Digitale genetische Informationen und die Idee des Access and Benefit Sharing

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Digitale
genetische
Informationen
und die Idee
des Access
and Benefit
Sharing

Schweizerische Eidgenossenschaft
Confédération suisse
Confederazione Svizzera
Confederaziun svizra

Eidgenössische Ethikkommission
für die Biotechnologie im
Ausserhumanbereich EKAH            1
Inhalt

1    Ethische Fragestellung und
     ihre Rahmenbedingungen

2    Ausgangslage

3    Was sind digitale genetische
     Informationen?

4    Digitale genetische Informa-
     tionen und die Idee des Access
     und Benefit Sharing

5    Empfehlungen
1              Ethische Fragestellung und
               ihre Rahmenbedingungen

Mit einem systematischen Screening         Im vorliegenden Bericht geht es der       1   Siehe zu Anwendungsfeldern z.B.: netzwerkforum
und der Digitalisierung der in biologi-    EKAH generell um die Frage: Wie soll          zur biodiversitätsforschung deutschland (NeFo),
schen Ressourcen vorliegenden DNA,         mit digitalen genetischen Informatio-         Digitale Sequenzinformation (DSI), NeFo-Fak-
RNA und Nukleotiden lassen sich gro-       nen umgegangen werden?3 Spezifisch            tenblatt zur Vorbereitung auf SBSTTA[*]-22, 28.
sse Datensammlungen über geneti-           wird diskutiert, ob sich die im Nagoya-       Juni 2018. [*SBSTTA steht für Subsidiary Body on
sche Informationen anlegen. Solche         Protokoll festgehaltene Idee des Access       Scientific, Technical and Technological Advice
Datensammlungen sind sowohl für            und Benefit Sharing (ABS) auch auf            der CBD.]
die Forschung bedeutend als auch für       digitale genetische Informationen be-     2   Das Nagoya Protocol on Access to Genetic Resour-
breite Anwendungen interessant. Sie        zieht. Über die Diskussion des Nagoya-        ces and the Fair and Equitable Sharing of Benefits
können zum Verständnis molekularer         Protokolls hinaus wird der Blick auch         Arising from Their Utilization, wurde im Oktober
Grundlagen und Evolutionsprozesse          auf andere völkerrechtliche Vereinba-         2010 an der 10. Vertragsstaatenkonferenz der UN-
beitragen und die Entwicklung neuer        rungen gerichtet, in deren Rahmen der         Biodiversitätskonvention in Nagoya beschlossen.
Therapien und Medikamente voran-           Umgang mit digitalen genetischen In-          Es trat im Oktober 2014 in Kraft.
treiben. Da sich mit diesen Informati-     formationen ebenso thematisiert wird.     3   Der Bericht beschränkt sich auf Informationen
onen Lebewesen sowie tierische und         Denn genetische Informationen liegen          über genetische Ressourcen des ausserhuma-
pflanzliche Produkte genetisch genauer     zunehmend in digitaler Form vor. Der          nen Bereichs, weil dies dem Mandatsbereich der
bestimmen lassen, können solche Da-        Zugang zu digitalen genetischen Res-          EKAH entspricht. Der Umgang mit humangene-
tensammlungen auch dazu beitragen,         sourcen und ihr Austausch sind dann           tischen Ressourcen wirft zudem andere ethische
illegalen Handel zu bekämpfen, womit       ethisch relevant, wenn dies für das           Fragen auf.
beispielsweise bedrohte Arten besser       Erreichen von moralisch signifikan-
geschützt werden können. Auch die          ten Schutzzielen ein entscheidender
geografische Herkunft von Produkten        Faktor ist. Zu diesen Schutzzielen
könnte besser hergeleitet werden, was      gehören Beiträge zum Schutz der Ge-
die Kontrolle der Produktionskette er-     sundheit von Menschen, Tieren und
leichterte.1                               Pflanzen, die Ernährungssicherheit und
                                           der Schutz der Umwelt und Biodiver-
In der Debatte um den Umgang mit           sität. Die Regelung des Zugangs zu
diesen digital gespeicherten Informa-      den genetischen Informationen wur-
tionen wird zum einen die Position ver-    de in verschiedenen Vereinbarungen
treten, dass es zum Vorteil aller sei,     mit der Idee eines Vorteilsausgleichs
wenn sie frei zugängig sind. Zum an-       verknüpft. Diese Verknüpfung soll dem
deren wird pragmatisch argumentiert,       Schutz der Biodiversität und damit dem
solche Daten seien jedenfalls nicht den    Schutz der genetischen Ressourcen
Regelungen des Nagoya-Protokolls 2         dienen. Solange nicht alle Vertrags-
unterworfen. Dieses beziehe sich nur       parteien davon ausgehen, dass der
auf materielle genetische Ressourcen,      Umgang mit digitalen genetischen In-
nicht aber auf «immaterielle» digita-      formationen dem Geltungsbereich des
le Informationen. Kritische Stimmen        Nagoya-Protokolls unterliegt, bleibt
befürchten, dass dadurch bereits be-       der Zugang zu diesen Informationen
stehende Regulierungen wie das ge-         ungeregelt und es entsteht auch kein
nannte Nagoya-Protokoll nicht nur für      Anspruch auf Vorteilsausgleich.
digitale, sondern für alle Informationen
auf der Grundlage genetischer Res-         Im vorliegenden Kontext lautet die
sourcen ausgehebelt und wirkungslos        ethisch entscheidende Frage, ob der
würden. Denn Digitalisierung und Da-       Träger der genetischen Information
tenbanken machten den Rückgriff auf        mit Blick auf einen angemessenen
die Ressourcen der Bereitstellerländer     Umgang mit dieser Information re-
überflüssig. Durch das Unterlaufen der     levant ist. Diese Diskussion erfolgt
Regulierungen des Protokolls blieben       grundsätzlich losgelöst vom bestehen-
auch die damit verbundenen Ziele des       den Recht. Aus ethischer Sicht muss
Biodiversitätsschutzes aussen vor.         aber auch der bestehende rechtliche                                                                3
und politische Kontext berücksichtigt   4   Für eine vertiefte ethische Diskussion über Ver-
werden. Empfehlungen zur Umsetzung          fügungs- und Ausschlussrechte an digitalisierten
von Grundsätzen für einen ethisch ge-       Gensequenzen und genetischen Ressourcen sie-
rechtfertigten Umgang mit digitalen         he: Otto Schäfer, Digitale Sequenzinformationen.
genetischen Informationen müssen            Ethische Fragen der Patentierung genetischer
deshalb die Möglichkeiten innerhalb         Ressourcen und des Eigentums an digitalisier-
dieser Realitäten ausloten.4                ten Sequenzinformationen, Bd. 13 der Buchreihe
                                            «Beiträge zur Ethik und Biotechnologie», 2020.

