Entgrenzung und Burnout Sozialpsychologische Aspekte

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Entgrenzung und Burnout
                               Sozialpsychologische Aspekte
                                                Rainer Funk

                                     Vortrag beim 3. Symposium
             „Brennpunkt Burnout: Dimensionen einer gesellschaftlichen Herausforderung“
                          veranstaltet vom Swiss Expert Networt on Burnout
              am Donnerstag, 14. November 2013 im Zentrum Paul Klee in Bern / Schweiz

                             Der einleitende Abschnitt kam nicht zum Vortrag.

1.   Die hier gewählte sozial-psychoana-                lich bestätigt. Gemäß diesem bezogenheitsthe-
     lytische Perspektive                               oretischen (statt triebtheoretischen) Ansatz ver-
                                                        innerlicht der Mensch vor allem jene für das ge-
Psychologische Ansätze, das Burnout zu ver-
                                                        sellschaftliche Zusammenleben erforderlichen
stehen, leiden bisweilen daran, nur das Indivi-
                                                        Bezogenheitsmuster, die er wiederholt erfährt
duum in seinem familiären und intersubjektiven
                                                        und als funktional, normal oder gefordert wahr-
Gewordensein im Blick zu haben, und den
                                                        nimmt.
Menschen nicht wirklich als gesellschaftliches
Wesen zu begreifen. Diese verkürzte Sicht ver-          Der von Erich Fromm entwickelte Ansatz 3 er-
sucht der sozial-psychoanalytische Ansatz               möglicht als psychoanalytischer darüber hinaus
Erich Fromms zu vermeiden. Fromm sieht den              noch einen anderen Zugang zu sozialpsycholo-
Menschen in erster Linie als ein bezogenes              gisch relevanten Phänomenen wie dem Bur-
Wesen, das auf andere Menschen, auf die                 nout. Das psychodynamische Konzept des
Wirklichkeit und sich selbst bezogen ist, immer         Charakters aufgreifend, erklärt Fromm nicht nur
aber auch auf die Gesellschaft bezogen sein             das Verhalten Einzelner, sondern auch das
muss, in der das Individuum lebt. Eine gesell-          Verhalten der Vielen als von bewussten und
schaftliche Isolierung oder gar Ächtung führt zu        unbewussten Strebungen disponiert und de-
schwerwiegenden psychischen Erkrankungen,               terminiert. Dabei wird der Sozial-Charakter als
wie etwa der unverhältnismäßig hohe Anteil von          eine eigene psychische Strukturbildung ver-
Menschen mit Migrationshintergrund bei psy-             standen, bei der wirtschaftliche, kulturelle und
chiatrischen Erkrankungen und bei forensi-              gesellschaftliche Erfordernisse und Bezogen-
schen Klienten verdeutlicht. 1                          heitsmuster internalisiert werden, so dass Men-
                                                        schen leidenschaftlich nach dem streben, was
Innerlich angetrieben und motiviert wird der
                                                        sie an psychischen Anpassungsleistungen für
Mensch nach Fromm in erster Linie von der
                                                        das Gelingen von Wirtschaft und Gesellschaft
Notwendigkeit, bezogen sein zu müssen. Dies
                                                        zu erbringen haben.
wurde von der Bindungsforschung seit John
Bowlby 2 inzwischen auch empirisch eindrück-            Im Blick auf das Phänomen „Burnout“ lässt sich
                                                        mit dem von Fromm entwickelten sozialcharak-
1 Vgl. hierzu etwa die Habilitationsschrift von Klaus   terologischen Ansatz einerseits stringenter be-
Hoffmann, Migranten als Patienten im Maßregelvoll-
zug. Therapeutische Ansätze und versorgungsepi-
demiologische Erhebung aus dem OLG-Bezirk Karls-        chen (Kindler) 1976. Vol. 3: Sadness and Depressi-
ruhe. Habilitationsschrift Medizinische Fakultät der    on; deutsch: Verlust. Trauer und Depression,. Frank-
Universität Ulm für das Fach Forensische Psychothe-     furt (Fischer) 1991.
rapie, Reichenau 2004; sowie ders., „Migranten im       3 Vgl. hierzu vor allem den Anhang „Charakter und
Maßregelvollzug“, in: Recht und Psychiatrie, 27 (Nr.    Gesellschaftsprozess“ in Erich Fromm, Die Furcht
2, 2009), S. 67-74.                                     vor der Freiheit, Erich Fromm-Gesamtausgabe in 12
2 John Bowlby John: Attachment and Loss. London         Bänden (GA), München (DVA und dtv) 1999, Band I,
(Hogarth) 1969. Vol. 1: Attachment; deutsch: Bin-       S. 379-392, sowie Erich Fromm, Jenseits der Illusio-
dung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung.           nen, GA IX, S. 85-124. Vgl. auch Rainer Funk, „Mehr
München (Kindler) 1975. Vol. 2: Separation. Anxiety     als Intersubjektivität. Der sozialpsychoanalytische
and Anger; deutsch; Trennung. Psychische Schäden        Ansatz von Erich Fromm“, in: Forum der Psychoana-
als Folge der Trennung von Mutter und Kind. Mün-        lyse, Vol. 27 (No. 2, 2011), S. 151-163.
