziele zur Roundup sowie aller Neonikotinoide. Denn das Total- Pestizidreduktion wie auch eine finanzielle Absiche- herbizid und die Insektengifte bedrohen unsere Arten- rung der Einzelmaßnahmen. vielfalt, Vögel und Insekten sowie deren – auch öko- ■ Die Entwicklung sog. »low-risk«-Pestizide taugt höchs- nomisch – enorm wichtige Bestäubungsleistung tens als Übergangslösung. Der größere Anteil an finan- für unsere Landwirtschaft. zieller und administrativer Förderung muss in die For- ■ EU-weite und nationale Bienenaktionspläne zum Wie- schung zu innovativen Pestizidvermeidungsstrategien deraufbau der Populationen sind zeitnah einzuführen. investiert werden. ■ Wir brauchen ein Internationales Abkommen zum Aus- ■ Erforderlich ist eine Intensivierung der Forschung zur stieg aus der pestizidgesteuerten Landwirtschaft sowie Schaffung von stabilen, resilienten Agrarökosystemen, ein EU-weites Monitoring zu Gesundheitsschäden von in die über Vielfalt und Nützlingsförderung mehr und mehr der Landwirtschaft Tätigen durch Pestizidanwendung. unabhängig von akuten chemischen Eingriffen werden. ■ Eine Pestizidabgabe ist einzuführen. Die negativen ■ Ein europaweit installiertes Förderprogramm zur ein- externen Effekte sollen nicht mehr nur auf die Gesell- zelbetrieblichen Beratung und Fortbildung in agraröko- schaft abgewälzt werden. logischen Anbausystemen muss eingerichtet werden. 53
Der kritische Agrarbericht 2019 Lockstoffen sogar Hilfe (Schlupfwespen) gegen den – M. Mertens: Kollateralschäden im Boden. Roundup und sein Maiswurzelbohrer herbeirufen. Wirkstoff Glyphosat – Wirkungen auf Bodenleben und Boden- fruchtbarkeit. In: Der kritische Agrarbericht 2010, S. 249–253. Der United Human Rights Council hat in seinem R. Mesnage et al.: Major pesticides are more toxic to human cells Bericht zum Recht auf Nahrung 2017 festgestellt, dass than their declared active principles. In: BioMed Research Inter- Pestizide nicht nur in vielen Fällen unnötig, sondern national (2014) Art. 179691. – C. A. Mullin et al.: Toxicological auch eine Bedrohung für die Gesundheit sind. Gefor- risks of agrochemical spray adjuvants: organosilicone surfactans dert wurden vom Council mehr Agrarökologie sowie may not be safe. In: Frontiers in Public Health 4 (2016) Art. 92. Stellvertretend: R. Diercks und R. Heitefuss: Integrierter Land- ein Menschenrecht auf ausreichende Nahrung und bau. Systeme umweltbewußter Pflanzenproduktion. Grund- Gesundheit ohne Pestizidbelastung.²⁵ lagen, Erfahrungen, Entwicklungen. 2. Auflage, Stuttgart 1994. Wir haben das Instrumentarium, um aus der Pes- S. Möckel et al.: Einführung einer Abgabe auf Pflanzenschutzmit- tizidfalle auszusteigen. Doch hier sind gewichtige tel in Deutschland. Berlin 2015. Grafik entnommen aus: Brückmann (siehe Anm. 4), S. 22. Quelle: Branchen mit einer großen Anzahl an Arbeitsplätzen J. R. Lamichhane et al.: Toward a reduced reliance on conventi- involviert. Von diesem intensiven Agrarsystem profi- onal pesticides in European agriculture. In: Plant Disease Jour- tieren die chemische Industrie und der vor- und nach- nal 100 (2016), pp. 10–24. gelagerte Handel. Also die, die Landwirten Dinge ver- Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. September kaufen, ohne die sie angeblich nichts ernten können: 2018 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 über Pflanzenschutzmittel. Brüssel 2018. High-Tech-Saatgut, das man nicht nachbauen kann, Siehe auch Beste (Anm. 5). künstliche, viel zu stickstofflastige Düngemittel sowie Schlussfolgerungen der Agence nationale de sécurité sanitaire Pestizide. de l’alimentation, de l’environnement et du travail (ANSES). Es wird wohl nicht möglich sein, übermorgen aus Maisons-Alfort 2018. Neubert (siehe Anm. 4). diesem System auszusteigen. Doch genau wie wir aus EU-Kommission: Transparency and sustainability of the EU risk der fossilen Energie, der Atom- und der Kohleabhän- assessment in the food chain. Brussels 2018 (www.europarl. gigkeit aussteigen müssen, um in erneuerbare Ener- europa.eu/committees/en/envi/subject-files. gien einzusteigen, müssen wir aus der chemischen html?id=20180611CDT02461). Abhängigkeit der Landwirtschaft