                                                                                               4
2               Ausgangslage

2.1 Gegenstand internationaler              die Bedeutung digitaler Datenbanken       5   SR 0.451.43
Regulierungsdiskussion                      über genetische Ressourcen waren          6   Art. 1 des Nagoya-Protokolls: «Ziel dieses Proto-
                                            zum Zeitpunkt, als diese Vereinba-            kolls ist die ausgewogene und gerechte Aufteilung
Digitale genetische Informationen           rungen entstanden, noch nicht oder            der sich aus der Nutzung der genetischen Res-
sind derzeit auf der Ebene mehrerer         zumindest nicht in dem Grade abseh-           sourcen ergebenden Vorteile, insbesondere durch
völkerrechtlicher Vereinbarungen und        bar. Diskutiert wird deshalb derzeit,         angemessenen Zugang zu genetischen Ressour-
ihrer Umsetzungen Gegenstand der            ob digitale Sequenzinformationen im           cen und angemessene Weitergabe der einschlä-
Diskussion. Der vorliegende Bericht         Nagoya-Protokoll eingeschlossen sind          gigen Technologien unter Berücksichtigung aller
konzentriert sich zur Klärung der Fra-      oder nicht.8                                  Rechte an diesen Ressourcen und Technologien
ge, wie mit genetischen Informationen                                                     sowie durch angemessene Finanzierung, um so
umgegangen werden soll, insbeson-           Auch im Rahmen des Saatgutvertrags,           zur Erhaltung der biologischen Vielfalt und zur
dere auf das Übereinkommen über             einem internationalen Übereinkommen           nachhaltigen Nutzung ihrer Bestandteile beizu-
die biologische Vielfalt (Convention        zur Erhaltung und nachhaltigen Nut-           tragen.» (SR 0.451.4329).
on Biological Diversity, CBD)5 und das      zung pflanzengenetischer Ressourcen       7   Diese umfasst nach CBD die Artenvielfalt, die ge-
darauf basierende Nagoya-Protokoll.         für Ernährung und Landwirtschaft9 der         netische Diversität von Arten und die Vielfalt von
In diesem Rahmen wird diese Dis-            Ernährungs- und Landwirtschaftsorga-          Ökosystemen.
kussion unter dem Begriff «digitale         nisation der Vereinten Nationen (FAO),    8   Für deren Einschluss argumentieren Kaspar Soll-
Sequenzinformationen» geführt. Mit          werden digitale Informationen und die         berger, Digitale Sequenzinformationen und das
dem Protokoll wird eines der Ziele des      Regelung des Zugangs und Austau-              Nagoya-Protokoll, rechtliches Kurzgutachten im
Übereinkommens umgesetzt. Es regelt         sches stets wichtiger. Für die Züchtung       Auftrag des Bundesamts für Umwelt (BAFU), 7.
den Zugang zu genetischen Ressour-          werden vermehrt auch digitale Infor-          April 2018, sowie Elizabeth Karger, Study on the
cen über ein bilaterales System.6 Im        mationen herangezogen und damit               use of digital sequence information on genetic
Gegenzug dafür, dass die Herkunfts-         Gewinne erzielt. Der Vertrag regelt in        resources in Germany in the project Scientific and
staaten Zugang (Access) zu ihren ge-        einem multilateralen Ansatz mit einem         technical support on implementing the Nagoya
netischen Ressourcen gewähren, teilen       standardisierten Materialtransferver-         Protocol – Part 1 «Digital sequence information
die Nutzenden einen Anteil aus den da-      trag den Zugang zu den weltweiten             and ABS». UFOPLAN 2017 F&E-Vorhaben (FKZ
raus gewonnenen Vorteilen mit dem           Saatgutbanken.10 Er umfasst bis jetzt         3517810100) on behalf of the German Competent
Bereitstellerland (Benefit Sharing). Den    nur eine beschränkte Zahl von Nutz-           National Authority for the Nagoya Protocol in col-
Vorteilsausgleich handeln die Nutzen-       pflanzenarten, wobei einige wichtige          laboration with the Institut für Biodiversität – Netz-
den mit den Bereitstellerländern bila-      wie Soja, Tomaten und Erdnüsse nicht          werk e.V.: 1 – 80, 2018. Eine gegenteilige rechtliche
teral aus. Indigene und lokale Gemein-      darunterfallen. Alle Nutzpflanzen, die        Argumentationslinie folgt dem Wortlaut von Art.
schaften und deren Leistungen sind          nicht mit dem Materialtransfervertrag         2 der CBD und Art. 2 des Nagoya-Protokolls. Da-
in die Gewährung des Zugangs und            des FAO-Saatgutvertrags ausgetauscht          nach sei eine genetische Ressource genetisches
den Vorteilsausgleich einzubeziehen.        werden, unterliegen den Regeln des            Material (von tatsächlichem und potenziellem
Denn es handelt sich dabei auch um          Nagoya-Protokolls. In diesen Fällen           Wert). Genetisches Material wird als Material
empirisches Wissen über Funktionen          müssen Züchterinnen und Züchter               biologischen Ursprungs definiert, das funktionelle
und Wirkungen genetisch vererbbarer         den Zugang bilateral aushandeln. Wie          Vererbungseinheiten, in der Regel Gene, enthält.
Eigenschaften, das in diesen Gemein-        das Nagoya-Protokoll sieht auch der           Genetische Ressourcen sind demnach Materialien
schaften erarbeitet und (oft mündlich)      Saatgutvertrag vor, dass ein (kleiner)        wie Organismen oder Teile davon, in denen Gene
bewahrt und weitergegeben wird (sog.        Teil des Nutzens in die Erhaltung und         vorhanden sind. Nach diesem Verständnis kann
traditional knowledge). Das Instrument      nachhaltige Nutzung der Sortenvielfalt        sich der Begriff deshalb nur auf genetisches Mate-
des ABS soll dem Schutz der biologi-        zurückfliesst.11, 12                          rial beziehen, das physisch Gene enthalten muss.
schen Vielfalt als dem zentralen Ziel der                                                 Daraus folgt, dass digitale Sequenzinformationen
CBD dienen.7 Die Bereitsteller müssen       Vergleichbar setzt auch die Weltge-           keine genetische Ressource im Sinne der CBD und
deshalb den Vorteilsausgleich als «Hü-      sundheitsorganisation (WHO) mit               des Nagoya-Protokolls sind und deshalb nicht der
ter der Biodiversität» zur nachhaltigen     Blick auf die Bekämpfung von Pan-             Pflicht zum Vorteilsausgleich unterstehen. So auch
Nutzung und zur Erhaltung der biolo-        demien auf eine Access and Benefit            z.B. in der Submission der Schweiz an die CBD
gischen Vielfalt (im weitesten Sinne)       Sharing-Regelung für (digitale) ge-           vom 8. September 2017: «Government of Swit-
einsetzen. Umfang und Tempo, wie ge-        netische Informationen über Influen-          zerland Submission in response to CBD Notifi-
netische Informationen heute erfasst        zaviren.13 Damit soll ein rascher und         cation 2017-037 – Digital Sequence Information
und digitalisiert werden können, und        einfacher Zugang zu den genetischen           on Genetic Resources». Darin wird die Position           5
Informationen gewährleistet werden.              vertreten, dass ein Vorteilsausgleich zwischen            in Sharm El Sheik, Ägypten von November 2018
Im Gegenzug sollen jene Länder, die die          Nutzern und Anbietern aufgrund von Vereinba-              zu «Digital sequence information on genetic
Informationen zur Verfügung stellen,             rungen (sog. Mutally Agreed Terms MAT) bei der            resources».
einen raschen und fairen Zugang zu               Verwendung von digitalen Sequenzinformatio-          16   Siehe hierzu etwa: netzwerkforum zur biodiver-
den auf der Basis dieser Informationen           nen nur dann zu leisten ist, wenn die Vorteile der        sitätsforschung deutschland (NeFo), Digitale
entwickelten Impfstoffen, Diagnostik-            DSI auf der Basis einer (physischen) genetischen          Sequenzinformation (DSI), Faktenblatt zur Vor-
werkzeugen und Therapien erhalten.               Ressource erzielt werden. Eine andere rechtliche          bereitung auf SBSTTA-22, 28. Juni 2018. Darin
Um diese Ziele erreichen, wird ein               Auslegung argumentiert, dass auch wenn CBD und            wird aufgelistet, wie im aktuellen SBSTTA-22-Do-
multilateraler Ansatz verfolgt. Darun-           Nagoya-Protokoll materielle genetische Ressour-           kument DSI mit ganz unterschiedlichen Themen
ter versteht man Vereinbarungen, die             cen im Fokus hatten, es bei der Nutzung dieser            und Datentypen in Verbindung gebracht wird.
nicht einzeln zwischen Staaten und               Ressourcen immer nur um die Information geht,
Nutzenden bilateral ausgehandelt                 die daraus auf der Grundlage des genetischen
werden, sondern zwischen mehreren                Codes gewonnen wird.
Staaten oder Völkerrechtssubjekten          9    International Treaty on Plant Genetic Resources
gemeinschaftlich und prinzipiell gleich-         for Food and Agriculture.
berechtigt geschlossen werden und für       10   Patentierungen an pflanzengenetischen Ressour-
alle gleichermassen Geltung entfalten.           cen aus dem multilateralen System schliesst Art.
                                                 12.3 d) des FAO Plant Treaty zwar nicht grundsätz-
2.2 Fehlende rechtliche                          lich aus, aber er knüpft sie an Bedingungen. Der
Definition                                       Zugang wird nur gewährt, wenn die Empfänger
                                                 keine Rechte beanspruchen, die den erleichterten
Die Diskussion innerhalb der CBD und             Zugang zu den pflanzengenetischen Ressourcen
dem Nagoya-Protokoll wird unter dem              für Ernährung und Landwirtschaft, die aus dem
Begriff «digitale Sequenzinformationen           multilateralen System stammen, einschränken.
über genetische Ressourcen»14 (DSI)              (Für weitere Informationen zur Auslegung der Be-
geführt. Die Parteien konnten sich auf           stimmung siehe S. 92 IUCN Explanatory Guides
eine verbindliche rechtliche Definition          zum Treaty.)
bisher jedoch nicht verständigen. Einig     11   Das System der standardisierten Bedingungen
ist man sich nur darin, dass der Begriff         des Saatgutvertrags für Nutzung und Vorteilsaus-
für die Umsetzung der CBD-Ziele der              gleich weist noch zahlreiche Schwächen auf: Viele
Klärung bedarf.15                                Sammlungen genetischer Ressourcen wurden
                                                 noch nicht in das System integriert, über wider-
Auch die an der Diskussion beteilig-             rechtlich erteilte Patente besteht keine Kontrolle
ten Akteure verwenden den Begriff                und Pflichtzahlungen in den Fonds erfolgtem bis-
nicht einheitlich. Er wird darüber hi-           her nur sehr wenige. Im September 2013 beschloss
naus in unterschiedlichen Kontexten              das Lenkungsorgan deshalb, mit Verhandlungen
für verschiedene Datentypen heran-               zur Reform des multilateralen Systems zu begin-
gezogen. Teilweise geht es allein um             nen. Diese Verhandlungen dauern bis heute an.
die DNA-Sequenz, mitunter werden            12   Zur Diskussion um eine Weiterentwicklung mul-
zusätzlich Funktionen und Verhal-                tilateraler Ansätze im Rahmen des FAO-Saat-
tensdaten genannt, bisweilen aber                gutvertrags siehe Sylvain Aubry: The Future of
auch Informationen über ökologische              Digital Sequence Information for Plant Genetic
Zusammenhänge oder Modalitäten                   Resources for Food and Agriculture, Frontiers in
der Nutzung.16 Dieses Nutzungswissen             Plant Science, Vol 10, Article 1046, August 2019.
wird im Nagoya-Protokoll, wenn es sich      13   WHO Pandemic Influenza Preparedness Frame-
um gemeinschaftliches Wissen indi-               work (PIP), einstimmig verabschiedet an der Welt-
gener Bevölkerungsgruppen handelt,               gesundheitsversammlung im Mai 2011.
als traditionelles Wissen und kultureller   14   Engl. digital sequence information on genetic
Wissensschatz über die Nutzung von               resources.
genetischen Ressourcen erfasst.             15   Siehe Entscheid 14/20 der CBD-Parteienkonferenz
                                                                                                                                                              6
3               Was sind digitale genetische
                Informationen?