                                                                                                          1
gründen, welche pathogenen Effekte die ge-              die völlig neue Erkenntnismöglichkeiten etwa in
genwärtigen Erfordernisse der Produktion und            der Hirnforschung oder Diagnostik eröffnen, für
Arbeitsorganisation haben; andererseits lassen          nie möglich gehaltene Messverfahren, die zum
sich mit ihm gerade auch jene Fälle von Bur-            Beispiel das Tor zur Nanotechnik öffneten, für
nout verstehen, bei denen hoch motivierte Mit-          eine raum- und zeitunabhängige Kommunikati-
arbeiterinnen und Mitarbeiter an Burnout er-            on, Wissensaneignung oder Unterhaltung; für
kranken – nämlich auf Grund einer pathologi-            die Mobilisierung, Globalisierung und Flexibili-
schen (Sozial-) Charakterbildung.                       sierung fast aller Produktionsprozesse und der
                                                        an ihnen Beteiligten; für die Entschlüsselung
Im Folgenden möchte ich deshalb mit dem cha-
                                                        der genetischen Codes oder für die Erfor-
rakterlichen Streben nach Entgrenzung und
                                                        schung des Weltraums. Mit den heutigen Wun-
nach Grenzenlosigkeit ein neu entstandenes
                                                        derwerken der Technik – etwa einem Smartlet –
Bezogenheitsmuster in Wirtschaft, Gesellschaft
                                                        hat man nicht nur von fast jedem Ort der Welt
und Kultur beschreiben und aufzeigen 4 , wie
                                                        und zu jeder Zeit Zugang zum Wissen der
dieses charakterliche Streben nach Entgren-
                                                        Menschheit, man muss sich auch nie mehr al-
zung zu einem Burnout führen kann.
                                                        lein und isoliert fühlen; vielmehr kann man an
                                                        jeder Art von Unterhaltung teilhaben.
2.   Die digitale Revolution und das Bezo-
     genheitsmuster der Entgrenzung                     Elektronische Medien erlauben eine Simulation
                                                        von Wirklichkeit, bei der sich die faktische Rea-
Es wird immer offensichtlicher, dass es 200             lität kaum noch von der simulierten virtuellen
Jahre nach der industriellen Revolution zu einer        Realität unterscheiden lässt. Simulationstechni-
neuen Umwälzung bei der Produktionsweise                ken machen nicht nur Flugsimulatoren und me-
gekommen ist, die eine ähnliche Auswirkung              dizinische Operationssimulationen möglich,
auf die Organisation der Arbeit und die Formen          sondern auch virtuelle Welten, in denen man
des Miteinanders und der Selbstverwirklichung           sich heimischer und wohler fühlen kann als in
hat wie die industrielle Revolution. Digitale           der vorgegebenen Wirklichkeit, die nur zu oft
Technik, Vernetzungstechnik und elektronische           mühsam und frustrierend ist. Dabei versteht
Medien haben eine digitale Revolution ermög-            man unter „virtueller Realität“ etwas, das in
licht, durch die heute Dinge möglich sind, die          Wirklichkeit nicht in der Form existiert, in der es
bisher reine Utopie waren. Wo der Mensch bis-           zu existieren scheint, aber dennoch alle Funkti-
her in seinem Drang zu forschen, zu produzie-           onen und Wirkungen einer solchen Realität
ren, zu gestalten und zu erleben an seine               zeigt. Der Gegenbegriff zu „virtuell“ ist deshalb
Grenzen kam, ergeben sich völlig neue, ja               nicht „real“, sondern „physisch“: Das Virtuelle
grenzenlos scheinende Möglichkeiten.                    gibt es „in Wirklichkeit“ nicht, hat aber (nach
Der Mensch hat schon immer versucht, sein               Möglichkeit) in der Wahrnehmung durch den
körperliches Begrenztsein vor allem mit Hilfe           Menschen alle Anzeichen und Erkennungs-
von technischen Innovationen zu überwinden,             merkmale der Realität. 5
angefangen beim Faustkeil bis hin zu kompli-            Die Virtualisierung erlaubt es dem Menschen
zierten motorbetriebenen Maschinen und Pro-             heute, immer dann die Wirklichkeit neu zu er-
duktionsbändern. Er hat auch mit Hilfe von              finden, wenn er an seine eigenen oder an die
Imagination, Kunst, Religion, psychotropen              Grenzen des Möglichen stößt. Wird man mit
Substanzen usw. schon immer versucht, eine              Widerständen, Grenzen, Beschränktheiten und
andere Wirklichkeit zu inszenieren oder in Er-          Gebundenheiten konfrontiert, erfindet man per
fahrung zu bringen, um so seine psychische              Simulation – und unter Einsatz entsprechender,
und geistig-intellektuelle Begrenztheit zu erwei-       meist suggestiver Psycho- und Sozialtechniken
tern oder außer Kraft zu setzen.                        – die Wirklichkeit neu. So scheinen sich alle
Mit der digitalen Technik, den elektronischen           Probleme dadurch lösen zu lassen, dass man
Medien und der Vernetzungstechnik ist es je-            Begrenzungen, Beschränkungen, Bindungen
doch noch einmal zu einem qualitativen Sprung           und Abhängigkeiten einfach beseitigt.