aussteigen und in Friends of the Earth: »Walmart and true value to phase out bee killing pesticides while ace hardware lags behind«. Press agrarökologische Systeme einsteigen. Wir brauchen release 3. May 2017. ein internationales Abkommen zum Pestizidausstieg, Greenpeace: »Schon 311 österreichische Gemeinden verzichten ähnlich dem Klimaabkommen von Paris. Es ist inak- auf Glyphosat«. Pressemitteilung vom 6. Juni 2017. zeptabel, die Vergiftung der Natur, der Anwender und Vorwort von Martin Häusling in Brückmann (siehe Anm. 4), S. 5. Zwei Beispiele: Schleich-Saidfar: Wenn Herbizide gegen Fuchs- der Verbraucher – egal in welchen Dosen – hinzuneh- schwanz versagen. In: top agrar 6/17 (2017). – B. Augustin: Die men, um eine Branche am Leben zu erhalten, die vom Wirkungsprobleme nehmen weiter zu. In: Landwirtschaftliches Einsatz lebensfeindlicher Produkte profitiert. Die Zeit Wochenblatt 17/17 (2017). der Agrarchemie ist vorbei. Wir wissen inzwischen, F. Löwenstein: Agrarökologie sticht Agrarchemie – die Zukunft wie es besser geht. gehört stabilen Systemen. In: Brückmann (siehe Anm. 4), S. 51. J. G. Zaller: Unser täglich Gift. Pestizide – die unterschätzte Gefahr. München 2018. – Bioland: »Raus aus der Pestizid-Falle«. Resolution vom 25. November 2014. Anmerkungen PAN Germany: Krank durch Pestizide – was tun? Informations- K. A. Hassall: The biochemistry and uses of pesticides. Wein- blatt vom 23. August 2018. heim/New York/Basel/Cambridge 1990. – F. Schinner und M. Watts and S. Williamson: Replacing chemicals with biology: R. Sonnleitner: Bodenökologie: Mikrobiologie und Bodenenzy- Phasing out hazardous pesticides with agroecology. Penang 2015. matik Bd. 3. Pflanzenschutzmittel, Agrarhilfsstoffe und organi- Centre for Food Safety: Net loss: Economic efficacy and costs of sche Umweltchemikalien. Heidelberg/Berlin 1997. neonicotinoid insecticides used as seed coatings: Updates P. Mimkes und J. Pehrke: 100 Jahre Giftgas-Tradition bei BAYER. from United States and Europe. Washington, D.C. 2016 (www. Hrsg: Coordination gegen BAYER-Gefahren. Düsseldorf 2014. centreforfoodsafety.org). S. Villa et al.: Historical trends of organochlorine pesticides in an N. Gallai et al.: Economic valuation of the vulnerability of world alpine glacier. In: Journal of Atmospheric Chemistry 46 (2003), agriculture confronted with pollinator decline. In: Ecological pp. 295–311. Economics 68 (2009), pp. 810–821. Dass Glyphosat auch heute in Muttermilch gefunden wird, regt United Nations Human Rights Council: Report of the special rap- aber anscheinend niemanden auf. Siehe auch S. Neubert: Pes- porteur on the right to food. Geneva 2017. tizide? Wieso überhaupt? In: T. Brückmann et al.: Gift auf dem Acker? Innovativ geht anders! Ein Plädoyer für eine giftfreie Landwirtschaft. Eine Autorenstudie im Auftrag von Martin Häusling, MEP. Wiesbaden 2018, S. 18. (www.martin-haeusling. Martin Häusling eu/images/Pestizide_WEB.pdf). – D. Pimentel and M. Burges: Mitglied des Europäischen Parlaments Pesticides applied worldwide to combat pests. In: R. Peshin (Fraktion Grüne/EFA) und Bio-Milchbauer and D. Pimentel (Eds.): Integrated Pest Management. Experiences in Nordhessen. with implementation. Global overview, Vol. 4. Dordrecht 2014. Siehe A. Beste: Vergiftet. Pestizide in Boden und Wasser – das Rue Wiertz 60 - ASP 5F 171, B-1047 Brüssel Beispiel Glyphosat. In: Der kritische Agrarbericht 2017, S. 204–208. martin.haeusling@europarl.europa.eu 54
Agrarpolitik und soziale Lage Niels Kohlschütter und Johanna Bär ¹ Bäume lügen nicht – Bündnis initiiert Studie zur Pestizidabdrift Seit Jahren mehren sich Hinweise darauf, dass Ackergifte erung der Zulassung von Glyphosat (Renewal Assessment wie Glyphosat nicht nur benachbarte Flächen kontami- Report – RAR), ⁵ dass unter EU-Verhältnissen, im Gegensatz nieren können, sondern sich wahrscheinlich weitläufig in zu den USA, kein Lufttransport anzunehmen sei, erscheint der Umwelt verteilen. Das Bündnis für eine enkeltaugliche vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Baumrindenpro- Landwirtschaft e.V. hat dazu eine Studie in Auftrag gege- jektes daher als nicht plausibel. ben. Mittels