Angesichts des Umstands, dass der             Informationsgehalt. Ohne dieses Wis-        17   Paradigmatisch sei auf eine Formulierung von
Begriff der digitalen DNA-Sequenz-            sen ist nicht einmal zu ermitteln, welche        Francis Crick verwiesen: «In its simplest form
information derzeit nicht präzise defi-       Abschnitte der DNA eine spezifische              [the sequence hypothesis] assumes that the spe-
niert ist, ist es hilfreich, bei dem weiter   Information tragen. Um handlungsre-              cificity of a piece of nucleic acid is expressed
verbreiteten Begriff der «genetischen         levante Informationen zu generieren,             solely by the sequence of its bases, and that
Informationen» anzusetzen.                    ist es notwendig, funktionelle Elemente          this sequence is a (simple) code for the amino
                                              des Genoms bzw. des Transkriptoms                acid sequence of a particular protein. [The cen-
Seit den 50er Jahren werden in Bezug          zu identifizieren und deren Funktion zu          tral dogma] states that once ‹information› has
auf das Wirken der Gene Begriffe wie          charakterisieren. Der im biologischen            passed into protein it cannot get out again. In
«Information», «Code», «Transkribie-          Prozess wirkende biologische «Code»              more detail, the transfer of information from
ren» oder «Sprache» benutzt. Der Be-          muss in einer menschlichen Sprache               nucleic acid to nucleic acid, or from nucleic acid
griff der genetischen Information be-         wiedergegeben werden. Auf die Wei-               to protein may be possible, but transfer from
zieht sich auf jene «Information», die in     tergabe von Wissen über die Aktivität            protein to protein, or from protein to nucleic acid
Form von DNA-Molekülen (oder selte-           von Genen bezieht sich das zweite Ver-           is impossible. Information means here the pre-
ner RNA-Molekülen) gespeichert ist.17         ständnis der genetischen Information.            cise determination of sequence, either of bases
Aber auch epigenetische Veränderun-           Medium der Information ist hier nicht            in the nucleic acid or of amino acid residues in
gen der DNA, die bei neuen Methoden           mehr die DNA oder RNA, sondern eine              the protein.» (Crick, Francis, On Protein Synthe-
des Sequenzierens mit erfasst werden,         menschliche Sprache, mit der über ei-            sis, Symposium of the Society of Experimental
sind solche genetische «Informatio-           nen biologischen Prozess gesprochen              Biology, 12, 1958: 152 – 153.
nen». Diese «Informationen» sind ein          wird. Wie in der üblichen Verwendung        18   Vgl Christina Brandt, Metapher und Experiment.
unabhängig von Menschen bestehen-             des Begriffs in der Humangenetik und             Von der Virusforschung zum genetischen Code.
des natürliches Phänomen. Inwieweit           Medizinethik bezieht sich «genetische            Göttingen: Wallstein Verlag 2004 und allgemein
es angebracht ist, hierfür den Begriff        Information» auf alle Arten von Infor-           zur Bedeutung genetischer Information: Elisa-
der Information zu verwenden, oder            mationen, die Auskunft über die gene-            beth Hildt & Lasslo Kovasc, Was bedeutet ge-
ob eine irreführende Metapher18 einge-        tische Disposition von Menschen und              netische Information?, Berlin: De Gruyter 2009.
führt wurde, kann hier nicht diskutiert       anderen Organismen geben.
werden. Nimmt man diese übliche Re-
deweise, werden genetische Informa-           Man könnte einwenden, dass es stets
tionen jedenfalls in einem spezifischen       um dieselbe Information geht und die
«Code», einer spezifischen Anordnung          biologische genetische Information
von je drei Nukleotiden, vermittelt. Die      bei der Übertragung in Zeichen (z.B.
Nukleotide der DNA und RNA sind die           CTG) schlicht in menschliche Spra-
Träger der Information, die Medien der        che übersetzt wird. Aber dies setzte
Informationsübertragung. Da andere            voraus, dass hier nicht rein im meta-
DNA-Abschnitte und ihre epigeneti-            phorischen Sinne von Information ge-
schen Modifikationen für die Regulati-        sprochen wird. Zudem müsste diese
on des Kopiervorgangs verantwortlich          Bedeutung in menschliche Sprache
sind, geht es – auch wenn die Rede von        übersetzt werden können. Beides sind
«Code» dies nahelegt – nicht allein um        anspruchsvolle Thesen, die hier nicht
Syntax (d.h. die Anordnung der Zei-           vertreten werden sollen. Es ist sinnvol-
chen), sondern auch um Semantik (d.h.         ler, davon auszugehen, dass der Begriff
die Bedeutung dieser Zeichen). Für das        der genetischen Information auf zwei
Genom als Ganzes wird die Metapher            unterschiedliche Weisen verwendet
des «Buchs des Lebens» verwendet.             wird. Ein Verständnis bezieht sich auf
                                              einen in biologischen Prozessen wir-
Für die menschliche Praxis ist der im         kenden, unabhängig von Menschen
biologischen Prozess wirkende «Code»          in der Welt bestehenden «Code», das
nur dann relevant, wenn Wissen über           zweite auf menschliches Wissen über
das Wirken der Gene vorliegt. Ohne            die Aktivitäten der Gene, das sprach-
diese Kenntnis ist die Sequenz der            lich gefasst und anderen Menschen
DNA oder RNA für Menschen ohne                vermittelt werden kann.                                                                                7
Wenn man genetische Information           als natürliches Phänomen, wird durch
als natürliches Phänomen von jener        die Digitalisierung ein noch nicht ent-
als menschliches Wissen unterschei-       schlüsselter «Code» in ein neues Medi-
det, kann auch der Begriff der digita-    um übertragen. Dies ist das erste mög-
len genetischen Information (und der      liche Verständnis digitaler genetischer
digitalen Sequenzinformation) weiter      Informationen.
geklärt werden.
                                          Wenn man genetische Informationen
Nimmt man genetische Information als      im praktischen Sinn im Blick hat, be-
natürliches Phänomen, ist naheliegend,    darf es neben der Sequenz notwendig
dass sich der Begriff der digitalen ge-   Wissen über das Wirken der Gene. Die-
netischen Informationen auf die digi-     ses reicht letztlich von Kenntnissen zu
tal wiedergegebene Nukleotidsequenz       Genexpression und Funktionen, über
bezieht. Es reichte aus, die DNA eines    Daten zum Phänotyp bis hin zu – für
Organismus zu sequenzieren, die sich      das Verständnis des Wirkens der Gene
ergebende Folge der Nukleotide als        – relevantem Wissen über ökologische
Zeichenfolge in digitale Formate um-      Zusammenhänge und Modalitäten der
zuwandeln und in einem digitaltech-       Nutzung. Der Begriff der digitalen gene-
nischen System zu verarbeiten. Dies       tischen Informationen umfasst sowohl
heisst aber nichts anderes, als dass      eine Digitalisierung des biologischen
man die Nukleotidsequenz in ein an-       «Codes» als auch die Digitalisierung
deres Medium kopiert und damit den        des in sprachlicher Form vorliegenden
«Code», die Information, mit kopiert.     Wissens über die Funktion des Gens.
Dies ist so, als ob man vor der Ent-      Hier werden Daten digitalisiert und ge-
schlüsselung der ägyptischen Hiero-       speichert, die für Menschen direkt eine
glyphen die Inschrift des Rosettasteins   praktische Bedeutung haben können.
abgezeichnet hätte. Es wäre zu dieser
Zeit bekannt, dass in der Bilderfolge     Wechselt man von «digitalen Genin-
Informationen verborgen liegen. Aber      formationen» zum Wort «digitale Se-
niemand weiss, ob jedes Bild eine In-     quenzinformation», ändert sich nichts.
formation trägt oder ob (und wenn ja,     Entweder geht es um die in der (DNA-
welche) spezifische Zeichenfolgen eine    oder RNA)-Sequenz gespeicherte und
Bedeutung haben. Geschweige, dass         durch diese vermittelte Information,
bekannt ist, welche Information kopiert   also um genetische Information als
wurde. Man hat schlicht einen noch        natürliches Phänomen. Oder aber es
verschlüsselten Text in einem neuen       geht um das Wissen bezüglich des Wir-
Medium repräsentiert. Buchabbil-          kens der Gene oder der DNA-Sequenz,
dungen der kohau rongorongo-Tafeln        also um genetische Informationen im
kommt derzeit genau dieser Status zu.     praktischen Sinne.
Denn man hat die Schrift der Osterin-
seln noch nicht entschlüsselt. Solange    Welche Bedeutung hat dies für ethische
Gene weder identifiziert noch charak-     Überlegungen im Allgemeinen und für
terisiert sind, werden durch die Digi-    den im Nagoya-Protokoll festgehalte-
talisierung der DNA-Sequenz für Men-      nen Gedanken des ABS im Besonde-
schen gegenwärtig unverständliche         ren? Die Kommission beginnt zunächst
Informationen mitübertragen. Selbst       bei der spezifischen Frage, um in der
die Identifikation der Gene allein wür-   Diskussion diese allgemeinen Punkte
de noch keinen Unterschied machen,        zu klären.
sofern man noch nicht versteht, welche
Funktion die betreffenden Gene haben.
Geht es um genetische Informationen                                                  8
4             Digitale genetische Informa-
              tionen und die Idee des Access
              und Benefit Sharing