bei seinen Entgrenzungsmöglichkeiten gekom-
men. Sie bilden die Voraussetzung für die ge-           5 Diese klare Definition bringt es mit sich, dass ande-
genwärtige Entgrenzung von Raum und Zeit,               re Möglichkeiten der Entgrenzung von Realität wie
für einen sekundenschnellen Wissens- und In-            die „erweiterte Realität“ („augmented reality“ und
formationstransfer, für bildgebende Verfahren,          „enhanced reality“) zwar eine Erweiterung der Reali-
                                                        tätswahrnehmung durch Computerunterstützung
                                                        oder mit Hilfe von „cognitive enhancers“ wie Modafe-
4 Ich greife hierbei auf Erkenntnisse zurück, die ich   nil („Gehirndoping“) bewirken, aber keine Phänome-
in Rainer Funk, Ich und Wir. Psychoanalyse des          ne virtueller Realität sind. (Dagegen scheinen die
postmodernen, Menschen, München (dtv 24444)             Begriffe der „Hyperrealität“ und „surplus-reality“ auch
2005, sowie in Der entgrenzte Mensch. Warum ein         auf virtuelle Entgrenzungen anwendbar zu sein, wäh-
Leben ohne Grenzen nicht frei sondern abhängig          rend der Begriff „Fiktion“ sowohl inszenierter Wirk-
macht, Gütersloh (Güterloher Verlagshaus) 2011,         lichkeit als auch virtueller Realität zugeordnet wer-
ausgeführt habe.                                        den kann.)
                                                                                                             2
Tatsächlich meint das deutsche Wort Ent-              der Produktion nicht nur deren Verlagerung in
grenzung genau dies: In der Auseinanderset-           Billiglohnländer gemeint, sondern auch das
zung mit einer Grenze wird diese nicht dadurch        Outsourcen von Produktionsteilen oder die glo-
überwunden, dass man sich mit ihr auseinan-           bale Entgrenzung der Herstellung, der Entwick-
dersetzt, um sie nach Möglichkeit irgendwann          lung, Finanzierung, des Marketings und des
zu überwinden und hinter sich zu lassen, son-         Vertriebs eines Produkts. Globalisierte Produk-
dern dass man die Grenze einfach beseitigt.           tion und ebensolche Märkte sind nur möglich,
Hierbei gibt es zwei Möglichkeiten der Beseiti-       wenn es zu einem Abbau von Handelsbe-
gung: Entweder wird eine Grenze real beseitigt        schränkungen und nationalen Subventionen
und weggeräumt oder die Wahrnehmung der               kommt und gleichzeitig die Mobilität der am
Grenze oder des Gebundenseins wird ausge-             Produktionsprozess beteiligten Menschen und
blendet – durch Verdrängen und Verleugnen             Waren gefördert wird.
bzw. durch das Eintauchen in eine neue virtuel-
                                                      Ein kaum zu bändigender Entgrenzungsschub
le Realität, die keine solche Bindungen und
                                                      wurde durch die Liberalisierung der Finanz-
Grenzen mehr kennt.
                                                      märkte und die dadurch ermöglichte Globalisie-
Was im kognitiven und handlungsorientierten           rung des Finanzsektors in Gang gebracht – mit
Umgang mit der Wirklichkeit Grenzen sind, an          all den inzwischen unheilvoll erlebten Folgen.
die man stößt und die es deshalb zu beseitigen        Bereits in den Siebziger Jahren wurde auch die
oder zu de-regulieren gilt, ist im Bereich des        Zinspolitik liberalisiert und dem Markt überlas-
emotionalen Bezogenseins die Bindung. Wo              sen. Die Finanzmärkte nutzten die Möglichkei-
immer Menschen sich heute an andere oder an           ten und forcierten eine weitere Entgrenzung:
sich selbst gebunden fühlen, versuchen sie sich       die Abkoppelung der Finanzmärkte von der so
zu ent-binden, um von allen Bindungen frei zu         genannten Realwirtschaft, so dass die Käufe
sein. Nur das bindungslose und unverbindliche         und Verkäufe auf den Finanzmärkten inzwi-
Verbundensein verspricht heute wirkliche Frei-        schen mit der Produktion von Waren und
heit und Autonomie.                                   Dienstleistungen kaum noch etwas zu tun ha-
                                                      ben.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass von
den heutigen Entgrenzungsmöglichkeiten eine           Solche nicht nur segensreichen Auswirkungen
ungeheure Faszination ausgeht. Sie führt dazu,        der Entgrenzung lassen sich auch in der Ar-
dass Entgrenzung, Entbindung und Deregulie-           beitswelt beobachten. War nämlich die Arbeits-
rung nicht nur zu Schlüsselworten einer neoli-        welt bisher durch langlebige Berufe und dauer-
beralen Wirtschaftsphilosophie wurden, son-           hafte Anstellungsverhältnisse bei stabilen Ver-
dern dass Entgrenzungstechniken in den Rang           dienstmöglichkeiten und sozialen Sicherungs-
von Universalheilmitteln für alle wirtschaftlichen,   systemen geprägt, brechen diese schützenden
gesellschaftlichen,   wissenschaftlichen        und   Außenhalte und Bindungen zunehmend weg.