Luftgüte-Rindenmonitoring werden Bäume Um die Ergebnisse der Studie flächendeckend zu vali- an unterschiedlichen Standorten bundesweit untersucht. dieren, hat das Bündnis eine groß angelegte Baumrinden- So sollen repräsentative Ergebnisse zur Verbreitung von Beprobung mit über 40 Standorten in Deutschland initiiert. Pestiziden in der Luft gewonnen und bereits bestehende Die Ergebnisse werden im Februar 2019 auf der Biofach- Erkenntnisse untermauert werden. Messe in Nürnberg vorgestellt. Baumrindenstudie weist Verfrachtung nach Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft Die äußere Rinde von Bäumen ist über längere Zeit den Insgesamt 30 Biofirmen haben sich inzwischen mit der Bür- Luftschadstoffen ausgesetzt und akkumuliert diese. gerinitiative Landwende und der Schweisfurth Stiftung zu- Dadurch ist es möglich, die Immissionsbelastung über sammengeschlossen, um eine Roadmap für eine enkeltaug- mehrere Monate bis Jahre zu erfassen und mit nur einer liche Landwirtschaft zu entwickeln. Das Aktionsbündnis for- Probenahme die Immissionsbelastung zu charakterisie- dert ein grundlegendes Umdenken in der Landwirtschaft, ren. Gegenüber anderen Bioakkumulatoren, wie Blätter, gestützt durch die Finanzierung eigener Forschungsauf- Nadeln, Moose etc., zeichnet sich die äußere Rinde von träge und offen für das Gespräch mit allen Akteuren der Bäumen (Borke) dadurch aus, dass diese aus nicht mehr Wertschöpfungskette. Die Forschungsergebnisse dienen als biologisch aktivem Abschlussgewebe besteht, d. h. keine Basis für den Dialog mit Zivilgesellschaft und Politik.⁶ Wachstums- und Stoffwechselvorgänge mehr aufweist, die das Ergebnis verfälschen können. Anmerkungen Teile des folgenden Textes basieren auf dem Untersuchungs- Eine erste Pilotstudie des Bündnisses hat gezeigt, dass bericht von Frieder Hofmann (siehe Anm. 2). Ackergifte – auch über ökologisch bewirtschaftete Flä- F. Hofmann: Biomonitoring der Immissionsbelastung von chen hinweg – bis in die Städte verweht werden.² Damit Glyphosat, Glufosinat und AMPA sowie weiteren PSM-Wirk- sind neben den vielfältigen Funktionen des Ökosystems stoffen. In: Researchgate November 2017 (DOI: 10.13140/ RG.2.2.12733.15842). das Koexistenzrecht der ökologischen, pestizidfreien Ebd. Landwirtschaft und die gesamte Biolebensmittelwirtschaft Literaturnachweise zu den Studien über Nordamerika finden in Deutschland bedroht. Insbesondere die Pestizide Pendi- sich in Hofmann (siehe Anm. 2), S. 7. methalin (92 Prozent der Standorte) und Prosulforcarb Siehe hierzu: »Glyphosat. Hintergrunddokumente veröffent- licht« – Meldung der EFSA vom 19. November 2015 (mit (75 Prozent), aber auch DDT und Glyphosat wurden an vie- weiterführenden Links zu den Dokumenten). len Standorten in der Baumrinde nachgewiesen. Von den Aktuelle Informationen publiziert das Bündnis über insgesamt 24 untersuchten Standorten wurden alle positiv www.enkeltauglich.bio und www.ackergifte-nein-danke.de auf vier bis 36 unterschiedliche Pestizide getestet.³ Der Nachweis von Glyphosat in den Rinden im Distanz- bereich von 30 bis 200 Metern von einem bekannten Appli- kationsfeld in Brandenburg, d. h. abseits des unmittelbaren Sprayeinflusses im Nahbereich, zeigt, dass hier ein Trans- Dr. Niels Kohlschütter Geschäftsführer der Schweisfurth Stiftung. port über den Luftweg stattfindet. In der Donauniederung der Region Schwaben-Oberbayern wurden drei Standort- Rupprechtstr. 25, 80636 München bereiche, die in der Größenordnung von zehn Kilometern nkohlschuetter@schweisfurth-stiftung.de voneinander entfernt lagen, mittels Mehrpunktstichproben untersucht. An einem der drei Standortbereiche wurde Glyphosat nachgewiesen; zwei waren ohne Nachweis. Damit erhärtet sich der Verdacht, dass die Ergebnisse Johanna Bär von Studien aus den USA und Kanada, die Lufttransport Magistra der Theologie und Projekt- managerin der Schweisfurth Stiftung von Glyphosat in Amerika in erheblichem Maße nachwie- sen, auch für mitteleuropäische Verhältnisse gilt.⁴ Die Ein- Rupprechtstr. 25, 80636 München schätzung des offiziellen Bewertungsberichts zur Erneu- jbaer@schweisfurth-stiftung.de 55
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