4.1 Das Nagoya-Protokoll und              Gerechtigkeitsideen verstehen kann.         19   Vgl. Otto Schäfer (2020).
die Diskussion um digitale Se-            Die Kommission argumentiert im Fol-         20   Neben der ABS-Regelung sieht die CBD wei-
quenzinformationen                        genden im Wissen, dass trotz seiner              tere Instrumente vor, um ihre Schutzziele, den
                                          Unzulänglichkeiten das Protokoll auch            Erhalt der Biodiversität und ihre nachhaltige
Ziel der bilateralen ABS-Regelung des     aus ethischer Sicht mangels derzeit              Nutzung, zu erreichen: die Identifizierung und
Nagoya-Protokolls ist, die vielfältigen   realistischer Alternativen als politi-           Überwachung der Biodiversität, ihren Schutz
und unterschiedlichen Interessen an       sche Wirklichkeit anzuerkennen ist.              «in situ», d.h. vor Ort im Ökosystem wie auch
der Nutzung von genetischen Ressour-      In der gegenwärtigen Diskussion zu               «ex situ» beispielsweise durch Genbanken und
cen mit den Schutzzielen der CBD in       den digitalen Sequenzinformationen               andere Möglichkeiten zur Speicherung und zum
Einklang zu bringen. Biodiversitätsrei-   wird auch nicht das Nagoya-Protokoll             Erhalt von genetischen Informationen. Weitere
che Länder entscheiden selber darüber,    selbst in Frage gestellt, sondern es             wichtige Elemente sind die Unterstützung des
ob und wie sie Zugang zu den gene-        wird diskutiert, ob «digitale Sequenz-           Technologietransfers, der wissenschaftlichen
tischen Ressourcen gewähren. Dies         informationen» Gegenstand der ABS-               Zusammenarbeit und des Informationsaustau-
setzt die Verfügungsrechte souveräner     Regelung sind. Ähnliche Diskussionen             sches.
Staaten über die genetischen Ressour-     zu ABS-Regimes für digitale genetische
cen auf ihrem Territorium voraus.19 Als   Informationen finden, wie einleitend
Gegenleistung für den Zugang handeln      erwähnt, auch im Rahmen des FAO-
die Staaten mit den Nutzenden einen       Saatgutvertrages statt.
Vorteilsausgleich aus. Darin wird fest-
gelegt, wie die Nutzenden die Bereit-     Für den Ausschluss digitaler Sequen-
stellerländer an einem kommerziellen      zinformation spreche, so die eine Po-
Vorteil beteiligen, der ihnen aus der     sition, dass im Nagoya-Protokoll allein
Verwertung der genetischen Ressour-       von genetischen Ressourcen die Rede
cen erwächst.20                           ist und damit materielle Güter gemeint
                                          seien, aber keine «immateriellen» (wie
Eine gerechtere Verteilung im Sinne       etwa digitale Sequenzinformationen).
einer Entwicklungshilfe für Länder        Ferner wird betont, dass es zum Nutzen
des «Südens» war kein vordergründi-       aller sei, DSI nicht dem ABS zu unter-
ges Ziel der Regelung. Im Fokus steht     werfen. Fielen diese nämlich auch unter
wie gesagt der Biodiversitätsschutz.      das ABS-Regime, werde die Forschung,
Die Herkunftsländer werden denn in        die wissenschaftliche Zusammenarbeit
ihren souveränen Rechten auch in-         und die wissenschaftliche Publikati-
sofern eingeschränkt, als sie einen       onstätigkeit beeinträchtigt. Der freie
im Rahmen des ABS erhaltenen Vor-         Austausch von DSI sei darüber hinaus
teilsausgleich für den Schutz und die     unerlässlich für die Forschung zur bio-
nachhaltige Nutzung ihrer Biodiversität   logischen Vielfalt, die wissenschaftliche
einsetzen müssen. Allerdings dürfen       und technische Ausbildung sowie den
die Ausgleichsleistungen auch für an-     Technologietransfer und um die Zusam-
dere Zwecke als für die Erhaltung der     menarbeit und den Wissensaufbau zu
Biodiversität im engeren Sinne einge-     fördern. Nicht nur vonseiten der priva-
setzt werden, zum Beispiel für Projekte   ten, sondern auch der öffentlichen For-
der Armutsbekämpfung.                     schung wird befürchtet, dass eine ABS-
                                          Regelung für DSI mit hohen finanziellen
Internationale Regimes wie das Na-        und administrativen Hürden verbunden
goya-Protokoll sind Ergebnis von          und die Überwachung und Kontrolle der
Aushandlungsprozessen, in denen           Einhaltung der Regelungen äusserst
vielfältige politische und ökonomische    aufwendig oder gar unmöglich sei. Dies
Interessen austariert werden. Neben       mache einen Vorteilsausgleich für DSI
diesen Partikularinteressen spielen in    nicht praktikabel und unterwandere im
der Regel auch Aspekte eine Rolle, die    Ergebnis auch die übergeordneten Ziele
man als Ausdruck von Fairness- und        der CBD.                                                                                          9
Die entgegengesetzte These lautet,          Nagoya-Protokoll nur um materielle         21   Dem Einwand, dass damit der möglichst unge-
dass gerade die übergeordneten Zie-         Güter geht.                                     hinderte Zugang zu den digitalen genetischen
le des Nagoya-Protokolls es erfordern,                                                      Informationen erschwert werde, könnte im Na-
dass auch DSI dem ABS-Regime unter-         Erstens bezieht sich der Begriff der ge-        goya-Protokoll mit entsprechenden Ausnahme-
liegen. Würde es zugelassen, dieses         netischen Ressource auf biologisches            bestimmungen für Forschung begegnet werden,
Regime durch Screening und Digita-          Material, das Erbeinheiten enthält. Ge-         die dem Gemeinwohl verpflichtet ist.
lisierung genetischer Ressourcen zu         netische Ressourcen haben damit, so
umgehen, würde es schlicht bedeu-           auch die Redeweise des Nagoya-Pro-
tungslos. Weder würde die bisherige         tokolls, zwei Bestandteile: biochemi-
Leistung der Menschen aus den Her-          sche und genetische. Es ist nun ebenso
kunftsländern anerkannt, noch, wie im       wenig strittig, dass die DNA als Ganzes
Protokoll zugesagt, deren heutige und       eine materielle Entität ist, wie bezwei-
künftige Funktion als Bewahrer der Bio-     felt wird, dass dies bei den einzelnen
diversität honoriert. Entscheidend sei,     Nukletoiden der Fall ist. Zu prüfen ist
dass die digitalen Informationen aus        die Einordnung von Genen oder Erb-
genetischen Ressourcen gewonnen             einheiten. Denn man kann nicht von
wurden und dass diese aus biodiver-         Genen oder Erbeinheiten sprechen,
sitätsreichen Ländern stammen. DSI          ohne damit als natürliches Phänomen
fielen nach dieser These klar in den Gel-   verstandene genetische Informationen
tungsbereich des Nagoya-Protokolls.21       mit zu meinen. Informationen sind aber
                                            allgemein keine materiellen Entitäten.
4.2 Zum Zusammenhang zwischen               Beim Morsecode und anderen Formen
genetischen Ressourcen und                  menschlicher Information ist klar, dass
genetischen Informationen                   die übertragene Information (etwa
                                            «SOS») nichts Materielles ist. Genauso
Einigkeit besteht zwischen DSI-Ein-         gilt dies für die Inschrift des Rosetta-
schluss- und Ausschlussbefürworten,         steins (Gekürzt: «Ptolemaios V. ist ein
dass sich die Rede von genetischen Res-     Gott und wohlwollender Herrscher.»)
sourcen auf biologisches Material be-       Auch die detaillierten Warnrufe etwa
zieht, welches funktionelle Erbeinheiten    der Schwarzstirn-Springaffen tragen
enthält. Befürworter eines Ausschlus-       eine Bedeutung in sich und sind als
ses digitaler genetischer Informationen     Informationen («Über uns ist ein Greif-
argumentieren wie beschrieben weiter,       vogel») «immateriell». Aber wie sieht es
dass sich das Nagoya-Protokoll damit        bei als natürliches Phänomen verstan-
ausschliesslich auf materielle Entitäten    denen genetischen Informationen aus?
bezieht und nichts «Immaterielles» wie
DSI gemeint sein kann.                      Erbeinheiten oder Gene sind DNA-Ab-
                                            schnitte, die auf Grund einer spezifi-
Aber ist dies korrekt? Um dies zu prü-      schen Sequenz von Nukleotiden Träger
fen, muss näher angeschaut werden,          einer konkreten «Information» sind und
auf was sich die Rede von genetischen       dadurch eine funktionelle Bedeutung
Ressourcen bezieht, ob auf rein mate-       haben. Genauso wie im Morsecode die
rielle Entitäten oder auch auf «Immate-     Zeichenfolge «drei kurz, drei lang, drei
rielles». Was eine materielle oder eine     kurz» über eine Notlage informiert, hat
«immaterielle» Entität ist, ist auch eine   im biologischen Prozess die spezifische
philosophische Frage. Deshalb wählt         Sequenz von Nukleotiden – sagen wir
die Kommission bewusst einen philo-         «AAC TGA ACT» – eine «Bedeutung».
sophischen Zugang.                          Bei der Transkription vom Quell- zu ei-
                                            nem komplementären RNA-Strang än-
Zwei Argumente sprechen ge-                 dert sich zwar die materielle Beschaf-
gen eine Auslegung, dass es im              fenheit der Sequenz, aber zugleich                                                             10
wird eine spezifische Sequenz, eine        geht um den potentiellen Wert, den die
«Information», von einem Medium            Information haben können, oder um
auf ein anderes übertragen. Ist die Me-    deren real hohen Wert, den wir bereits
taphorik von «Information», «Code»,        kennen.
«Transkribieren», «Matrix» usw. sinn-
voll, geht es bei dieser «Information»     Spricht das Protokoll von der Bedeu-
um etwas «Immaterielles». Morsezei-        tung genetischer Ressourcen, bezieht
chen wie Erbeinheiten eint dann, dass      es sich nicht auf die Materie, sondern
es einmal um materielle Entitäten geht     auf die Informationen. Auch hier glei-
(einer spezifischen Sequenz etwa von       chen genetische Ressourcen anderen
elektromagnetischen Wellen bzw. von        Informationsträgern. Nehmen wir er-
Nukleotiden), zugleich aber etwas «Im-     neut den Rosettastein zur Illustration.
materielles» (die Bedeutung der spezi-     Materiell betrachtet handelt es sich
fischen Sequenz) übertragen wird. Die      um ein 762 kg schweres Stück Gran-
Metaphorik könnte irreführend oder         odiorit. Ein solches Gesteinsstück hat
falsch sein. Aber wenn sie dies wäre,      einen Preis und könnte unterschied-
müsste die Genetik von Grund auf neu       lich genutzt werden. Allerdings kommt
gedacht werden. Die Molekulargenetik       dem Rosettastein dadurch besondere
hätte sich dann durch ihre Metaphorik      Bedeutung und besonderer Nutzen zu,
auf einen Irrweg begeben.                  weil er zugleich Träger von Informati-
                                           on ist. Er vermittelt in drei Inschriften
Zweitens kommt genetischen Res-            Informationen für Priester, Beamte
sourcen laut dem Nagoya-Protokoll          und Herrscher. Sein Nutzen als Infor-
ein enormer Nutzen zu. In der Präam-       mationsträger ist grösser als jener der
bel wird nicht weniger betont als die      Materie selbst. Wenn wir heute vom
Bedeutung genetischer Ressourcen           Rosettastein sprechen, beziehen wir
«für die Ernährungssicherheit, die         uns stets auf den Informationsträger.
öffentliche Gesundheit, die Erhaltung      Allein dieser hat eine grosse Bedeu-
der biologischen Vielfalt und die Min-     tung und hat Nutzen mit sich gebracht.
derung des Klimawandels sowie die          Im selben Sinne sind bei genetischen
Anpassung an ihn». Worin liegt aber        Ressourcen der Nutzen und die Be-
dieser in der Diskussion unbestrittene     deutung des biologischen Materials
hohe instrumentelle Wert genetischer       höchst beschränkt. Die Information
Ressourcen begründet, in der mate-         ist entscheidend.
riellen Entität oder der Information?
Unabhängig von den genetischen             Wenn von Nutzen gesprochen wird,
Informationen hätte das biologische        kann es aber nicht allein um genetische
Material allein kaum einen solch gro-      Informationen als natürliches Phäno-
ssen instrumentellen Wert. Es hat ei-      men gehen. Es muss um genetische
nen instrumentellen Wert, aber egal, an    Informationen im praktischen Sinne
welche Verwendung man denkt, hat die       gehen. Denn nur durch das Verständ-
Materie nur in Ausnahmefällen einen        nis des Wirkens von Genen und durch
hohen Wert, etwa als seltener materi-      Wissen entsteht ein Nutzen.
eller Bestandteil von Medikamenten.
In der Allgemeinheit lässt sich dies je-   Genauso wie bei digitalen genetischen
doch nicht sagen, schon gar nicht, dass    Informationen könnte man einwenden,
diese biochemischen Substanzen für         dass das Protokoll an keiner Stelle von
die oben genannten Schutzziele zentral     genetischen Informationen spricht.
sein könnten. Wenn genetischen Res-        Dies ist zwar richtig, aber die Rede von