menschlichen Probleme erhoben werden. Wo              Dass die Beschäftigungsverhältnisse nicht nur
immer man hinblickt, begegnet man dem Bezo-           flexibilisiert, sondern zunehmend auch instabil
genheitsmuster der Entgrenzung und Entbin-            werden, ist ein wichtiger Aspekt der Entgren-
dung, so dass es nicht überrascht, dass die           zung in der Arbeitswelt. Hatten 1970 von 100
heutigen Entgrenzungsmöglichkeiten bei immer          Erwerbstätigen noch 84 eine unbefristete Voll-
mehr Menschen ihre Widerspiegelung in einem           zeitstelle, so waren es bereits 1995 nur noch 68
charakterlichen Entgrenzungsstreben finden.           und sind es gegenwärtig weniger als 60.
Burnout als Folge eines hemmungslosen Ent-            Auch bei der Arbeitsorganisation werden Gren-
grenzungsstrebens lässt sich aber nicht einfach       zen beseitigt. Mit der Flexibilisierung der Arbeit
nur aus der Faszination für heutige Entgren-          kommt es zu einer raumzeitlichen Entgrenzung
zungstechniken erklären. Erst deren zweckge-          der Arbeit und zur verstärkten Auflösung der
richtete Anwendung in der Wirtschaft und in der       Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit,
Organisation von Arbeit macht plausibel, warum        beruflich und familiär bzw. privat. Bei der Aus-
Burnout in den meisten Fällen eine berufsbe-          weitung der Teilzeitarbeit und der Einführung
dingte Erkrankung ist. Deshalb soll in einem          von Kernarbeitszeiten lassen sich auch Vorteile
dritten Abschnitt von der Entgrenzungsdynamik         der Entgrenzung der Arbeitszeit für die Er-
in Wirtschaft und Arbeitsorganisation die Rede        werbstätigen geltend machen: Je nach Alter,
sein.                                                 familiären Verpflichtungen oder anderen Inte-
                                                      ressen und Betätigungsfeldern können Beruf,
3.   Die Entgrenzungsdynamik in Wirtschaft            Familie und persönliche Wünsche besser koor-
     und Arbeitsorganisation                          diniert werden.
Mit dem inzwischen stark strapazierten Begriff        Solche Vorteile sollten nicht darüber hinweg-
der Globalisierung wird gleich eine ganze Reihe       täuschen, dass die Entgrenzungsvorgänge in
von ökonomischen Entgrenzungsvorgängen er-            der Arbeitswelt immer im Dienste der Steige-
fasst, vor allem die Entgrenzung der Märkte           rung der ökonomischen Produktivität stehen.
und der Produktion. Dabei ist mit Entgrenzung         Um eine höhere Produktivität zu erzielen und
                                                                                                      3
die hohen Investitionen in Automatisierung und          den heute geltenden unternehmerischen Ent-
Rationalisierung zu kompensieren, aber auch,            grenzungstechniken zu handeln:
um den Kundenwünschen rund um die Uhr ge-
recht zu werden, nimmt die Schichtarbeit, neh-             er nimmt keine Rücksicht mehr auf seine
men Nacht-, Wochenend- und Sonntagsarbeit                   eigenen, familiären und beruflichen Bin-
auf breiter Front zu – trotz der erdrückenden               dungsbedürfnisse, um sich grenzenlos und
Daten über die gesundheitlichen Folgeschäden                bindungslos ganz in den Dienst seiner be-
und über familiäre und soziale Konfliktpotenzia-            ruflichen Aufgabe zu stellen
le, die mit diesen Flexibilisierungen einherge-            er lebt permanent über die Grenzen seiner
hen. So wuchs – ich stütze mich auch hier auf               seelischen Leistungsfähigkeit, hält sich
Zahlen aus Deutschland – die Sonntagsarbeits-               aber nur körperlich fit
zeit zwischen 1991 und 2007 von 17 auf fast 26
Prozent, die Nachtschichtarbeitszeit im gleichen           er schafft seine eigenen Werte und Über-
Zeitraum von 13,4 auf 15,6 Prozent.                         zeugungen ab, um ganz einer corporate
                                                            identity und corporate culture gerecht zu
Der folgenreichste Entgrenzungsvorgang in der               werden
Arbeitswelt ist die Entgrenzung der Arbeitskraft
durch die Etablierung des „Arbeitskraftunter-              er übt auch sein eigenes kritisches Denken
nehmers“ oder „Selbstunternehmers“. Diese un-               nicht mehr, sondern fühlt und denkt nur
ter dem Namen „Subjektivierung der Arbeit“                  noch positiv und kooperativ, um dem missi-
diskutierte Entwicklung hat eine ähnlich große              on statement des Unternehmens zu ent-
Tragweite wie die Globalisierung in der Wirt-               sprechen
schaftswelt als Ganzer und trägt meines Erach-             um ganz frei für den Beruf zu sein, schafft
tens am meisten zur Entwicklung von Burnout                 er die Freizeit ab und liest auch im Urlaub
als berufsbedingter Erkrankung bei.                         die „dringenden“ Mails
Der Begriff „Arbeitskraftunternehmer“ 6 veran-             darüber hinaus schafft er auch die biologi-
schaulicht, wie die Verantwortung für Ar-                   schen Rhythmen und raumzeitlichen Gren-
beitsaufträge, Arbeitsformen sowie für die Or-              zen ab und ist rund um die Uhr per i-Phone
ganisation und Kontrolle von Arbeit immer mehr              und E-Mail erreichbar
dem unternehmerischen Geschick der einzel-
nen Arbeitnehmerin und des einzelnen Arbeit-               als Leistungserbringer und Gewinnertyp
nehmers zugemutet wird, so dass sie immer                   sieht er in Bedürfnissen nach Nichtstun,
mehr Unternehmerinnen und Unternehmer ihrer                 Abspannen und Ausruhen nur Anzeichen
eigenen Arbeitskraft werden müssen. Ein Phä-                des Versagens und den Beginn einer Ver-
nomen, das überall in Gesellschaft und Alltag               lierer-„Karriere“.
zu beobachten ist, nämlich dass etwas, das              Mit der Verinnerlichung der Methoden der Ent-
bisher in Anspruch genommen werden konnte,              grenzung werden Rationalisierung, Wirtschaft-
nun selbst zu erbringen ist, wird hier in Bezug         lichkeit, Effizienz, Effektivität und Controlling
auf die Arbeit sichtbar: Für den „Selbstunter-          nicht mehr als etwas Fremdes wahrgenommen,
nehmer“ wird Arbeit von etwas Vorgegebenem              sondern als etwas Eigenes bzw. selbst Erstreb-
zu etwas, das er selbst zu „geben“, zu steuern          tes. Aus der Ausbeutung des Arbeitnehmers ist
und zu kontrollieren hat. Statt in den Genuss           die Selbstausbeutung des Selbstunternehmers
der Vorsorge, Fürsorge, Vorleistung und Wei-            geworden.
sung eines Arbeitgebers zu kommen und in ei-
ner unbefristeten Anstellung und durch betrieb-         Erreicht wird diese „Subjektivierung der Arbeit“
liche Strukturen und kollektive Vertretungsfor-         vor allem dadurch, dass die Arbeitsorganisation
men abgesichert arbeiten zu können, sind die            flexibilisiert und die Arbeitsverhältnisse destabi-
unternehmerischen Leistungen von der Arbeits-           lisiert werden, und dies bei einer betrieblichen
kraft selbst zu erbringen.                              und allgemeinen Rückführung der sozialen Si-
                                                        cherungssysteme (wie Kranken-, Renten- und
In psychologischer Perspektive stellt der Ar-           Arbeitslosenversicherung). Dem Einzelnen
beitskraftunternehmer einen neuen Persönlich-           bleibt dann nur die Wahl, entweder die mit der
keitstypus dar, der sich mit den Erfordernissen         Entgrenzung einhergehende Unsicherheit als
der Entgrenzung im ökonomischen Bereich                 Herausforderung anzunehmen und sich und
identifiziert und sie sich zueigen gemacht hat.         seine Arbeitskraft zu entgrenzen, das heißt,
Er entwickelt in sich selbst den Wunsch, gemäß          sich selbst körperlich und seelisch auszubeu-
                                                        ten, oder als ein ökonomisch wenig produktiver
                                                        Selbstunternehmer früher oder später ohne
6 Vgl. hierzu: Hans-J. Pongratz und G. Günter Voß,      Projekt und Erwerbstätigkeit dazustehen.
Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in
entgrenzten Arbeitsformen. Berlin (Edition Sigma)       An dieser Stelle ist es hilfreich, genauer hinzu-
2003, sowie: Ulrich Bröckling: Das unternehmerische     sehen, wie es zur Verinnerlichung der Entgren-
Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frank-   zungsforderungen und ihre Umwandlung in ein
furt (Suhrkamp Verlag) 2007.
                                                                                                         4
eigenes Entgrenzungsstreben kommt. Die Klä-          und ersetzt hat und man sich in einer solchen
rung der Frage, wie eine solche Internalisierung     Situation ganz elend und hilflos fühlt. In der Re-
konkret vor sich geht, gibt nämlich wichtige         gel bleibt es bei einem „momentanen“ Gefühl
Hinweise, wie es heute zum beruflich bedingten       der Verlorenheit und Ohnmacht, denn der Man-
Burnout kommen kann.                                 gel an technischem Vermögen lässt sich meist
                                                     schnell beseitigen, so dass man den Mangel an
4.   Zur Genese des eigenen Entgrenzungs-            menschlichem Vermögen nicht mehr spüren
     strebens und zur Pathogenese des                muss.