sourcen ein solcher Wert zugesprochen      Erbeinheiten umfasst notwendig ge-
wird, dann als Informationsträger. Es      netische Informationen als natürliches      11
Phänomen. Durch die Bedeutung des          Eventuell gibt es spezifische morali-       22   Wird eine Information zum Beispiel auf dem eige-
Nutzens der genetischen Informatio-        sche Regeln, die das Medium betref-              nen Körper tätowiert, gelten andere moralische
nen wird zudem notwendig auf gene-         fen, 22 aber die auf die Informationen           Regeln für den Zugang zum Informationsträger,
tische Informationen im praktischen        bezogenen moralischen Vorgaben                   als wenn dieselbe Information an die Wand einer
Sinne verwiesen. Beide sind etwas          bleiben bei Übersetzung oder Wech-               Telefonzelle geschrieben wurde.
«Immaterielles». Aber auch wenn die        sel des Mediums dieselben. Ist zum          23   Es gibt historische Fälle, wo genau dies nicht
Rede von einer genetischen Ressource       Beispiel eine Nachricht geheim, dann             berücksichtigt wurde und die im Nachhinein
genetische Information impliziert und      ändert sich der Status der Geheimhal-            absurd wirken. Informatiker werden an Phil Zim-
selbst wenn die Bedeutung und der          tungspflicht nicht etwa dadurch, dass            mermann und die E-Mail-Verschlüsselungssoft-
Nutzen der genetischen Ressourcen          die Nachricht aus dem Deutschen ins              ware PGP («Pretty Good Privacy») denken. Die
in den genetischen Informationen be-       Altgriechische übersetzt wird. Ebenso            US-Zollbehörden waren der Ansicht, dass der
gründet sind, mag man weiterhin ein-       ändert das benutzte Medium nichts an             Export der Software verboten war. Um die Ex-
wenden, dass es im Protokoll allein um     der Geheimhaltungspflicht. Ist die In-           portbeschränkung zu umgehen, veröffentlichte
genetische Information geht, nicht um      formation geheim, ist sie geheim, egal,          Phil Zimmermann den vollständigen Quellcode
digitale. Digitale genetische Informati-   ob sie mündlich, über Rauchzeichen,              in einem Buch «PGP Source Code und Internals»,
onen hätten einen anderen Status und       über Telefon oder über Email kommuni-            welches frei exportiert werden konnte. Aus dem
seien davon zu unterscheiden.              ziert wird. Dies deshalb, weil sich diese        abgetippten Code entstand dann eine internati-
                                           Pflicht auf die Information bezieht und          onal verfügbare Software.
4.3 Welchen Unterschied macht              nicht auf die Sprache oder das Medium.
es, dass es sich um digitale In-           Bezüglich ein und derselben Informa-
formationen handelt?                       tion bestehen dieselben moralischen
                                           Verpflichtungen, egal durch welche
Ist die Digitalisierung von auf Grundla-   Sprache oder durch welches Medium
ge materieller genetischer Ressourcen      sie vermittelt wird. Ist diese These
gewonnenen Informationen insofern          korrekt, dann folgt daraus aus ethi-
moralisch relevant, als sich durch die     scher Sicht, dass in unterschiedlichen
Digitalisierung der Status der geneti-     Sprachen oder durch unterschiedliche
schen Information ändert? Diese Frage      Medien wiedergegebene genetische In-
ist zu verneinen. Digitalisierung bedeu-   formationen gleich zu behandeln sind.
tet, dass eine Information in eine ande-   Die Digitalisierung der Information ist
re Sprache, einen binären Code, über-      moralisch irrelevant.
tragen und durch ein anderes Medium
vermittelt wird. Wird eine Information     Eindeutig ist dies für genetische Infor-
durch ein anderes Medium übertragen,       mationen als menschliches Wissen.
bleibt sie doch dieselbe Nachricht. Die    Diese werden durch die Digitalisierung
Information, dass die Bundesräte wie-      nur von einer menschlichen Sprache
dergewählt wurden, ändert sich nicht       in eine andere übersetzt, und zudem
dadurch, dass jemand sie per Telefon,      wird ein anderes Medium verwendet.
Email oder Website über das Internet       Die Information bleibt jedoch dieselbe,
kommuniziert. Stets wird mitgeteilt,       was auch bedeutet, dass die Digitali-
dass die Bundesräte wiedergewählt          sierung deren ethischen Status nicht
wurden. Genauso ändert sich diese          ändert. Rechtlich betrachtet folgt da-
Information nicht dadurch, dass sie        raus, dass sie demselben rechtlichen
ins Spanische oder Englische über-         Regime unterstehen.23
setzt wird. Oder genauer gesagt: eine
Übersetzung zielt immer darauf, dass       Bezieht man sich dagegen auf gene-
die Information dieselbe bleibt. Wird in   tische Informationen als natürliches
der spanischen oder englischen Über-       Phänomen, wird ein noch nicht ver-
setzung nicht vermittelt, dass die Bun-    standener biologischer «Code» digital
desräte wiedergewählt wurden, liegt        wiedergegeben. Aber auch dadurch
ein Übersetzungsfehler vor.                ändert sich nichts am moralischen                                                                   12
Status des genetischen «Codes». Denn       nicht in der Natur bestehen. Es mag
wiederum sind Medium und Format            gute Gründe geben, dass designte und
der Wiedergabe irrelevant. Es bleibt       natürliche genetische Information mo-
derselbe «Code». Nehmen wir zur Il-        ralisch unterschiedlich bewertet wer-
lustration erneut den Rosettastein und     den. Aber dies ändert nichts an dem
gehen wir davon aus, dass bekannt ist,     hier relevanten allgemeinen Punkt,
dass die Hieroglyphen Zeichen sind,        dass irrelevant ist, dass die Informati-
und dass auch identifiziert wurde, wel-    on digital vorliegt. Wird eine designte
che Abbildung(en) ein Zeichen sind.        genetische Information benutzt, um
Auch dann gilt: Durch eine Fotografie      materiell Nukleotide zu erzeugen, so
des Rosettasteins ändert sich zwar das     ändert sich dadurch nichts am morali-
Format, in der die Zeichen wiederge-       schen Status der Information. Erwächst
geben werden. Aber ihr moralischer         durch das Designen einer genetischen
und rechtlicher Status hat sich nicht      Information ein geistiges Eigentum an
geändert. Gehört der materielle Roset-     dieser Information, so bleibt das geis-
tastein dem Land A und hat dieses Land     tige Eigentum an der Information auch
A einen legitimen Anspruch darauf,         dann bestehen, wenn diese materiell
dass die Information nicht entschlüs-      in biologischem Material gespeichert
selt wird, so verbietet dieses Geheim-     ist. Es ist stets dieselbe Information.
haltungsgebot auch, die Fotographie        Genauso wenig wie sich durch die Digi-
zur Entschlüsselung der Information        talisierung der moralische Status einer
zu nutzen.                                 Information ändert, so wenig ändert
                                           er sich durch die «Materialisierung».
Dies heisst in Bezug auf das ABS: Ist
das Land A Eigner einer genetischen        Es wäre ein Fehlschluss, aus dem (mög-
Ressource, so hat es ein Anrecht auf       licherweise) spezifischen moralischen
einen Vorteilsausgleich, wenn andere       Status von im Rahmen der Syntheti-
im Land B auf Grundlage dieser als         schen Biologie erzeugten digitalen ge-
natürliches Phänomen verstandenen          netischen Informationen zu schliessen,
genetischen Informationen einen kom-       dass alle digitalen genetischen Infor-
merziellen Gewinn erzielen. Dabei ist      mationen denselben Status haben.
irrelevant, ob die Sequenz in natürli-     Relevant ist nicht die Digitalisierung,
cher Form vorliegt oder digitalisiert.     sondern (allenfalls) der Umstand, dass
Denn nicht der Informationsträger ist      hier Sequenzen erzeugt werden, die so
entscheidend, sondern die Information.     in der Natur nicht vorkommen bzw. de-
Wird Wissen benutzt, das auf Grund-        ren natürliches Vorkommen zumindest
lage und in Bezug auf genetische Res-      nicht bekannt ist. Spezifisch heisst dies
sourcen gewonnen wurde, ist ebenfalls      aber, dass die Erzeugung und Nutzung
irrelevant, dass dieses Wissen in digi-    solcher – nicht auf natürlichen Vorbil-
taler Form vorliegt.                       dern aufbauenden – Sequenzen nicht
                                           dem Nagoya-Protokoll unterliegen.
Man mag einwenden, ein moralisch           Denn dieses bezieht sich auf natürlich
relevanter Unterschied bestehe dann,       vorkommende Ressourcen.
wenn es um jene digitalen genetischen
Informationen geht, die in der Synthe-     4.4 Sollten digitale genetische
tischen Biologie eine Rolle spielen.       Informationen nicht dennoch
Denn hier würde ja nicht eine gene-        ausgeklammert werden?
tische Information digitalisiert, die in
natürlicher DNA oder RNA vorliegt bzw.     Ausser auf Partikularinteressen beru-
sich auf diese bezieht. Vielmehr werden    hende Argumente werden auch ethi-
Nukleotidfolgen digital designt, die so    sche Argumente vorgebracht, die dafür       13
sprächen, digitale genetische (oder         Partikularinteressen, sondern es stellt
Sequenz-)Informationen vom ABS-             auch den Versuch dar, zwei ethische
Regime auszunehmen. Ein solcher             Forderungen in Einklang zu bringen. Es
Ausschluss verbesserte, so das bereits      soll der bestmögliche Nutzen mit Blick
in der Einleitung vorgebrachte konse-       auf das Erreichen von Schutzzielen er-
quentialistische Argument, die Situati-     reicht werden und zugleich sollen Soli-
on aller, einschliesslich der Menschen      darität und Gerechtigkeit verwirklicht
biodiversitätsreicher Länder.               werden. Wie andere internationale Ver-
                                            träge verkörpert das Nagoya-Protokoll
Es könnte sein, dass mit dem Nago-          einen ethischen Kompromiss zwischen
ya-Protokoll nicht die bestmögliche         (teils) entgegengesetzten ethischen
Lösung gefunden wurde, um die In-           Forderungen.
teressen an der Nutzung genetischer
Ressourcen mit den Zielen des Biodi-        Durch die Digitalisierung der gene-
versitätsschutzes auszubalancieren.         tischen Informationen mag der im
Geht man aber von der Geltung des           Nagoya-Protokoll betonte Nutzen
Nagoya-Protokolls aus, und dies tun         noch grösser geworden sein und noch
auch die Befürworter eines DSI-Aus-         schneller erreicht werden können. Dass
schlusses, dann kann man kein rein          der Nutzen der genetischen Ressour-
konsequentialistisches       Argument       cen durch die Digitalisierung gestiegen
vorbringen. Denn der grosse Nutzen          ist, verstärkt das vorgebrachte konse-
der genetischen Ressourcen ist im           quentialistische Argument, das für den
Protokoll anerkannt und wird darin          freien Zugang spricht. Aber dies ist kein
hervorgehoben. Wenn man die ethi-           Grund, die durch das Nagoya-Protokoll
schen Argumente nimmt, die von den          eingegangenen Verpflichtungen bezüg-
Vertragsparteien anerkannt werden,          lich Solidaritäts- und Gerechtigkeit zu
sind dies zwar immer auch konsequen-        ignorieren. Im Nagoya-Protokoll wurde
tialistische. Aber daneben erkennen die     ein Kompromiss zwischen konsequen-
Vertragsparteien auch Solidaritäts-         tialistischen Überlegungen und Solida-
und Gerechtigkeitsargumente an. Die         ritäts- und Gerechtigkeitsüberlegungen
in den biodiversitätsreichen Ländern        formuliert. Die Unterzeichner können
erbrachten Leistungen für die Biodiver-     diesen Kompromiss nun nicht einfach
sität werden explizit anerkannt, und es     aufgeben, weil der Nutzen höher sein
sollen jene, die die Biodiversität erhal-   könnte als gedacht. Es bedürfte einer
ten und pflegen, für ihren Beitrag ent-     vollkommen neuen Aushandlung der
schädigt werden. Dazu gehören auch          Partikularinteressen und der relevan-
kulturelle Leistungen wie die Pflege des    ten ethischen Forderungen. Eine solche
gemeinschaftlichen Wissensschatzes          steht derzeit aber weder zur Debatte,
über ökologische Zusammenhänge              noch wäre es klug, eine solche zu füh-
und Wirkungen von genetischen Infor-        ren. Lösungen und Verbesserungen
mationen sowie die gemeinschaftliche        müssen deshalb in jenem Rahmen
Arbeit zum Erhalt von Biodiversität. Für    gefunden werden, den das Nagoya-
dieses Kontext- und Nutzungswissen,         Protokoll steckt; und in dessen Reg-
das Gemeinschaften erarbeiten und           lement sind kohärenterweise digitale
pflegen, sollen jene, die davon kom-        genetische Informationen oder digitale
merziell profitieren und damit den          Sequenzinformationen ebenso einge-
Gewinn privat einbehalten, eine Ent-        schlossen wie genetische Informatio-
schädigung leisten.                         nen oder Sequenzinformationen.