     Burnout
                                                     Will man herausfinden, wie sehr man durch den
Weil die heutigen Entgrenzungsmöglichkeiten          Gebrauch der heutigen technischen Entgren-
mit Hilfe digitaler Technik, elektronischer Me-      zungsmöglichkeiten       bereits  die     eigenen
dien und Vernetzungstechnik einerseits als fas-      menschlichen Fähigkeiten, von innen heraus
zinierend erlebt werden, andererseits aber als       aktiv und interessiert sein zu können, eingebüßt
Entgrenzungsforderungen – vor allem in der           hat, muss man sich nur fragen, wie es einem
Berufswelt – auch als bedrohlich erlebt werden,      ergeht, wenn man ein Wochenende ganz ohne
weil alles Verlässliche, Beständige, Wertbesetz-     Elektrizität, auch ohne Akku-Elektrizität verbrin-
te, Bindung und Sicherheit Gebende abge-             gen müsste, so dass keine elektronische Ani-
schafft wird, lassen sich psychologisch auch         mation und Unterhaltung, kein Fernsehen, kein
grundsätzlich zwei Wege der Internalisierung         Video, kein Mail, kein Handy, kein Internet mög-
ausmachen: zum einen eine Identifizierung mit        lich ist. Wer dann noch mit sich und mit ande-
den Entgrenzungsmöglichkeiten, zum anderen           ren etwas anzufangen weiß, kann getrost wei-
eine Identifizierung mit den Entgrenzungsforde-      terhin auf die technischen Wunderwerke set-
rungen.                                              zen.
                                                     Die zweite Möglichkeit, wie es zu einem eige-
a)   Das Streben nach Entgrenzung als Iden-
                                                     nen Streben nach Entgrenzung kommt, zeigt
     tifizierung mit den Entgrenzungsmög-
                                                     sich vor allem dort, wo Menschen aus berufli-
     lichkeiten                                      chen Gründen mit Entgrenzungsforderungen
Eine Verinnerlichung per Identifizierung mit den     konfrontiert sind. Die Strebung, sich und alles
heutigen Entgrenzungsmöglichkeiten ist schnell       entgrenzen und entbinden zu wollen, ist hier
erklärt: Man identifiziert sich mit der Faszinati-   meist das Ergebnis einer Identifikation mit dem,
on, die von den technischen Möglichkeiten            was einen bedroht. Gerade wenn im Berufli-
ausgeht und definiert sich hinsichtlich seines       chen die Entgrenzung als Forderung entgegen-
eigenen Vermögens mehr oder weniger stark            tritt, auf alles Bewährte, Gesicherte, Orientie-
vom Vermögen dieser technischen Wunder-              rung und Halt Gebende zu verzichten, und sich
werke her. Man findet alles faszinierend, wo         als „Selbstunternehmer“ neu zu erfinden, wenn
sich Grenzen und Bindungen beseitigen lassen         der Schutz von unbefristeten Arbeitsverträgen
und womit man seine eigenen Beschränkthei-           und von Tariflöhnen wegfällt, der Arbeitsplatz
ten und Gebundenheiten aus der Welt schaffen         gefährdet ist, die Alterssicherung „privatisiert“
kann und sich etwas technisch lösen lässt.           wird und auf den Sozialstaat kein Verlass mehr
                                                     ist, wird Entgrenzung vor allem als Bedrohung
Problematisch ist eine solche Identifizierung        erlebt und führt zunächst zu Angst, Unsicher-
dann, wenn die Faszination für die technischen       heit, Widerständigkeit und Anpassungsverwei-
Wunderwerke dazu führt, dass das eigene              gerung.
menschliche Vermögen – zu denken, zu fühlen,
zu wollen, zu entscheiden und zu handeln –           Solche Reaktionen dürfen freilich nicht zugege-
immer mehr durch den Einsatz des technischen         ben und ausgelebt werden, weil sie als Schwä-
Vermögens ersetzt wird. Dann kommt es näm-           che, mangelnde Belastbarkeit und als fehlende
lich zu einer existenziellen Abhängigkeit beim       Motiviertheit ausgelegt werden und einen noch
Icherleben und beim Selbstwerterleben der            mehr in die Verliererposition drücken würden. In
Betreffenden: Je vermögender das Smartpho-           dieser psychisch unerträglichen Situation gibt
ne, die Software, das Programm zur sozialen          es psychologisch zwei Auswege: Der eine führt
Neuorganisation, das Manual für die Psycho-          zur Symptombildung, der andere zur Identifizie-
technik und das Persönlichkeitstraining sind,        rung mit dem, was einen bedroht.
über die ich verfügen kann, desto potenter, er-      b)   Entgrenzungsforderungen und Sym-
folgreicher und wertvoller erlebe ich mich. Ohne          ptombildung
sie aber, bin ich nichts, unvermögend, wir-
kungslos, isoliert und unverbunden.                  Bei der Symptombildung entwickeln die Betref-
                                                     fenden typische Stresssymptome wie Schlaflo-
Verliert man das Handy oder wird das iPad ge-        sigkeit oder Schweißausbrüche, Bluthochdruck
klaut oder gibt die Festplatte ihren Geist auf,      oder Magengeschwüre, und/oder es kommt zu
dann zeigt sich momentan, wie sehr das tech-         neurotischen Symptombildungen, zu Angster-
nische Vermögen den Gebrauch der eigenen             krankungen, depressiven Verstimmungen und
menschlichen Fähigkeiten bereits „de-aktiviert“
                                                                                                     5
Depressionen samt ihren somatoformen Äqui-         keit gibt. Darüber hinaus muss für die Diagnose
valenten wie Rückenschmerzen oder Herzbe-          eines Burnout auf Grund einer narzisstischen
schwerden. Diese berufsbedingten Symptom-          Störung die Neigung zur Idealisierung des ei-
bildungen wirken sich natürlich im ökonomi-        genen Selbst und zur Entwertung von allem
schen Sinne in hohem Maße kontraproduktiv          Nicht-Eigenen indiziert und eine massive Krän-
aus und kosten den Krankenversicherungen           kung nachweisbar sein, die die narzisstische
und den Unternehmen viel Geld. Die Betroffe-       Dekompensation ausgelöst hat. Schauen wir
nen selbst sind einem hohen psychischen und        uns deshalb noch eine andere Möglichkeit an,
körperlichen Leidensdruck ausgesetzt.              wie Menschen auf die beruflichen Entgren-
                                                   zungsanforderungen reagieren können.
Aus der Perspektive der nach Entgrenzung
strebenden Unternehmen sind solche Mitarbei-
                                                   c)   Entgrenzungsstreben als Identifizierung
terinnen und Mitarbeiter psychisch nicht in dem
                                                        mit dem Aggressor. Zur Pathogenese
Maße anpassungsfähig, wie es auf Grund der
                                                        eines charakterbedingten Burnout
Entgrenzungsdynamik erforderlich wäre. Die er-
forderliche Reziprozität kann nicht hergestellt    Neben der Symptombildung gibt es noch den
werden. Deshalb wollen sie sie entweder ent-       Ausweg, sich mit dem, was einen bedroht, also
grenzungsfähiger machen oder loswerden.            mit dem Aggressor, zu identifizieren. Das Er-
Bisweilen werden auch Lösungen gesucht, bei        gebnis ist, dass sie schließlich selbst alles att-
denen solche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter      raktiv und erstrebenswert finden, was ihnen
in Abteilungen weiterbeschäftigt werden, in de-    bisher Angst machte. Sie spüren also keine
nen die Entgrenzungsanforderungen geringer         Angst mehr vor der Entgrenzung, sondern Be-
sind.                                              geisterung für sie; auch leiden sie nicht mehr an
                                                   der Entgrenzung, sondern suchen sie und sind
Im Blick auf die betroffenen Erkrankten geht es
                                                   voll und ganz mit dem beruflichen Entgren-
darum, dass diese den ursächlichen Zusam-
                                                   zungserfordernissen eins.
menhang mit der Berufssituation und den Ent-
grenzungsanforderungen, denen sie nicht ge-        Zu einer solchen Identifizierung mit dem Ag-
wachsen sind, zu sehen imstande sind. Dieses       gressor kommt es im Leben des Menschen be-
„Nicht-gewachsen-Sein“ kann unterschiedlich        vorzugt dann, wenn man sich von anderen ab-
gewertet und gedeutet werden. In psychologi-       hängig erlebt und keine andere Lösung möglich
scher und psychohygienischer Perspektive           zu sein scheint, als sich mit dem, was existenz-
lässt sich eine psychische und psychogene          bedrohend erlebt wird, zu identifizieren. Man
Symptombildung auch als Ausdruck eines bes-        nimmt das Bedrohliche sozusagen in sich hin-
seren Wissens um das, was einen Menschen           ein, damit es einen nicht mehr von außen be-
gelingen und misslingen lässt, begriffen wer-      drohen kann. Tatsächlich verliert es aber nur
den. Mit der Symptombildung signalisiert der       seine bedrohliche Qualität, wenn man wie der
betreffende Mensch, dass die Entgrenzungsan-       Löwe, der einen mit seinem Brüllen bedrohte,
forderungen ihn psychisch ausbeuten und            selbst zu brüllen anfängt.
zugrunde richten, so dass die Erkrankung Aus-
druck eines besseren Wissens um sich und           Nun geht es bei der beruflichen Entgrenzung
seine seelische Gesundheit ist. Viele Menschen     nicht um das Brüllen eines Löwen, sondern um
schaffen den Schritt aus einer pathogenen Si-      das Beseitigen von Grenzen und Bindungen,
tuation – etwa einer heillosen Ehe oder einer      die zwar ökonomische Kostenfaktoren sind,
überfordernden beruflichen Situation – erst,       aber auch Halt, Schutz und Sicherheit geben
wenn eine Symptombildung und eine entspre-         und einen davor bewahren, körperlich und psy-
chende therapeutische Klärung sie zu einer         chisch ausgebeutet zu werden. Wer sich mit
solchen Einsicht bringt. Insofern sind neuroti-    den beruflichen Entgrenzungsanforderungen
sche Symptombildung – zumindest für diese          identifiziert, wird selbst zum Ausbeuter – und
Menschen – auch ein deutliches Zeichen, dass       zwar nicht nur anderer, sondern auch seiner ei-
es „so“ nicht geht.                                genen körperlichen und seelischen Kräfte.