Das Protokoll ist nicht nur das Er-
gebnis einer Aushandlung von                                                            14
4.5 Zum Vorteil multilateraler              eröffnen diese als Weiterentwicklung      24   siehe Sylvain Aubry (2019).
Ansätze                                     des bilateralen Regimes. Art. 10 sieht
                                            die Möglichkeit der Einrichtung eines
Die Kommission betont, dass es ge-          multilateralen globalen Mechanismus
genwärtig keine realistische Alternative    vor, um einen Vorteil, der aus der Nut-
zum Nagoya-Protokoll gibt. Sie sieht        zung grenzüberschreitend vorkommen-
aber seine Unzulänglichkeiten. In Bezug     der genetischer Ressourcen entsteht
auf den Gerechtigkeitsgrundsatz, einen      oder für deren Nutzung eine vorherige
Vorteil aus der Nutzung genetischer         Zustimmung nicht erteilt oder erlangt
Informationen auszugleichen, gibt es        werden kann, für den weltweiten Bio-
schon bei Informationen über natürli-       diversitätsschutz einzusetzen.24
che genetische Ressourcen Möglichkei-
ten, sich Zugang zu verschaffen, ohne
im Gegenzug verpflichtet zu werden,
einen Vorteilsausgleich zu entrichten.
Nicht alle Länder haben zudem das
Nagoya-Protokoll ratifiziert. Wenn sie
über Ressourcen verfügen, die auch
in anderen Ländern vorkommen, sei
es in situ oder in Sammlungen, dann
kann der Zugang zu den Ressourcen
auch dort erfolgen. Eine Vereinbarung
für einen Vorteilsausgleich gilt zudem
nur gegenüber jenem Land, aus dem
die genetischen Ressourcen bezogen
wurden. Dies auch dann, wenn diesel-
ben Ressourcen in mehreren Ländern
vorkommen oder möglicherweise auch
nur dank Anstrengungen mehrerer
Länder erhalten bleiben. Der bilatera-
le Ansatz, den das Nagoya-Protokoll
derzeit verfolgt, enthält darüber hinaus
auch immer die Möglichkeit, den Zu-
gang zu den Informationen zu verweh-
ren oder an Bedingungen zu knüpfen,
die von der Vertragspartei nicht erfüllt
werden können.