Die beschriebene Symptombildung erklärt mei-       Derart entgrenzte Mitarbeiterinnen und Mitar-
nes Erachtens noch nicht hinreichend, warum        beiter sind hoch motiviert und äußerst leis-
gerade besonders motivierte und beruflich er-      tungsorientiert; vor allem zeichnen sie sich da-
folgreiche Menschen an Burnout erkranken und       durch aus, dass sich ihr Entgrenzungsstreben
warum das Burnout diese Menschen oft wie           auch jenseits des beruflichen Rahmens mani-
aus heiterem Himmel zur Strecke bringt. Beide      festiert – in ihrer Art Freizeit zu leben, Urlaub zu
Auffälligkeiten werden gerne mit dem Zusam-        machen, Sport zu treiben, die Partnerbeziehung
menbruch einer narzisstischen Größenvorstel-       zu gestalten, Kinder zu erziehen oder den Le-
lung der Betreffenden erklärt. Eine solche Ätio-   bensabend zu planen. Sie können nicht genug
logie mag im Einzelfall dann begründet sein,       davon bekommen, alles, was binden, ein-
wenn es noch andere Hinweise für eine verzerr-     schränken, die Effizienz begrenzen könnte, zu
te Wahrnehmung der eigenen Leistungsfähig-         entgrenzen.

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Psychodynamisch betrachtet, versuchen sie mit          und liebenswerter ist als ein nur an Wirtschaft-
allem, was sie tun, das internalisierte Bedrohli-      lichkeit und Effizienz orientiertes Berufsleben.
che zu beschwichtigen und in Schach zu hal-
ten. Je rücksichtloser sie mit sich und ihren ei-
genen Bedürfnissen, Ressourcen und Kräften
umgehen, desto weniger müssen sie sich vom
internalisierten Aggressor bedroht fühlen und
desto erfolgreicher sind sie zugleich beruflich.
Da dem Menschen nicht nur körperlich Grenzen
gesetzt sind, sondern auch psychisch, kommt
es schließlich zu einer Art Dekompensation, die
als Burnout in Erscheinung tritt.
Der Begriff selbst – das Ausgebranntsein –
passt durchaus zum Erscheinungsbild eines
Zusammenbruchs der körperlichen und seeli-
schen Energien, eines „erschöpften Selbst“ 7
oder eines Kollabierens. Man könnte in Analo-
gie zum Hirn- oder Herzinfarkt auch von einem
„seelischen Infarkt“ sprechen, um das plötzliche
Hereinbrechen und um das Bedrohliche eines
Burnout metaphorisch zu kennzeichnen, von
dem das seelische Leben heimgesucht wird.
Im Vergleich zu den zuvor aufgezeigten Sym-
ptombildungen, zu denen es bei Konflikten mit
den    beruflichen   Entgrenzungsforderungen
kommen kann, muss man angesichts des Bur-
nout mit Fromm sagen: „Glücklich der, der ein
Symptom hat. (...) Das Symptom ist ja wie der
Schmerz nur ein Anzeichen, dass etwas nicht
        8
stimmt.“ Auch wenn durch solche Symptombil-
dungen massive Leidensdrücke entstehen, so
sind sie doch eine auch konstruktive Reaktion
der Seele. Dem Burnout auf Grund einer pa-
thogenen Charakterbildung liegt eine andere
Psychodynamik zugrunde, die auch einen an-
deren therapeutischen Umgang erforderlich
macht.
Auch hinsichtlich der Konsequenzen, die sich
für die Betreffenden aus einem solchen Burnout
ergeben, ist der Vergleich mit einem Infarkt
sinnvoll, denn es gilt, jene Dynamik, die zu ei-
ner seelischen Selbstausbeutung geführt hat,
außer Kraft zu setzen und zu einem Leben mit
Grenzen und Rücksichtnahmen auf die eigenen
Begrenztheiten zurückzufinden. Aus dem Ge-
sagten ergibt sich auch, dass ein solcher „seeli-
scher Infarkt“ nur überwunden und präventiv
vermieden werden kann, wenn von Unterneh-
merseite verlässliche soziale und berufsbezo-
gene Sicherungssysteme das Wahrnehmen
und Erleben der eigenen Begrenztheit erlauben
und wenn vom Betroffenen (von Neuem) ge-
lernt wird, dass ein Leben mit Grenzen lebens-

7 Der Begriff wurde von Alain Ehrenberg (Das er-
schöpfte Selbst, Depression und Gesellschaft in der           Kopiererlaubnis zu privaten Zwecken.
Gegenwart. Frankfurt a. M. 2008) öffentlich gemacht,          Copyright © 2013 by Dr. Rainer Funk
wird bei ihm aber anders begründet.                            Ursrainer Ring 24, 72076 Tübingen
8 E. Fromm, Interview with Micaela Lämmle and Jür-              Tel. 07071-600004; Fax -600049
                                                              E-Mail: frommfunk@googlemail.com
gen Lodemann: „Die Kranken sind die Gesündesten“
(1977), in: Die Zeit, Hamburg (21.3.1980).
                                                                                                     7
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