Als Alternative zu prüfen wäre des-
halb, inwiefern das Nagoya-Protokoll
in Richtung eines multilateralen Sys-
tems erweitert werden könnte, um
den Zugang zu jenen genetischen In-
formationen zu gewährleisten, die mit
moralisch relevanten Schutzzielen wie
Gesundheit von Menschen, Tier und
Pflanzen, Ernährungssicherheit und
Schutz von Umwelt und Biodiversität
verknüpft sind. Solche Möglichkeiten
eines multilateralen Ansatzes sind im
Protokoll bereits angelegt. Art. 4 und 10                                                                                15
5              Empfehlungen

1. Analyse des Begriffs «digitale          2. Rechtliche Gleichbehandlung              25   Anders ist dies bei digitalen Informationen von
genetische Information». Die EKAH          von natürlichen und digitalen ge-                genetischem Material, das mithilfe von synthe-
empfiehlt, eine Begriffsanalyse durch-     netischen Informationen. Der Akt                 tischer Biologie erzeugt wurde. Relevant ist hier
zuführen, da sie unabdingbar ist, um       der Digitalisierung von genetischen              nicht der Umstand der Digitalisierung, sondern
den Status von digitalen genetischen       Informationen ändert ihren moralischen           dass das genetische Material nicht auf natürli-
Informationen zu klären. Jene, die ar-     Status nicht. Lediglich der Träger der           che Vorbilder aufbaut und das Nagoya-Protokoll
gumentieren, digitale genetische Infor-    Information wird verändert, nicht aber           nur den Zugang und Nutzung von natürlichen
mationen seien vom Nagoya-Protokoll        die Information selbst. Kohärenterwei-           genetischen Ressourcen regelt.
nicht erfasst, beziehen sich auf Art. 2    se sind deshalb natürliche genetische
CBD. Danach sind «genetische Ressour-      Informationen auch rechtlich gleich zu
cen» Material von tatsächlichem oder       behandeln wie digitale genetische In-
potentiellem Wert und «genetisches         formationen.25
Material» jedes Material pflanzlichen,
tierischen, mikrobiellen oder sonstigen    3. Nagoya-Protokoll nicht aushöh-
Ursprungs, das funktionale Erbeinhei-      len. Zwar mag durch die Digitalisierung
ten enthält. Aus dem Begriff «Material»    der im Nagoya-Protokoll betonte Nutzen
abzuleiten, dass deshalb «immateriel-      der genetischen Informationen noch
le» digitale genetische Informationen      grösser geworden sein und der mög-
nicht darunter fallen, verkennt, dass      lichst freie Zugang zu ihnen noch bedeu-
stets auch von genetischem und nicht       tender. Dies darf aber nicht dazu führen,
allein von biochemischem Material die      die Verpflichtungen in Bezug auf die
Rede ist. Das Protokoll unterscheidet      Solidarität und Gerechtigkeit zu igno-
bewusst und explizit zwischen bioche-      rieren. Das Nagoya-Protokoll stellt nicht
mischen und genetischen Bestandtei-        nur das Ergebnis einer Aushandlung
len genetischer Ressourcen. Die Gene       von Partikularinteressen dar, sondern
durch eine Verengung auf biochemische      ist der Versuch, sowohl die Schutzziele
Materie auszuschliessen, ist keine zu-     der Biodiversitätskonvention CBD als
lässige Lesart des Nagoya-Protokolls.      auch Solidaritäts- und Gerechtigkeits-
Genetische Ressourcen sind mehr als        gedanken zu verwirklichen. Die Entwick-
nur biochemisches Material. Sie sind       lungen der Digitalisierung verstärken
auch Information im praktischen Sin-       jedoch die bereits heute bestehenden
ne. Die vorgelegte Begriffsanalyse zeigt   Umgehungsmöglichkeiten des Vorteils-
auf, dass mit dem Begriff «genetisches     ausgleichs bei natürlichen genetischen
Material» die Information nicht nur not-   Ressourcen. Die EKAH ist sich der Un-
wendigerweise mitgemeint, sondern          zulänglichkeiten des Nagoya-Protokolls
vielmehr in erster Linie die Information   bewusst, hält aber zugleich fest, dass es
gemeint ist. Dies entspricht auch dem      zurzeit keine realistischen Alternativen
Zweck des Nagoya-Protokolls.               zum Protokoll gibt. Digitale genetische
                                           Informationen vom Geltungsbereich
                                           des Nagoya-Protokolls auszuschliessen,
                                           würde das Nagoya-Protokoll aushöhlen.
                                           Dies soll aus Sicht der EKAH verhindert
                                           werden.

                                                                                                                                                16
4. Multilaterale Mechanismen för-
dern. Im Wissen um die Schwierig-
keiten des bilateralen Regimes des
Nagoya-Protokolls, die sich durch die
Digitalisierung weiter verschärfen, emp-
fiehlt die EKAH, die im Protokoll ange-
legten multilateralen Mechanismen zu
fördern und weiterzuentwickeln. Diese
multilateralen Mechanismen müssten
traditionelles Wissen über die Eigen-
schaften und die Verwendung der
genetischen Informationen ebenfalls
berücksichtigen.

5. Auf internationaler Ebene in
die Verhandlungen einbringen.
Die EKAH erachtet es als ethisch ge-
boten, dass sich die Schweiz auf inter-
nationaler Ebene auf der Grundlage der
Begriffsanalyse und Kohärenz für den
Einschluss von digitalen genetischen
Informationen unter dem Nagoya-Pro-
tokoll und für die Weiterentwicklung der
multilateralen Mechanismen einsetzt.

                                           März 2020

                                           Herausgeberin:
                                           Eidgenössische Ethikkommission
                                           für die Biotechnologie
                                           im Ausserhumanbereich E
                                                                 ­ KAH
                                           c /o Bundesamt für Umwelt BAFU
                                           CH-3003 Bern
                                           Tel. +41 (0)58 463 83 83
                                           Fax +41 (0)58 464 79 78
                                           ekah@bafu.admin.ch
                                           www.ekah.admin.ch

                                           Gestaltungskonzept: Atelier Bundi AG
                                           Satz: zwei.null, Simone Zeiter

                                           Der Bericht steht auch auf Französisch und
                                           Englisch auf www.ekah.admin.ch zur Verfügung.   17
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